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Ein Spielzeugladen löst sich in Luft auf.
England im Herbst 1938. Um seine Schreibblockade zu lösen, begibt sich der Lyriker Richard Cardogan nach Oxford. Kaum in der Universitätsstadt angekommen, ist ihm die exakte Adresse seiner Unterkunft entfallen. So stolpert er prompt in einen Spielzeugladen und darin über die Leiche einer Frau. Bevor er auch nur einen klaren Gedanken fassen kann, trifft ihn ein Schlag auf den Hinterkopf und er findet sich am folgenden Tag auf dem Boden des Lagerraums wieder. Dort muss er feststellen, dass die Leiche spurlos verschwunden ist und der Laden sich obendrein unerklärlicherweise in ein Lebensmittelgeschäft verwandelt hat. Die Polizei hält ihn für einen Spinner und so kann ihm nur noch sein alter Freund, Oxford-Professor Gervase Fen, helfen …
„Der wandernde Spielzeugladen“ ist Edmunds Crispins berühmtester Roman um den exzentrischen Amateurdetektiv Gervase Fen.
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Seitenzahl: 344
Edmund Crispin (eigentlich Bruce Montgomery) wurde 1921 geboren. Er studierte an der Merchant Taylors School und am St. Johns College Oxford moderne Sprachen und war dort zwei Jahre als Organist und Chorleiter tätig. Nach kurzer Lehrtätigkeit widmete sich Crispin ganz dem Komponieren – hauptsächlich von Filmmusik – und dem Schreiben. Einige Jahre war er Krimi-Kritiker bei der Sunday Times in London. Bis zu seinem Tod im Jahre 1978 lebte Crispin in Devon.
»Also gut, Fahrer. Sie können hier anhalten«, sagte Cadogan aufgeregt. »Da haben wir rechts von uns die Kirche, dort ist der Durchgang, aus dem ich kam, und dort...«
Der Polizeiwagen fuhr an den Bordstein. Cadogan zog sich in seinem Sitz hoch, hielt inne und starrte ungläubig hinaus. Eine Apotheke und ein Textilgeschäft. Weiter rechts ein Metzger, ein Bäcker, ein Schreibwarenladen und links ein Samenhändler, ein Hutladen, noch eine Apotheke ... Der Spielzeugladen war verschwunden.
Ein vergnüglich-verwirrender Fall aus Oxford: Wo ein Spielzeugladen sich in Luft auflöst, wird alles zum humorvollen Spiel.
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Edmund Crispin
Der wanderndeSpielzeugladen
Roman
Aus dem Englischen von Eva Sobottka
Über Edmund Crispin
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1. Die Episode vom draufgängerischen Dichter
2. Die Geschichte vom unschlüssigen Universitätsdozenten
3. Die Episode vom mitteilsamen Anwalt
4. Die Episode vom empörten Austenianer
5. Die Episode von der entbehrlichen Zeugin
6. Die Episode vom ehrbaren Lastwagenfahrer
7. Die Episode von der netten jungen Dame
8. Die Episode von der exzentrischen Millionärin
9. Die Episode vom missratenen Medium
10. Die Episode vom unterbrochenen Seminar
11. Die Episode vom neurotischen Doktor
12. Die Episode vom fehlenden Bindeglied
13. Die Episode vom rotierenden Professor
14. Die Episode vom weit blickenden Satiriker
Impressum
Nicht eins der Prachtschauspiele voller Leben
kommt einem toten Körper gleich.
Charles Wesley: Beim Anblick einer Leiche
Für Philip Larkin
in Freundschaft und Hochachtung
Richard Cadogan hob seinen Revolver, zielte bedächtig und drückte den Abzug. Der Schuss hallte durch den kleinen Garten und sorgte, ähnlich den sich ausweitenden Kreisen, die von einem ins Wasser geworfenen Kieselstein ausgehen, im gesamten Vorort St. John’s Wood für eine Welle der Aufregung und Unruhe, deren Intensität erst langsam wieder verebbte. Aus den verrußten Bäumen, deren Blätter im herbstlichen Sonnenlicht braun und golden erstrahlten, stoben Schwärme aufgeschreckter Vögel. In der Ferne begann ein Hund zu jaulen. Richard Cadogan ging zur Zielscheibe hinüber und inspizierte sie entmutigt. Nicht ein Kratzer war daran zu erkennen.
»Ich habe danebengeschossen«, sagte er nachdenklich. »Erstaunlich.«
Mr. Spode, Teilhaber von Spode, Nutling und Orlick, einem auf anspruchsvolle Literatur spezialisierten Verlag, klimperte mit dem Kleingeld in seiner Hosentasche – vermutlich, um auf sich aufmerksam zu machen. »Fünf Prozent für das erste Tausend«, bemerkte er. »Siebeneinhalb für das zweite Tausend. Mehr werden wir wohl kaum verkaufen. Kein Vorschuss.« Er hüstelte unsicher.
Cadogan kehrte auf seine alte Position zurück, während er mit einem leichten Stirnrunzeln den Revolver untersuchte. »Man darf damit nicht zielen, das wird es sein«, sagte er. »Man muss aus der Hüfte schießen.« Er war schlank, hatte markante Gesichtszüge, arrogant wirkende Augenbrauen und strenge dunkle Augen. Dieses calvinistische Erscheinungsbild wurde ihm nicht gerecht, denn tatsächlich war er ein freundlicher, bescheidener und romantischer Mensch.
Zeichenerklärung
A Spielzeugladen (zweite Position)
G Das ›Mace and Sceptre‹
B St. Christopher’s
H Sheldonian
C St. John’s
I Rosseters Kanzlei
D Balliol
J Markt
E Trinity
K Polizeiwache
F Lennox
L Spielzeugladen (erste Position)
»Ich nehme an, Sie sind damit einverstanden?«, fuhr Mr. Spode fort. »Das sind die üblichen Bedingungen.« Wieder war sein leises Hüsteln zu hören. Mr Spode hasste es, über Geld zu reden.
Krumm vornübergebeugt las Cadogan laut aus einem Buch vor, das zu seinen Füßen im vertrockneten, stoppeligen Gras lag. »›Bei allen Pistolenschüssen‹«, verkündete er, »›schaut der Schütze auf das anvisierte Ziel, nicht auf die Pistole.‹ Nein. Ich will einen Vorschuss. Mindestens fünfzig Pfund.«
»Wie kommt es, dass Sie plötzlich zum Waffennarren geworden sind?«
Mit einem leisen Seufzer richtete Cadogan sich auf. Er konnte jeden Monat seiner siebenunddreißig Jahre spüren. »Hören Sie«, sagte er. »Es wäre besser, wenn wir beide zur gleichen Zeit über das gleiche Thema reden könnten. Wir sind hier nicht in einem Stück von Tschechow. Außerdem lenken Sie ab. Ich habe einen Vorschuss auf mein Buch verlangt – fünfzig Pfund.«
»Nutling … Orlick …« Mr. Spode gestikulierte umständlich vor sich hin.
»Sowohl Nutling als auch Orlick sind doch die reinsten Hirngespinste.« Richard Cadogan blieb unbeugsam. »Das sind doch Prügelknaben, die Sie erfunden haben, um sich mit Ihrem Geiz und Ihrem Banausentum hinter ihnen zu verstecken. Hier stehe ich, allgemein anerkannt als einer der drei wichtigsten lebenden Dichter, über den drei Bücher veröffentlicht wurden (alle ganz furchtbar, aber lassen wir das) und über den in allen Darstellungen der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts ausführliche Lobreden geschwungen werden …«
»Ja ja.« Mr. Spode hob die Hand wie jemand, der versucht, einen Bus anzuhalten. »Natürlich sind Sie zweifellos sehr bekannt. Sicher.« Er hustete verlegen. »Aber leider bedeutet das nicht, dass viele Menschen Ihre Bücher kaufen. Die Mehrheit der Leute ist eben ungebildet, und der Verlag ist nicht so wohlhabend, dass wir uns erlauben könnten …«
»Ich werde eine Reise unternehmen, und ich brauche Geld.« Cadogan verscheuchte eine Mücke, die um seinen Kopf schwirrte.
»Ja, natürlich. Aber sicher … wie wäre es mit noch ein paar frechen Liedtexten fürs Kabarett?«
»Lassen Sie mich Ihnen eines sagen, mein lieber Erwin« – hier stieß Cadogan seinem Verleger warnend den Finger vor die Brust – »dass ich zwei Monate mit einem Kabarett-Stückchen verplempert habe, weil mir kein Reim auf ›britisch‹ einfallen will…«
»›Kritisch‹«, schlug Mr. Spode zaghaft vor.
Verächtlich sah Cadogan ihn an. »Außerdem«, fuhr er fort, »habe ich es satt, mir meinen Lebensunterhalt mit Liedtexten zu verdienen. Mag sein, dass ich einen betagten Herausgeber zu ernähren habe« – wieder tippte er Mr. Spode an die Brust – »aber alles hat seine Grenzen.«
Mr. Spode wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab. Sein Profil war beinahe ein perfekter Halbkreis – die hohe Stirn, die nahtlos in eine Glatze überging, die nach unten gebogene Hakennase und das fliehende Kinn, das kraftlos und erbarmungswürdig in seinem Hals verschwand.
»Wie wäre es«, wagte er sich vor, »mit fünfundzwanzig Pfund?«
»Fünfundzwanzig Pfund! Fünfundzwanzig Pfund!« Cadogan fuchtelte bedrohlich mit seinem Revolver. »Wie soll ich mit fünfundzwanzig Pfund eine Reise bezahlen? Ich bin völlig ausgebrannt, mein lieber Erwin. Ich kann St. John’s Wood nicht mehr sehen. Ich habe keine guten Einfälle mehr. Ich brauche einen Tapetenwechsel – andere Menschen, Aufregung, Abenteuer. So wie der späte Wordsworth. Ich zehre von meinen geistigen Vorräten.«
»Der späte Wordsworth.« Mr. Spode kicherte und verstummte dann plötzlich, hatte er doch das Gefühl, etwas Unpassendes getan zu haben.
Aber Cadogan redete unbeirrt weiter. »Tatsächlich sehne ich mich nach Romantik. Deswegen bringe ich mir das Schießen bei. Und deswegen werde ich Sie wahrscheinlich auch erschießen, wenn Sie mir nicht die fünfzig Pfund geben.« Erschreckt trat Mr. Spode einen Schritt zurück. »Ich vegetiere vor mich hin. Ich werde vor meiner Zeit alt. Die Götter selbst wurden alt, als Freya geraubt wurde, während sie die goldenen Äpfel bewachen sollte. Sie, mein lieber Erwin, sollten mir eine luxuriöse Urlaubsreise finanzieren, anstatt auf dermaßen schäbige Art und Weise wegen fünfzig Pfund Haarspalterei zu betreiben.«
»Möchten Sie vielleicht ein paar Tage mit mir auf Caxton’s Folly verbringen?«
»Haben Sie Abenteuer, Aufregung, schöne Frauen zu bieten?«
»Diese romantischen Verstiegenheiten«, erwiderte Mr. Spode. »Da wäre natürlich meine Frau …«Er wäre nicht gänzlich abgeneigt gewesen, seine Frau dem Wohlbefinden eines bedeutenden Dichters zu opfern – oder, was das anging, irgendwem sonst aus irgendeinem Grund. Elsie konnte manchmal ziemlich nervtötend sein. »Und dann«, fuhr er hoffnungsvoll fort, »ist da noch die Vortragsreise durch Amerika …«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, Erwin, dass ich davon nichts mehr hören will. Auf gar keinen Fall werde ich Vorträge halten.« Cadogan begann, auf dem Rasen auf und ab zu marschieren. Besorgt bemerkte Mr. Spode, dass sich in Cadogans kurzgeschorenem dunklen Haar eine kleine, kahle Stelle zu zeigen begann. »Ich habe kein Interesse daran, Vortrage zu halten. Ich weigere mich, Vorträge zu halten. Ich will nicht nach Amerika, ich will nach Poictesme oder Logres. Ich wiederhole es: Ich werde alt und stumpfe zusehends ab. Ich handle aus Berechnung. Ich plane im Voraus. Heute Morgen habe ich mich dabei ertappt, wie ich eine Rechnung direkt nach ihrem Eintreffen bezahlt habe. Damit muss endlich Schluss sein. In einem anderen Zeitalter hätte ich lebendige Kinderherzen verspeist, um meine verlorene Jugend zurückzugewinnen. Doch so wie es aussieht« – er blieb neben Mr. Spode stehen und schlug ihm mit solcher Begeisterung auf den Rücken, dass der arme Mann fast vornüber fiel – »werde ich nach Oxford fahren.«
»Oxford. Aha.« Mr. Spode kam wieder zu sich. Er war froh über diese zeitweilige Befreiung von den lästigen Verpflichtungen des Geschäfts. »Eine ausgezeichnete Idee. Manchmal bereue ich es, den Sitz meines Verlages in die Hauptstadt verlegt zu haben, selbst wenn das nun schon ein Jahr her ist. Man kann nicht so lange in Oxford gelebt haben wie ich, ohne hin und wieder Heimweh zu verspüren.« Selbstgefällig klopfte er sich auf seine ziemlich prunkvolle, lilafarbene Weste, in die er seinen kleinen, gedrungenen Körper gezwängt hatte – gerade so, als gereiche ihm diese Empfindung aus unerfindlichem Grund zur Ehre.
»Und Recht haben Sie.« Cadogan verzog sein Patriziergesicht zu einer Grimasse großer Ernsthaftigkeit. »Oxford, Blume aller Städte. Oder war es London? Ist ja auch egal.«
Zweifelnd kratzte sich Mr. Spode an der Nasenspitze.
»Oxford«, fuhr Cadogan schwärmerisch fort, »die Stadt der verträumten Turmspitzen, wo das Echo des Kuckucks hallt und die Glocken läuten (bis man ganz unruhig wird davon), vom Gesang der Lerchen verzaubert, vom Gekrächze der Krähen geplagt, von Flüssen flankiert. Haben Sie je einmal darüber nachgedacht, wie viel von Hopkins’ Genie sich darin zeigte, dass er die Dinge durcheinanderbrachte? Oxford – Kinderstube erblühender Jugend. Nein, das war Cambridge. Egal, es macht keinen Unterschied. Natürlich« – schulmeisterhaft wedelte Cadogan mit dem Revolver direkt vor Mr. Spodes entsetzten Gesicht herum – »habe ich es gehasst, als ich als Erstsemester dort oben war: Es kam mir gewöhnlich, kindisch, provinziell und unreif vor. Aber das alles soll vergessen sein. Mit von Nostalgie getrübtem Auge und vor Sentimentalität weit offen stehendem Mund werde ich dorthin zurückkehren. Wofür ich« – sein Ton wurde vorwurfsvoll – »Geld brauche.« Mr. Spodes Herz sank. »Fünfzig Pfund.«
Mr. Spode hustete. »Ich fürchte …«
»Nieder mit Nutling. Orlick in den Orkus«, rief Cadogan begeistert. Er packte Mr. Spode am Arm. »Lassen Sie uns hineingehen und das Ganze in aller Ruhe bei einem Drink besprechen. Mein Gott, ich werde packen und nach all den Jahren wieder mit dem Zug nach Oxford fahren …«
Sie besprachen es. Mr. Spode war dem Alkohol ziemlich zugetan, und nur ungern stritt er über Geld. Noch ehe er schließlich davonging, hatte er einen Scheck über fünfzig Pfund ausgestellt, zahlbar an Mr. Richard Cadogan. So ging der Dichter als Sieger aus dieser Begebenheit heraus, was ein jeder, der nicht von Vorurteilen vollkommen verblendet ist, hätte vorhersehen können.
Als sein Verleger sich verabschiedet hatte, packte Cadogan ein paar Sachen in einen Koffer, erteilte seiner Haushaltshilfe genaueste Anweisungen und machte sich unverzüglich auf den Weg nach Oxford, auch wenn es bereits nach halb acht Uhr abends war. Da er sich kein Auto leisten konnte, fuhr er mit der U-Bahn bis Paddington, wo er, nachdem er in der Bahnhofsbar einige Gläser Bier getrunken hatte, den Zug nach Oxford bestieg.
Es handelte sich dabei nicht um einen Schnellzug, doch das war ihm egal. Er fühlte sich glücklich angesichts der Tatsache, dass er für eine Weile den verstörenden und verhassten Anfängen der Midlife-Crisis entkommen würde, der Eintönigkeit seines Lebens in St. John’s Wood, der Langeweile der Literatenpartys, dem schwachsinnigen Geplapper seiner Bekannten. Trotz seines literarischen Ruhmes hatte er ein einsames und, wie er manchmal fand, menschenunwürdiges Leben geführt. Selbstverständlich war er, tief in seinem Innersten, nicht so naiv anzunehmen, dass sich diese Reise mit ihren Freuden und Ärgernissen von allen anderen Reisen, die er je unternommen hatte, unterscheiden würde. Doch zufrieden stellte er fest, dass er trotz seiner Weisheit und Desillusionierung durchaus noch in der Lage war, den süßen Verlockungen des Unbekannten und Neuen einen Reiz abzugewinnen. Noch immer winkte Fand ihm aus den weißen Schaumkronen der Ozeane zu; jenseits der weit entfernten Berge lagen immer noch die Rosenbeete der Hesperiden, und in Klingsors verwunschenen Gärten sangen die Blumenjungfern. So lachte er still in sich hinein, wobei ihn die Mitreisenden argwöhnisch beäugten; und sobald sich das Abteil geleert hatte, sang er und dirigierte ein unsichtbares Orchester.
In Didcot lief ein Schaffner neben dem Zug entlang und brüllte: »Alles umsteigen!« Also stieg er aus. Mittlerweile war es fast Mitternacht, und am Himmel stand ein bleicher Mond, über den ein paar Wolkenfetzen hinweghuschten. Nach einigem Herumfragen erfuhr er, dass es in Kürze einen Anschluss nach Oxford gäbe. Einige andere Passagiere waren in der gleichen Lage wie er. Sie marschierten den Bahnsteig auf und ab und unterhielten sich im Flüsterton, so als ob sie in einer Kirche wären, oder kauerten auf den Holzbänken. Cadogan machte es sich auf einem Haufen von Postsäcken bequem, bis ein Schaffner kam und ihn verscheuchte. Die Nacht war warm und sehr still.
Nach langer Zeit hielt ein Zug an ihrem Bahnsteig, und alle stiegen ein; jedoch brüllten die Schaffner wieder ihr »Alles aussteigen!«, und so kletterten sie wieder hinaus und sahen zu, wie Waggon für Waggon die Lichter ausgingen. Cadogan fragte einen Schaffner, für wann man den Zug nach Oxford erwarte. Der Schaffner verwies ihn an einen anderen Schaffner. Jener Würdenträger, den er Tee trinkend in der Wartehalle entdeckt hatte, teilte ihm völlig unbekümmert mit, dass es in dieser Nacht keine Züge nach Oxford mehr gebe. Diese Aussage rief den Widerspruch eines dritten Schaffners herauf, der zu bedenken gab, dass der 11.53-Zug noch nicht eingetroffen sei; jedoch wies der Tee trinkende Schaffner ihn daraufhin, dass der 11.53-Zug seit gestern aus dem Fahrplan gestrichen sei – für alle Zeiten. Mit voller Kraft schlug er mehrmals auf den Tisch, um diesen Punkt zu unterstreichen. Der dritte Schaffner blieb skeptisch. Jedenfalls wurde ein junger Bursche mit verschlafenen Augen zum Lokführer des eben eingetroffenen Zuges hinübergeschickt, und er bestätigte, dass es in dieser Nacht keine Züge nach Oxford mehr gebe. Zudem, fügte der Bursche wenig hilfreich hinzu, sei der Busverkehr vor zwei Stunden eingestellt worden.
Während sich Cadogan mit diesen unangenehmen Tatsachen konfrontiert sah, begann seine Begeisterung für diese Urlaubsreise allmählich zu schwinden. Aber schnell schüttelte er dieses Gefühl ab, war es doch ein beschämendes Anzeichen für das Verlangen nach Bequemlichkeit und Komfort, das sich während der mittleren Lebensjahre einschleicht. Grimmig murrend hatten sich die anderen Fahrgäste auf die Suche nach einem Hotel gemacht, doch er beschloss, sein Gepäck zurückzulassen und sich in der Hoffnung, dort von einem verspäteten Auto oder Laster mitgenommen zu werden, auf die Straße nach Oxford zu begeben. Während er lief, bewunderte er den Effekt, den das schwache, fahle Mondlicht auf die hässlichen Backsteingebäude mit ihren winzigen, asphaltierten Durchgängen, ihren Eisengeländern und Spitzenvorhängen hatte, und auf die grellbunten Fenster der Methodistenkirchen. Außerdem fühlte er etwas von jener seltsam leidenschaftslosen Erhebung des Herzens, von der er wusste, dass sie Poesie hervorbringen konnte. Doch war ihm klar, dass jenes Gefühl eine scheue Kreatur ist, und für den Moment ignorierte er es, um es nicht zu verscheuchen.
Die Autos und Lastwagen, schien es, hielten nur ungern – man lebte im Jahr 1938, und unter britischen Autofahrern ging wieder einmal die Angst vor Autodieben um. Doch schließlich hielt auf sein Zeichen hin ein Vierachser am Straßenrand, und er kletterte hinein. Der Fahrer war ein hochgewachsener, schweigsamer Mann, dessen gerötete Augen überanstrengt von vielen Nachtfahrten wirkten.
»Der alte Seemann war darin besser als ich«, sagte Cadogan fröhlich, als sie losfuhren. »Wenigstens hat er es geschafft, jeden Dritten anzuhalten.«
»Von dem hab ich inner Schule was gelesen«, gab der Fahrer nach einer beträchtlichen Denkpause zurück. »›Und tausend schleimige Geschöpfe, die weiterlebten – so auch ich.‹ Und so was nennt man Poesie.« Verächtlich spuckte er zum Fenster hinaus.
Cadogan, irgendwie verblüfft, sagte gar nichts. Schweigend saßen sie da, während der Lastwagen durch die Vororte von Didcot und hinaus ins Weite holperte. Nach ungefähr zehn Minuten:
»Bücher«, begann der Fahrer von Neuem. »Ich bin ein eifriger Leser, wirklich. Aber keine Gedichte. Liebesgeschichten, und Kriminalromane. Bin Mitglied geworden bei so ’ner« – er ließ einen tiefen Seufzer hören; nach einer gewaltigen Anstrengung spuckte sein Gehirn etwas aus – »Leihbücherei.« Mit finsterer Miene grübelte er vor sich hin. »Aber langsam hängt’s mir zum Hals raus. Ich hab da mittlerweile alles gelesen, was einigermaßen taugt.«
»Sie sind halt aus den Kinderschuhen herausgewachsen.«
»Neulich hab ich aber doch ’n Kracher erwischt. Lady Soundso und ihr Liebhaber. Ziemlich eindeutig, wenn Se wissen, was ich meine.« Er schlug sich auf den Oberschenkel und grunzte dabei lüstern.
Cadogan, nicht wenig erstaunt angesichts derartiger Kultiviertheit, fiel wieder keine passende Entgegnung ein. Sie fuhren weiter, während das Scheinwerferlicht geometrische Figuren in die zu beiden Seiten vorbei fliegenden Hecken zeichnete. Einmal setzte sich ein Kaninchen auf, benommen vom grellen Lichtschein, und starrte ihnen so lange entgegen, bis es den Rädern nur noch knapp entkommen konnte.
Am Ende einer weiteren Pause – vielleicht nach einer Viertelstunde – sagte Cadogan mit einiger Überwindung:
»Die Reise von London hierher war eine ziemliche Tortur. Sehr langsamer Zug. Hielt an jedem Telegrafenmasten – wie ein Hund.«
Nach einer angestrengten Denkpause begann der Fahrer, darüber zu lachen. Er lachte so unmäßig und lang anhaltend, dass Cadogan fürchtete, er werde die Kontrolle über das Fahrzeug verlieren. Bevor das jedoch passieren konnte, erreichten sie glücklicherweise den Headingtoner Kreisverkehr, wo sie mit kreischenden Bremsen zum Stehen kamen.
»Werd Sie leider hier rausschmeißen müssen«, sagte der Fahrer, der sich vor Lachen immer noch schüttelte. »Ich fahr nicht in die Stadt rein. Gehen Sie den Hügel da runter, dann sind Sie in Null Komma Nix in Oxford.«
»Danke«, sagte Cadogan. Mühsam kletterte er auf die Straße hinunter. »Haben Sie vielen Dank. Und Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagte der Fahrer. »Wie ein Hund, was? Der is gut, der is wirklich gut.« Er legte krachend den Gang ein, wobei er ein Geräusch machte wie ein Elefant, der einen Baum niedertritt, und fuhr laut lachend davon.
Der spärlich beleuchtete Kreisverkehr wirkte sehr verlassen, nachdem der Lastwagen einmal außer Hörweite war. Zum ersten Mal wurde Cadogan bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wo er diese Nacht schlafen sollte. An den Rezeptionen der Hotels würden lediglich die Nachtportiers sitzen, und die Einrichtungen der Universität würden geschlossen sein. Da musste er plötzlich lächeln. So etwas machte in Oxford nichts. Er musste bloß über die Mauer seines alten College klettern (weiß Gott, früher hatte er es oft genug so gemacht), um auf einer Couch in irgendeinem Wohnzimmer zu schlafen. Niemandem würde das etwas ausmachen; der Besitzer des Wohnzimmers wäre weder überrascht noch verärgert. Oxford ist der einzige Ort in ganz Europa, an dem ein Mann tun kann, was ihm gefällt, und sei es auch noch so exzentrisch, ohne dabei Aufsehen oder Anstoß zu erregen. In welcher anderen Stadt, fragte sich Cadogan, der an seine Zeit als Erstsemester zurückdachte, konnte man einem Polizeibeamten zu nächtlicher Stunde einen Vortrag zum Thema Erkenntnislehre halten, ohne auf Empörung zu stoßen oder sich gleich verdächtig zu machen?
Er machte sich auf den Weg, vorbei an den Geschäften, vorbei am Kino an der Kreuzung und den langgezogenen, gewundenen Hügel hinab. Durch eine Lücke zwischen den Bäumen konnte er einen ersten wirklichen Blick auf Oxford erhaschen – im schwachen Mondlicht lag es da wie eine Unterwasserstadt, deren Türme und Turmspitzen gespenstisch in die Höhe ragten; ähnlich den Denkmälern des verlorenen Atlantis in seiner unergründlichen Tiefe. Ein gelbes Licht, winzig wie ein Stecknadelkopf, erstrahlte für einige Sekunden, flackerte und erlosch. In der Stille hörte er schwach, wie eine einzelne Glocke ein Uhr schlug, eine Einleitung für andere, die sich für ein kurzes Phantomgeläut zusammentaten wie die Glocken der versunkenen Kathedrale im bretonischen Mythos, die von der grünen Unterwasserströmung für einen kurzen Moment zum Klingen gebracht werden und dann wieder verstummen.
Erfüllt von einem unbestimmbaren Glücksgefühl marschierte er in schnellerem Tempo weiter, wobei er leise vor sich hin sang. Sein Kopf war vollkommen leer: Er schaute sich nur um und freute sich an dem, was er sah. In einem Außenbezirk von Oxford verlief er sich kurz und verlor einige Minuten bei dem Versuch, auf die richtige Straße zurückzufinden. Welche war es – die Iffley Road oder die Cowley Road? Immer schon hatte er die beiden verwechselt, selbst als Student. Egal; an ihrem Ende lag die Magdalen Bridge und die High, und jenseits davon das College von St. Christopher, dem Schutzpatron der Reisenden. Er verspürte eine leichte Enttäuschung darüber, dass seine Reise dermaßen unspektakulär enden sollte.
Während seines Fußmarsches von Headington hatte er weder Passanten noch Fahrzeuge zu Gesicht bekommen, und in diesem anständigen, eher schicken Viertel von Oxford lagen alle Anwohner längst in ihren Betten. Zu beiden Seiten mit Geschäften gesäumt, erstreckte sich die lang gezogene Straße menschenleer vor ihm. Ein schwacher Wind war aufgekommen, der in kleinen Böen um die Häuserecken blies und sachte an einer weißen Markise rüttelte, die ein nachlässiger Händler ausgerollt über seinem Schaufenster hatte stehen lassen. Während er ging, betrachtete Cadogan sie müßig, war sie doch die einzige weit und breit. Als er schon fast davorstand, suchte er nach dem Schriftzug mit dem Namen des Geschäftsinhabers, der jedoch im Schatten unter der Markise verborgen war. Dann warf er einen Blick auf den Laden selbst. Im Fenster waren die Rollos heruntergelassen worden, so dass er nicht erkennen konnte, um welche Art von Geschäft es sich handelte. Angetrieben von leiser Neugier schlenderte er zur Tür und drückte dagegen. Die Tür ging auf.
Und nun hielt er inne und überlegte. Es war sicherlich ungewöhnlich, dass ein Geschäftsmann seinen Laden über Nacht nicht abschloss. Andererseits war es schon sehr spät, und falls sich Einbrecher Zutritt verschafft hatten, war das bedauerlich, ging ihn jedoch nichts an. Wahrscheinlich wohnte der Inhaber über dem Geschäft. In diesem Fall freute er sich vielleicht darüber, geweckt und benachrichtigt zu werden – oder auch nicht. Cadogan verabscheute es, sich in die Angelegenheiten fremder Leute einzumischen; doch gleichzeitig war er neugierig.
Als er wieder auf der Straße stand, betrachtete er für einen Moment die leeren, nicht gerade einladend wirkenden Fenster über der Markise. Dann fasste er plötzlich einen Entschluss und trat zurück an die Tür. Schließlich war er zu Beginn seiner Urlaubsreise von dem Wunsch beseelt gewesen, etwas Aufregendes zu erleben; und wenn die Tür des Ladens auch nicht gerade das Tor zum Abenteuer war, so bedeutete sie doch ein Problem, ungewöhnlich genug, um einige Nachforschungen wert zu sein. Er stieß sie weit auf und fühlte eine jähe Leere in der Magengrube, als sie laut quietschte. Es war möglich, dass er einen Einbrecher erwischte, doch alles in allem betrachtet war es noch viel wahrscheinlicher, selbst als einer verhaftet zu werden. So leise er nur konnte, zog er die Tür wieder zu, und dann stand er regungslos da und lauschte.
Nichts.
Im Lichtkegel seiner Taschenlampe konnte er den engen, ganz gewöhnlich eingerichteten Innenraum eines Spielwarenladens erkennen, mit einem Ladentisch, einer Registrierkasse und jeder Menge Spielsachen, die überall verteilt waren – Modellbaukästen, Lokomotiven, Puppen und Puppenhäuser, bunt lackierte Bauklötze und Zinnsoldaten. Er trat weiter vor, wobei er seine eigene Verrücktheit verfluchte und es schaffte, einen Karton mit großen Ballons (nicht aufgeblasen) umzuwerfen, was einen beträchtlichen Lärm machte. In seinen Ohren klang es wie eine gewaltige Explosion.
Wieder stand er stocksteif da und wagte kaum zu atmen.
Noch immer nichts.
Hinter dem Ladentisch führten drei hölzerne Stufen zu einer Tür hinauf. Er zwängte sich durch die Tür hindurch und fand sich am Fuße einer kurzen, steilen Treppe wieder, deren abgetretene Stufen ins nächste Stockwerk führten. Innerlich weiter fluchend, stieg er sie hinauf, wobei er sich an den knarrenden Stufen stieß, immer wieder ausrutschte und stolperte. Vollkommen erschöpft und so gut wie mit den Nerven am Ende erreichte er einen kleinen, mit Linoleum ausgelegten Korridor, an dessen Seiten sich jeweils zwei Türen befanden, eine weitere lag ganz am Ende. Mittlerweile war er überzeugt davon, einem aufgebrachten Hausbesitzer mit Schrotflinte in die Arme zu laufen – und war ganz damit beschäftigt, Erklärungen zu formulieren, um ihn zu beruhigen. Schließlich war es völlig normal, dass jemand, der eine offene Ladentür entdeckte, hereinkam und nachsah, ob etwas fehlte … wenn er sich vielleicht auch nicht gerade dermaßen angestrengt und vergeblich um Lautlosigkeit bemühte.
Doch wieder war nichts zu hören.
Das Ganze ist lächerlich, sagte Cadogan streng zu sich selbst. Die vorderen Zimmer sind vermutlich die Wohnräume. Du wirst einen davon betreten um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist. Danach ist der Ehre genüge getan, und du kannst dich aus dem Staub machen, so schnell es geht.
Indem er sich auf das Schlimmste gefasst machte, schlich er voran und drehte an einem der Türknäufe. Der kleine weiße Lichtkegel seiner Taschenlampe fiel auf lückenlos zugezogene Vorhänge, eine billige, lackierte Anrichte, ein Radio, einen Tisch, unbequeme Ledersessel mit riesigen, knallig bunten Satinkissen in Mauve und Orange; an den tapezierten Wänden hingen keine Bilder. Zweifelsohne ein Wohnzimmer. Doch da war noch etwas anderes, das ihn vor Erleichterung hörbar aufseufzen und sich ein klein wenig entspannen ließ. Der muffige Geruch und die dicke Staubschicht, die überall lag, ließen vermuten, dass die Wohnung seit einiger Zeit leer stand. Er tat einen Schritt nach vorn und stolperte über etwas, auf das er seine Taschenlampe richtete. Dann stieß er einen leisen Pfiff aus und murmelte mehrmals »soso«.
Denn was da vor ihm auf dem Boden lag, war der Körper einer älteren Dame, und es gab keinen Zweifel daran, dass sie mausetot war.
Seltsamerweise war er kein bisschen überrascht; das Gespenst war gebannt, die rätselhafte Anziehungskraft war erklärt und dem verlassenen Spielzeugladen ausgetrieben worden. Dann riss er sich zusammen; der Anblick der vor ihm auf dem Boden liegenden Leiche erlaubte keine weiteren Spekulationen. Als er bemerkte, dass die Taschenlampe ihm hinderlich war, trat er zurück und betätigte den Lichtschalter neben der Tür, woraufhin jedoch das Licht nicht anging – befand sich doch die Glühbirne nicht an ihrem Platz unter dem billigen geblümten Lampenschirm. Hatte er auf dem Tisch im Korridor nicht eine Kerze gesehen? Ja, sie war immer noch dort, und einen Augenblick später hatte er sie angezündet. Er ließ seine Taschenlampe auf dem Tisch liegen und ging ins Wohnzimmer zurück, wo er die Kerze neben der toten Frau auf den Boden stellte.
Sie lag auf der rechten Seite, ihr linker Arm war nach hinten gebogen und lag unterm Tisch, ihre Beine waren ausgestreckt. Eine Frau von beinahe sechzig Jahren, schätzte er, denn ihre Haare waren fast vollkommen ergraut und die Haut auf ihren Händen faltig und gefleckt. Sie war mit einem Tweedkostüm und einer weißen Bluse bekleidet, was ihre Fülligkeit betonte, dazu trug sie Strümpfe aus grober Wolle und braune Schuhe. An ihrer linken Hand steckte kein Ring, und schon die Flachheit ihrer Brüste ließ vermuten, dass sie unverheiratet war. Ganz ihn ihrer Nähe, im Schatten des Tisches, lag etwas Weißes. Cadogan hob es auf und stellte fest, dass es sich um ein Stück Papier handelte, auf das mit Bleistift in einer schräggestellten, femininen Handschrift eine Telefonnummer gekritzelt war. Nach einem kurzen Blick darauf ließ er den Zettel in seiner Tasche verschwinden. Dann wandte er sich wieder dem Gesicht der Frau zu.
Der Anblick war überaus unangenehm, da es sich, genau wie ihre Hände, zu einem schwärzlichen Violett verfärbt hatte. In einem Winkel ihres offen stehenden Mundes hatte sich Schaum gesammelt, und im Kerzenlicht war eine funkelnde Goldkrone zu erkennen. In ihren Hals hatte sich eine Schnur tief eingegraben, die im Nacken fest verknotet war. Sie schnitt so tief ins Fleisch, dass sie fast nicht mehr zu sehen war. Auf dem Boden neben dem Kopf stand eine Lache aus eingetrocknetem Blut, und Cadogan bemerkte, dass eine schlimme Blessur direkt unterhalb des Halswirbels die Ursache dafür war. Er betastete den Schädelknochen, aber soweit er feststellen konnte, war dieser nicht gebrochen.
Bis zu jenem Augenblick hatte er bloß die leidenschaftslose Neugier eines Kindes verspürt, doch das Berühren der Leiche brachte einen jähen Gefühlsumschwung mit sich. Schnell wischte er sich das Blut von den Fingern und stand auf. Er musste so rasch wie möglich zur Polizei. Was fiel ihm sonst noch auf? Ah, ja, ein goldener Kneifer, zerbrochen, ganz in der Nähe auf dem Fußboden … Und dann erstarrte er plötzlich, während seine Nerven bebten wie unter Strom gesetzte Drähte.
Er hatte draußen auf dem Korridor ein Geräusch gehört.
Das Geräusch war leise gewesen, ein undefinierbares Geräusch, doch es ließ sein Herz wie wild pochen und seine Hände zittern. Merkwürdigerweise war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass die Person, die die Frau umgebracht hatte, sich immer noch im Haus aufhalten könnte. Er drehte den Kopf und starrte durch die halboffene Tür ins Dunkel hinaus und wartete, absolut reglos. Das Geräusch wiederholte sich nicht. In der Totenstille tickte seine Armbanduhr so laut wie ein Küchenwecker. Ihm wurde klar, dass es auf Durchhaltevermögen und gute Nerven ankäme, wäre dort draußen wirklich jemand: Wer immer den ersten Schritt machte, würde dem anderen einen Vorteil verschaffen. Die Minuten verstrichen – drei, fünf, sieben, neun – wie kosmische Zeitalter. Und mit übertriebenem Diensteifer meldete sich sein Verstand zu Wort. Ein Geräusch? Nun, was sollte es schon bedeuten? Das Haus war, wie Prosperos Insel, voller Geräusche. Und überhaupt, wem erwies er einen Dienst damit, wenn er einer Wachsfigur gleich in unnatürlicher Haltung herumstand? Seine schmerzenden Muskeln taten ein Übriges dazu, und schließlich rührte er sich, nahm die Kerze vom Tisch und spähte äußerst vorsichtig in den Korridor hinaus.
Er war leer. Die anderen Türen waren immer noch geschlossen. Seine Taschenlampe lag auf dem Tisch, wo er sie hingelegt hatte. Wie auch immer, nun kam es darauf an, so schnell wie möglich aus diesem schrecklichen Haus herauszukommen und dann zur nächsten Polizeiwache zu gehen. Er nahm die Taschenlampe in die Hand, blies die Kerze aus und stellte sie ab. Ein Druck auf den Knopf, und …
Das Licht ging nicht an.
Verbissen und vollkommen vergeblich mühte sich Cadogan vielleicht eine halbe Minute mit dem Schalter ab, bis er endlich bemerkte, was los war: Das Ding in seiner Hand war viel zu leicht. Mit einer bösen Vorahnung schraubte er den Griff auf uns tastete nach der Batterie. Sie war verschwunden.
Während er in der undurchdringlichen Dunkelheit dieses muffig riechenden Korridors gefangen war, verließ ihn auf einmal jede Selbstbeherrschung. Er war sich bewusst, dass sich jemand mit leisen, gedämpften Schritten näherte. Er war sich bewusst, dass er die leere Taschenlampe blindlings von sich schleuderte, und hörte sie gegen eine Wand krachen. Und er fühlte, eher noch als dass er ihn sah, einen gleißend hellen Lichtschein, der hinter ihm aufleuchtete. Dann folgte eine dumpfe, gewaltige Erschütterung, bei der sein Kopf in einer Flamme aus blendendem Scharlachrot zu explodieren schien, und dann war da nur noch ein durchdringendes Heulen wie Wind, der zwischen Kabeln pfeift, und eine leuchtend grüne Kugel, die herumwirbelte und immer kleiner und kleiner wurde, um schließlich in tintenschwarzer Nacht zu versinken.
Er erwachte mit einem Brummschädel und einem schlechten Geschmack im Mund, und kurze Zeit später kam er mühsam zum Stehen. Ein Anfall von Übelkeit überkam ihn, und er suchte Halt an der Wand, während er benommen vor sich hin murmelte. Nach einer Weile war er wieder klar im Kopf und in der Lage, sich umzusehen. Der Raum war klein, kaum größer als eine Abstellkammer, und enthielt die verschiedensten Putzutensilien – einen Eimer, einen Wischmopp, Bürsten und eine Dose Bohnerwachs. Das schwache Licht, das durch das kleine Fenster hereinfiel, ließ ihn einen Blick auf seine Armbanduhr werfen. Halb sechs: Bewusstlos für vier Stunden, und nun graute fast der Morgen. Er fühlte sich schon etwas besser und drückte vorsichtig gegen die Tür. Sie war verriegelt. Aber das Fenster – er starrte hinauf-, das Fenster war nicht nur unverriegelt, sondern stand offen. Mühsam stieg er auf eine Packkiste und schaute hinaus. Er befand sich im Erdgeschoss, und vor ihm erstreckte sich ein verlassenes und verwildertes Gartenstück, das an den Seiten durch geteerte Holzzäune begrenzt war und an dessen Ende ein Gartentürchen offen stand. Sogar in seinem geschwächten Zustand war es ein Leichtes hinauszuklettern. Einmal durch das Gartentor hindurch, packte ihn die Übelkeit wieder, der Speichel sammelte sich in seinem Mund und er musste sich heftig übergeben. Doch danach ging es ihm besser.
Einmal links abgebogen, und er befand sich in einem Durchgang, der ihn auf die Straße zurückbrachte, auf der er vier Stunden zuvor unterwegs gewesen war – ja, es war unverkennbar dieselbe Straße, er stand auf der der Magdalen Bridge zugewandten Seite, und er war, wie er errechnet hatte, nur drei Geschäfte vom Spielzeugladen entfernt. Er eilte in Richtung Innenstadt und Polizeiwache davon, hielt nur dann und wann inne, um sich ein Wahrzeichen einzuprägen und sich zu orientieren. Als er an eine Straßenkreuzung mit einem steinernen Pferdetrog gelangte, konnte er im Licht der Morgendämmerung ein Straßenschild erkennen, auf dem Iffley Road geschrieben stand. Das war es also. Dann die Magdalen Bridge, breit und grau, und endlich war er in Sicherheit. Er schaute sich um und sah, dass niemand ihm gefolgt war.
In Oxford steht man, abgesehen vom 1. Mai, spät auf, und der einzige Mensch weit und breit war ein Milchmann. Ziemlich verständnislos starrte er zu Richard Cadogans blutverschmierter und zerzauster Gestalt hinüber, als der die langgezogene High Street entlang gewankt kam; bis er ihn vermutlich als einen verspäteten Nachtschwärmer abtat. Die graue Frische des neuen Tages ergoss sich über die Fassaden des Queen’s und University College. Der Mond der vergangenen Nacht stand wie eine glanzlose Münze am Himmel. Die Luft war kühl und angenehm auf der Haut.
Cadogans Kopf schmerzte zwar immer noch höllisch, erlaubte ihm mittlerweile jedoch wieder zu denken. Die Polizeiwache, so meinte er sich zu erinnern, befand sich in St. Aldate’s, irgendwo in der Nähe der Post und des Rathauses, und in diese Richtung bewegte er sich nun. Eine Sache verwunderte ihn. In seiner Tasche hatte er seine Taschenlampe gefunden, komplett mit Batterie, und darüber hinaus seine Brieftasche mit Mr. Spodes Scheck darin, den niemand angerührt hatte. Offensichtlich ein sehr rücksichtsvoller Angreifer … Dann erinnerte er sich an die alte Frau, um deren Hals die Schnur geknüpft war, und er war weniger erfreut.
Die Polizeibeamten waren zuvorkommend und freundlich. Sie lauschten seiner ziemlich wirren Geschichte, ohne ihn zu unterbrechen, und stellten einige zusätzliche Fragen zu seiner Person. Dann sagte der während der Nachtschicht Dienst habende Sergeant, ein bulliger, rotgesichtiger Mann mit einem breiten, schwarzen Schnurrbart:
»Nun, Sir, das Beste, was wir im Moment tun können ist, die Schramme an ihrem Kopf zu verarzten und Ihnen einen heißen Tee und etwas Aspirin zu geben. Sie scheinen nicht ganz auf dem Posten zu sein.«
Cadogan war über sein Unvermögen, die Dringlichkeit der Lage zu begreifen, sichtlich verärgert. »Sollte ich Sie nicht besser unverzüglich dort hinführen?«
»Nun ja. Wenn Sie, wie Sie selbst sagen, vier Stunden lang bewusstlos waren, nehme ich nicht an, dass man die Leiche wie für uns zum Gefallen dort liegengelassen haben wird. Die Räume im oberen Stockwerk sind also nicht bewohnt?«
»Ich glaube nicht.«
»Also nicht. Nun, das bedeutet, dass wir problemlos dort sein und uns umsehen können, bevor der Laden öffnet. Curtis, säubern Sie die Stirn dieses Gentlemans und legen Sie einen Verband an. Hier ist Ihr Tee, Sir, und Ihr Aspirin. Bald wird es Ihnen besser gehen.«
Er hatte Recht. Cadogan ging es nicht nur bald und nicht nur wegen des Tees und der Behandlung seines verletzten Schädels besser, sondern auch wegen der unerschütterlichen Freundlichkeit seiner Mitmenschen. Mit einem gequälten Lächeln dachte er an sein Verlangen nach Abenteuer, über das er Mr. Spode am Vorabend in seinem Garten in St. John’s Wood einen Vortrag gehalten hatte. Er kam zu dem Schluss, dass er genug davon hatte; mehr als genug. Es war vielleicht besser für ihn, dass er keine Ahnung hatte, was alles noch auf ihn zukommen sollte.
Es war heller Tag, und die unzähligen Uhren von Oxford schlugen halb sieben, als sie in den Polizeiwagen stiegen und die High Street hinunterfuhren. Der Milchmann, der seine Tour noch immer nicht beendet hatte, schüttelte nur voller resignierter Anteilnahme den Kopf, als er Richard Cadogan, der unter seinem Verband aussah wie ein orientalischer Herrscher mit Turban auf dem Kopf, zwischen den Polizisten sitzen sah. Aber Cadogan bemerkte ihn nicht. Für den Moment gönnte er sich eine Erholungspause, frei von Gedanken an den tödlichen Spielzeugladen, um seine Anwesenheit in Oxford zu genießen. Bisher hatte er kaum Gelegenheit gehabt, sich umzuschauen. Aber jetzt, wo sie in zügigem Tempo zum hohen Turm des Magdalen College hinunterrauschten und eine prächtige Aussicht nach der anderen vorbeizog, holte er vor lauter Freude über die Schönheit der Stadt tief Luft. Warum – warum, in Gottes Namen, lebte er nicht hier? Und es würde wieder einmal ein herrlicher Tag werden.
Sie überquerten die Brücke, kamen an die Kreuzung mit dem Pferdetrog und bogen in die Iffley Road ab. Während sie die Straße entlang starrten:
»Na so was«, sagte Cadogan, »sie haben die Markise aufgerollt.«
»Wissen Sie denn noch genau, wo es war, Sir?«
»Ja, natürlich. Gegenüber von irgendeiner roten Backsteinkirche – eine Freikirche, glaube ich.«
»Ach ja, Sir. Sie meinen die Baptistenkirche.«
»Also gut, Fahrer. Sie können hier anhalten«, sagte Cadogan aufgeregt. »Da haben wir rechts von uns die Kirche, dort ist der Durchgang, aus dem ich kam, und dort…«
Der Polizeiwagen fuhr an den Bordstein. Cadogan zog sich in seinem Sitz hoch, hielt inne und starrte ungläubig hinaus. Vor ihm, das Schaufenster voller Konservendosen, Mehl, Schüsseln mit Reis und Linsen, Speck und anderer hübsch arrangierter Lebensmittel, befand sich ein Laden mit folgender Aufschrift:
WINKWORTH
GEMISCHTWAREN UND LEBENSMITTEL
Panisch blickte er nach rechts und links. Eine Apotheke und ein Textilgeschäft. Weiter rechts ein Metzger, ein Bäcker, ein Schreibwarenladen; und links ein Samenhändler, ein Hutladen, noch eine Apotheke …
Der Spielzeugladen war verschwunden.
Aus der grauen Dämmerung wurde ein goldener Morgen. Die Blätter begannen, von den Bäumen in den Parks und in der St. Giles’ zu fallen, doch sie boten immer noch eine Augenweide in Bronze und Gelb und Grünbraun. In das graue Labyrinth von Oxford – aus der Luft betrachtet, sieht die Stadt genauso aus wie ein Labyrinth – kam Leben. Als erstes erschienen die weiblichen Erstsemester – bekleidet mit absurden Roben und mit lebenswichtigen Ordnern unter den Armen radelten sie in kleinen Schwärmen durch die Straßen, oder sie lungerten vor den Bibliotheken herum, bis deren Türen sich öffnen und ihnen abermals Zutritt gestatten würden, um die göttlichen Mysterien, die das christliche Element in Beowulf umgeben, das Entstehungsdatum des Urtristan (wenn es denn eins gibt), die Gesetzmäßigkeiten der Hydrodynamik, die kinetische Gastheorie, die Besonderheiten des Zivilrechts oder die Lage und Funktionsweise der Nebenschilddrüse zu studieren. Die Männer waren in puncto Aufstehen viel umsichtiger: Sie zogen sich Hose, Mantel und Schal über ihre Pyjamas, schlurften einmal über den Innenhof, um sich in Vorlesungslisten einzutragen, und schlurften dann zurück ins Bett. Es erschienen Kunststudenten, die auf der Suche nach gutem Arbeitslicht – ebenso flüchtig und unerreichbar wie der heilige Gral – ihren inneren Schweinehund bezwungen hatten. Auch das kommerzielle Oxford erwachte; Geschäfte öffneten und Busse fuhren; in den Straßen herrschte reger Verkehr. Über die ganze Stadt verteilt begannen in allen College-Turmspitzen und Glockentürmen die Uhrwerke zu surren, zu scheppern und in einem verwirrenden, holperigen Takt und in widersprüchlichen Tempi und Klangfarben neun Uhr zu schlagen.
Ein rotes Objekt schoss die Woodstock Road hinab.