Der Weg der Stoa in der Führung - Alexander Zock - E-Book

Der Weg der Stoa in der Führung E-Book

Alexander Zock

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Beschreibung

Stoische Philosophie für die Führungspraxis Philosophie findet heute meist nur noch im Diskurs zwischen Gelehrten statt. Vollkommen zu Unrecht, weiß Alexander Zock, denn besonders die Stoa und ihre Grundsätze können als philosophischer Lebensweg sehr hilfreich sein, möchte man den Herausforderungen des alltäglichen Lebens mit mehr Gelassenheit begegnen. Zock beschreibt, wie stoische Prinzipien den Alltag von Führungskräftebereichern können und wie der Dialog zwischen dieser antiken Lebensphilosophie und der modernen Welt in der Führungspraxis weiterhilft. Wie sich diese Lebensform der Weisen schließlich in Form »tugendhafter« und schöner« Führung auf den modernen Unternehmensalltag übertragen lässt, erklärt der Autor anhand von vielen praktischen Anwendungsbeispielen und seiner Methode, die die Gedanken der Stoa mit unserem modernen Verständnis von Führung verbindet. Ein Buch, das nicht nur Stoikern hilft, mehr Gelassenheit in den Alltag zu bringen!

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Seitenzahl: 418

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Alexander Zock

Der Weg Der Stoa in der Führung

Wie moderne Führungskräfte von der Philosophie des Stoizismus profitieren

Alexander Zock

Der Weg Der Stoa in der Führung

Wie moderne Führungskräfte von der Philosophie des Stoizismus profitieren

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Autor und Verlag haben sich nach bestem Gewissen und Wissen darum bemüht, die Rechte aller Urheber zu wahren, deren geistiges Eigentum im Inhalt Erwähnung findet. Sollte uns das in dem ein oder anderen Fall nicht gelungen sein, so bitten wir um Entschuldigung und darum, uns eine entsprechende Quellenangabe über die hier angeführte E-Mail-Adresse zukommen zu lassen.

1. Auflage 2024

© 2024 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Redaktion: Christiane Otto

Umschlaggestaltung: Marc Fischer

Umschlagabbildung: Chrixxi/ Adobe Stock

Satz: ZeroSoft, Timisoara

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-86881-973-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-605-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-606-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.redline-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Warum Sie dieses Buch interessieren könnte

Teil 1: Ein moderner Blick auf das Phänomen der Führung

1.1 Der existenzielle Grund von Führung

1.2 Die komplexe Natur moderner Führung

Teil 2: Der Weg der Stoa – vom inneren Selbst zum Kosmos

2.1 Das sokratische Projekt und die Kunst der Selbstführung

2.2 Die Geschichte und Kerngedanken der Stoa im Überblick

2.3 Der Entwicklungsgedanke der personalen Identität in der Stoa

Teil 3: Der Weg der Stoa in der Führung – Übertragung in die Praxis

3.1 Was bietet eine antike Lebensphilosophie in der Führungsarbeit?

3.2 Das stoische Programm für eine gelingende Führung

Wie könnte es auf dem Weg der Stoa in der Führung weitergehen?

Glossar

Anhang 1 – Ein Überblick über typische Führungsfunktionen

Anhang 2 – Schematische Bilder: Organisation, Team und Dyade

Danksagung

Über den Autor

Quellenverzeichnis

»Wenn Du nach Weisheit strebst, so bereite dich darauf vor, dass man dich auslachen wird, dass viele dich verspotten und dass sie sagen werden: ›Er ist uns auf einmal als Philosoph zurückgekommen.‹«

(Epiktet, Enchiridion, En. 22)

»It is tragic how few people ever ›possess their souls‹ before they die. ›Nothing is more rare in any man‹ says Emerson, ›than an act of his own.‹ It is quite true. Most people are other people. Their thoughts are someone else’s opinions, their lives a mimicry, their passions a quotation.«

(Oscar Wilde, De profundis)

Widmung: Meinen Töchtern Hannah und Amélie, möge Der Weg der Stoa in der Führung Euch zu eigenen Ideen auf Eurem Weg anregen.

Vorwort

Das vorliegende Buch ist das Resultat einer persönlichen Reise, welche sich über Jahre angebahnt hat, aber final einen externen Auslöser benötigte. Dieser ergab sich mit der Anfrage des Redline Verlags im November 2023, ein Buch über die Verbindung der antiken Lebensphilosophie der Stoa mit der modernen Welt der Führung zu schreiben. Zu dieser Zeit beschäftigte ich mich gerade neben meinen Alltagsaufträgen mit zwei parallel laufenden Projekten. Das erste Projekt war eine konzeptionelle Reflexion meiner bald 15-jährigen Beratungspraxis als Organisationsberater und Führungskräfte-Coach. Diese hatte mich im Verlauf von vier Jahren zu einer sich langsam zu einem Gesamtbild verfestigenden Sichtweise auf mein Tun als Berater gebracht. In dieser verband sich die systemische Perspektive der sozialen Systemtheorie mit der syntaktischen (strukturellen) Perspektive von Matthias Varga von Kibéd und seiner Frau Insa Sparrer auf solche Systeme. Im Rahmen dieser Überlegungen hatte ich für mich auch ein konzeptionell neues Verständnis von Führung entwickelt, welches den Fokus von Führung, weg von den sie ausübenden Personen, hin zu den funktionalen Bedarfen der sie betreffenden Systeme verschob. Die hieraus resultierende Perspektive auf Organisationen und die sie betreffende Führung schien dabei das Potenzial zu besitzen, eine integrierte Beschreibung meiner Tätigkeitsfelder liefern zu können.

In den letzten beiden Jahren konnte ich diese Perspektive dann noch durch die Begegnung mit Martin Permantiers Arbeiten zur ICH-Entwicklung, das heißt dem Gedanken einer lebenslangen stufenweisen Entwicklung unserer inneren ICH-Instanz, um eine spannende Entwicklungsperspektive ergänzen. Durch diese Erweiterung meiner Überlegungen, von einer eher statischen systemisch-syntaktischen Betrachtung hin zu einer dynamischen Entwicklungsperspektive, ergaben sich für mich ganz neue Anregungen. Diese Impulse verbanden sich dabei auf sehr spannende Art und Weise mit meinem zweiten damaligen Projekt, welches mit meinen Aktivitäten im Bereich der Stoizismus-Bewegung im deutschen Sprachraum verbunden war. Letztere hatten mich in den vergangenen zwei Jahren dazu gebracht, neben einer Online-Meetup-Gruppe auch einen Podcast und einen Blog zu den Themen der Stoa unter dem Namen »Der Weg der Stoa« zu betreiben. Was mich in diesem Projekt beschäftigte, war die grundsätzliche Frage, wie man die antike Lebensphilosophie der Stoa in die Sprache der modernen Welt übertragen könnte, sodass sie für unsere Alltagskontexte direkter nutzbar würde. Dieser Gedanke war mir ein großes Anliegen geworden, da ich die Bedeutung dieser antiken lebensphilosophischen Praxis für mein eigenes Leben in seiner Kombination aus Theorie und Praxis sowie der inneren Verbindung von Autonomie mit sozialer Eingebundenheit als zunehmend spannend und sinnstiftend erlebt hatte. An dieser Stelle verbanden sich jetzt die beiden Stränge meiner Projekte, da ich bei der Auseinandersetzung mit der Stoa zwei Aspekte beobachtet hatte, welche eine verblüffende Ähnlichkeit zu den beiden vorher beschriebenen Theoriefeldern der systemisch-syntaktischen Perspektive einerseits und der Entwicklungsperspektive andererseits zeigten.

Als nun im November 2023 die Anfrage des Redline Verlags genau auf diese Verbindung abzielte und fragte, wie man eine Verbindung zwischen den Welten der Stoa und der Führung denken könnte, war das Projekt hinter diesem Buch geboren. Die aus diesem Projekt resultierende gedankliche Reise war für mich sehr bereichernd, und ich freue mich, die Erkenntnisse dieser Reise in diesem Buch vorlegen zu dürfen. Ich werde hierbei versuchen, die gedanklichen Stationen dieser Reise sowie die aus diesen Stationen folgenden Konsequenzen sowohl konzeptionell als auch praktisch darzustellen.

Ziel des Buches ist es dabei aufzuzeigen, welche überraschenden und auch fruchtbaren Folgen ein Dialog zwischen einer antiken Lebensphilosophie wie der Stoa und der modernen Welt der Führung haben kann. Ich hoffe, dieser Reisebericht wird für andere so faszinierend sein, wie er dies für mich war. In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern eine spannende, interessante und hoffentlich inspirierende Reise auf dem Weg der Stoa in der Führung.

Alexander Zock, Kronberg im Taunus, im August 2024

Einleitung:

Warum Sie dieses Buch interessieren könnte

Jedes Buch hat seinen eigenen Charakter und auch seinen eigenen Nutzen. Ich möchte daher in diesem einleitenden Kapitel versuchen, diese beiden Aspekte des vorliegenden Buches über drei seiner Kernaspekte greifbar zu machen.

Der spezielle syntaktische Dialog zwischen der Welt der Stoa und der Welt der Führung

Das vorliegende Werk stellt ein »Dazwischen« dar, das heißt, es versucht, einen Dialog zwischen den bisher oft getrennt in der Literatur behandelten Welten der antiken Lebensphilosophie der Stoa und der modernen Welt der Führung zu denken. Dies wird dadurch geschehen, dass zunächst auf eine neue Art und Weise (systemisch-syntaktisch) auf die Welt der Organisationen und ihrer Führung geschaut wird. Gleichzeitig bietet das Buch aber auch eine fundierte Einführung in das Denken der antiken Stoa. Auf der Basis dieser beiden Darstellungen, welche den ersten und den zweiten Teil dieses Bandes ausmachen, werden wir dann sehen können, dass diese Welten zwar inhaltlich in vielen Punkten unterschiedlich sind, sie aber auf syntaktischer, also struktureller Ebene fast identische Strukturen aufweisen. Über diese überraschende Verbindung werden wir am Ende des zweiten Teils zunächst den Dialog zwischen den beiden Welten auf konzeptioneller Ebene reflektieren, bevor wir dann im dritten Teil die praktischen Konsequenzen dieser Überlegungen für den Bereich der Führung mithilfe stoischer Konzepte und Praktiken darstellen werden. Das vorliegende Buch unterscheidet sich in seiner Ausrichtung deutlich von bisherigen Versuchen, die beiden Welten der Stoa und der Führung zusammenzubringen. In diesen wurde bisher versucht, dieses Anliegen auf die folgenden zwei Arten zu bedienen:

Biografischer Zugang: In diesem Ansatz wurde das Leben einer antiken Persönlichkeit, welche in einer Führungsrolle aktiv war und ihr Leben entsprechend der Stoa ausgerichtet hat, betrachtet. Ziel in dieser Form der Darstellung des Zusammenhangs zwischen der Stoa und dem Phänomen der Führung ist es, zu zeigen, welchen Herausforderungen diese Person in ihrem Leben gegenüberstand und wie Aspekte der Stoa ihr geholfen haben, diese zu bewältigen. Prominente Beispiele solcher Darstellungen finden sich zum Beispiel in den Büchern über Stoiker wie Marc Aurel1, den römischen Philosophen-Kaiser aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., Seneca den Jüngeren2, den Lehrer Neros, und Cato den Jüngeren3, den berühmten römischen Staatsmann und Widersacher Julius Caesars.

Deskriptiver Zugang: Hier wurde versucht, durch eine Zusammenstellung von Prinzipien oder Leitsätzen der stoischen Philosophie sowie deren Übertragung auf die Praxis der Führung einen Zusammenhang zwischen beiden Welten zu denken. Ein solcher Ansatz versucht aufzuzeigen, dass viele Aspekte der Stoa, wie sie in bestimmten Leitsätzen oder Prinzipien in Texten der Stoa formuliert wurden, Aspekte der Führungspraxis bereichern können.4 Diese Übertragung geschieht hierbei meist anekdotisch und ist somit stark an den Kontext gebunden.

In keinem dieser Ansätze wurde bisher aber der Versuch unternommen, die stoische Lebensphilosophie in ihrer Gesamtheit mit dem hier entwickelten systemisch-syntaktischen Blick auf Organisationen und Führung in einen produktiven Dialog zu bringen.

Das komplexe Bild lebendiger systemisch-syntaktischer Führung

Wir werden in diesem Buch durch die beschriebene Vorgehensweise auch zu einer Vielzahl von wichtigen Erkenntnissen über Führung gelangen, von denen im Folgenden die wichtigsten aufgeführt sind:

Führung hat eine Aufgabe, die mit inneren Spannungszuständen der Systeme (zum Beispiel Organisationen oder Teams) zu tun hat, auf welche diese Führung ausgerichtet ist. Führung ist damit nur in ihrer Umsetzung personal zu denken, die Inhalte der Führung lösen sich von den Personen, welche in dieser Führung aktiv sind. Die mit der Aufgabe von Führung verbundenen Funktionen sind dabei unabhängig von der konkreten Form der Organisation der Systeme, auf die die Führung ausgerichtet ist. Die funktionale Betrachtung von Führung bietet daher eine Möglichkeit, hinter der Vielzahl instrumentell-methodischer Ansätze in der aktuellen Führungspraxis einen einheitlichen Bezugsrahmen zu finden.

Führung stellt selbst ein System dar, welches organisiert werden muss, damit es seine vielfältigen Leistungen auf den unterschiedlichen Systemebenen moderner Organisationen, wie zum Beispiel in Teams, erbringen kann.

Führung muss als System wiederum geführt werden, was eine besondere Form der Führung benötigt, wobei gerade diese Anforderung in den meisten Organisationen heutzutage nicht hinreichend adressiert wird.

Führung muss sich entwickeln, da die von ihr geführten Systeme sich ebenfalls entwickeln. Diese gekoppelte Entwicklungsarbeit stellt eine besondere Aufgabe für die Führung von Führung dar.

Führung hat eine oft übersehene existenzielle Dimension, da sie von Menschen ausgeübt wird und auf Menschen in systemischen Kontexten wirkt. Sie kann daher nicht nur instrumentell-methodisch behandelt werden.

Ausgehend von diesen Kerneinsichten, zeichnet das vorliegende Werk die Welt der Führung als eine komplexe, lebendige Welt der gekoppelten Entwicklung unterschiedlichster Systemebenen (Organisation, Team, Dyade5, ICH) mit ihren jeweiligen Führungsinstanzen, sprich den entsprechenden Führungssystemen sowie dem Selbst, im Fall des ICH, einer Person.

Der spezielle systemisch-syntaktische Blick auf die Stoa

Die in diesem Buch vorgestellte systemisch-syntaktische Sichtweise, welche Aspekte des Denkens von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer (syntaktisches Denken als das Denken in Systemstrukturen) mit Gedanken der sozialen Systemtheorie von Niklas Luhmann (systemische Sichtweise auf soziale und psychische Systeme) verbindet, ermöglicht es, die antike Stoa als frühe Form einer systemisch-syntaktischen Perspektive auf Personen zu interpretieren. Mithilfe dieser Sichtweise werden wir die lebensphilosophische Konzeption der Stoa als eine praxisorientierte Philosophie verstehen können, welche die Entwicklung einer Person als die kombinierte Entwicklung eines ICH-Selbst-Systems interpretiert. Ziel in der Stoa ist es dabei, mithilfe einer Kultivierung des eigenen Selbst, sich über eine Vielzahl praktischer Konzepte und Übungen in die Lage zu versetzen, im eigenen ICH eine tugendhafte Entwicklung zu bewirken. Wir werden hierbei auch feststellen, dass der Begriff der Tugend in der Stoa sehr viel umfassender ist, als dies unser heutiger Sprachgebrauch nahelegt. Es wird sich dabei auch zeigen, dass diese Perspektive der Stoa auf uns Menschen in keiner Weise eine individualistische Sichtweise ist, sondern sich als zutiefst sozial erweist, sodass jede ICH-Selbst-Entwicklung im stoischen Sinne immer nur im Kontext unserer Umwelt und der uns umgebenden Menschen und Systeme zu denken ist. Übertragen auf die Welt der Führung bedeutet dies, dass es in diesem Buch auch darum gehen wird, was es bedeuten kann, tugendhaft zu führen. Wir werden hierbei entdecken, dass zu einer tugendhaften Führung aus stoischer Sicht innere Freiheit und Autonomie genauso gehören wie das Eingebettetsein in unseren sozialen Kontext. Hierbei werden wir zuletzt auch erkennen, dass die gelingende Verbindung zwischen diesen beiden Aspekten der tugendhaften Führung sich im Verständnis der Stoa sogar in ästhetischer Hinsicht als schön erweisen kann.

In Summe lernen wir über diese Überlegungen eine komplexe Welt kennen, welche eine Sprache zu ihrer Beschreibung benötigt, die es uns erlaubt, hinter den vielfältigen Unterschieden zwischen den Welten der modernen Führung und der antiken Stoa ein verbindendes Muster zu erkennen, welches sich um den Gedanken einer koordinierten und sich selbst kultivierenden Entwicklung von Systemen rankt. In diesem Bild erscheinen viele Gedanken der Stoa auf einmal sehr aktuell und andersherum viele Gedanken aus der Welt der modernen Führung für die Gedankenwelt der Stoa nutzbar. Es ist genau dieser fruchtbare Dialog, der dieses Buch in seiner Anlage einzigartig macht und dem es auch gewidmet ist. Wir werden uns auf diesem Weg immer auch auf ein gewisses Maß an Abstraktion einlassen müssen, doch ist dieses Buch in der Überzeugung geschrieben, dass der Ertrag dieser Abstraktionen die Anstrengung lohnt. Daher betone ich im dritten Teil auch die Möglichkeiten der praktischen Anwendung des Wegs der Stoa in der Führung. Ich sehe mich mit dieser Anlage auch in Übereinstimmung mit einem wichtigen Aspekt der Stoa, den Epiktet in seinen Gesprächen im dritten Buch formuliert (Epiktet, Gespräche, III.21.4-66):

»Ein Baumeister kommt nicht und sagt: ›Hört mir zu, wenn ich über die Baukunst spreche‹, sondern er geht an den Bau eines Hauses, führt ihn aus und zeigt, dass er sein Handwerk versteht. Ebenso auch du: Iss, wie es sich für einen Menschen gehört; trink, wie es sich für einen Menschen gehört; kleide dich anständig; sei ein Ehemann, ein Vater, ein Bürger; erdulde Beschimpfungen und einen übelgesinnten Bruder; vertrage dich mit deinem Vater, Sohn, Nachbarn und Reisegefährten. Das sollst du uns zeigen, damit wir sehen, dass du in der Tat etwas Philosophie gelernt hast.«

In diesem Gedanken zeigt sich, dass die Stoa nie vom Leben getrennt war, sondern sich immer als Reflexion im Leben für das Leben verstand und ihren Erfolg daran bemaß, wie wirksam sie sich in der Bewältigung des Alltags zeigte. Die uns noch verfügbare stoische Literatur formuliert diesen Gedanken an vielen Stellen und zeigt sich damit sehr bewusst gegenüber dem Vorwurf reiner Reflexion der Reflexion wegen. Anders wäre es auch kaum verständlich, wie der Stoizismus über mindestens 300 Jahre zu der bestimmenden lebensphilosophischen Kraft in der Elite des römischen Imperiums werden konnte.

Teil 1:

Ein moderner Blick auf das Phänomen der Führung

1.1 Der existenzielle Grund von Führung

Steigen wir also ein in die Welt der Führung.7 Worum geht es in Führung und wie können wir das Phänomen der Führung so greifbar machen, dass wir für die nachfolgenden Kapitel klar erkennen können, an welcher Stelle eine Verbindung des Phänomens Führung mit einer lebensphilosophischen Praxis von Bedeutung sein kann? Hier zeigt sich gleich von Beginn an ein großes Problem. Führung ist nicht nur ein sehr vielschichtiger, sondern auch ein sehr diffuser Begriff. Befragte man fünf Fachleute, so würde man sechs Meinungen erhalten, was Führung ausmacht und was Führung nicht ist. Hinzu kommt, dass die Diskussion über Führung oft nicht ideologiefrei geführt wird und somit jede Darstellung über Führung sich ihrer eigenen Annahmen und Begrenzungen bewusst sein muss. Führung ist in unserer Gesellschaft ein so omnipräsentes Phänomen, dass derjenige, der das Narrativ über Führung kontrolliert oder auch nur dominiert, damit gleichzeitig über die Verteilung von Macht und Privilegien in unseren modernen Organisationen und Gesellschaften mitentscheidet.8

Ich versuche daher, in diesem Kapitel zunächst einmal die Phänomenologie von Führung greifbar zu machen, um dann in den nächsten beiden Kapiteln (Kap. 1.2 und 1.3) in ein systematischeres Verständnis von Führung überzugehen.

Beginnen möchte ich mit einer Sichtweise auf Führung, welche von James March, einem renommierten amerikanischen Organisationstheoretiker und Managementvordenker, formuliert wurde. James March beschreibt sie in seinem 2005 mit Thierry Weil herausgegebenen Buch On Leadership, welches auf einem seiner Führungskurse basiert, den er in den Jahren 1980 bis 1994 an der Stanford University gehalten hat. Er formuliert zu Beginn des Buches drei Überzeugungen, welche diesem Kurs zugrunde lagen:9

Die wesentlichen Herausforderungen von Führung sind von denen des Lebens nicht zu unterscheiden. Eine angemessene Diskussion dieser Themen muss daher auch die großen Dilemmata der menschlichen Existenz beinhalten, wie sie sich auch im Kontext von Führung zeigen.

Literatur ist eine angemessene Quelle, um über diese Herausforderungen zu reflektieren. Relevante, von ihm in diesem Kontext zitierte Werke sind unter anderen: Othello von Shakespeare, Don Quijote von Miguel de Cervantes oder Krieg und Frieden von Leo Tolstoi.

Eine Ausbildung zum Thema Führung, einschließlich der Kurse an Business Schools, sollte nicht versuchen, den Studenten nur Rezepte oder Anleitungen für den Erfolg in der Praxis von Führung zu liefern. Eine derartige Ausbildung sollte vielmehr dabei helfen, Wege zum Verständnis der wesentlichen Dilemmata der menschlichen Existenz und des Wesens des menschlichen Geistes zu finden.

Betrachtet man diese Überlegungen von March, so fällt auf, dass Führung in diesem Verständnis nicht nur eine methodisch-instrumentelle Seite besitzt, wie sie von ihm im dritten Punkt unter den Begriffen »Rezepte« und »Anleitungen« beschrieben wird. Führung besitzt in seinem Bild vor allem auch eine existenzielle Tiefe, welche er in seinem ersten Punkt mit der allgemeinen existenziellen Dimension menschlichen Lebens gleichsetzt. Gleichzeitig betont March in seiner Auflistung auch, dass es neben den instrumentellen Aspekten vor allem diese existenzielle Perspektive auf Führung ist, welche den Rahmen für eine Beschäftigung mit ihr darstellen sollte – eine sicherlich ungewöhnliche Perspektive auf die Auseinandersetzung mit Führung. Im Kontext der Überlegungen in diesem Buch verweist dieser Blick von March aber punktgenau auf einen Bedarf im Umgang mit Führung, der in vielen praktischen Kontexten kaum Aufmerksamkeit erhält. Um diese Tiefendimension praktisch greifbar zu machen, denke man nur an Situationen, in denen Personen in Organisationen schwer erkranken, Angehörige verlieren, Straftaten begehen oder auch entlassen werden müssen, auch wenn hierdurch existenzielle Notlagen aufseiten dieser Personen entstehen.

Es sind genau solche Situationen, welche von den an der Führung Beteiligten einen verlässlichen inneren Kompass erfordern, der kaum auf instrumentell-methodischer Ebene vermittelt werden kann. Auch die Existenz von Sozialdiensten, Betriebsräten, Ethikvorschriften oder aber Codes of Conduct entbindet Personen, die an Führung beteiligt sind, nicht davon, dass sie durch ihre Entscheidungen erheblichen Einfluss auf diese Situationen ausüben. James March zieht in seinem Buch aus dieser Gegebenheit den Schluss, dass an Führung Beteiligte sich intensiv mit Literatur beschäftigen sollten, da diese uns in besonderer Art und Weise hilft, von den Missgeschicken und Schicksalsschlägen der Charaktere in diesen Büchern zu lernen. Durch diese Form der Auseinandersetzung kann es uns dann seiner Meinung nach auch gelingen, den vorher bereits angesprochenen inneren Kompass auszubilden, um somit der existenziellen Anforderung durch Führung besser begegnen zu können. Dieser Gedanke erscheint nicht abwegig, und nicht umsonst finden wir in den Biografien vieler erfolgreicher Führungskräfte Hinweise darauf, dass diese sich mit Literatur beschäftigt haben. Von besonderer Bedeutung scheint hier das Genre der Autobiografien beziehungsweise Biografien historischer Personen zu sein.

Spannenderweise ist der Gedanke, sich über die Auseinandersetzung mit historischen Personen oder auch literarischen Werken in seinem eigenen verantwortlichen Tun zu reflektieren, schon sehr alt. Bereits im antiken Griechenland wurden die Werke Homers intensiv studiert, analysiert und in ihrer Aussagekraft für das praktische Handeln in der damaligen Führungselite interpretiert. Auch die Begründer der stoischen Philosophie setzten sich in ihren Werken intensiv mit Homer und den Werken der antiken Dramatiker wie Euripides oder Aischylos auseinander. Chrysipp von Soloi (281 – 208 v. Chr.), das dritte Schuloberhaupt der stoischen Schule, war berühmt dafür, dass er in seinen Büchern große Passagen der klassischen Werke zitierte und interpretierte. Plutarch10 (45 – 125 n. Chr.), ein griechischer Schriftsteller aus dem 1. bis 2. Jahrhundert n. Chr., verfasste vergleichende Studien bekannter griechischer und römischer Personen, in welchen er anhand ihrer parallelen Lebenswege Lehren über das Leben vermitteln wollte. Trotz dieser umfassenden Tradition der literarischen Bildung in der Antike entwickelte sich in der Nachfolge des griechischen Philosophen Sokrates (469 – 399 v. Chr.) sowie seiner bekanntesten Schüler Platon (428 – 348 v. Chr.) und Antisthenes (445 – 365 v. Chr.) sowie weiterer philosophischer Strömungen aus der vorsokratischen Zeit eine neue Tradition, welche versuchte, eine systematischere philosophisch instruierte Lebenspraxis zu vermitteln. Die bekanntesten Schultraditionen dieser Zeit waren die Akademie des Platon, die Schule seines Schülers Aristoteles (384 – 322 v. Chr.), die Schule des Epikur (341 – 271 v. Chr.) sowie die stoische Schule, welche von Zenon von Kition (333 – 262 v. Chr.) begründet wurde. In diesen Schulen wurden nicht in erster Linie Philosophen ausgebildet, wie man dies heutzutage im akademischen Betrieb philosophischer Institute vermutet. Sie bildeten vielmehr die junge Elite der zunächst griechischen und nach der Eroberung Griechenlands durch Rom im 2. Jahrhundert v. Chr. auch römischen Oberschicht aus. Diese Ausbildung zielte dabei insbesondere darauf ab, die Schüler sowohl in wichtigen Fertigkeiten wie Rhetorik und Dialektik als auch in lebensphilosophischen Fragen der Ethik oder der eigenen Lebensgestaltung auszubilden. Teil dieser Tradition war, wie vorher bereits erwähnt, auch die Auseinandersetzung mit den literarischen Werken der antiken Zeit, wie den Werken Homers et cetera. Diese Auseinandersetzung erfolgte dabei aber im Rahmen philosophischer Reflexionen.

Vergleichen wir diese Tradition mit unserer heutigen Situation, so fällt auf, dass wir im Hinblick auf die existenzielle Perspektive auf Führung weder auf eine ausgesprochene Tradition der Vermittlung literarischer Werke noch auf die vorher beschriebene Tradition lebensphilosophischer Schulen zurückgreifen können. Betrachten wir die Ausbildungsprogramme für Führungspersonal sowohl an Universitäten und Hochschulen als auch an Weiterbildungsinstituten, so finden wir sehr viele instrumentell-methodische Angebote, eine Auseinandersetzung mit der existenziellen Perspektive auf Führung findet sich aber kaum.

Es ist diese Lücke in den Curricula zum Thema Führung, welche in diesem Buch unter anderem adressiert werden soll. Die hinter diesem Gedanken stehende erste Leithypothese lässt sich dabei wie folgt formulieren:

Leithypothese 1:Wer in existenziellen Situationen führen oder an Führung beteiligt sein will, benötigt eine explizite Lebensphilosophie. Wer eine solche nicht besitzt, mag führen, diese Führung wird aber keine nachhaltige Linie besitzen und unter widrigen Umständen ihre Kraft und Richtung verlieren, da sie der in diesen Situationen relevanten existenziellen Herausforderung nicht angemessen begegnen kann.

Die entsprechende lebensphilosophische Antwort auf diese Herausforderung werden wir in Teil 2 im Detail kennenlernen. Hier werden wir sehen, dass eine der oben genannten antiken lebensphilosophischen Schulen, die Stoa von Zenon von Kition, über ihr Konzept der Entwicklung personaler Identität eine auch heute noch instruktive Antwort auch für an Führung Beteiligte liefern kann. Wir werden daher die Relevanz der Praxis dieser Schule für Führung im dritten Teil genauer betrachten.

Der Anspruch dieses Buches geht über diese erste Hypothese hinaus. Um das weitergehende Potenzial lebensphilosophischer Überlegungen für den Bereich der Führung erschließen zu können, müssen wir allerdings zunächst noch etwas tiefer in die Herausforderungen von Führung eintauchen. Hierzu kehren wir noch einmal zu den Überlegungen von James March bezüglich des existenziellen Charakters von Führung zurück. March erläutert diesen Charakter in seinem Buch mithilfe einer Liste wichtiger Herausforderungen in der Führungsarbeit, welche aus seiner Sicht den fundamentalen Charakter von Führung greifbar machen. Bei diesen Herausforderungen handelt es sich um folgende Themen beziehungsweise Spannungsfelder für die Führungsarbeit:

Privatleben versus öffentliche Pflichten

Intelligenz versus Unschuld und Tugend

Genie versus Ketzerei und Wahnsinn

Große Taten, große Visionen und große Erwartungen

Vielfalt versus Einheit

Ambiguität versus Kohärenz

Macht und Herrschaft versus Unterordnung

Geschlecht und Sexualität

Freude am Prozess

Betrachten wir diese Spannungsfelder genauer. Das Spannungsfeld zwischen Privatleben und öffentlichen Pflichten verweist auf eine ganz grundsätzliche Spannung im Umgang mit Führung. Dies ist die Spannung zwischen einem sozial vermittelten und überindividuell definierten Anforderungsprofil an Führungsrollen auf der einen Seite und der hinter einer solchen Rolle stehenden Privatperson mit ihren individuellen Bedürfnissen, Wünschen und Geheimnissen. Oft führt dieses Spannungsverhältnis dazu, dass in Führung stehende Menschen hier ins Ungleichgewicht geraten. Dies führt dann zum Beispiel dazu, dass die Person hinter der Rolle als zu dominant erlebt wird und eine an Führung beteiligte Person als egoistisch und durch private Anliegen motiviert erscheint. Umgekehrt wird eine Person, welche sich zu sehr über ihre öffentlichen Pflichten oder ihre rollengebundenen Aufgaben definiert, als technokratisch und menschlich nicht greifbar erlebt. In diesem Themenfeld zeigt sich daher eine der grundlegenden Herausforderungen der Selbstführung in einer gegebenen Führungsrolle, nämlich die passende Balance im Spannungsfeld zwischen Person und Rolle zu finden.

Im Themenfeld »Intelligenz versus Unschuld und Tugend« weist March darauf hin, dass Führung sich oft im Spannungsfeld zwischen Abstraktion und Praxis befindet. Hierbei kann es in der Führungsarbeit manchmal notwendig sein, sich von den Details des Alltags zu lösen und durch Theorie und Abstraktion eine gesuchte Problemlösung zu erarbeiten, welche aufgrund ihres abstrakten Charakters aber nicht bei allen Beteiligten Akzeptanz findet. Gleichzeitig braucht es aber auch Zeiten, in denen eine gegebene Situation in ihrem herausfordernden Charakter wahrgenommen und anerkannt wird, sodass die emotionale und fundamental menschliche Seite einer situativen Herausforderung ihren Platz findet. Nur so kann dann menschliche Verbindung und Wahrhaftigkeit entstehen. Auch hier gilt es, in der Führungsarbeit eine passende Balance zwischen Lösungssuche einerseits und Problemakzeptanz andererseits zu finden.

Im Themenfeld »Genie versus Ketzerei und Wahnsinn« geht es March um das Spannungsfeld, in dem sich Menschen in Führungsrollen oft bewegen, da sie einerseits innovative neue Wege gehen sollen, andererseits aber mit der Unsicherheit leben müssen, dass diese Wege auch in die Irre führen können. Wie findet sich in diesem Spannungsfeld der »richtige Weg«, und woran kann sich die Suche nach diesem »richtigen Weg« orientieren? Es ist diese so herausfordernde Unsicherheit, welche einen ungewöhnlichen Weg in der Führungsarbeit potenziell zu einem genialen Lösungsweg, einer ketzerischen Abweichlerei oder aber auch zu einem wahnsinnigen Irrweg werden lassen kann. Ein ähnliches Spannungsfeld für Führungsarbeit bildet der oft in Organisationen spürbare Wunsch nach »großen Taten und großen Visionen«, verbunden mit »großen Erwartungen«. Diese fast schon romantischen Vorstellungen von Führung, die das Bild eines »großen Führers« historischen Ausmaßes provozieren, stellen in der Realität des Alltags oft nicht mehr dar als Wunschvorstellungen, welche den realen Prozessen in Organisationen und dem hiermit verbundenen Führungsalltag nicht gerecht werden. An Führung Beteiligte müssen sich hierbei der Herausforderung stellen, dass sie als verantwortlich Handelnde Projektionsfläche für derartige Erwartungen sind, diese in gewisser Hinsicht auch bedienen müssen, sie aber gleichzeitig erleben, dass die Realität des Führungshandelns sie oft eher in eine Zuschauerposition oder in die Rolle von Beteiligten drängt, die die sich vollziehenden Prozesse zwar beeinflussen, aber nicht wirklich kontrollieren können.

Ein weiteres Feld der Unsicherheit in der Führungsarbeit ergibt sich aus den sich widersprechenden Bedürfnissen in Organisationen nach Vielfalt und Einheit. Vielfalt der Kompetenzen, der Sichtweisen, der mentalen Modelle ist auf der einen Seite eine wichtige Ressource, wenn es um Kreativität oder Lösungsfindung geht. Sie kann umgekehrt aber auch zur Last werden, wenn sie unbeherrschbar und überfordernd wird. Ähnlich ist es mit der Spannung zwischen Ambiguität, die Offenheit und Flexibilität (»explore«) erfordert, und Einheit, welche Handlungsfähigkeit und Schnelligkeit ermöglicht (»exploit«). So stellen beide Felder für Führungshandeln eine Herausforderung dar, da Führungsarbeit auch hier die richtige Balance in diesen Spannungsfeldern finden muss.

Die Phänomene von »Macht und Herrschaft versus Unterordnung« sind ebenfalls hochambivalent, da die Verfügbarkeit von Macht in Organisationen und die hiermit verbundene Forderung nach Unterordnung und Gefolgschaft in klarer Spannung zu Forderungen nach Partizipation, selbstverantwortlichem Handeln sowie dezentraler Autonomie stehen. Die Frage der Balance zwischen diesen beiden Polen muss von an Führung Beteiligten immer und immer wieder kontextabhängig beantwortet werden, wobei die jeweilige Wahl in der konkreten Führungsarbeit als hochriskant erlebt werden kann. Hierbei bleibt diese Ambivalenz selbst in hochpartizipativen Settings lebendig, wenn trotz aller Formalisierung der Interaktion in kritischen Situationen Entscheidungsnotstand entsteht und auf einmal die Frage der Entscheidungsbereitschaft in Form einer situativen Bereitschaft zur »Herrschaft« und damit verbunden zur Verantwortungsübernahme im Raum steht.

Zusätzlich bildet auch das Themenfeld »Geschlecht und Sexualität« für Führung eine große Herausforderung. Sei dies im Hinblick auf die Frage nach einer gendergerechten Beteiligung an Führung oder aber in der Suche nach einer gendergerechten Sprache in Organisationen, welche mit Fragen struktureller Anerkennung oder Unterdrückung einhergeht. Führungshandeln muss sich bezüglich dieser Fragen mit der Tatsache auseinandersetzen, dass jedes Handeln im Hinblick auf dieses Spannungsfeld beobachtet werden kann und somit jede Handlung in dieser Hinsicht als riskant anzusehen ist. Die Positionierung in diesem Spannungsfeld durch eigenes Führungshandeln stellt damit potenziell eine konstante Konfliktquelle dar, welche nicht zu vermeiden ist.

Betrachtet man diese Spannungsfelder, so ist es nicht verwunderlich, dass March seine Aufzählung mit der Herausforderung der »Freude am Prozess« der Führung abschließt. Jede an Führung beteiligte Person steht vor der Herausforderung, sich mit den genannten Spannungsfeldern in der Führungsarbeit auseinanderzusetzen und für sich dabei auch zu klären, welche Form der »Freude am Prozess« für sie möglich ist. Die Beteiligung an Führung erscheint hierbei als riskantes Unterfangen, aber gleichzeitig aufgrund ihrer Bedeutung für organisationale Settings auch wiederum als sehr spannend und in ihrer gelingenden Praxis auch als potenziell interessant und persönlich befriedigend. Die genannten Herausforderungen, welche auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, weisen aber auch darauf hin, dass eine grundsätzliche Antwort auf die Frage des Umgangs mit diesen Spannungsfeldern nicht existieren kann und jede an Führung beteiligte Person hier gefordert ist, ihre eigene, persönliche Antwort zu finden und diese immer und immer wieder zu überprüfen und neu zu justieren.

Fassen wir die Befunde dieser Überlegungen zusammen, so sehen wir, dass Führung in vielen Aspekten eine Frage der Balancierung von Anforderungen darstellt. Wir werden diesen Gedanken des Spannungsmanagements in den nächsten Abschnitten noch weiter zu einem vollständigen Bild von Führung ausbauen. An dieser Stelle wollen wir aber zunächst noch einmal den Blick auf die Frage richten, inwiefern bezüglich dieser Herausforderung eine lebensphilosophische Betrachtungsweise hilfreich sein kann. Die Antwort auf diese Frage findet sich in der Überlegung, dass die Suche nach der Balance zwischen unterschiedlichen Anforderungen im Kern der Suche nach einem situativen »Besser« für die an Führung beteiligten Menschen, seien sie Führende oder Geführte, entspricht. Genau diese Perspektive findet sich aber in einer Lebensphilosophie, da sie in ihrer Grundanlage eine Entwicklung hin zu einem »Gut« verfolgt, wodurch einzelne Schritte auf diesem Weg zum »Guten« als Schritte der »Verbesserung« angesehen werden können. Wie dieser Weg und die aus einer lebensphilosophischen Betrachtung sich ergebenden Hinweise zum Umgang mit einer solchen Herausforderung genau aussehen können, wird Gegenstand des zweiten und dritten Teils dieses Buches sein. Zum Abschluss dieses Abschnitts wollen wir den eben formulierten Gedanken in einer zweiten Leithypothese für dieses Buch verdichten.

Leithypothese 2:Die Einrahmung von Führungsarbeit durch einen lebensphilosophischen Weg, wie den der Stoa, erlaubt es in herausfordernden Situationen, die durch Spannungsfelder charakterisiert sind, eine Handlungsrichtung über die Vorstellung eines situativen »Besser« zu erhalten, welches auf dem stoischen Weg auf das Innigste mit dem Konzept der Tugend verbunden ist.

1.2 Die komplexe Natur moderner Führung

1.2.1 Die systemisch-syntaktische Perspektive auf Führung

Die existenzielle Perspektive auf Führung, welche wir im letzten Abschnitt betrachtet haben, hat uns zu zwei Kerneinsichten geführt. Erstens, dass wir bei der Betrachtung von Führung deren oft ignorierten existenziellen menschlichen Kontext nicht vergessen sollten. Zweitens, dass eine wesentliche Aufgabe von Führung darin besteht, dass wir Spannungsfelder handhaben und uns in diesen bewegen müssen. Wir haben Führung hierbei in ihrer breitesten Form betrachtet und nicht zwischen unterschiedlichen Kontexten unterschieden, in denen Führung als Phänomen erscheint. So ließe sich inhaltlich (»semantisch«) sicherlich zwischen der Praxis militärischer, politischer sowie wirtschaftlicher Führung oder auch Selbstführung ein Unterschied konstatieren. Wir wollen im Folgenden aber genau diese Unterschiede nicht in den Vordergrund stellen und Führung stattdessen zunächst strukturell (»syntaktisch«) betrachten.

Diese syntaktische Perspektive auf Führung fragt dabei nicht nach den semantischen Details von Führung in den genannten unterschiedlichen Anwendungsbereichen, sondern sie fragt vielmehr nach den Strukturelementen, welche immer beobachtbar sind, wenn es um Führung geht, unabhängig vom betrachteten Kontext. Diese Sichtweise auf ein Phänomen kennen wir aus dem Umgang mit Sprache. Die semantische Perspektive auf Sprache wäre dabei in Wörterbüchern abgebildet, wohingegen die syntaktische Perspektive auf Sprache in Grammatiken abgebildet ist. Wenn wir in diesem Bild bleibend auf die Grammatik eines Satzes schauen, dann sehen wir nicht die Inhalte dieses Satzes, sondern die Strukturelemente (zum Beispiel Subjekt, Objekt, Prädikat), welche mit dem Erscheinen eines Satzes verbunden sind.

Der Gedanke, eine solche Perspektive auf Phänomene außerhalb sprachlicher Analysen anzuwenden, wurde zum ersten Mal von Matthias Varga von Kibéd und seiner Frau Insa Sparrer formuliert sowie auf die Analyse von allgemeineren Phänomenen angewendet, wie zum Beispiel dem Problembegriff oder Entscheidungen. In der entsprechenden Analyse werden die an diesen Phänomenen beobachtbaren Strukturelemente identifiziert und in einer schematischen Darstellung zusammengefasst. So gibt es beispielsweise ein Problemschema, welches die in Tabelle 1 dargestellten Syntaxelemente eines Problems sowie die hiermit verbundenen Beschreibungen enthält. Mithilfe dieses Schemas kann jede subjektive Problembeschreibung dahingehend untersucht werden, ob sie alle Elemente des Problemschemas enthält oder ob diese Beschreibung einseitig (zum Beispiel hindernisbetonend) beziehungsweise unvollständig ist (zum Beispiel kommen der verdeckte Gewinn oder die zukünftige Aufgabe nicht darin vor). Aus derartigen Befunden können dann neue interessante Einsichten bezüglich einer Problembeschreibung dadurch gewonnen werden, dass man testet, was sich an der Problemwahrnehmung ändern würde, wenn man diese Wahrnehmung symmetrischer oder vollständiger durchführen würde. In der Praxis zeigen sich hierdurch oft in der Tat neue Problemeinsichten, welche zu ebenfalls neuen Problemlösungsstrategien führen können.

Syntaxelemente eines Problems

Beschreibung

Problem

Der Ausgangspunkt der Betrachtung, ein Zustand, der von einer Person als problematisch angesehen wird.

Ziel

Der Zielzustand, in welchem das Problem für die Person nicht mehr existiert.

Hindernisse

Dinge, welche der Person den Weg zum Ziel erschweren (zum Beispiel fehlende Kompetenzen).

Ressourcen

Dinge, welche der Person den Weg zum Ziel erleichtern (zum Beispiel Erfahrungen und Kompetenzen).

Zukünftige Aufgabe

Eine mit der Erreichung des Zielzustands verbundene neue Herausforderung (zum Beispiel die Suche nach einem Arbeitsplatz, wenn man das Examen bestanden hat).

Verdeckter Gewinn

Der Nutzen, den das Vorhandensein des Problems für die Person besitzt.

Kontextfaktoren

Relevante Kontextfaktoren, an deren Vorhandensein die Existenz des Problems gebunden ist.

Tabelle 1: Liste der Syntaxelemente eines Problems.11

Ein ähnliches Schema liegt ebenfalls für die strukturelle Analyse von Entscheidungen (Syntax von Entscheidungen) unter dem Namen »Tetralemma-Schema« vor.12

Folgen wir diesen Überlegungen, so lässt sich das Ziel unserer Analyse in diesem und den nächsten Kapiteln (Kap. 1.2.1 – 1.2.5) als eine syntaktische Analyse des Phänomens Führung beschreiben. Um unsere Analyse von Führung aber umfassend durchführen zu können, benötigen wir noch eine zweite, ergänzende Perspektive auf Führung. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus der Überlegung, dass Führung nicht für sich als Phänomen alleine steht, sondern nur im Kontext mit anderen Phänomenen auftritt. Typische Kontexte, in denen Führung notwendig ist, sind zum einen Organisationen, Teams und Dyaden sowie zum anderen Personen. Bei den ersten drei Kontexten handelt es sich um soziale Systeme und bei dem letzten um ein psychisches System. In jedem Fall handelt es sich aber um strukturierte Systemkontexte, welche sich zum einen bezüglich des Systemtypus (psychisch/sozial) und zum anderen bezüglich der Systemebene (Organisation und Interaktion, Team, Dyade) unterscheiden lassen.

Ausgehend von diesem Kontextbild müssen wir die Frage klären, in welchem Verhältnis das Phänomen Führung zu diesen Kontexten steht. Hierbei liegt es nahe, von einem funktionalen Verhältnis auszugehen, das heißt, der Annahme zu folgen, dass Führung in diesen Kontexten eine Funktion erfüllt. Folgen wir diesem Gedanken, so ergibt sich im Hinblick auf die für Führung relevanten Kontexte und die hiermit verbundenen Funktionen von Führung das in Abbildung 1 dargestellte Bild. Hierbei sind die für die jeweiligen Systemebenen von Führung geleisteten Funktionen unter den Begriffen »organisationale Führung«, »Teamführung«, »dyadische Führung« und »ICH-Führung«13 zusammengefasst. Um nun genau zu verstehen, was Führung auf diesen Ebenen jeweils leistet, ist ein genaueres Verständnis der Funktionsbedarfe auf diesen Systemebenen notwendig.

Abbildung 1: Systemebenen (psychisch/sozial) im Umfeld von Organisationen und die entsprechenden Ebenen der Führung.14

Interessant ist hierbei die Frage, ob wir die Diskussion an dieser Stelle bereits semantisch differenzieren müssen, da die jeweiligen inhaltlichen Details auf diesen Systemebenen sehr unterschiedlich sind und damit der Gedanke nahe liegt, dass auch die funktionalen Leistungen von Führung semantisch differenziert werden müssen. Wir werden aber einen anderen Ansatz versuchen, und zwar wollen wir die Hypothese vertreten, dass die funktionalen Anforderungen an Führung auf allen dargestellten Systemebenen (sozial wie psychisch) sich zwar semantisch unterscheiden, diese aber syntaktisch identisch sind. Dies bedeutet, dass wir zwar davon ausgehen, dass das Führungsgeschehen auf den jeweiligen Systemebenen semantisch unterschiedlich ist, die sich in diesem Geschehen aber zeigenden Strukturen identisch sind. Den Grund für diese Identität werden wir in den syntaktischen Strukturen der jeweiligen Systemebenen finden. Diese werden sich bei einer genaueren Betrachtung als strukturgleich erweisen. Die syntaktische Identität der Führungsfunktionen auf den unterschiedlichen Ebenen wird sich dann so begründen, dass diese mit den syntaktischen Strukturen der Systeme auf den jeweiligen Ebenen verbunden ist. Führung wird sich hierbei funktional als systemisches Spannungsmanagement zwischen den Strukturelementen dieser Systeme erweisen. Wir kommen somit zu einem Verständnis von Führung, welches wir mit dem Begriff »systemisch-syntaktisch« beschreiben wollen, da wir zum vollen Verständnis von Führung sowohl die systemische als auch die syntaktische Perspektive verwenden werden.

Um dieser Hypothese Substanz zu geben, werden wir im nächsten Abschnitt am Beispiel der Systemebene Organisation zunächst eine syntaktische Analyse des Phänomens Organisation durchführen, um hierauf aufbauend dann in den nachfolgenden Abschnitten die Frage nach den Funktionen von Führung für Organisationen beantworten zu können. Im Rahmen dieser Diskussion werden wir uns auch noch mit der Frage beschäftigen, in welcher Form Führung auf der Systemebene Organisation funktional wirksam werden kann. Diese Betrachtung wird uns auch zu einem klaren Verständnis der Form von Führung zum Beispiel im Unterschied zu Management oder anderen Phänomenen auf dieser Systemebene führen. Gleichzeitig werden wir mithilfe dieser Betrachtung auch eine Art Blaupause für die Analyse der anderen Systemebenen Team und Dyade erhalten, welche wir im Rahmen dieses Buches allerdings nur überblicksartig andeuten können. Dem systemisch-syntaktischen Verständnis personaler Selbstführung (siehe Kap. 2.3.6) werden wir im Rahmen dieses Buches mehr Raum geben, da wir im zweiten Teil im Rahmen der Betrachtung der personalen Entwicklungstheorie der Stoa frappierende Ähnlichkeiten zu diesem Denken finden werden (siehe Kap. 2.3.4 und 2.3.5). Hier wird sich zeigen, dass wir in unseren modernen Überlegungen zum Thema Selbstführung sogar noch einiges von der Stoa lernen können. Umgekehrt wird das stoische Bild der personalen Entwicklung durch das hier bereits angedeutete systemisch-syntaktische Verständnis von Führung einen kohärenten Rahmen finden, der den Zugang zu diesem antiken Denken und seinen damit verbundenen Texten erleichtern und für die Praxis einfacher nutzbar machen kann. Zusätzlich werden wir am Ende des zweiten Teils das entwickelte Verständnis von Führung auf der psychischen und sozialen Systemebene ebenfalls mit zentralen Gedanken der Stoa unter dem Begriff der »systemischen Kohärenzdynamik« zusammenführen.

1.2.2 Exkurs 1: Ein systemisch-syntaktischer Blick auf Organisationen

Beginnen wir mit der Frage, was Organisationen sind oder nicht sind. Hier gibt es eine Vielzahl von Antwortmöglichkeiten. So könnte man auf den Gedanken kommen, dass Organisationen aus den in ihnen agierenden Menschen bestehen, ein anderer Gedanke könnte sein, dass wir das Wesen von Organisationen in ihren Strukturen und Prozessen suchen. Wir könnten aber auch auf den Gedanken kommen, dass wir Organisationen mit ihren Gebäuden, Produkten oder sonstigen Artefakten identifizieren. Alle diese Sichtweisen spiegeln in gewisser Hinsicht wichtige Aspekte von Organisationen wider. Ich möchte nun das Phänomen Organisation aber, dem Vorschlag Niklas Luhmanns15 folgend, als ein kommunikatives und damit soziales Phänomen verstehen. Dies bedeutet, dass Organisationen nur in Form von Kommunikation existieren und andere sie begleitende Phänomene, wie zum Beispiel die Mitarbeitenden in Organisationen oder die Grundstücke und Büros, nur relevante Kontexte dieses Phänomens darstellen.

Niklas Luhmann definiert das Wesen von Organisationen sogar noch etwas spezifischer, und zwar nicht als Kommunikationen jeglicher Art, sondern als Kommunikationen, welche entscheidungsartig strukturiert sind, sprich als Entscheidungskommunikation. Diese Art der Kommunikation ist dadurch charakterisiert, dass sie einerseits einen Möglichkeitsraum von Alternativen aufweist und andererseits aus diesen Alternativen eine Alternative, mit Verweis auf eine sogenannte Entscheidungsprämisse, auswählt. Entscheidungskommunikationen sind durch diese Struktur in sich in gewisser Hinsicht paradox, da sie zwar zum einen Vielfalt durch die Auswahl einer Alternative reduzieren, gleichzeitig durch die Kommunikation dieser Vielfalt diese aber auch aufzeigen. Die in den organisationalen Entscheidungen verwendeten Entscheidungsprämissen können hierbei auch vorhergehende Entscheidungskommunikationen16 sein, wodurch jede Entscheidungskommunikation in einer Organisation zu jedem Zeitpunkt auch als Entscheidungsprämisse verwendet werden kann.

Ob Entscheidungen im Laufe der organisationalen Entscheidungsketten als solche Akzeptanz finden und damit auch im eigentlichen Sinne erst zu einer organisationalen Entscheidung werden, zeigt sich daran, dass an ihnen angeschlossen wird, sie also im weiteren Verlauf als Entscheidungsprämisse Verwendung finden. Passiert dies nicht, dann ist die entsprechende (Entscheidungs-)Kommunikation im eigentlichen Sinne nur eine Kommunikation17, aber keine Entscheidung. Dies zeigt auch, dass Entscheidungen im organisationalen Dialog nicht einfach »herumliegen«, sondern erst durch ihren kommunikativen Gebrauch in Form eines Entscheidungsanschlusses zu einer »echten« Entscheidungskommunikation werden. Hierbei kann es passieren, dass eine Entscheidung in einem Teil einer Organisation als Entscheidung beobachtet wird, wohingegen sie in einem anderen Teil nur als Kommunikation betrachtet wird, welche keinen formalen Einfluss auf die Organisation hat. An diesem Bild von Entscheidungen kann man auch direkt erkennen, dass der Begriff des Entscheiders bei Luhmann höchst problematisch ist, da nicht eine Person eine Entscheidung zu einer Entscheidung machen kann, sondern erst der organisationale Gebrauch den Entscheidungscharakter einer Kommunikation durch Anschluss herstellt. Das »Wer hat entschieden?« wird in Organisationen in diesem Bild nachträglich konstruiert und kann dabei von der Wahrnehmung Einzelner an den Kommunikationen Beteiligter durchaus abweichen. So kann zum Beispiel der in einem Mitarbeitergespräch von einem Mitarbeitenden geäußerte Satz »Wenn das so ist, dann gehe ich jetzt!« von der anwesenden Chefin im Nachgang als Kündigungsentscheidung interpretiert werden und als Entscheidung an die Personalabteilung weitergegeben werden. Der Mitarbeitende könnte in diesem Kontext dann mit dem Argument klagen, dass die Vorgesetzte ihn durch ihre Art der Kommunikation praktisch hinausgeschmissen hätte und somit sie die Täterin sei.

Organisationen erscheinen in dieser Betrachtungsweise als Verknüpfungsfolgen von Entscheidungen, wobei Luhmann hier noch die besondere Hypothese einführt, dass diese Verknüpfungsfolgen in sich geschlossen sind. Er bezeichnet diesen Sachverhalt als operative Geschlossenheit von Organisationen. Dies bedeutet im Bild von Luhmann strikt gesprochen auch, dass Organisationen ihre Entscheidungen und die mit diesen verbundenen Strukturen selbst erzeugen, wofür Luhmann den Begriff der Autopoiesis18 verwendet. Organisationen lassen sich in dieser Betrachtungsweise als autopoietische soziale Systeme beschreiben, welche durch ihre Basisoperation (Kommunikation) Entscheidung etabliert werden. Eine wichtige Folge dieser Theoriebildung ist es auch, dass Organisationen sich autonom von ihrer Umwelt abgrenzen. Umwelteinflüsse können Organisationen hierdurch zwar in ihrer Entscheidungsbildung irritieren und beeinflussen, die genaue Reaktion einer Organisation auf diese Einflüsse wird aber in den Entscheidungsprozessen der Organisation entschieden, ohne dass die Umwelt hier einen direkten Durchgriff besitzt.

Kommen wir aber wieder zurück zu Luhmanns Gedanken der Entscheidungsprämissen. Was müssen wir uns unter diesen Prämissen genau vorstellen? Luhmann unterscheidet hier drei Arten von Prämissen19:

Personal

Programme

Kommunikationswege und Strukturen

Der Prämissentypus Personal verweist hierbei auf einzelne Personen, welche Mitglieder der Organisation sind und welche in dieser Funktion als Prämissen für Entscheidungen herangezogen werden können. Hierbei spielen persönliche Eigenschaften, Kompetenzen oder auch Motive als Hintergrund für diese Prämissenwahl oft eine große Rolle. Die Prämisse Personal zeigt sich dann, wenn eine Entscheidung auf eine Person hin zugerechnet wird. Diese Art der Zurechnung ist dabei ein Hinweis darauf, dass in dem betrachteten Kontext formale Aspekte in der Organisation eher im Hintergrund stehen. Der Typus Programme beinhaltet zwei Subtypen, nämlich die Konditionalprogramme und die Zweckprogramme. Erstere definieren in der Form »Wenn ..., dann ...« wichtige in der Organisation geltende Regeln, welche zum Beispiel in Form von Prozessen einzuhalten sind. Ob eine Handlungsalternative als besser oder schlechter als eine andere zu betrachten ist, lässt sich mithilfe solcher Regeln oder Prozessvorschriften dann einfach entscheiden. Der Subtypus Zweckprogramm verweist in Organisationen darauf, dass Dinge nicht nur getan werden, damit man Regeln einhält, sondern auch, weil man organisationale Zwecke verfolgt. Hier würde man im organisationalen Alltag wiederum zwei Arten von Zwecken unterscheiden. Dies sind zum einen Aufgaben, welche dahin gehend einen orientierenden Charakter besitzen, dass sie klären, ob bestimmte organisationale Tätigkeiten und damit verbunden auch Kompetenzen in einer Organisation oder einer Organisationseinheit Platz finden sollen oder nicht. Aufgaben regulieren als Zweckprogramme also, was in Organisationen funktional inkludiert und was exkludiert werden soll. Die zweite Art Zweckprogramm sind Ziele. Diese sind in der organisationalen Praxis sehr viel konkreter als Aufgaben und regulieren auf zeitlicher und inhaltlicher Ebene, was in einer Organisation passieren soll. Sie können ebenfalls zur Entscheidung zwischen Handlungsalternativen herangezogen werden. Alternativen, welche hierbei als zieldienlicher eingeschätzt werden, würden bei Verwendung dieser Art von Prämisse bevorzugt. Die Prämisse Kommunikationswege und Strukturen steht in Entscheidungsfällen für die Bedeutung von formalen Strukturen in Organisationen, wie sie zum Beispiel durch Hierarchien, Stellen, Rollen oder aber andere strukturelle Festlegungen (wie zum Beispiel Projekte) manifestiert werden. Sie können ebenfalls in Entscheidungssituationen als Begründung für die Auswahl einer Alternative Verwendung finden. Hierbei kann dieser Verweis sich auf die Zuständigkeit einer einzelnen Rolle oder Stelle genauso wie auf ein komplexeres Strukturelement wie ein Projekt oder eine Abteilung beziehungsweise eine Berichtslinie beziehen.

In der Praxis organisationaler Kommunikation zeigt sich der Gebrauch dieser Prämissen konkret in dem Verweis auf einen Typus dieser Prämissen in einer gegebenen Entscheidung. Wir stellen zum Beispiel Person A und nicht B ein, da wir sie für die Stelle X für geeigneter halten. Die Alternative A versus B wurde in diesem Fall mit dem Verweis auf die Stelle X sowie die für diese Stelle geltenden Anforderungen entschieden. Wird die Person A dann tatsächlich eingestellt und in die Strukturen der Organisation integriert, so ist es im Bild Luhmanns sinnvoll, die Auswahl von A für die Stelle X als eine organisationale Entscheidung anzusehen, welche die Prämisse Struktur zur Entscheidungsfindung verwendet hat. Die Unterscheidung zwischen Entscheidung und Entscheidungsprämisse eröffnet somit die Möglichkeit, den Entscheidungsgebrauch in Organisationen strukturell zu analysieren und folgend auch zu unterscheiden.

Neben dieser strukturellen Perspektive auf Entscheidungen betrachtet Luhmann in seinen Überlegungen auch die semantische Ebene von Entscheidungen. Hier fragt er danach, wie Entscheidungen in ihrem Sinngehalt für Organisationen in den Organisationen bearbeitet werden. Hierzu wendet Luhmann sein allgemeines Konzept der Sinndimensionen auf die Analyse von Entscheidungsprämissen an. Die Form von Sinn ist nach Luhmann hierbei dadurch gegeben, dass Sinn sich in der Auswahl einer Alternative aus anderen Möglichkeiten zeigt. Der Sinn einer Auswahl eröffnet sich hierbei aus der Analyse der drei von Luhmann definierten Sinndimensionen Zeit, Thema und Soziales. Die Anwendung dieses Sinnkonzeptes auf Entscheidungen beziehungsweise Entscheidungsprämissen kann dabei so erfolgen, dass die Auswahl einer Entscheidung oder einer Prämisse in den vorher genannten Dimensionen interpretiert werden kann. Das Sinnangebot auf der Sachebene verweist dabei darauf, dass die Auswahl einer Prämisse nicht im luftleeren Raum passiert, sondern ein mit der Entscheidung verbundenes Sachthema von Bedeutung sein kann. Ähnlich ist das Sinnangebot in der Sozialdimension mit der Verknüpfung einer gegebenen Prämissenwahl mit Personen beziehungsweise sozialen Kontexten (Projekte, Teams et cetera) verbunden. Last, but not least kann auch der Zeitpunkt einer Prämissenwahl von Bedeutung sein.

Welchen Sinn und damit welche Bedeutung eine Entscheidung auf der semantischen Ebene für eine gegebene Organisation besitzt, wird im Bild von Luhmann im weiteren Verlauf der kommunikativen Behandlung dieser Entscheidung in den drei Sinndimensionen in der Organisation entschieden. Hier kann zum Beispiel der Zeitpunkt einer Personalentscheidung ins Blickfeld geraten, da eine Fristigkeit nicht eingehalten wurde und somit diese Entscheidung im Nachgang für ungültig erklärt werden kann. Es könnte sich aber auch auf der Ebene der Thematizität eine Diskussion ergeben, da man eine eingestellte Person auf der Grundlage einer falschen Stellenbeschreibung eingestellt hat. Auch in diesem Fall könnte die Gültigkeit der Entscheidung infrage gestellt werden. Zuletzt könnte auch zum Thema werden, dass relevante Personen in die Entscheidung nicht eingebunden wurden. Auch in diesem Fall könnte die Entscheidung in ihrer Gültigkeit infrage gestellt werden. In den drei beschriebenen Fällen, welche zu einem nachgelagerten Überprüfen der getroffenen Entscheidung führen können, zeigt sich eine grundsätzliche Strukturmöglichkeit, Entscheidungen einen Sinn zu geben. Hierbei ist es oft sehr spannend zu beobachten, welche Sinndimensionen in welchen Kontexten zum Beispiel präferiert in einer Organisation oder einem anderen sozialen System Verwendung finden.

Doch wie passt dieser abstrakte und auch recht kühle analytische Blick Luhmanns auf Organisationen mit dem uns aus dem Alltag bekannten Bild lebendigen sozialen Geschehens zusammen? Wo sind die Menschen, die Gebäude und die mit den Menschen verbundenen existenziellen Themen aus dem vorherigen Abschnitt dieses Buches? Luhmann bietet hier im Wesentlichen das Konzept der Kontextualisierung an. Menschen bilden in diesem Bild als psychische Systeme einen essenziellen Kontext für Organisationen. Sie tauchen hierbei in Organisationen als (Fach-)Personen auf, welche als Mitglieder von Organisationen bestimmte Rollen besetzen und damit verbunden auch in die Zwecke beziehungsweise Ziele der Organisation eingebunden sind. Sie können dabei in den organisationalen Entscheidungen mit ihren angenommenen psychischen Binnenstrukturen, wie zum Beispiel Kompetenzen in der Prämissenkategorie »Personal«, auftauchen. Weitere Binnenaspekte von Menschen wie Gefühle oder Stimmungen bilden für Organisationen einen wichtigen Hintergrund des organisationalen Dialogs, welcher je nach Situation die Bildung organisationaler Entscheidungen auch indirekt beeinflussen kann.

Ein Beispiel für eine derartige Beeinflussung wäre der Umgang mit dem Thema Umweltschutz in einer Organisation, solange die Organisation noch keine formalen Regelungen hierzu getroffen hat. Hier können Personen, die Mitglieder in einer Organisation sind, über ihr kommunikatives Verhalten entsprechenden Einfluss ausüben. So kann beispielsweise eine Einkäuferin (Entscheidungsprämisse Personal) in einem mittelständischen Unternehmen, welches bisher über keine formale Regelung zum Thema Umweltschutz im Einkauf verfügt hat, durch ihr Einkaufsverhalten implizit umweltrelevante Standards in der organisationalen Praxis ihres Unternehmens etablieren. Eine ähnliche implizite