Der Wald - Eleanor Catton - E-Book
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Der Wald E-Book

Eleanor Catton

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Beschreibung

Idealistische Umweltaktivisten treffen auf charismatischen Milliardär ohne Moral - Der neue Roman von Booker-Preisträgerin Eleanor Catton

Mira Bunting ist die Gründerin einer Guerilla-Gardening-Gruppe namens Birnam Wood.Das Kollektiv pflanzt und erntet, wo es niemand bemerkt: an Straßenrändern, in vergessenen Parks, vernachlässigten Hinterhöfen. Seit Jahren kämpft die Gruppe darum, Birnam Wood langfristig rentabel zu machen. Dann eröffnet sich eine Möglichkeit: Ein Erdrutsch hat den Pass zu einem Naturschutzgebiet abgeschnitten, die Umweltkatastrophe hat auch eine große, scheinbar verlassene Farm eingeschlossen. Als Mira sich das Grundstück auf eigene Faust ansehen will, wird sie dort von Robert Lemoine überrascht. Der mysteriöse amerikanische Milliardär ist fasziniert von Mira und schlägt ihr vor, das Land zu bewirtschaften. Ein Handel, der Folgen haben wird. Wer ist Lemoine wirklich? Kann die Gruppe ihm vertrauen, während die Ideale von Birnam Wood auf die Probe gestellt werden? Können sie sich selbst trauen?

Eleanor Catton lässt in ihrem neuen Roman Welten aufeinanderprallen und greift gekonnt die Themen unserer Zeit auf. Mit Witz, filmreifem Plot und einem furiosen Finale legt die Booker-Preisträgerin einen Roman vor, der die Wucht der großen Shakespeare- Dramen mit einem feinem Gespür für die gesellschaftlichen Verwerfungen der Gegenwart vereint.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Zum Buch

Mira Bunting ist die Gründerin einer Guerilla-Gardening-Gruppe namens Birnam Wood. Als nicht gemeldeter und sich an der Grenze des Legalen bewegender, philanthropischer Zusammenschluss von Freunden pflanzt und erntet das Kollektiv, wo es niemand bemerkt: an Straßenrändern, in vergessenen Parks und vernachlässigten Hinterhöfen. Seit Jahren kämpft die Gruppe darum, ihre Ausgaben zu decken. Dann stößt Mira auf eine Möglichkeit, das Projekt endlich langfristig rentabel zu machen: Ein Erdrutsch hat den Korowai-Pass geschlossen und die Stadt Thorndike abgeschnitten. Die Naturkatastrophe hat auch eine große Farm eingeschlossen, die scheinbar verlassen ist. Aber Mira ist nicht die Einzige, die sich für das Gebiet interessiert. Robert Lemoine, der mysteriöse amerikanische Milliardär, hat sich die Farm gesichert, um einen Endzeitbunker zu bauen – zumindest erzählt er das Mira, als er sie auf dem Grundstück erwischt. Er ist fasziniert von Mira und schlägt ihr vor, das Land zu bewirtschaften. Ein Handel, der Folgen haben wird. Wer ist Lemoine wirklich? Kann sie ihm vertrauen, während die Ideale und Ideologien von Birnam Wood auf die Probe gestellt werden?

Idealistische Umweltaktivisten treffen auf charismatischen Milliardär ohne Moral – Eleanor Catton lässt in ihrem neuen Roman Welten aufeinanderprallen und greift gekonnt die Themen unserer Zeit auf. Mit Witz, filmreifem Plot und einem furiosen Finale legt die Booker-Preisträgerin einen Roman vor, der die Wucht der großen Shakespeare-Dramen und das feine gesellschaftliche Gespür von George Eliot in sich vereint.

Zur Autorin

Eleanor Catton erhielt 2013 für ihren Roman »Die Gestirne« den renommierten Booker-Preis. Zuvor erschien ihr Roman »Anatomie des Erwachens«. Als Drehbuchautorin adaptierte sie »Die Gestirne« als TV-Serie und Jane Austens »Emma« als Kinofilm. Geboren in Kanada und aufgewachsen in Neuseeland, lebt sie nun in Cambridge, England.

Eleanor Catton

Der Wald

Roman

Aus dem Englischen von Meredith Barth und Melanie Walz

Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Birnam Wood« bei Granta Books, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

1. AuflageCopyright © 2023 by Eleanor Catton

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München nach einem Coverdesign und Illustration von © gray318

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22211-6V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für Steven Toussaint

Die Erscheinung:

Sei löwenkühn und stolz; nichts darfst du scheuen

Wer tobt, wer knirscht, und ob Verräter dräuen:

Macbeth wird nie besiegt, bis einst hinan

Der große Birnams-Wald zum Dunsinan

Feindlich emporsteigt.Macbeth:Das kann nimmer werden – Wer wirbt den Wald? Heißt Bäume von der ErdenDie Wurzel lösen?

I

Der Korowai-Pass war geschlossen, seit am Ende des Sommers infolge mehrerer leichter Erdbeben ein Erdrutsch ausgelöst worden war, dessen Geröllmassen einen Abschnitt des Highways unter sich begraben hatten, wobei fünf Personen ums Leben kamen. Ein Schwertransporter war einen Abhang hinabgestürzt, hatte eine Stromleitung gekappt, eine Furche in den Berghang gepflügt und war dann an einem Viadukt weiter unten explodiert. Es dauerte Wochen, bis die Toten geborgen waren und man das Ausmaß der Schäden einigermaßen abschätzen konnte; mittlerweile sanken die Temperaturen, und die Tage wurden schnell kürzer. Vor dem Frühjahr konnte man nicht viel ausrichten. Die Straße wurde beidseitig abgesperrt und der Verkehr umgeleitet – im Westen um die fernen Ufer des Lake Korowai und im Osten durch ein Gewirr von Feldern und Wiesen und über die gebüschgesäumten Flüsse, die sich über die Ebenen ins Meer ergossen.

Die Stadt Thorndike, im Norden des Passes an den Ausläufern der Korowai-Berge gelegen, wurde an einer Seite durch den See begrenzt und an der anderen durch den Korowai-Nationalpark. Die Schließung des Passes führte zu einer unüberwindlichen Sackgasse: nach Süden abgeschnitten, war die Stadt nun eingeschlossen, mit Ausnahme der einzigen Zufahrtsstraße. Wie viele kleine Städte in Neuseeland war das lokale Wirtschaftsgeschehen größtenteils auf Lastwagenfahrer und Touristen angewiesen, und als die Bergungshelfer und Fernsehteams ihre Sachen packten und wegfuhren, folgten ihnen viele Einwohner der Ortschaft, wenn auch unfreiwillig. Cafés und Andenkenläden in der Nähe des Highways schlossen einer nach dem anderen; die Tankstelle reduzierte ihre Öffnungszeiten; im Fenster des Besucherzentrums wurde ein Plakat mit der Bitte um Verständnis angebracht, und die frühere Schaffarm oberhalb des Talkessels, vom Immobilienmakler als »das größte zur Parzellierung geeignete Stück Bauland aller Zeiten« angepriesen, wurde stillschweigend aus den Angeboten gelöscht.

Diese Anzeige hatte die Aufmerksamkeit Mira Buntings geweckt, einer neunundzwanzigjährigen ausgebildeten Gärtnerin und Gründerin eines Aktivistenkollektivs, das die Mitglieder Birnam Wood nannten. Mira war nie in Thorndike gewesen und hatte weder die Absicht noch die Mittel, dort den kleinsten Flecken Land zu erwerben, aber sie hatte sich die Anzeige gemerkt, als diese vor fünf oder sechs Monaten im Internet erschienen war. Unter Pseudonym hatte sie dem Makler geschrieben, Interesse an dem Vorhaben bekundet und nachgefragt, ob schon Parzellen verkauft worden seien.

Das Pseudonym June Crowther war eines mehrerer Pseudonyme, die Mira sich im Lauf der Zeit zugelegt hatte und abwechselnd verwendete. Die erfundene Mrs Crowther war achtundsechzig Jahre alt, Rentnerin und stocktaub, weshalb sie E-Mail-Korrespondenz einem Anruf vorzog. Sie besaß ein bescheidenes Vermögen in Wertpapieren, das sie auf Immobilienbesitz verwenden wollte. Ihr Wunsch wäre ein Ferienhäuschen auf dem Land, das ihre Töchter gemeinsam nutzen konnten und das sie ihnen testamentarisch vermachen konnte. Das Haus müsste neu sein – nach jahrelanger Erfahrung mit Reparaturen und Renovierungen hatte sie davon genug –, aber ein kleines Fertighaus wäre völlig ausreichend, eine Art Ausstechform auf einem ebensolchen Grundstück an einer entsprechenden Straße, sofern die Nachbarn nicht zu nahe wohnten und sie die Wandfarben aussuchen konnte. All das schien die Farm in Thorndike zu ermöglichen. Doch einige Monate nach dem Erdrutsch am Pass erhielt Mrs Crowther eine E-Mail des Maklers, in der er erklärte, angesichts der Umstände habe sein Klient sich entschieden, nicht zu verkaufen. Möglicherweise würde der Grundbesitz nach einiger Zeit wieder auf den Markt kommen. In der Zwischenzeit wüsste er gerne, ob Mrs Crowther sich für ein anderes Grundstück auf seiner Liste erwärmen könnte – er fügte einen Link bei –, und wünschte ihr viel Erfolg bei der Suche.

Mira las die Mail zweimal, schrieb eine höflich nichtssagende Antwort, loggte sich aus dem falschen Account aus und öffnete eine Karte von Thorndike in ihrem Browser. Das Grundstück der Farm im Südosten des Tals war mehr oder weniger trapezförmig und am Fuß des Abhangs wesentlich enger als an der Oberseite, wo es an den Nationalpark grenzte. Einhundertdreiundfünfzig Hektar, wie sie sich aus den Auskünften des Maklers erinnerte, mit einem Umfang von acht oder zehn Kilometern. Es lag nicht weit von der Stelle des Erdrutsches entfernt. Sie suchte ein Satellitenbild, um sich zu vergewissern, aber das Bild war veraltet. Die Straße über den Pass schlängelte sich hier noch glatt und glänzend empor, ab und zu überlagert vom grauen Schimmer des Sonnenlichts, das von den Wagendächern abstrahlte. Mira kam der Gedanke, dass das Bild nur wenige Momente vor dem Erdbeben entstanden sein könnte: Die Autofahrer könnten nun tot sein. Sie malte sich diese Szene versuchsweise aus, als würde sie nach einem Puls tasten; es war eine Angewohnheit aus ihrer Jugend, sich mit morbiden Hypothesen ein schlechtes Gewissen zu machen. An diesem Tag konnte sie kein Mitleid aufbringen, und zur Strafe nötigte sie sich dazu, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie selbst erdrückt und erstickt wäre. Sie behielt die Vorstellung für mehrere Sekunden im Geist, bevor sie aufatmete und sich wieder mit dem Bild der Landkarte beschäftigte.

Ein Windschutz aus einer Reihe pfeilförmiger Pappeln warf einen gezackten Schatten auf die Zufahrt und bis zum Haus, das weit von der Straße entfernt lag – hoch genug, wie sie annahm, um einen Blick über die Bäume am Ufer und auf das Wasser zu erlauben. Oberhalb des Hauses gab es eine Art natürliche Terrasse aus Kalkstein, welche die oberen, baumreichen Viehkoppeln von der offenen, an die Straße grenzenden Weide trennte. Mira vergrößerte die Aufnahme und suchte die Koppeln eine nach der anderen ab. Sie waren alle leer. Ein zerfurchter Weg zeigte die tägliche Runde des Besitzers auf dem Grundstück an, und aus den schrägen Schatten auf dem Boden folgerte sie, dass mehrere Tore offen standen. Der Makler hatte den Namen seines Klienten nicht genannt, aber als sie die Adresse eingab, erschien sofort ein Zeitungsartikel.

Mr Owen Darvish, 1606 Korowai Pass Road, Thorndike in South Canterbury, hatte vor Kurzem für Schlagzeilen gesorgt. Er war in die Liste der Geburtstagsehrungen der Queen eingetragen und sollte demnächst zum Ritter des New Zealand Order of Merit geschlagen werden, als Anerkennung seiner Verdienste für den Umweltschutz.

Neugierig geworden, kümmerte Mira sich nicht länger um die Karte, sondern las weiter.

Adelstitel waren in Neuseeland im Jahr 2000 abgeschafft worden, doch neun Jahre später von einem Politiker mit viel Geld und dem Wunsch nach einem eigenen Titel wieder eingeführt worden. Es war in jeder Hinsicht peinlich: Die Monarchisten konnten sich nicht freuen, weil die Wiedereinführung nur bewies, dass die Krone politisch erpressbar war, und die Republikaner konnten nicht protestieren, weil das bedeutet hätte zuzugeben, dass der monarchistische Rittergedanke etwas Heiliges an sich hatte, das für gewöhnliche Politiker unerreichbar war. Beide Seiten waren verärgert, und beide empfingen die Ehrenliste, die zweimal jährlich erstellt wurde, mit dem gleichen hämischen Zynismus und der übereinstimmenden Ansicht, dass alle Intellektuellen, die den Ritterschlag annahmen, sich verkauft hatten, und alle geadelten Geschäftsleute bestochen waren. Owen Darvish war offenbar eine Ausnahme. Die Nachricht seiner Ernennung war so bald nach dem Erdrutsch am Pass erfolgt, dass der Eindruck entstand, der Ritterstand wäre eine Art Ehrenbezeigung für das ganze Korowai-Gebiet, und das war ein Akt der Ritterlichkeit, an dem niemand etwas auszusetzen haben konnte. Darvish hatte den Bergungsteams sogar sein Haus als Operationsbasis für die Tage nach der Katastrophe angeboten. »Ich ziehe den Hut vor diesen Leuten«, war sein ganzer Kommentar. »Sie sind Helden, ja, das sind sie.«

Mira las weiter.

Sie erfuhr, dass Darvish sein Arbeitsleben vor vierzig Jahren als Siebzehnjähriger begonnen hatte, indem er die Felder der Nachbarn von Kaninchen befreit hatte, für einen Dollar pro Tier. Er war ein sehr guter Schütze, und seine zwei liebsten Besitztümer, beides Geschenke seines Vaters, waren sein Kleinkaliberluftgewehr und ein Kürschnermesser mit fester Klinge und Buchsbaumgriff, die er beide seither zusammen in einem Glaskasten in seinem Eingangszimmer präsentierte. Damals hatte er die Tiere selbst enthäutet und das Fleisch als Hundefutter an Zwinger und Hundehalter in der Nachbarschaft verkauft. Mit den Fellen war es schwieriger gewesen. Schließlich fand er eine Wollwäscherei, die bereit war, sie in Packen zu übernehmen, um sie zu Filz zu verarbeiten. Aber da die Firma darauf bestand, ihm die Arbeit in Rechnung zu stellen, hatte der inzwischen Neunzehnjährige beschlossen, eine eigene Firma zu gründen. Er hatte einen Buchhalter angestellt, einen Telefondienst beauftragt, beim Handwerksbedarf eine Dose gelbe Farbe gekauft und die Seiten seines Pritschenwagens mit der Aufschrift »Darvish Schädlingsbekämpfung«versehen.

Als Sohn eines Schlachthofarbeiters wusste Darvish aus erster Hand, dass jedes Jahr viele gesunde Masttiere geschlachtet werden mussten, weil sie sich einen Knöchel oder ein Bein gebrochen hatten. Kaninchenhöhlen zerstörten gutes Weideland, ganz zu schweigen von den eingeführten Spezies, Beutelratten, Ratten und Hermeline, die alle Appetit auf die Sprossen einheimischer Pflanzen hatten und auf die Eier der Vögel. Das Ausrotten dieser Schädlinge war eines der wenigen gemeinsamen Anliegen von Naturschützern und Landwirten in Neuseeland, und im Verlauf des Ausbaus seiner Tätigkeit verlegte Darvish sich auf ein Vorgehen, bei dem er es Kunden beider Seiten recht machen konnte. Mira las, dass Darvish Schädlingsbekämpfung im Lauf des Bestehens mit allen größeren landwirtschaftlichen Unternehmen Verträge unterhalten hatte sowie mit maorischen Stämmen und Stammesräten, den iwi und rūnanga, und mit Stadträten und Ministerien. Aber die kürzlich geschlossene Partnerschaft mit dem amerikanischen Technologieunternehmen Autonomo, im S&P-500-Aktienindex aufgeführt, sollte zu Darvishs Meisterleistung werden. Soweit Mira begriff, stellte Autonomo Drohnen her, und mit dieser Hilfe hatte Darvish Schädlingsbekämpfung sich gerade an das ehrgeizige Naturschutzprojekt gewagt, heimische bedrohte Tierarten zu überwachen. Es sei noch etwas früh, sagte Darvish bescheiden, aber er sei der Ansicht, das Vorhaben könne vielleicht dazu beitragen, eine Anzahl endemischer Spezies vor dem Aussterben zu retten – darunter, wie er sehr hoffe, den Elfenbeinsittich, den er als seinen Lieblingsvogel bezeichnete.

Miras Miene verfinsterte sich. Es verärgerte sie, fast aus Prinzip, dass jemand im Alter dieses Mannes, ein Weißer, wohlhabend, mit entsprechenden Privilegien, seine Macht – angeblich – nutzte, um Gutes zu tun, sein Unternehmen – angeblich – ganz allein aus dem Nichts aufgebaut haben sollte, und – angeblich – genau die ökologische Authentizität besaß, um die sie andere beneidete und die sie selbst gerne besessen hätte. Noch ärgerlicher war aber, dass sie noch nie von dem Elfenbeinsittich gehört hatte, nach dem sie jetzt, immer noch missmutig, im Internet suchte. Wie alle sich selbst verklärenden Rebellen hatte es Mira lieber mit Feinden zu tun als mit Rivalen, und so bezeichnete sie ihre Rivalen oft als Feinde, damit es leichter war, sie als konservative Besitzstandswahrer zu verachten. Doch da dies kein bewusster Vorgang war, empfand sie nur ein vages Gefühl gerechtfertigten Widerstands, als sie beschloss, Owen Darwish, wenn sie ihm schon nicht ausweichen konnte, zumindest nicht zu mögen.

Das Foto auf der Website der Regierung zeigte einen glatt rasierten Mann mittleren Alters mit offenem Hemdkragen, einem breiten ausdrucksstarken Mund, einer kraftvollen Kieferpartie und einer amüsierten Miene; unter dem Bild wurde in Zitaten sein Erfindungsreichtum, seine Ausdauer und sein uneigennütziger Pragmatismus gelobt, was ihn als das perfekte Beispiel dessen darstellte, was Neuseeländer gerne als ihr Nationaltemperament bezeichnen. In Interviews gab er diesen Typus gekonnt, konterte Fragen geschickt mit listiger Bescheidenheit, und wenn man ihn nach seiner politischen Haltung fragte, beteuerte er, keine zu haben. Mira konnte keinen einzigen Text mit einem abfälligen Tenor finden. Er fungierte als Patriot – in anderen Worten als zuverlässiger, genügsamer, unerschütterlicher neutraler Beobachter, der seinen Enthusiasmus pflegte, seine Routine schätzte und allen Demonstrationen von Parteinahme misstraute – dennoch tolerant, immerhin, was die sporadischen Kirchenbesuche seiner Frau betraf.

Sie – Jill, demnächst Lady Darvish – sah Miras Mutter etwas ähnlich: schlank und hochgewachsen, mit gebräuntem Teint und grauen Haaren, zum Bob geschnitten. Für die lokale Zeitung hatte sie mit einem Arm um die Taille ihres Mannes posiert, ihn bewundernd angelächelt, die andere Hand auf seiner breiten Brust. »Das ist unser Ritter«, lautete die freudentrunkene Schlagzeile, obwohl der Reporter sich bemüht hatte, darauf hinzuweisen, dass Jill und nicht der baldige Sir Owen die echte Einheimische von Thorndike war, denn die Farm war das Haus ihrer Kindheit, das beim Tod ihres Vaters vor fünf Jahren an sie übergegangen war. Es war nur ein Detail, aber Darvish kannte seine Landsleute offenbar gut genug, um dem Thema dennoch Bedeutung beizumessen. Er versicherte, dass Thorndike zweifellos der Ort sei, wo er am liebsten lebe; schwärmte von den Urlauben und Heuernten, die sie über die Jahre immer wieder an den Ort zurückgebracht hatten; erwähnte nichts von ihrem Vorhaben, den Grund in Parzellen aufzuteilen; und gestand gespielt kummervoll, dass der alte Herr seiner Frau ihn sicherlich auslachen würde, wo auch immer er jetzt war, denn trotz all seiner Bemühungen war die Farm noch immer nicht schädlingsfrei. Tatsächlich – er lenkte das Interview geschickt auf das eigentliche Thema zurück – hatte er gerade Kaninchen in den oberen Koppeln erlegt, als die zuständige Behörde anrief, um ihm die bevorstehende Erhebung in den Adelsstand zu verkünden.

»Hat mich den Schuss gekostet«, erzählte er der Zeitung. »Telefon klingelt, ich vor Schreck total zusammengezuckt. Hat mich so wütend gemacht, dass ich fast nicht hingegangen wäre.«

»Und das Häschen kam davon«, sagte seine Frau.

»Deshalb schuldet sie mir einen Dollar.«

»Die Königin?«

»Die Königin höchstselbst. Sie schuldet mir einen Dollar, einen Kadaver und ein Fell.«

Mira hatte gefunden, was sie gesucht hatte. Ihr Knie fing an, unter dem Tisch zu wippen, und sie spürte die Erregung in ihrer Brust. Sie kehrte auf die Regierungswebsite zurück und las, dass Owen Darvishs Ernennung in drei Wochen im Regierungsgebäude in Wellington stattfinden sollte. Sie notierte sich den Zeitpunkt, schloss ihren Laptop, holte ihren Fahrradhelm und verließ die Bibliothek.

Fünf Minuten später bewegte sich der gelbe Kreis mit der Aufschrift »Mira« auf der Straße langsam in nördliche Richtung. Shelley Noakes vergrößerte den Ausschnitt der Karte, sodass ihr eigener Punkt, ein leise pulsierendes Blau, am Rand des Bildschirms erschien. Fast dreißig Sekunden lang sah sie zu, wie der gelbe Fleck sich auf das Blau zubewegte, bis sie das Telefon ausschaltete und es in einem plötzlichen Anfall von kindischer Genervtheit auf den Berg Schmutzwäsche am Fuß ihres Betts warf. Es würde noch mindestens eine halbe Stunde dauern, bis Mira nach Hause kam, aber schon jetzt hatte Shelley Herzklopfen und rote Flecken an Hals und Brust. Sie stand auf, atmete tief durch und war versucht, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass heute vielleicht nicht der richtige Tag war, um das Thema zur Sprache zu bringen … Doch dann hörte sie Miras Stimme in ihrem Kopf, die ihr sagte, es gebe eine Stimme in ihrem Kopf, und es sei die Stimme ihrer Mutter.

Shelleys Mutter war ein Lieblingsthema bei Birnam Wood. Sie hatte sich schon früh mit Mira überworfen, als sie die Umweltgruppe als »Hobby« und die Beteiligung ihrer Tochter daran als »Phase« bezeichnet hatte. Mira hatte ihr diese Bemerkungen so tief und lang anhaltend verübelt, dass Shelley schon dachte, mit ihr selbst sei etwas nicht in Ordnung, wenn sie sich dadurch nicht auch angegriffen fühlte. Obwohl sie sich mittlerweile seit mehr als viereinhalb Jahren für Birnam Wood engagierte, hielt sie die Worte ihrer Mutter nicht für einen Beweis mangelnden Vertrauens, vielmehr war sie selbst überrascht, dass sie überhaupt so lange durchgehalten hatte. Das konnte Mira nicht verstehen. Selbstironie war ihr wesensfremd, und sie war überzeugt, Shelley wäre entweder eingeschüchtert oder durch eine Art Gehirnwäsche ihrer naturgegebenen Selbstsicherheit beraubt worden; die Ironie daran – was Shelley erst im Nachhinein klar geworden war –, bestand darin, dass ein sanfter selbstkritischer Humor zu den Dingen gehörte, die Shelley an sich selbst – und im Übrigen auch an ihrer Mutter – am meisten mochte.

Mrs Noakes war Berufsberaterin und der Ansicht, dass die Weltbevölkerung in zwei Kategorien eingeteilt werden konnte: diejenigen, die zum Verkaufen geeignet waren, und diejenigen, die für Dienstleistungen geeignet waren; die meisten, so sagte sie gerne, hätten den falschen Beruf, und wenn sie nur in der Lage wären, einen ernsthaften und ehrlichen Blick auf sich selbst zu werfen und zu entscheiden, in welche Kategorie sie passten, könnten sie allen anderen eine Menge Stress und Ärger ersparen. Als Mira das zum ersten Mal hörte, hatte sie gelacht. Sie hatte nicht ohne Genugtuung eine Reihe von Gründen aufgezählt, warum das Verkaufen eine Dienstleistung sei und warum Dienstleistungen auf jede Art und Weise verkauft würden, und hatte Mrs Noakes’ Einstellung als leeren neoliberalen Blödsinn abgetan. Mit lässigem Scharfsinn hatte sie noch hinzugefügt, Mrs Noakes konkurriere mit ihren Kindern offenbar auf mehreren Gebieten, besonders aber in der Frage der Zufriedenheit mit dem eigenen Job, einer hart erkämpften Errungenschaft für die Frauen ihrer Generation, die sie vielleicht nicht bereit sei, mit anderen zu teilen.

Shelley konnte sich fast an jedes Wort erinnern. Sie war einundzwanzig Jahre alt gewesen und Mira vierundzwanzig, und sie hatte nie zuvor in ihrem Leben gehört, dass ein Erwachsener so offen und unaufgeregt kritisiert wurde, ohne eine der üblichen Formen der Unterwerfung – wie etwa das demütige Eingeständnis der eigenen Unwissenheit oder das achtungsvolle Akzeptieren abweichender Meinungen. Sie selbst hatte diese Haltung so gründlich verinnerlicht, dass sie ihr Denken ebenso stark behinderte wie ihr Sprechen. Sie hatte Miras Freundschaft mit einem Eifer gesucht, der an Besessenheit grenzte, und sich dabei, wie sie erst Jahre später begreifen sollte, immer mehr in die Person verwandelt, die Mira bereits behauptete, in ihr zu sehen: in hohem Maße ahnungslos, extrem unterdrückt, in ständigem Konflikt mit einer Mutter, deren Worte und Gedanken, wie ihr bewusst wurde, alle einen nicht geringeren Feind verkörperten als das Gespenst des Spätkapitalismus. Von Geburt an potenziell in die Rolle des Friedensstifters in der Familie gedrängt und ihre ganze Jugend hindurch dafür gelobt, ihre Eltern keine Nacht den Schlaf gekostet zu haben, hatte Shelley, seit sie sich erinnern konnte, in ständiger Furcht gelebt, nicht liebenswert zu sein – ein Schicksal, das noch schrecklicher war, als ungeliebt zu sein, denn es betraf nicht nur ihre Beziehung zu anderen, sondern ihr eigenes Selbstbild. Erst unter Miras Einfluss lernte sie, diese Furcht vielleicht nicht unbedingt zu überwinden, aber die Schuld daran anderen zuzuschreiben.

Sie ging zu dem Wäschehaufen zurück und schaltete ihr Handy wieder ein. Der gelbe Kreis hatte die Avenue überquert, die die Innenstadt begrenzte, und fuhr an einer Fahne vorbei, die auf Shelleys Karte mit »Standort Nr. 15« beschriftet war. Das Fahrrad fuhr langsamer, als es die Abzweigung erreichte, und schien anhalten zu wollen. »Da war ich schon«, sagte Shelley, und als könne Mira sie hören, schien das Fahrrad seine Absicht zu ändern, fuhr weiter, immer schneller. Shelley war unbehaglich zumute. Sie schaltete das Handy wieder aus und steckte das Kabel zum Laden ein, entschiedener als notwendig, und wollte das Gerät nicht mehr anfassen, bis Mira nach Hause kam, auch nicht, wenn sie es summen hörte.

Shelley schwankte noch zwischen einem Abschluss in Bibliothekswissenschaft und einem für das Highschool-Lehramt, als sie Mira zum ersten Mal traf und diese gerade Setzlinge in braune Erde pflanzte. Shelley fehlten noch fünfzehn Credits von den dreihundertsechzig für den Bachelor geforderten, mit Englisch als Hauptfach und der Spezialisierung auf Genre-Literatur im 20. Jahrhundert, wofür sie Schulden in Höhe von dreiundzwanzigtausend Dollar aufgenommen hatte. Doch innerhalb von vierzehn Tagen hatte sie ihre Abschlussarbeit Beliebte Teenager-Fantasien und deren Darstellung im Film aufgegeben; zum ersten Mal in ihrer akademischen Laufbahn war sie gescheitert, und beide Abschlüsse waren bis auf Weiteres in weite Ferne gerückt. Ihre Mutter hatte dafür kein Verständnis und handelte im Gegensatz zu ihrer eigenen Überzeugung, indem sie ihr einige Monate Arbeit in der undankbaren Welt des Einzelhandels verordnete, um die Tochter wieder zur Vernunft zu bringen. Sie konnte sich nicht damit abfinden, dass Birnam Wood vielleicht die Lösung für das wäre, was sie als Shelleys naturgegebene Fähigkeit zur Dienstleistung betrachtete, denn sie vermochte sich nicht vorzustellen, welchem höheren Zweck eine fraglos illegale Mischung aus Gesetzesübertretung und botanischem Vandalismus von Nutzen sein sollte, weder für Shelley noch für sonst wen. Das waren zumindest die Gedanken, die man ihr unterstellte. Bei Birnam Wood war die Bezeichnung »Shelleys Mum« ein Synonym für die vielen Übel der Babyboomer-Generation geworden, dieser verachteten Kohorte von Hamsterern und Plünderern, von der nur Miras Eltern, die sich vor Kurzem getrennt hatten, rätselhafterweise immer ausgenommen schienen.

(Auch Shelleys Vater war für Mira kein ernst zu nehmender Gegner. Er war ein Hypothekenmakler von reizbarem Temperament, der in den Worten seiner Familie immer »in Rage« war – eine Charakterschwäche, die, wie Mira erklärte, von seiner Frau noch offen gefördert wurde, die einen Großteil ihrer täglichen Konversation darauf verwendete, ihren Mann daran zu erinnern, welche Sorte Menschen er nicht leiden konnte. Dass die Liste dieser Leute, zu der Veganer zählten, langsam gehende Menschen, Großmäuler, Frauen, die ihre Babys in der Öffentlichkeit stillten, Leute, die sich keinem bestimmten Geschlecht zuordneten, Straßenmusiker, schlechte Autofahrer und ungewaschene Menschen, mehr oder weniger alle Mitglieder von Birnam Wood einschloss, schien Mira nicht weiter zu stören. Für sie war Shelleys Vater ein Geschöpf, von seiner Frau geschaffen, kein selbständiger Erwachsener, sondern eine unglückselige Marionette, von Mrs Noakes zu dem einzigen Zweck ersonnen, ihrer eigenen lebhafteren Persönlichkeit mehr Profil zu verleihen – eine eindeutig narzisstische Übung, deren Reiz sich Mira nicht entfernt erschloss.)

Erst Jahre später brachte Shelley die langen und eindringlichen Gespräche in den frühen Monaten ihrer Freundschaft mit der Trennung von Miras Eltern in Zusammenhang, die, wie sie zufällig erfuhr, an dem Morgen des Tages erfolgt war, an dem die beiden Mädchen sich kennengelernt hatten. Miras knapper Bericht dieses Ereignisses – es war beim Frühstück, ihr Vater stand hinter dem Stuhl ihrer Mutter und massierte zärtlich ihre Schultern, als sie die Neuigkeiten verkündete – erweckte den Eindruck, als wären ihre Eltern so freundschaftlich und einverständlich zu dieser Entscheidung gelangt, im glücklichen Wissen sowohl um die wunderbaren Jahre, die sie gemeinsam verbracht hatten, als auch um die neuen Möglichkeiten, die sich nun eröffneten, dass jede weitere Überlegung zur Bedeutung ihres Entschlusses oder zu den erwartbaren Konsequenzen für alle Betroffenen sich erübrigte. Mira konnte endlos über anderer Leute Beziehungen reden – sie gab offen zu, wie gerne sie das tat –, aber wenn es um ihre eigenen Beziehungen ging, sprach sie immer in einem schroffen, halb gereizten ironischen Ton, als hätte sie das Thema vor langer Zeit abgeschlossen und hegte keinen Wunsch, es wieder aufzunehmen. In den ersten Monaten ihrer Freundschaft hatte Shelley über Miras Eltern nur erfahren, dass sie ehemalige Hippies waren, die sich in ihrer Gegend politisch engagierten – die Mutter für die Grünen, der Vater für Labour –, und sich erfolglos als Kandidaten bei Wahlen beworben hatten, und dass Miras Mutter aus einer früheren Beziehung einen Sohn hatte, Miras Halbbruder Rufus, Leadgitarrist in einer tourenden Rockband, den Miras Vater offenbar abgöttisch liebte. Sie schienen wundervoll freigeistig zu sein, und dass Mira nur selten Kontakt zu ihnen hatte, fasste Shelley als weiteren Beweis der psychischen Reife auf, die Mira so gerne bei anderen als fehlend beklagte. Shelley fand es peinlich, dass ihre eigene Familie sich jede Woche zum Sonntagslunch versammelte, wo die Gespräche sich unweigerlich um den Hund drehten und sogar an ihn gerichtet waren – und noch peinlicher war es ihr, wenn Mira mitkommen wollte. Mira war bei Tisch immer höflich und entgegenkommend, lobte das Essen und half beim Abwaschen. Birnam Wood erwähnte sie fast nie, außer in den wenigen Anekdoten, die sie in dem humoristischen und vertraulichen Ton erzählte, den sie immer anschlug, wenn sie mit Erwachsenen zu tun hatte. Doch Shelley waren diese Situationen unerträglich, jeder Moment ein erbärmlicher Beweis der Mittelmäßigkeit ihrer Familie, jedes geäußerte Wort eine erbärmliche Entweihung von Miras tiefsten Überzeugungen. Shelley stand noch zu sehr unter Miras Einfluss, um sie einer so gewöhnlichen Empfindung wie Einsamkeit oder einer so oberflächlichen Empfindung wie Neid zu verdächtigen; und es war eine Erleichterung, sich auf dem Nachhauseweg wieder dem wichtigsten Thema ihrer Freundschaft zu widmen, dem Aufzählen der vielen Punkte, in denen Shelleys Mutter reformbedürftig war.

Sollte Mrs Noakes wissen, wie erbarmungslos sie auseinandergenommen wurde, dann besaß sie mehr Charakterstärke, als Mira oder ihre Tochter ergründen konnten, denn trotz ihrer anfänglichen Vorbehalte gegen Shelleys abrupten Kurswechsel und trotz ihrer häufigen Hinweise auf Anzeigen freier Stellen – »damit du begreifst, was sich da draußen tut« –, hatte Mrs Noakes sich tatsächlich mit Birnam Wood ausgesöhnt und, was Shelley widerwillig zugeben musste, sprach inzwischen stolz und bewundernd von dem Projekt. Der politische Aufruhr von 2016 hatte eine neue Sicht auf das radikal Unvorhergesehene bewirkt. In der ganzen Welt waren Kassandren gezüchtigt und Experten verleumdet worden; an ihrer Stelle waren die Spalter erschienen, die technologischen Imperialisten, die Fatalisten mit ihren Metadaten, die den Populismus anheizten und denen es gelungen war, unbemerkt und bis dahin unvorstellbar, die einzig authentische und einflussreichste Marke der Welt zu installieren. Eine neue Sprache war entstanden: Birnam Wood war nun ein Start-up, ein Pop-up, das Geistesprodukt sogenannter Kreativer; es war organisch, es war lokal, es war ein wenig wie Uber, ein wenig wie Airbnb. In diesem neuen, noch unruhigen Klima hatte Shelleys Abschied von der konventionellen Ökonomie, das wusste sie, einen gewissermaßen rückwirkenden Wert erhalten, und selbst Mira – die aufständische, unabhängige Mira – wirkte plötzlich wie einer der typischen trendigen Mitläufer, denen man unterstellen konnte, sie würden von der Regierung für verdeckte Operationen benutzt, um aufhetzerische Blogs und Zeitungskolumnen zu verfassen, in denen sie unorthodoxe Meinungen vertraten und das Recht auf freie Sprache infrage stellten. Das Agitieren hatte seine jugendliche Prägung verloren: Es war wieder erbittert geworden, rechthaberisch, unverzichtbar. Eine Aura des Unheilvollen bestimmte nun den Ton in Birnam Wood.

Und Shelley wollte raus. Raus aus der Gruppe, raus aus der erstickenden moralischen Zensur, dem vorgeblichen Gemeinschaftsgefühl, der ständig auferlegten Sparsamkeit, der finanziellen Unsicherheit, raus aus der Wohnung und aus ihrer Beziehung zu Mira, die zwar nichts körperlich Romantisches hatte, die aber beide allmählich als einengend und erdrückend empfanden – vor allem aber aus ihrer Rolle als vernünftiger, zuverlässiger, berechenbarer Sidekick, nie so rebellisch wie Mira, nie so ein Freigeist, nie – selbst wenn sie gemeinsam agierten – so kühn. Sie wollte raus mit einem Drang, der sie so abrupt und absolut überwältigte wie damals, als sie erkannt hatte, dass sie reinwollte. Und als sie dieses Gefühl zu ergründen versuchte, merkte sie, dass sie ihre jetzige Ernüchterung genauso wenig erklären konnte wie ihre anfängliche Begeisterung für Birnam Wood – und mehr noch: Sie merkte, dass sie es gar nicht erklären wollte, dass sie es nicht verstehen wollte, dass sie die entsetzliche untergründige Gewissheit, was immer sie tat oder sagte, wie sie sich verhielt, welches Leben sie wählte, nicht näher untersuchen wollte, dass sie immer im Unrecht sein würde, mit den falschen Absichten, falsch vorbereitet und ungeeignet. Auf einer dunklen und beschämenden Ebene ihres Bewusstseins war Shelley klar, dass die drastischen Kurswechsel in ihrem Leben – ihre »Phasen«, um das Wort zu benutzen, das Mira so missbilligte – sich keiner plötzlich verspürten Eingebung oder Berufung verdankten, sondern nur in diesem unterdrückten und allgegenwärtigen Gefühl ängstlicher Beklemmung gründeten. Sie hatte versucht, dem Gefühl zu entkommen, als sie sich Birnam Wood anschloss, und auch jetzt versuchte sie wieder, ihm zu entkommen, aber das würde ihr nie gelingen, weil sie den Unterschied zwischen dem Wunsch, etwas zu erreichen, und dem, vor etwas wegzulaufen, nicht erkennen und nicht begreifen konnte.

Ihr Telefon summte, und sie linste hinüber, um die Meldung auf dem kleinen Bildschirm lesen zu können, verrenkte sich beinahe den Hals, um nicht ihr Versprechen brechen zu müssen, es anzufassen. Die Nachricht war eine Werbemail eines Hotels, in dem sie sich einmal ins Internet eingeloggt hatte. »Letzte Chance, Geld zu sparen!«, besagte die Überschrift. Shelleys Herzklopfen hatte wieder eingesetzt. Beunruhigt hielt sie die Hand an die Kehle, um das Klopfen zu unterdrücken, und starrte auf das Telefon, bis der Bildschirm dunkel wurde und die Meldung durch ein Gewirr schmieriger Streifen und Fingerabdrücke ersetzt wurde, die all das Scrollen und Markieren, Liken und Speichern, Vergrößern, Verkleinern, Weiterleiten, Löschen und Senden hinterlassen hatten.

Eine Freundschaft zu beenden war schwer genug, aber sie und Mira teilten weit mehr und hatten sich auf wesentlich mehr eingelassen als normale Freundinnen, und obwohl Shelley sich einzureden versucht hatte, es gehe ihr um nichts Exotisches oder Außergewöhnliches, nur um ein unabhängiges Einkommen, eine Chance auf Selbstverwirklichung und einen Szenenwechsel, wusste sie – und es machte sie elend, sich das einzugestehen –, dass Birnam Wood ohne sie wohl kaum überleben würde. Nach fünf Jahren Arbeit war das Kollektiv noch weit von der Selbstversorgung entfernt, die sie als »Durchbruch« bezeichneten; und ohne Shelleys Beitrag würde dieser Traum in noch weitere Ferne rücken. Mira müsste dann die Buchhaltung und die Planung übernehmen, Gebiete, auf denen sie fast lächerlich unwissend war. Sie würde sich eine neue Mitbewohnerin suchen müssen und vielleicht eine neue Wohnung. Sie müsste Shelleys Ersatz ausbilden, nicht monatelang, sondern jahrelang, denn jede Jahreszeit hatte ihre eigenen Herausforderungen und Möglichkeiten, und jede Saat entwickelte sich anders – und all das, dachte Shelley in angewidertem Zorn sich selbst gegenüber, all das würde Mira Zeit kosten, die sie nicht hatte. Das Projekt würde schrumpfen müssen, Mitglieder würden das Interesse verlieren und sich verabschieden, und Miras ehrgeiziges Vorhaben würde scheitern. Shelley, die sich abscheulich und lächerlich selbstsüchtig vorkam, ging nach draußen, um den Komposthaufen zu wenden und zu üben, was sie sagen wollte.

Offiziell bepflanzte die Gruppe achtzehn Parzellen Land im Umfeld der Stadt, einige in den Gärten von Altersheimen und Vorschulen, ein Grundstück am Parkplatz einer Zahnklinik und die meisten in den Höfen von Studentenwohnheimen. Den Zugang zum Gelände und das Wasser bezahlten die Guerillagärtner im Tausch gegen die Hälfte ihrer Erträge; den Rest der Ernte teilten sich die Mitglieder, entweder zum Eigenverzehr oder verpackt für Bedürftige oder zum Straßenverkauf unter einem Schild, das die Erzeugnisse in blumiger Sprache als selbst angebaut anpries. Getreu ihrem Gelöbnis verwendeten sie alles Geld, das sie verdienten, ausschließlich für Samen, Erde und Geräte, die sie entweder auch im Tausch bekamen oder vom Schrottplatz holten. Niemand wurde bezahlt, und alles Geld war Gemeinbesitz; im Ergebnis war die Mitgliedschaft fast gänzlich eine Teilzeitbeschäftigung, und selbst Mira, die an der Universität eingeschrieben blieb, um das Studiendarlehen und den jährlichen Beitrag für kursbezogene Zusatzkosten einzustreichen, sah sich ab und zu genötigt, kurzzeitig Arbeit zu suchen.

Mehrere Male hatte Shelley angeregt, einen Aboservice anzubieten – monatliche Lieferungen all ihrer Pflanzungen direkt an die Haustür –, damit sie zuverlässiger ihre Finanzen planen konnten, aber trotz allgemeinen Interesses war daraus nie etwas geworden. Das Problem war nicht nur, dass sie noch nie den Punkt erreicht hatten, an dem ihr Einkommen höher war als die Kosten und Schulden. Es lag auch daran, dass das Richtige zu tun zumindest für Mira mehr bedeutete als bloß den Durchbruch zu schaffen. Ihr Ziel für Birnam Wood war nichts weniger als eine radikale, umfassende und dauerhafte gesellschaftliche Veränderung; und die ließe sich erreichen, davon war sie überzeugt, wenn die Leute einsehen würden, wie viel fruchtbares Land um sie herum Tag für Tag ungenutzt brachlag, wie viel mehr man in der Welt bewirken konnte, wenn alle ihr Wissen und ihre Möglichkeiten zusammenführten, und wie willkürlich und lächerlich engstirnig es war, dass man Land besitzen durfte, ohne zum Benutzen oder Bewohnen verpflichtet zu werden! Die Schwierigkeit bestand natürlich darin, zu entscheiden, ob es besser wäre, mit Protesten das öffentliche Bewusstsein zu wecken und dabei zu riskieren, die Leute abzuschrecken, die es erst noch zu überzeugen galt, oder sich dem Vorwurf der Scheinheiligkeit auszusetzen, indem man das System von innen zu ändern versuchte – doch darauf hatte Mira nie eine eindeutige Antwort. Charakterlich gab es zwei Fraktionen in Birnam Wood: die Ideologen, kämpferisch und selbstbewusst, und die Weltverbesserer, die zuverlässig schwere Arbeit verrichteten, aber selbst in gewisser Weise ein hartes Stück Arbeit waren, da sie starrsinniger als die Ideologen darauf beharrten, dass alle Abweichungen vom Protokoll streng zu ahnden waren. Mira gehörte eigentlich zu keiner der Parteien, aber dass die ideologische Fraktion im Lauf der Jahre geschrumpft war, erfüllte sie mit Beschämung und Ratlosigkeit, und manchmal fragte sich Shelley, ob ihr offenkundiges Desinteresse am finanziellen Überleben von Birnam Wood als Beweis dafür herhalten musste, dass sie sich nicht verkauft hatte.

Mira hatte ein ganz eigenes Verhältnis zu Geld. Sie interessierte sich nicht für Profit und war gleichzeitig vom Wachstum besessen, und sie lehnte ökonomisches Mainstream-Denken nicht nur aus moralischen Gründen ab, sondern auch, weil es die Entfaltung der Fantasie einschränkte. Ungewöhnlich für jemanden mit ihren politischen Ansichten war sie nie depressiv; ihre Überzeugungen waren so beschaffen, dass sie eher einen Sparringspartner erforderten als eine Heilbehandlung. Sie konnte impulsiv, fast schon beängstigend großzügig sein, und schien sich nie (ganz im Gegensatz zu Shelley) Gedanken über die Dinge zu machen, die sie verkaufte oder verschenkte. Doch sie war auch unberechenbar wankelmütig. Dass beispielsweise die Universität nie Kontakt aufgenommen hatte, um den Grund für Miras ständige Abwesenheit zu erfahren, betrachtete sie als Beweis eines raffgierigen Geschäftsmodells, das ihrer Meinung nach die Existenzberechtigung einer Universität so grauenhaft entwürdigte, dass es fast jeden Ungehorsam rechtfertigte. Und dass sie selbst diese Institution nicht mehr als geheiligten Ort des Lernens betrachtete, sondern als rein finanzielles Werkzeug, empfand sie als angemessen. Es machte ihr nichts aus, oder sie tat so, als würde es ihr nichts ausmachen, dass ihre Studienunterlagen für die letzten drei Jahre nur Misserfolge aufwiesen, und obwohl ihr Studienkredit inzwischen mehr als hunderttausend Dollar betrug, erklärte sie, dass diese Schulden sie nicht im Geringsten beunruhigten, weil sie sowieso nicht beabsichtigte, sie jemals zurückzuzahlen.

Überhaupt konnten sie viel von dem, was sie benötigten, umsonst bekommen – nicht nur von der Natur, sondern außerdem durch Sammeln von Weggeworfenem und Durchforsten der Abfalleimer, durch das Abholen von Sperrmüll und dadurch, dass sie einfach um Spenden baten. Von Mira hatte Shelley gelernt, wie man entsorgte Gegenstände in ganz neuem Licht sah, wenn man sie nur mit den Augen eines Sammlers betrachtete. Alte Fensterscheiben konnten als Windschutz dienen; zerlegte Kartons und Teppichreste als Unkrautmatten; halbierte Plastikflaschen fungierten als Hüllen für die Sämlinge, um sie warm zu halten. Jeder Deckel konnte als Tablett für die Sämlinge herhalten, und alles, was Sonnenstrahlen reflektierte, konnte man dahinter aufstellen, um den Lichteinfall zu optimieren. Sie hatte im Lauf der Zeit festgestellt, dass die Leute ihnen umso lieber zu helfen schienen, je eigenartiger die Anfragen waren: So bekamen sie abgeschnittene Haare aus Friseursalons als Mittel gegen Schnecken; alte Strumpfhosen für Kohlköpfe und Blumenkohl, um sie vor Fressfeinden zu schützen; Wollreste als Häubchen über Pflanzen, um die Vögel zu verscheuchen. Auf jeder Fensterbank der winzigen Wohnung, die sie mit Mira teilte, standen Reihen von Sämlingen und jede Pflanztätigkeit wurde in dem für alle Mitglieder zugänglichen Open-Source-Ordner festgehalten, mit Zeitplänen für das Jäten, Wässern und die Pflanzenpflege, mit Tabellen, die anzeigten, welche Arbeiten anstanden, wo die Geräte aufbewahrt wurden, und wofür Geld ausgegeben worden war.

So sah das offizielle Gesicht von Birnam Wood aus, das sie nach außen zeigten, wenn sie neue Mitglieder anwarben und Landbesitzer zu gewinnen versuchten; in Wahrheit war ein Großteil ihrer Pflanzungen ohne Genehmigung auf öffentlichen oder verwahrlosten Grundstücken gesetzt worden. Sie wählten robuste mehrjährige Gewächse, schnell wachsende jährliche Sorten oder – wenn der Boden es erlaubte – Wurzelgemüse, das man aus der Entfernung mit Unkraut verwechseln konnte, und säten sie an Feldrändern und Zäunen, neben Autobahnausfahrten, auf Abbruchgrundstücken und auf Schrottplätzen voll kaputter Autos. Um nicht entdeckt zu werden, führten sie diese Guerillapflanzungen sehr früh morgens durch, und wenn sie es bei Tageslicht taten, trugen sie Warnwesten, um zu wirken, als täten sie etwas Genehmigtes. Das Wasser war ihr größtes Problem, weil es schwer zu transportieren war. Ein Zwanzigliterkanister hinten auf dem Fahrrad bot einen zu auffälligen Anblick, als dass man das in regelmäßigen Abständen hätte riskieren wollen, und auch die selbst gebastelte Tröpfchenbewässerung aus perforierten Plastikbehältern hatte den Nachteil, Blicke anzuziehen. Da schien es erfolgversprechender, Regenwasser aufzufangen, sich aus Teichen und Flüssen zu bedienen oder Bewässerungsanlagen auf Privatgrundstücken anzuzapfen, wobei sie stets darauf bedacht waren, falls man sie erwischte, nie ihre echten Namen oder den von Birnam Wood preiszugeben.

Shelley war keine geborene Lügnerin, und auch wenn ihre Übergriffe harmlos oder gerechtfertigt erschienen, konnte sie sich nie ganz von der Angst befreien, ertappt zu werden. Das kam selten genug vor, doch wenn es geschah, vergaß sie mit einem Mal sämtliche Verteidigungsstrategien, die Mira ersonnen hatte – dass sie nur ernteten, was sie selbst gesät hatten, dass sie dem Boden und der Luft mindestens so viel zurückgaben, wie sie genommen hatten, dass ein Großteil ihrer Ernte für Bedürftige bestimmt war, und, wenn es ganz anarchistisch wurde, dass Landbesitzer schließlich Diebstahl in weit größerem Maß begangen hätten, einfach dadurch, dass sie Landbesitzer waren. Sie schämte sich dann so sehr, dass ihr die Worte fehlten und andere Mitglieder der Gruppe eine der Ausreden vorbringen mussten, die sie sich zurechtgelegt hatten, um das Verhör so lange auszudehnen, bis sie weglaufen konnten.

Doch ihre Übergriffe waren mehr als bloße Besitzstörungen. Ihre Pflanzungen verdrängten manchmal lokale Gewächse oder breiteten sich so stark aus, dass eine Entfernung mit hohen Kosten verbunden war; es kam vor, dass sie eine ihrer Pflanzungen mit Unkrautvernichter besprüht oder verbrannt vorfanden. Die Guerillagärtner nahmen sich Stecklinge aus Vorortgärten, sammelten Blattabfälle in Parkanlagen und holten Dünger vom Ackerland. Mira hatte sich auf Obstplantagen bedient – knospende Zweige von Braeburn- und Royal-Gala-Apfelbäumen gebrochen, die sie auf Wildapfelstämme pfropfte – und hatte aus ungesicherten Gartenschuppen Geräte gestohlen, aber nur, wie sie versicherte, in wohlhabenden Gegenden und nur Geräte, die offenbar kaum benutzt wurden. Aber ihre Freiheit war ihr wichtig genug, solche Diebstähle nicht zu übertreiben, und sie achtete darauf, dieses kriminelle Tun vor den meisten Mitgliedern von Birnam Wood zu verbergen, um es sich mit ihnen nicht zu verscherzen. Und das, dachte Shelley, während sie den Kompost wendete und den süßlichen Geruch des verrotteten Grünzeugs freisetzte, war in den letzten Jahren ihr wichtigster Beitrag zu der Gruppe gewesen: dass sie Mira durch ihre nach außen recht unerwartete Verbindung die fehlende Glaubwürdigkeit der Normalität verlieh. In ihrer Rolle als Unterstützerin, in der sie mehr als Schutzschild denn als ergebener Fan fungierte, sorgte sie dafür – hatte sie dafür gesorgt –, dass nicht nur Miras Image aufpoliert wurde, sondern auch das wahre Antlitz von Birnam Wood nicht nach außen drang.

Sie hörte ein Geräusch im Kies und drehte sich überrascht um, denn selbst mit Rückenwind konnte Mira nicht so schnell nach Hause gekommen sein. Doch wer die Einfahrt entlangkam, war ein gebräunter bärtiger Mann um die dreißig, mit leicht hängenden Schultern, die langen Haare aus der Stirn geschoben und die Daumen in die Gurte seines Rucksacks gesteckt. Er trug einen karierten Schal und einen unförmigen Wollmantel, die beide eindeutig secondhand aussahen.

»Hi«, sagte er. »Ich bin auf der Suche nach Mira. Bunting?«

Shelley starrte ihn an. »Tony?«

»Oh, Mist«, sagte er.

Er war kleiner, als sie in Erinnerung hatte, und die Sonnenbräune ließ seine blauen Augen noch blauer wirken.

»Shelley«, erinnerte sie ihn, »Shelley Noakes.«

»O Gott«, sagte er. »Tut mir echt leid. Ist vermutlich eine Weile her.«

Doch sein gerötetes Gesicht verriet, dass er sich nicht an sie erinnern konnte und nun hilflos in seinem Gedächtnis nach irgendeiner Information über sie suchte, weil ihr Name ihm nichts sagte. Um ihm auf die Sprünge zu helfen, erklärte Shelley: »Du bist weggegangen, als ich gerade neu in der Gruppe war« – doch das war reine Höflichkeit, denn tatsächlich hatten sie sich um mehrere Monate überschnitten. »Das ist jetzt echt schon ein paar Jahre her – mein Gott. Du wolltest ins Ausland.«

»Stimmt«, sagte er mit gehetztem Blick. »Bin gerade erst zurückgekommen.«

»Es war irgendwas mit Unterrichten in einem anderen Land, nicht? Irgendwo in Südamerika.«

Er wurde noch röter. »Mexiko«, sagte er. »Also eigentlich noch Nordamerika. Aber egal. Es war ziemlich gut. Dachte wirklich, ich würde nie zurückkommen.«

»Klar.«

Er sah zum Haus, immer noch errötet. »Komisch, wieder hier zu sein. Alles ist wie immer und gleichzeitig total anders, weißt du?«

»Klar«, sagte Shelley wieder.

»Aber das hier sieht irre aus«, mit einer Geste zum Komposthaufen, den Foliengewächshäusern und dem Pflanztisch. »Hab gehört, ihr seid noch schwer aktiv?«

»Ja«, sagte sie und blickte sich auch um. »Werkstatt des Weihnachtsmanns.«

»Genau«, sagte er und lachte. Er sah erleichtert aus. »Du wohnst mit Mira zusammen?«

»Ja«, antwortete Shelley. »Das hab ich auch damals schon. Kurz vor deiner Abreise sind wir in die Wohnung an der Hanson Lane gezogen. Etwa einen Monat davor.«

Eine kurze Pause.

»Ich weiß noch, dass deine Abschiedsparty ziemlich wild war«, sagte sie.

»Hey«, sagte er. »Ich weiß. Tut mir echt leid …«

»Ach was«, erwiderte sie mit einer wegwerfenden Geste. »Ich mach dir nur ein schlechtes Gewissen.«

»Also – ich glaube, ich war damals ein riesiger Idiot.«

»Na ja«, sagte sie. »Vielleicht ein bisschen. Riesig würde ich nicht sagen.«

»O Mann«, sagte er und hielt sich die Hände an den Kopf. »Okay. Du machst dich über mich lustig.«

Sie grinste ihn an. »Hab ich dir damals nicht Geld geliehen? Gar nicht so wenig. Ja, ich glaube, so war das. Und du hast es nie zurückgezahlt.«

Jetzt musste er auch lächeln. »Das macht dir richtig Spaß, oder?«

»Es ist eine sehr machtvolle Position«, gab Shelley zurück. »Die kann ich doch nicht ungenutzt lassen.«

Sie erkannte sich fast nicht wieder. Das Adrenalin, das sich angestaut hatte, als sie sich für ihre Auseinandersetzung mit Mira vorbereitet hatte, sorgte dafür, dass sie jetzt auf eine für sie völlig untypische Art sprach und agierte; sie kam sich gefährlich waghalsig und zugleich gefährlich gelassen vor. Die normale Shelley hätte sich für ihn schlecht gefühlt, hätte sich dafür entschuldigt, dass sie keinen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte, hätte ihm versichert, dass sie nicht erwartete, er könne sich irgendwie an sie erinnern, da alles ohnehin so lange her war und ihre Freundschaft so flüchtig und diese Zeit so verschwommen. Die normale Shelley hätte ihn mit schwesterlicher Nachsicht damit aufgezogen, dass er damals so heillos in Mira verliebt war – was alle gewusst hatten –, dass seine Gedächtnislücken nur zu verständlich waren, denn es sei völlig einleuchtend, dass er sich an nichts anderes als an sie erinnern konnte. Und da sie bereits auf einer gemeinsamen Gefühlswelle unterwegs waren und damit er sich besser fühlte, hätte die normale Shelley ihm vielleicht sogar anvertraut – obwohl ihr das eigentlich nicht zustand –, dass er für Mira immer derjenige welcher gewesen war.

Aber sie war nicht die normale Shelley. Ihr hatte sich eine Lösung präsentiert, eine saubere und eiskalt perfekte Exitstrategie. Sie würde mit Tony schlafen. Sie würde mit ihm schlafen und es Mira gestehen, was Mira ihr nicht verzeihen könnte. Es wäre keine Konfrontation nötig, keine Entschuldigungen und tränenreichen Erklärungen oder lange Auseinandersetzungen bis tief in die Nacht. Es gäbe nichts zu sagen. Es gäbe nur den Sachverhalt ihres Verrats, den Mira nicht verzeihen konnte. Und ob Shelley Birnam Wood dann auf eigenen Wunsch verließe oder weil Mira es verlangte, machte keinen Unterschied. Sie würde mit Tony schlafen, und danach wäre ihr Abgang keine Frage mehr, sondern ein Fakt.

»Ist sie zu Hause?«, fragte Tony. »Ich hab ja nicht vorher angerufen oder so …«

»Sie kommt erst in ein paar Stunden zurück«, erwiderte Shelley und merkte, dass ihr das Lügen nicht schwerfiel; sie unterbrach nicht den Blickkontakt, errötete nicht. »Hey«, sprach sie ungezwungen weiter, als wäre ihr gerade ein Gedanke gekommen, »willst du irgendwo was trinken?«

Er zögerte, doch er wusste, dass er ihr das schuldig war und kaum sagen konnte, er sei anderweitig verabredet. Mit ihrer neuen und übernatürlichen Selbstsicherheit befürchtete Shelley nicht, er würde ihr einen Korb geben. Sie würde mit ihm schlafen, heute Nacht.

»Sicher«, sagte er, klang aber wenig überzeugt. »Ja, gehen wir.«

»Prima«, sagte Shelley. »Ich hole nur schnell mein Handy.«

Tony Gallo hatte nicht die ganze Wahrheit gesagt: Er war seit fast fünf Wochen in Neuseeland, und obwohl er es nie zugegeben hätte, hatte er Shelley zweimal aus der Entfernung beobachtet, auch wenn er sich nicht an sie erinnern konnte. Beide Male war sie mit Mira zusammen gewesen; beim ersten Mal waren sie mit dem Fahrrad über den Campus des Colleges für Lehrerausbildung gefahren, Shelley übers ganze Gesicht grinsend, während Mira einhändig fuhr und wie wild gestikulierte, um einen Witz zu begleiten. Das zweite Mal hatten sie im Müll hinter dem Trödelladen des Wertstoffhofs gestöbert, wo Mira an Samstagvormittagen gearbeitet hatte. Gleich am ersten Samstag, nachdem er sie auf dem Fahrrad gesehen hatte, war er dort hingefahren in der Hoffnung, ihr Einsatzplan hätte sich in all den Jahren seiner Abwesenheit nicht geändert. Und so war es auch, doch als er auf den Parkplatz fuhr und den Wagen ausschalten und aussteigen wollte, sah er, dass Mira wieder ins Gespräch vertieft war, diesmal ernsthaft, und gedankenvoll nickte, während Shelley sprach. In keiner von Tonys Fantasien über ihre Wiederbegegnung war eine dritte Person vorgekommen; und sie so absorbiert von dem zu sehen, was Shelley sagte, machte ihn plötzlich fassungslos – als bewies ihre völlige Konzentration auf den gegenwärtigen Augenblick, wie wenig sie inzwischen an ihn dachte und wie selten sie sich mit der Vergangenheit beschäftigte. Sie trug wie Shelley einen Overall und Sicherheitsschuhe mit Stahlkappe, und als er im Wagen saß, die Hand am Zündschlüssel, war er sich plötzlich seiner eigenen frisch gewaschenen Kleidung peinlich bewusst, dem Duft nach dem Eukalyptus-Weichspüler seiner Mutter, der mehr als alle anderen Kindheitsgerüche mit seinem Zuhause verbunden war. Ein paar Sekunden später sagte Shelley etwas, woraufhin Mira den Kopf in den Nacken legte und lachte, und reflexartig setzte Tony den Wagen vom Parkplatz, legte den ersten Gang ein und fuhr davon, die Schultern unnatürlich tief über das Lenkrad gebeugt, und hoffte, sie würde nicht hersehen und das Nummernschild des Autos seines Vaters erkennen.

Sein Erscheinen vor der Wohnung am Nachmittag war sorgfältiger vorbereitet, von seiner Kleidung über sein Ankommen bis zum Inhalt seines Rucksacks, darunter sein Tagebuch, sein Füllfederhalter, eine alte 35-Millimeter-Kamera und mehrere Bücher, die er schon gelesen hatte. Er war mit dem Bus gefahren, wollte um kurz nach vier Uhr da sein – das schien ihm eine respektvolle Uhrzeit für einen Besuch und auch noch früh genug, dass er sich auf die Türschwelle setzen und ein wenig lesen konnte, falls niemand zu Hause war, ohne den Eindruck zu machen, er wolle ihr auflauern. Er hatte zwar nicht angerufen, aber das gehörte zu der Abmachung zwischen ihm und Mira, so wenig wie möglich über das Netz zu kommunizieren – und außerdem war der Vertrag für sein altes Handy in Neuseeland abgelaufen, und beim Wechsel zu einem neuen Provider waren alle Telefonnummern verloren gegangen. Jetzt kam ihm diese ganze gedankliche Vorbereitung ziemlich albern vor. Beim Warten darauf, dass Shelley ihre Sachen holte und die Tür abschloss, ließ er den Blick über den Hof schweifen, all die Zeichen von Betriebsamkeit und Produktivität, und wieder überkam ihn das düstere Gefühl der Überflüssigkeit in Miras Leben. Es war nicht zu übersehen, dass Birnam Wood während seiner Abwesenheit Fortschritte gemacht hatte, das allein fühlte sich schon bittersüß an; und obwohl er sich ganz bewusst auf die Möglichkeit vorbereitet hatte, dass Mira in einer Beziehung war, vielleicht sogar in einer sehr ernsthaften Beziehung, kam ihm plötzlich die Erkenntnis, dass es am Ende noch schrecklicher wäre zu erfahren, dass sie Single war.

Tonys Heimkehr war für ihn unerwartet deprimierend verlaufen. Zynismus und Spott mochte er nicht und seine Geschwister hatten mit ziemlich kleingeistig-provinziellem Triumph reagiert, als das Ende seines Visums ihn genötigt hatte zurückzukehren; er nahm mit Unbehagen wahr, wie er zuvor schon zu Shelley gesagt hatte, dass alles anders geworden und gleichzeitig beim Alten geblieben war. Sein jüngerer Bruder und sein Vater hatten in seiner Abwesenheit zu enger Vertrautheit gefunden, doch auf eine Weise, die ihm vorkam wie eigens inszeniert, um ihm vor Augen zu führen, was ihm alles entgangen war. Das Mitleid seiner Schwestern war fast unerträglich, und dass seine Mutter sich mit der unübersehbaren Verachtung seines Vaters ihr gegenüber abfand, versetzte ihn in ohnmächtigen Zorn. Das offenkundige Desinteresse der Familie an seinen Abenteuern in Übersee verletzte ihn und bewirkte, dass er beinahe sofort in den Zustand eines schmollenden Jugendlichen zurückfiel, ohne dass er es hätte kontrollieren können. Das war der eigentliche Grund, dass er Mira nicht früher angerufen hatte: Er hatte den Großteil der letzten fünf Wochen in einem Teufelskreis aus Zorn und ohnmächtiger Verbitterung verbracht, was nicht gerade attraktiv wirkte, und er wusste, dass er diese Gefühlslage nicht würde verbergen können.

Tony war das mittlere von fünf Geschwistern und empfand sich als Ausnahme in seiner Familie, die, ungewöhnlich für Neuseeland, zutiefst katholisch war, konservativ und sich an äußerst strenge Regeln hielt. Seine Geschwister waren alle dem Beispiel des Vaters gefolgt, die Schwestern in den von ihm vorgelebten Arztberuf, der jüngere Bruder ins Priesterseminar, was der Jugendtraum des Vaters gewesen war. Dass er diesen Weg nicht eingeschlagen hatte, wurde zum beherrschenden Thema in Dr. Gallos persönlicher Legende und darüber hinaus auch in der Familienlegende, die er dahingehend steuerte, dass er als gescheiterter Zölibatär die Existenz seiner Frau und Kinder mit Enttäuschung und tiefem Bedauern betrachtete. Sein eigener Vater, Tonys Großvater Gallo, war als Abgesandter zum Heiligen Stuhl gereist und eine so großartige Figur in der Familienerzählung, dass Tony ihn als Kind mit dem Papst verwechselt hatte und sich vor den Nachbarskindern damit brüstete, sein Großvater wache über die Schlüssel zum Himmel, nicht metaphorisch, sondern tatsächlich, was er aus einer halbverstandenen Ostersonntagspredigt abgeleitet hatte. Als sein Vater das erfuhr, strich er Tony für einen Monat das Taschengeld. Dr. Gallos Lieblingsmethode, für Disziplin zu sorgen, bestand darin, die Kinder nach eigenem Gutdünken für unbestimmte Zeit zu bestrafen. Am Kühlschrank hatte er einen Kalender angebracht, in dem verzeichnet wurde, welchem Kind welche Extras vorenthalten wurden und wie lange: Taschengeld, aber auch Fernsehen, Computer, Abholen von der Schule an Regentagen, Trampolin, Dessert, Kakao zur Schlafenszeit, Spielen im Wohnzimmer oder Snacks zwischen den Mahlzeiten. Tony war das Kind, das am meisten bestraft wurde. Als ältester Sohn und drittes Kind trug er die Last sowohl der Erwartungen als auch der Ungeduld seines Vaters, und als Ergebnis war sein moralischer Kompass, seit er sich erinnern konnte, gekennzeichnet von einem starken Gefühl der eigenen Verdammnis und dem sehnlichen Wunsch, dass Bestrafung und Vergehen ausnahmsweise einmal im passenden Verhältnis zueinander standen.

Es war daher unvermeidlich gewesen, dass Tony sich in einem Akt jugendlicher Rebellion vom Glauben verabschiedet hatte. Er war ein aufgeweckter Junge, stolz auf seinen Intellekt, oft kritisch bis zur Entrüstung und ablehnend gegen jede Form von Heuchelei, und das galt auch, wie er betonte, für ihn selbst; und obwohl ihm klar war, dass sein Entschluss, nicht mehr in die Messe zu gehen, mehr als eine bloße Launenhaftigkeit war – für Beerdigungen und Hochzeiten machte er eine Ausnahme, allerdings ohne Teilnahme an der Kommunion, am Knien oder Singen –, gab er sich Mühe, seinen Atheismus ebenso zu hinterfragen und zu überprüfen wie früher seinen Glauben. Intellektuelle Entschiedenheit war das, was er an anderen am meisten bewunderte, vor allem in Verbindung mit dem Hang zu debattieren. Da weder seine Geschwister noch seine Schulkameraden darüber verfügten, tauschte er sich im Internet mit Fremden aus, auf schlecht programmierten Diskussionsforen, den Vorläufern von Twitter und Facebook, wo die Kommunikation unbeständig und Anonymität garantiert war. Je mehr seine Rhetorik und seine Lektüregewohnheiten sich verfeinerten, desto größer wurde seine Verachtung für das, was an seiner Highschool als Bildung galt – die ständigen Tests, das Unverständnis für abweichende Meinungen und das konformistische Feiern des geschliffenen und beflissenen Allround-Schülers, der ein hohes Einkommen zu erwarten hatte, pflegeleicht und höflich war, grundsätzlich gut aussah und sich im Musikunterricht hervortat sowie sommers wie winters im Sport. Aus Protest vernachlässigte Tony seine Schularbeiten und überraschte seine Eltern dennoch jedes Jahr, wenn er die besten Prüfungsnoten nach Hause brachte.

An der Universität machte er seinen Bachelor-Abschluss in politischer Philosophie und hatte in Seminaren bald den Ruf weg, stets auf Konfrontation zu gehen. Das ging so weit, dass er schließlich aufgefordert wurde, wie man das zu der Zeit ausdrückte, »seine Privilegien zu hinterfragen«, meistens, wie es ihm schien, in dem Augenblick, wenn seinem Diskussionsgegner die Argumente ausgingen. Wie es heißt, erlebt man die Politik zuerst zu Hause, und der autokratische Dr. Gallo regierte seinen Haushalt so unnachgiebig und erkennbar ungerecht, dass Tony sich daran gewöhnt hatte, ständig im Aufstand zu sein. Sein Leben lang hatte man ihn übersehen, unterjocht, verlacht und ihm keine Möglichkeit zur Selbstverteidigung gelassen, und so ließ er sich auch jetzt nicht einreden, dass sein einziges Werkzeug der Befreiung aus Dr. Gallos Tyrannei – der Einsatz seines Verstandes – nur ein weiterer Beweis dafür wäre, dass er der Unterdrückerklasse angehörte. Er empfand sich nicht als Opfer, denn er war zu stolz, sich diesem Begriff zu unterwerfen, sondern erlaubte sich offenen Widerstand; sein Intellekt war seine Freiheit, und die größte Unverschämtheit war für ihn, wenn sein Vokabular oder sein rhetorischer Stil gemaßregelt wurden. Nach dem Bachelor-Abschluss machte er den Master mit einer Kritik der Unmenschlichkeit poststrukturalistischen politischen Denkens, und an diesem Punkt hatte er das Gefühl, die Grenzen dessen erreicht zu haben, was eine abgelegene, bevölkerungsarme und historisch unbelastete Insel ihm bieten konnte. Zwei Tage vor seinem Abschluss starb Großvater Gallo und hinterließ ein Erbe an Grundbesitz, das wesentlich größer und lukrativer war, als die Verwandten sich hätten träumen lassen, und als alles geregelt war und die Erben ausgezahlt waren, kaufte sich Tony sofort ein Ticket nach Übersee.

Shelley kam aus dem Haus in einer Daunenjacke und mit einem kleinen Rucksack, und Tony setzte eine Miene höflicher Erwartung auf, als sie den Riegel verschloss und ihre Schlüssel einsteckte. »Alles in Ordnung«, sagte sie und lächelte. Er lächelte zurück und deutete mit der Hand an, dass sie vorausgehen solle.

Es beunruhigte ihn, dass er sich nicht an sie erinnern konnte. Tony hielt sich zugute, Frauen mit vernünftigem Respekt zu begegnen – vernünftig, weil nicht ganz ohne Vorbehalte. Er hatte nichts an den grundsätzlichen Zielen des Feminismus auszusetzen und hätte, davon war er überzeugt, jedes einleuchtende Pro-Argument gutgeheißen; doch im Verlauf seines dritten Lebensjahrzehnts hatte ihn die vorherrschende Orthodoxie in der feministischen Linken zunehmend befremdet, da sie seiner Meinung nach das edle Ziel der Geschlechtergleichheit aufgegeben hatte und es ihr bloß noch um reinen Eigennutz oder Rache ging. Er konnte sich nicht mit einer Weltsicht abfinden, deren Argumente er nicht infrage stellen durfte, und ihn verärgerte, dass ihm ständig vorgehalten wurde, automatisch ein Zerrbild aus Macht und Ansprüchen zu verkörpern, ungeachtet seiner Absichten, seiner Gefühle oder Gedanken und seines Handelns. Aber er konnte nicht leugnen, dass er diesmal, indem er Shelley Noakes vergessen hatte – und er konnte sich wirklich nicht an sie erinnern –, tatsächlich diesem Bild entsprochen hatte, und das irritierte ihn. Dunkel hatte er das Gefühl, als wäre er in eine Falle gelockt worden – nicht von Shelley, sondern von allen Frauen, die ihn in der Vergangenheit ohne jede Grundlage des Sexismus bezichtigt hatten.

»War das Programm gut?«, fragte Shelley, als sie die Einfahrt entlanggingen. »Was hast du unterrichtet? Würdest du den Lehrplan empfehlen? Warst du zufrieden?«

»Selbst Interesse hinzugehen?«

»Vielleicht«, sagte Shelley in einem Ton, als wäre sie überrascht. »Vielleicht, ja.«

»Ich könnte mich für dich einsetzen«, sagte Tony. »Ich meine, wenn es dir damit ernst ist. Es gibt genug Leute, mit denen ich dich zusammenbringen könnte.«

»Aber ein bisschen gefährlich, wenn du mich gar nicht kennst.«

»Na ja, ich nehme an, du bist kein Axtmörder. Diesen Vibe spüre ich bei dir nicht.«

Sie dachte darüber nach. »Warum verwenden wir immer den Begriff ›Axtmörder‹, aber nie ›Waffenmörder‹ oder ›Messermörder‹?«

»Oder ›Kettensägenmörder‹.«

»›Kettensägenmörder‹ würde ich verwenden.«

»Ehrlich?«

»Unbedingt«, sagte sie. »Da steckt doch die wichtigste Info drin. Die würde man nicht verschweigen.«

»Aber würdest du sagen: ›Sie war eine Mörderin und hat eine Kettensäge benutzt‹?«

»Hallo?«, sagte Shelley. »Warum ›sie‹?«

»Bist du hier nicht das Beispiel?«

»Okay«, sagte sie. »Das wäre dann eine ›Kettensägenmörderin‹. So würde man mich nennen: ›Kettensägenmörderin‹.«

»Klingt wie der Name einer Rockband.«

»Das finden alle. Kurz bevor ich ihnen das Gesicht wegschneide.«

Tony lachte. »Na gut«, sagte er. »Langsam lernen wir uns kennen.«

Sie gingen eine Zeitlang schweigend.

»Aber erzähl mir davon«, sagte sie. »Du hast Englisch unterrichtet? Welche Seminare? Was für Studenten – wie alt waren die? Hatten sie Stipendien vom Staat? Wie war das alles?«

Es waren die Fragen, die seine Familie nie gestellt hatte – und nach denen er sich lange gesehnt hatte; und als er zu antworten begann, seine Erfahrungen in Mexico City schilderte, sein Dasein als Dozent, seine Kollegen, die Essays, die er veröffentlicht hatte, die Demonstrationen, an denen er teilgenommen hatte, und die Freunde, die er gewonnen hatte, empfand er zum ersten Mal seit seiner Rückkehr Freude und Zufriedenheit. Er stellte überrascht fest, dass er tatsächlich stolz sein konnte – dass er stolz war auf alles, was er dort gesehen und getan hatte, und dass er sich ganz bedeutsam fühlte durch seine kosmopolitischen Erfahrungen, die ihn zu Hause aber nur als Deserteur brandmarkten, als lästigen Angeber und als Abtrünnigen, der sich nicht nur von seiner Religion abgewandt hatte, sondern von seiner Familie, seinem Land und sogar, was nun völlig unverständlich war, von sich selbst. Shelley war nicht viel gereist, aber sie reagierte weder neidisch noch ungeduldig, als er ihr von seinen Rucksackreisen durch Guatemala, Honduras und Nicaragua erzählte, von Brasilien und Venezuela, von Ecuador, Chile und Peru. Stattdessen fragte sie ihn mit ehrlichem Interesse über das Essen aus, die lokalen Gepflogenheiten, welche Unterschiede ihm zwischen den Ländern aufgefallen waren, ob er sich von Vorurteilen befreit hatte und ob er sich verändert vorkam. Sie war eine gute Zuhörerin, wissbegierig, aufmerksam und empathisch, und sie hatten fast zwanzig Minuten lang geredet, ehe das Gespräch auf sie kam – und Tony war erneut überrascht und erfreut, als er merkte, wie viel sie gemeinsam hatten.