Der Weg des Schamanen oder die Tragfähigkeit des Traums - Tomo J. Seitz - E-Book

Der Weg des Schamanen oder die Tragfähigkeit des Traums E-Book

Tomo J. Seitz

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Schamanismus – das klingt erst einmal ziemlich weit weg. Nur ein Wort. Doch das was damit gemeint ist kann definitiv dein Leben verändern. Heute. Vielleicht ist die Welt ganz anders. Wie real ist die Wirklichkeit? Gibt es die Vergangenheit noch, existiert schon jetzt die Zukunft? Wo wartet der Tod? Gibt es Götter und Geistwesen? Zaubern – geht das? Ich meine so etwas wie dass - ganz zufällig natürlich - genau das geschieht, was ich mir gerade vorgestellt habe und das ich mir wünsche. Es gibt nur einen sicheren Weg zur Antwort - die eigene Erfahrung. Und es gibt Mittel und Techniken, die dir etwas zeigen, das du dir vorher noch nicht einmal vorstellen konntest. Schamanismus ist weder eine Religion noch ein Glauben. Es geht um Erfahrungen, die sich nicht mehr leugnen lassen, die dich verwandeln werden, die dir Flügel verleihen, die dir die Welt zeigen wie sie wirklich ist. Die Tragfähigkeit des Traums. Dies Buch ist ein Praxisbuch, das umfassend die Aspekte des Schamanismus vorstellt. Es berichtet über Erfahrungen, die ich mit mehreren Lehrern über viele Jahre gemacht habe. Es zeigt Instrumente, die solche Erfahrungen vermitteln können.

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Der Weg des Schamanen oder die Tragfähigkeit des Traums

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Titel Seite

Tomo J. Seitz

DER WEG DES SCHAMANEN

ODER

DIE TRAGFÄHIGKEIT DES TRAUMS

2. veränderte Auflage

November 2018

© Jürgen Seitz, Bonn

Die 1. Auflage ist 1996 erschienen

im Verlag Simon+Leutner, Berlin

Gedankengefangen

Tag für Tag

wie Trance

wann warst du wach?

Eine hauchdünne Wand

gerade hier

dahinter

der Zauberwald

Einleitung

Hier ist von Zauberei die Rede oder von Schamanismus. Dabei geht es nicht so sehr um in schwarzen Zylindern wartende rotäugige Kaninchen - eher schon um Bergkristallkugeln und Ketten aus Tigerzähnen.

Der Duden, maßgeblich in allen Zweifelsfragen, nennt den Schamanismus ein Glaubenssystem. Ich folge dieser Ansicht nicht. Für mich geht es hier nicht um glauben, sondern um wissen - wenn auch um ein besonderes Wissen.

Ich unterstelle, die uns vertraute Welt ist gelernt. Sie zeigt einen schmalen Ausschnitt aus der Realität, eine einzige Möglichkeit von unendlich vielen. Gewöhnlich haben wir die Ebene angenommen, die uns Eltern und Erzieher beigebracht haben. Unsere Umgebung ist Konvention. Wir haben uns darauf geeinigt, was ein Lapislazuli und was eine Erbsensuppe, was ein Weihnachtsmann und was eine Arteriosklerose ist. Wir sehen nur, was wir kennen und kennen nur, was wir gelernt haben. Was auf unserer Landkarte nicht verzeichnet und in unserem Gehirn nicht als Möglichkeit gespeichert ist, kann – erst einmal - nicht entdeckt werden. Wenn ich aber diese Welt, so wie ich sie jetzt wahrnehme, gelernt habe, kann ich wohl auch eine andere Sicht der Welt lernen.

Zauberei geht sogar noch einen Schritt weiter. Sie unterstellt: Wir haben nicht nur unsere Vorstellungen über unsere Welt gelernt - wir sind sogar ihr Schöpfer, wie ein junger Gott am Anfang aller Tage.

Schamanen wissen, dass alles in den Gedanken seinen Ursprung hat, selbst Materie. Wir zaubern daher ständig - freilich ohne uns darüber Rechenschaft abzugeben. Denn ohne eine Pause, selbst im Schlaf, beschäftigen sich unsere Gedanken mit uns und unserer Welt - und gestalten sie dadurch. Früher oder später wird das eintreten, was wir denken.

Um nicht wahllos und ungewollt, sondern zielgerecht zu gestalten, richtet der Schamane seine Gedanken in eine vorgegebene Richtung. Es gilt die Gedanken zu zähmen bis sie als Instrument meinem Willen folgen. Die Anstrengung ist auf den Wunsch gerichtet, mir einen schmalen Heiligenschein wachsen zu lassen oder jeden Abend um 17 Uhr einen freien Parkplatz vor der Haustür vorzufinden. Ich unterstelle und nehme in meinen Gedanken schon vorweg, was ich anstrebe. Ich habe erfahren, dass eine solche Art des Wünschens immer noch helfen kann und nach einiger Zeit, rein zufällig natürlich, tatsächlich immer wieder zur rechten Zeit freie Parkplätze auf mich warten. Heiligenscheine dauern etwas länger. Der direkte Weg, unmittelbar in den Himmel - oder in die Hölle.

Auch Zauberer fangen klein an. Die Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen ist schon schwer genug. Ständig einen bestimmten Gedanken aufrecht zu halten scheint nahezu unmöglich zu sein. Deshalb verwenden Schamanen zahlreiche Methoden und Hilfsmittel, die auch ohne ständige Gedankenkontrolle einen Raum schaffen, in dem das „andere“ erfahrbar wird.

Auf die Grundschule folgt irgendwann die Universität, auch im Wünschen. Dann werden Mittel nicht mehr gebraucht. Alles formt sich gleichsam von selbst und in der rechten Weise. Harmonie. Dort liegt das Ziel. Zauberei als Weg.

Ich bin Menschen begegnet, die diesen Weg gegangen sind. Von ihnen und dem, was ich von ihnen gelernt habe, möchte ich erzählen.

Titel

Wie es begann

Das Leben besteht aus Bildern. Erinnerungen reihen sich aneinander wie ziehende Wolken. Keine Absicht, kein Wollen. Irgend etwas taucht auf und verliert sich wieder. Gelegentliche Stille. Keine Gedanken.

Das Leben, eine Ansammlung von Eindrücken. Etwas bleibt haften, formt sich, wie ein Felsen in sprudelndem Wasser. Der Felsen will keine Form, noch das Wasser. Keine Absicht. Und doch ein perfektes Ergebnis. Und schließlich: der Stein zerrieben. Was bleibt?

Ein niedriger Horizont, ferne Hügelketten. Der ganze Rest Himmel. Noch blau, nur ein klein wenig gelblich. Oben anthrazitfarbene Wolken, darunter eine langgezogene rosaviolette Schicht. Links anschließend weißgraue Gebilde, die wie Inseln im Blau schwimmen. Kaum später die perfekte Illusion von Felsen im Meer, Schären. Glänzendes, in zartes Orange übergehendes Blau. Wie von Innen scheinend. Unendliche Weiten. Die Wolkeninseln nehmen eine schwarze Farbe an. Das weite Tal, in dem durch den ersten Regen hervorgerufenes Grün erst mühsam das trockene rötliche Braun zu verdrängen sucht, versinkt in der Dunkelheit. Ich bin auf dem Weg nach Norden. Vier Tage und vier Nächte im Bus. Ein ehemaliger Schulbus aus den Staaten, ziemlich voll besetzt. Die Stille der beginnenden Nacht, die durch die monotonen Alltagsgeräusche nur verstärkt wird.

Halt an einer schäbigen neonbeleuchteten Raststätte. Reklameschilder, Hinweise auf den großen Nachbarn im Norden. Einige Reihen schlichter plastikbeschichteter Tische. Ein Pappbecher mit einer zu süßen Limonade, zwei mäßig warme Tacos, mein Nachtmahl.

Am Nebentisch ein Mann, den ich im Bus nur flüchtig wahrgenommen habe. Eher eine Erscheinung, der man im Dunkeln nicht begegnen möchte. Halb verdeckt vom Schirm der Mütze mit dem Zeichen eines populären Sportvereins, ein braunes, furchiges Gesicht, in dem eine scharfe Nase auffällt, ein schmaler Mund und Augen. Irgend etwas ist mit den Augen. Es ist nicht ihre Form. Sie scheinen irgendwie zu glühen.

Einen Monat später in den Bergen. Ein winziger, nahezu verlassener Ort, fast nur noch Ruinen um eine gar nicht so kleine und noch recht gut erhaltene Kirche, die dem heiligen Franz geweiht ist. An drei Seiten versperren massige, aus der Entfernung kahl wirkende schmutziggrüne Bergrücken die Sicht. Eine breite Lücke führt den Blick zu weiter entfernten Erhebungen, zwischen denen sich tiefe Täler eingegraben haben. Hier ist die Welt zu Ende. Keine Straßen mehr. Nur schmale Maultierpfade.

Der heilige Franz. Frühmorgens habe ich ihn besucht und um eine gute Reise gebeten. Er saß mir gegenüber, in einem Glaskasten, dunkel gekleidet, und hat mich lange ernst aber gütig angeschaut, so als wüsste er auf jedes Leid eine Antwort.

Ich laufe querfeldein. Ständig bergan. Violette Lavafelder, mit niedrigem Kraut bewachsen, dazwischen mit Flechten überzogene Steine in der Farbe oxidierten Kupfers. Nicht einmal mehr Kakteen. Dort hinten der Kopf des Kraken, ein Berg. Dort will ich hin. Hügel und Ebenen dazwischen, durchzogen von tiefen schmalen Rinnen, die das Wasser gegraben hat, Canyon en miniature. Das Tal vor mir im Schatten. Nur dort ist es dunkel, rundherum heller Sonnenschein. Ganz langsam verzieht sich die Dunkelheit und taucht auch dieses Tal wieder ins Licht. Die Sonne spielt mit den Wolken.

Ich laufe seit Stunden, bewege mich auf einem Grat einem markanten Berg zu, treffe ihn in halber Höhe. Tief reicht er hinunter; seinen Fuß kann ich nur ahnen. Auf der anderen Seite ein Berg fast bis in den Himmel und ein Durchblick auf diese unbegrenzt weite Ebene, flach, graugrün mit kleinen braunen Flecken, Feldern. Schnurgerade dünne Linien, Straßen, aber kaum weitere Spuren menschlicher Besiedlung.

Obwohl ich auf halber Höhe beginne, ist die Wand steil und der Gipfel weit. Sehr langsam geht es nach oben. Nach zwei oder drei Schritten brauche ich wieder eine Pause. Unter mir eine Welt aus Abgründen und sanft gerundeten Felsmassen auf deren baumlosen Flächen die allmählich länger werdenden Schatten ein fast unwirkliches Relief zaubern. Wie ein 3D-Bild. Demonstration der dritten Dimension.

Der Gipfel ist fast erreicht. Oben ein Mensch. Schock. Ein indianisches Gesicht. Ein angedeutetes Lächeln. Der Mann aus dem Bus.

Eine Hand auf der drei fleischige Stücke einer Pflanze liegen. Mir wird schwindlig. Ich frage nicht lange. Ich nehme ein Stück und kaue es langsam, folge seinen Gesten, frage nicht was kommen wird. Ich bin bereit. Auch wenn es hart werden mag, ich werde überleben. Er fasst in die Tasche seines fein bestickten hellen Hemdes und gibt mir eine weitere Handvoll Kaktusfleisch. Es ist fest, aber nicht zäh oder faserig und lässt sich gut kauen. Ein bitterer Geschmack, nicht angenehm, aber auch nicht ekelhaft, noch nicht. Ich esse langsam und gründlich, doch kontinuierlich. Ich will es gegessen haben, bevor die Übelkeit kommt.

Der Weißgekleidete spricht von Reinigung. Er hat eine Kerze angezündet. Sie wird bis zum Grund brennen, flackernd zwar doch ohne zu verlöschen, auf dieser windigen Bergspitze.

Ich stoße auf. Luft mit intensivem Kaktusgeschmack. Säuerlicher Speichel. Das ist genau das Gefühl, das sich einstellt, wenn beim Trinken gerade die Grenze überschritten ist. Ein Druck und ein Rumoren im Magen. Etwas wackelig auf den Beinen. Eine leichte Übelkeit wird mich auch in den nächsten Stunden begleiten. Die Reise beginnt.

Ein wunderschöner Tag. Morgens hatte es dunkle Wolken gegeben, sogar einige Tropfen Regen. Jetzt strahlender Sonnenschein und tiefblauer transparenter Himmel mit Bändern aus weißen Wolken. Vor mir ein Abhang mit einigen Büschen, etwas Kraut und einzelnen Baumkakteen, Gewächse mit langen stacheligen Blättern, die eine große Kugel formen. Links Berge in diesem herrlichen rötlichbraunem Relief, Strukturen aus dunkelbraunen Schatten.

Rechts steile Flanken, denen Pflanzen eine olivgrüne Färbung geben. Und vor mir ganz tief unten diese Ebene, die unbegrenzt scheint, das Ende verliert sich im Dunst. Natur pur. So schön. Ein Punkt in der Ebene nimmt mich gefangen, intensivgrün, smaragdfarben. Die Pflanzen neben mir sind von einer feinen hellblauen Aura umgeben. Sie leben. Die Baumkakteen stehen in Reihen, dunkel, wie Wächter. Wie zahlreich sie sind.

Die Farben werden intensiver, realer als real, und transparent. Die Perspektive verändert sich. Wenn ich meinen Kopf drehe, bewegt sich die ganze Welt. Die Pflanzen stehen in Fluchten auf einen Zentralpunkt hin und diese Fluchten schwingen im Takt meiner Kopfbewegungen. Die Welt beginnt zu funkeln. In Maßen lösen sich die Begrenzungen, verschwimmen.

Auf meiner Hand klettert ein Marienkäfer, spreizt die Flügel - und fliegt. Verschwindet im Blau des Himmels. Ein Blau, so schön, so schön. Hell und unendlich tief. Eine Farbe, in die ich eintauchen kann wie in einen stillen Ozean.

Geräusche. Es fällt schwer, sie zu lokalisieren. Ungewohnte Töne, immer wieder, ein Schnarren. Ganz in der Nähe ein seltsamer Vogel, groß, rosa, mit kleiner Haube. Er scheint keine Angst zu haben, steht und guckt, springt und guckt, dreht sich. Er scheint hier zu wohnen.

Ich starre in die Wolken. Sie formieren sich kunstvoll, wie in chinesischem Stil gemalt, gefrieren. Rechts ein bedrohliches Wolkengebilde. Es gewinnt harte, dunkle Konturen, formt einen altmexikanischen Drachenkopf. Lange Schnauze voller Zähne. Ich wende meinen Blick ab. Von solchen Energien will ich mich nicht gefangen nehmen lassen.

Mein Regenponcho, profanes gummibeschichtetes Gewebe. Und trotzdem fasziniert dieses Oliv, schimmernde Goldtöne. Wie schön die Falten wirken, abgrundtiefes Schwarz in den Schatten. Ein roter Fleck. Ich kann mich nicht satt sehen. Alles wirkt wie immer und doch ganz anders. Keine spektakulären Ereignisse, kein Wesen von einem anderen Stern. Nichts, das ich nicht jederzeit erleben könnte.

Doch diese Intensität, Totalität, die Fähigkeit, mich schnell und konsequent auf einen Punkt zu konzentrieren, kenne ich nicht. Kein Unterschied mehr zwischen Denken und Sinneswahrnehmung. Ich genieße diese wunderschöne Aussicht und sie ist so so so so schön. Mehr bedarf es nicht. Der Himmel so blau, die Wolken so weiß, das Land so weit. Das Relief der Berge, diese Rundungen und Rillen, lila und braun. Es gibt nichts als diese Schönheit. Mehr gibt es nicht. Das ist es. Ich habe es erreicht. Kein Gott, keine Erleuchtung. Jetzt könnte ich sterben, mich auflösen. Für immer in diese schöne weite Welt eingehen. Die Flügel ausbreiten und in das Blau eintauchen.

Ein länglicher grauer Gegenstand. Nur ein Stück von einem abgestorbenen Agavenfruchtstand. Und doch ist dort mehr. Die Welt ist belebt. Ich weiß es nicht nur, ich nehme es wahr. Von den Pflanzen geht etwas aus und etwas davon beeinflusst mich. Sie können Freunde sein oder Feinde. Zu spaßen ist nicht mit ihnen. Die Kaktusbäume, Wächter. Sie haben etwas Bedrohliches. Sie könnten auf mich zukommen und mich überwältigen. Und es gibt funkelnde, zarte, durchscheinende Linien, sehr subtil, Filigran. Alles ist mit allem verbunden. Ein Netz.

Was ich denke, erfahre ich. Keine deutliche Trennung. Nicht dass ich die Berge verschwinden ließe. Aber ich kann an Glück und Schönheit denken und beides erfahren. Wirklich und wunderbar. Und wenn ich diese Gedanken nicht halten kann, wenn Zweifel kommen, wachsen Gefahren. Dann entstehen boshafte Kakteenwächter und Drachenwolken.

Ein Wissen von versteckten Bedeutungen. Große Zusammenhänge. Ein Wissen, das jetzt existiert, aber schwer mit hinüberzunehmen ist.

Ein Geräusch, recht leise, meist jenseits der Wahrnehmungsgrenze, aber immer wieder da. Ein Rauschen, ein ganz feines Dröhnen. Ich kann nicht ausmachen, woher es kommt. Wie von einem Flugzeug, über mir, doch ich sehe nichts.

Ganz allmählich verfärbt sich der Himmel. Schön. Einfach nur sitzen und schauen. Das Spiel der Farben. Noch verdränge ich den Gedanken an die Nacht. Die Sonnenstrahlen wärmen immer noch so intensiv, dass mir heiß wird.

Vom Tag zur Nacht. Plötzlich ist der Himmel voller Sterne. Nicht flächig angeordnet, sondern räumlich. Wie ein Dom über mir von unermesslicher Tiefe. Die Sterne. Eher leuchtende Lichtflecken, alle untereinander mit allerfeinsten Lichtfäden verbunden. Dazwischen hellere Nebel. Funkeln. Geborgenheit. Aber die bedrohlichen Schatten der Wächter. Ferne Schreie von Eseln.

Gefangen. Kein Weg zurück. Keine Orientierungsmöglichkeit, steile Abgründe und Spalten. Noch ist es halbwegs warm und angenehm. Ich habe alles angezogen, was ich mitgenommen habe und mache mich so klein wie möglich, die Gliedmaßen eng am Körper. An Schlaf ist nicht zu denken. Was tun? Ich lenke meine Aufmerksamkeit auf die Sterne, auf die fernen Lichter. Doch sie fesseln die Aufmerksamkeit nicht für Stunden.

Wie spät mag es sein? Ungeduldig wie ein kleines Kind. Die Kälte kriecht in meinen Körper. Ein starker Wind weht. Keine Zeit zum Träumen, mit Überleben beschäftigt. Im Osten müsste es hell werden. Ich krame die Taschenlampe aus dem Rucksack und schaue auf die Uhr. 3 Uhr. Wann wird es hell werden? Ich lege mich und stehe wieder auf, lege schließlich den Kopf auf die Knie und döse so gut es geht. In stockfinsterer Nacht gefangen. Lange Weile.

Die längste Nacht. Noch nie hab’ ich den Morgen so sehr ersehnt. Schließlich, nach vielen Stunden, ein ganz feines Licht im Osten. Diesmal keine Einbildung. Ein besonders heller Stern, der vom Horizont her in den Himmel aufsteigt. Die Venus als Morgenstern, der Bote des neuen Tages, der Stern, der der einheimischen Sage nach die Sonne hochzieht. Ganz allmählich zeichnet sich die langgezogene Silhouette der Berggipfel ab. Ein heller graublauer Streifen, schließlich etwas Orange, einige Lichtstrahlen. Die Sonne hat einen langen Weg hinter den Bergen. Als sie endlich sichtbar wird, ist sie schon gelb, nicht mehr orange. Hell genug, um gefahrlos aufbrechen zu können.

Meine Unterkunft, eine Ruine mit Licht. Eine nackte Glühbirne hängt von dem Balken, der das Wellblechdach hält. Wellblech und Pappe auch vor den Fensterhöhlen. Hinter dem Putz Lehm und dahinter rohe Steine. Ein abgebrochener Balken. Ein Bett aus Stahlrohren auf groben Steinplatten. Ich falle auf mein Lager. Keine Kraft mehr, um mich auszuziehen. Der Magen schmerzt und die Beine. Besinnungsloser Schlaf.

Er erwartet mich außerhalb des Ortes. Höhlen in der Bergflanke, als hätte sie ein Meer ausgewaschen. Eine so geräumig, dass sie früher als Tierpferch gedient hat, die andere als Notunterkunft für Hirten. Ein Zaun aus Agavenstengeln. In der Nähe verfallene Häuser.

Als ich komme, durchbohren mich zwei dunkle Augen. Ich habe immer noch ein Unbehagen in seiner Nähe und gleichzeitig spüre ich eine starke Anziehung.

„Hi Güero, Blonder! Wie ist dir die Nacht bekommen?“ Er entblößt seine Zähne zu einem Grinsen. „Das war ein Test. Erzähl mal!“

Schweigend hört er sich meinen Bericht an. Meine Augen bleiben an seinem Stirnband hängen, an dem seitlich zwei Federn baumeln.

„Ja, die Welt ist geheimnisvoll. Sie lebt. Es gibt nichts Totes.“ Nach einer gehörigen Pause setzt er fort: „Die Welt ist nicht fest. Du träumst.“

Er spricht extrem leise. Kaum kann ich seine Worte verstehen. Ein Krächzen ist in seiner Stimme. Etwas von einem Raubvogel.

„Denke nicht darüber nach, weshalb du mir begegnest bist! Du wirst es nicht ergründen. Es lässt sich nicht verstehen.“ Und nach einer weiteren langen Pause: „Ich will dir etwas erzählen ... .“

Damit begann eine Serie von insgesamt vier Unterweisungen.

Wie die Welt entstand

Ich habe gehört:

Tiefe Stille. Vor aller Zeit herrschte Dunkelheit, Dunkelheit und Leere. Nichts war entstanden, nichts regte sich. Nur ein Gedanke war da, eine Möglichkeit. Und die Möglichkeit entfaltete sich, blühte auf, wurde Wirklichkeit. Auch Wasser war da, tiefes, stilles Wasser, Wasser überall. Unter dem Wasser aber entstand Erde, breitete sich aus, bildete den Grund. Bald bewegte sich das Wasser, kräuselte sich etwas. Ein Hauch kam auf, wurde zum Wind, zum Sturm und drängte das Wasser zur Seite, legte die Erde frei, machte sie sichtbar. So kam die Erde zum Vorschein. Das Wasser war aber in so heftige Bewegung geraten, die Wellen schwappten so hoch, dass sie Löcher ins Firmament brachen. Und aus den Löchern schoss Feuer, die Sonne erschien und der Mond, die Sterne. Blitze tobten, krachten auf die Erde. Nun schwappte das Wasser zurück, bedeckte die Erde erneut. Doch das Feuer, die Blitze, die Sonne hatten einen Keim in die Erde gelegt, der sich ausdehnte, der wuchs und Wurzeln trieb, die sich tief in die Erde gruben. Aus den Wurzeln spross ein gewaltiger Stamm, der sich dehnte, an Umfang gewann, sich streckte, schließlich hoch und kahl aus dem Wasser ragte, weiter empor wuchs, kräftige, dunkle Äste trieb und wuchs, bis er schließlich das Firmament berührte. Dort stand er, der kraftvolle Weltenbaum, die Verbindung von Unten und Oben, die Achse der Welt. Kahl und grau ragte er aus den Fluten. Bald aber bildeten sich Knospen, schwollen an, wurden groß wie Felsen um zu platzen und aufzuspringen. Sie gaben Blätter frei, die sich entfalteten, sich mit Saft füllten, den Baum schmückten und ihm grüne Farbe gaben. Und am Stamm des Baumes wich allmählich das Wasser und gab erneut einen Teil der Erde frei.

Als die Erde im Sonnenlicht trocken wurde, erwachten die Tiere. Sie reckten und dehnten sich, sperrten langsam und genüsslich ihr Maul auf, öffneten vorsichtig blinzelnd die Augen, wie nach einem langen Schlaf. Ja, es war, als hätte es sie schon immer gegeben, von Anbeginn der Zeit an, als hätten sie nur geschlafen. Mineralien gab es nun, Steine, Sand und Erde, Berge und Flüsse, dunkle, dichte Wälder und klare Seen, Gras gab es und Sträucher, schön anzusehende Blumen und prächtige, hohe Bäume, dazu vielerlei Tiere, Fische und Kriechtiere, Vierfüßler und Geflügelte, die Eidechse, den Hirsch, das Eichhörnchen und den Raben. Selbst Geistwesen bevölkerten die Erde. Nur der Mensch fehlte noch.

Der Mensch wurde aus Erde geformt. Er entstand nicht einfach, er musste erschaffen werden. Er konnte nicht in einem Schritt entstehen. Schwierigkeiten waren zu überwinden. Mehrere Versuche wurden notwendig, ein Schritt nach dem anderen misslang oder war zumindest nicht ganz zufriedenstellend. Vielleicht fehlte noch etwas, vielleicht war noch etwas Besonderes notwendig, ein Getreidekorn etwa, ein lebenswichtiges Grundnahrungsmittel. Vielleicht musste ein Tier geschlachtet werden, um in seinem Magen dieses Korn zu entdecken. Schließlich ist der Mensch die Krone der Schöpfung, das Ebenbild Gottes.

Titel - 1

Titel

Reinigung

Gewöhnlich füllen den Menschen Routinen, Gedanken und Gefühle, Sorgen, Ablenkungen und Hektik randvoll. Keine Lücke, um zur Besinnung zu kommen, um zu sehen, was ist. Eine Mauer wurde geschaffen, die uns von der Wahrheit trennt und die einen Kontakt zu anderen Ebenen nicht mehr zulässt. Deshalb heißt der erste konkrete Schritt, mit dem mich Diogo bekannt gemacht hat, Reinigung, nämlich Mittel und Wege, um dem ursprünglichen Zustand vor und jenseits von Geburt und Tod wieder näher zu kommen.

Diese Reinigung bedeutet Stärkung, Neuanfang und Wiedergeburt. Sie hilft uns, ein neuer Mensch zu werden. Nicht zufällig beinhalten viele Rituale und Zeremonien Reinigung. Die Reinigung, die ich meine, findet im Kopf statt, doch äußere Mittel helfen, sie zu erreichen. Zu diesen Mitteln gehört die Schwitz-hüttenzeremonie, von der ich jetzt als erstes sprechen möchte.

Schwitzhütte

Die Nacht ist bereits angebrochen, früher Herbst, vereinzelte Sterne zwischen Wolkenfetzen, schon recht kühl, eine stille Wiese. Knackend lodert ein ansehnlicher Scheiterhaufen und wirft undeutliches, flackerndes Licht auf nackte Menschen vor einer niedrigen, grauen, zeltartigen Halbkugel. Eine Decke ist zur Seite geschlagen und lässt einen Spalt ins schwarze Innere der Höhle offenstehen. Ich bücke mich, folge der Frau vor mir, murmele ein unverständliches To-Shee-La-He, für alle meine Verwandten, tauche ein und schiebe mich im Uhrzeigersinn in das Dunkle. Wie viele Menschen in diese winzige Höhle passen. Sardinen in der Dose. Ein kalter Fleck Erde unter mir, ein Stück Pappe; ich bin zwischen weichem hängendem Fleisch und harten Knochen eingepresst, ein kratzender Ast in meinem Rücken, Teil der fragilen Halbkugelkonstruktion.

Durch den Spalt schweben von außen auf einer großen Gabel orangerote, glühende Gesteinsbrocken und finden ihren Platz in einem Loch mitten zwischen uns, dem Nabel der Welt. Stechende Hitze kriecht durch den Raum, füllt ihn. Leise knackend verbrennen Pflanzenkrümel zu kleinen Sternenfunken. Ein unbekannter, herber Geruch vermischt sich mit dem Geruch von schlammiger Erde und Körperdunst. Weitere kleine Felsen poltern auf die Glut. Der Spalt schließt sich dicht.

Es ist heiß. Zischend fällt Wasser auf die Steine, Dampf schießt hoch, füllt den Raum, dringt zwischen uns. Schweiß quillt wie Wasser aus der Körperfläche und sucht sich in kleinen Bächen einen Weg auf der Haut. Unbarmherzige Hitze, greifbar dichter Dampf, undurchdringliche Dunkelheit, kein Platz zum Atmen, eingeklemmt, mein Magen revoltiert, fast Panik. Singen, Sprechen, irgendwelche Laute. Oh du Mann an der Tür, zieh die Decke weg! Endlich ein Lichtschimmer, ein kühler Hauch, ein Strahl kühlerer und klarerer Luft im Dampf. Der Dampf entweicht. Dankbar über einen Schluck Wasser aus der Plastikflasche. Aufatmen.

Dann wieder Dunkelheit, die nächste Runde; schließlich eine dritte und eine vierte. Unerträglich heiße, feuchte Hitze, alles nass, dreckige, schwitzende Glied-maßen. Ich ersticke, ich kann mich nicht rühren, mir wird schlecht, ich will raus. Hilfe!

Durchhalten. Halte durch! Irgendwie bekomme ich den Kopf auf den Boden. Etwas besser.

Tierstimmen, kleine runde Augen, ein Vogelkopf, gelblicher Schnabelansatz: ein Raubvogel, kleiner und zierlicher als ein Adler, rötlichbraun, dunkler gesprenkelte Brust, recht lange Schwanzfedern, Krallen. In einem anderen Raum.

Der Spalt ist auf. Im Gegenlicht, mehr erahnbar als erkennbar, drei massige, dampfende Leiber, schwere schwankende Brüste, wie am Anfang der Zeiten. Drei Urmütter aus nordischen Sagen, gewaltig.

Ich richte mich auf, taumele, der Körper brennt, kühle Luft. Für alle meine Verwandten. Ein Schwall eisigen Wassers trifft mich.

Ich werfe mich auf den Boden, schwebe wie auf einer Wasserfläche, unter mir ein Blick in unendliche Tiefen, Wirbel, weit unter mir ein Spalt zwischen zwei Felsen. Eine riesige Vagina öffnet sich, lässt etwas herausschlüpfen und schließt sich sofort wieder. Die Felsen wachsen wieder zusammen. Das Wesen strudelt und wirbelt nach oben, auf mich zu. Ein Vogel schießt in meinen Bauch und ist in mir. Ich habe Schwingen, schwebe, spüre den Wind.

Es wird kalt. Ich öffne die Augen, klebe am Boden. Kaum kann ich aufstehen.

Diogo hatte mir die Schwitzhütte als einen heiliger Ort vorgestellt. der besondere Kräfte besitzt. Ein Ort der Harmonie und der Ausgeglichenheit. Sie dient der vollkommenen Reinigung, der Stärkung, der Wiedergeburt. Aus ihr kommen wir hervor wie junge Blätter aus ihren Knospen, makellos wie frisch geschlüpfte glänzende Schmetterlinge, wie ein neugeborenes Kind. So lässt sich die Schwitzhütte gleichsetzen mit der Gebärmutter der Erde, unserer Mutter, die uns hervorbringt und die uns erhält. Wir reifen in ihr, wachsen heran, harren aus in ihrem engen, dunklen, feuchten und warmen Inneren, um wiedergeboren zu werden, um frisch und unschuldig in das Unbekannte zu kriechen, um als gerade geschlüpfte Schmetterlinge unsere Flügel zu entfalten. Wir gehen nackt in die Schwitzhütte, denn wir werden nackt geboren.

Auf dem Medizinrad steht die Schwitzhütte im Nordwesten. Ich schaute ihn verständnislos an. Von einem Medizinrad hatte er noch nicht gesprochen. Erst sehr viel später habe ich ganz verstanden, was er meinte. Damals fuhr er ungerührt fort: Die Schwitzhütte kann dir Bilder zeigen und dir helfen, Regeln und Gesetze zu erkennen und deine Vorstellungen. Du hast die Chance, dich zu ändern, deine Bilder zu erkennen und zu durchbrechen und so auch innerlich ein neuer Mensch zu werden. Wenn sich dein Selbst ändert, wirst du als neuer Mensch wiedergeboren. Die Schwitzhütte wird auch als Mondhütte bezeichnet nach dem weiblichen, nördlichen Mond, weil sie mit den Kräften des Weiblichen arbeitet, der Dunkelheit des Erdinneren und der geheimnisvollen Nacht.

Die Schwitzhütte gleicht dem Kosmos. Ihr Grundriss zeichnet ein Medizinrad. Im Außenkreis stecken an den Stellen der Richtungen und Zwischenrichtungen die Gerten, die die Dachkonstruktion tragen. Den Innenkreis bildet die Begrenzung der Grube in der Mitte, der Grube, die zur Aufnahme der Steine bestimmt ist, der Nabe des Rades, auch Nabel der Welt, Tor zur Unterwelt und Ort der Himmelsachse. Über dem Grundriss wölbt sich halbkugelartig das Dach der Hütte, das Himmelszelt.

Die Erde, die die Grube gefüllt hat, formt vor der Hütte einen kleinen Hügel, der der Kopf einer Schildkröte sein könnte, deren Leib die Hütte selbst ist: ein Symbol für unsere Erde, die Schildkröteninsel. Die Öffnung der Hütte richtet unseren Blick nach Osten, der Richtung der neuen, aufgehenden Sonne, der Richtung des erleuchteten Wissens, der Richtung, die uns Einsicht und spirituelles Wachstum bringt. Der Holzstoß zum Erhitzen der Steine lodert ebenfalls im Osten, auf der Verlängerung der Hüttenöffnung über den Kopf der Schildkröte hinaus: Symbol für das Feuer des Ostens, das Feuer, das Licht und die Kraft der Sonne. Auch die Holzscheite des Feuers folgen einem Plan: vier Scheite für die vier Kräfte der Richtungen liegen von Ost nach West, vier weitere für die vier Zwischenrichtungen von Nord nach Süd - der Rost für die Steine. Weitere Holzstücke umhüllen diese Steine wie ein Zelt.

Die vier Energiewelten nehmen teil und geben der Zeremonie Leben:

die Steinwelt, unsere uralten Brüder und Schwestern, die viele Millionen Jahre erlebt haben, glühende Felsbrocken in der Mitte der Hütte, Halter und Geber von Energie, von Hitze und Dampf, von Reinheit, von Wissen und Geheimnissen;

die Pflanzenwelt, unsere stillen Brüder und Schwestern, voller Gelassenheit und Harmonie durch ihren langsamen Lebensrhythmus, die Bäume, die Holzgerten der Halbkugelkonstruktion, Geber und Ausrichter von Energie, das Gras der Erde, auf der wir sitzen, die Duftkräuter auf der Glut, die uns ihren Duft, ihre Kraft schenken;

die Tierwelt, unsere nähere Verwandtschaft; sie beteiligt sich durch die Felle und Decken über dem Holzgerüst, dem Dach, und nimmt unsere negativen Energien auf und reinigt uns dadurch;

und schließlich nehmen Menschen teil, die - hoffentlich - die Energie in die richtige Richtung lenken, durch gute Gedanken, durch Gebete, Gesänge voller Freude, kraftvolle Visionen, durch das Ertragen von Hitze, Feuchtigkeit und Enge.

Menschen, Tiere und selbst Pflanzen und Steine sind unsere Verwandten. Ihnen wird jede Schwitzhütte gewidmet.

Die vier Elemente sind beteiligt:

das Feuer, der große Scheiterhaufen, der uns erwärmt und die Steine zum Glühen bringt, damit sie Hitze speichern und uns wärmen,

das Wasser, das auf die rotglühenden Steine fließt, sich in läuternden Dampf verwandelt, uns reinigt, unser in kleinen Bächen fließender Schweiß, das köstlich kühle Wasser, das in der Hütte angeboten wird, uns zur Erfrischung und der Wasser-schwall, der uns begrüßt, wenn wir die Hütte verlassen haben,

die Luft - sie umgibt uns, wir atmen sie, sie nimmt die Wärme der Steine und den Dampf auf -

und auch die Erde fehlt nicht, auf der wir sitzen, die uns trägt, unsere Mutter, die uns hervorgebracht hat, die uns ernährt.

Die Schwitzhüttenzeremonie reinigt umfassend; sie versetzt uns erneut in den Zustand der Unschuld. Trotzdem dient sie lediglich als großartiges Mittel. Die wirkliche, die innere Reinigung geschieht im Kopf, in unserer Vorstellung, in der Imagination. Dort wird sie real, nur dort bringt sie Früchte hervor. Letztlich genügte deshalb die Vorstellung allein. Doch mir fällt es nicht leicht, meine Vorstellung abstrakt und ohne Hilfsmittel stark, dicht, handgreiflich und wirksam werden zu lassen. So sind mir Hilfsmittel sehr willkommen, die meiner Imagination Flügel verleihen, die mich in diese Realität eintauchen lassen, dass sie mir vielleicht ebenso real oder sogar intensiver und damit wirksamer erscheint als die gewöhnliche Welt.

Weggeben

Reinigung bedeutet auch loslassen und weggeben. Gewöhnlich baden wir alle im Schlamm. Unsere Herzen sind überkrustet, Probleme pressen, Neid nagt, Wünsche wuchern und halb verdrängte Schuldgefühle zerren. Die Vergangenheit lebt, bohrt in uns, verfolgt und vergiftet uns. Alte Wunden eitern. Wir haben nicht verziehen - unserer Mutter nicht und unserem Vater nicht, den Lehrern, Geschwistern, Gespielen, Partnern und Vorgesetzten nicht und uns selbst nicht. Wir schämen uns. Vielleicht sind diese Seiten tief in uns vergraben, eingeschlossen, abgeschnitten, nahezu unerreichbar, doch immer irgendwo zu spüren. Viel Energie fließt dann, um die Erinnerung fernzuhalten, um die Augen fest zu schließen, Energie, die für anderes fehlt.

Wie lässt sich dieser giftige, lauernde Lindwurm anpirschen, vertreiben, vielleicht sogar besiegen? Ohne Bewusstheit ist ein Kampf schwierig und Bewusstheit allein hilft. Zunächst magst du deshalb nachdenken, ob dir dunkle Punkte einfallen, die du wegwaschen möchtest. Träume geben viele Hinweise. Du kannst in entspanntem Zustand kritische Situationen der Vergangenheit auftauchen lassen. So werden sie bewusst.

Diogo hat mir eine einfache Zeremonie gezeigt, deren Zweck das gedankliche Weggeben ist: Einige Menschen sitzen im Kreis. Reihum, im Uhrzeigersinn, dem Lauf der Sonne entsprechend, hat jeder im Kreis die Möglichkeit zu sprechen, sich etwas von der Seele zu reden, zu verabschieden. Vielleicht etwas, das ein Leben lang belastete und von dem noch nie jemand etwas gehört hat. Wir sitzen still, sammeln uns und nach einer Zeit wird der, der anfängt, den zurechtgelegten Stein greifen und beginnen. Er wird spontan wissen, dass er heute als erster spricht. Solange er den Stein in der Hand hält, wird niemand ihn unterbrechen. Stille Aufmerksamkeit, Geduld und Zuneigung seiner Hörer unter-stützen ihn. Wenn er gesagt hat, was zu sagen war, reicht er den Stein an seinen linken Nachbar weiter, der nun zu sprechen beginnt, wenn er sprechen möchte. In der Mitte kann eine Kerze stehen, bereit, die negativen Energien zu verbrennen. Was hier zutage kommt, bleibt geheim und es wird nicht kommentiert. Eine Schwitzhütte ist ein guter Ort für ein solches Weggeben, in anonymer Dunkelheit, in gleichmachender Nacktheit.

Mit Bäumen sprechen

Vielleicht ist die Last zu groß, die Scham so überwältigend, vielleicht traust du dich nicht, dein drückendes Geheimnis einem menschlichen Ohr anzuvertrauen; du meinst, es ist nicht für menschliche Ohren bestimmt. Dann gib diese schwere Last einem Baum! Erzähle ihm dein Leid! Ein Baum gibt als Pflanze Energie und als Geschöpf des Ostens kann er Energie lenken, richten oder steuern. Er gibt Harmonie, indem er Probleme, Unruhe, Zweifel, Sorgen, Fragen, Verzweiflung und dunkle Geheimnisse nimmt und in eine andere, bessere Richtung lenkt. Er kann auch mit den Wesen sprechen und unsere Botschaften übermitteln.

So suche den richtigen Baum am richtigen Ort, an einem Ort, an dem du dich wohl fühlst, der dich anzieht und einen Baum, dem du vertraust, der dich mag, der dein Freund werden kann. Denn nicht jeder Baum mag dich. Meide Bäume, die dir Fallen stellen, dich stechen oder dich festhalten. Ich denke an die dicke, kraftvolle, verständnisvolle Buche an dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin, am Waldesrand vor den Fichten, unweit der kleinen Quelle, die seit einigen Jahren ein Forellenbecken speist. Nimm dir Zeit! Ein Baum ist langsam. Er braucht einige Zeit, um dich zu verstehen, denn sein Lebensrhythmus ist langsamer als unserer. Er braucht einen Tag, um auszuatmen und gibt dabei Sauerstoff ab und eine Nacht, um einzuatmen, Kohlendioxyd. Er wacht den Sommer über und schläft im Winter. Stelle dich auf deinen Baum ein, verstehe ihn.

Gewöhne dich an die Vorstellung, zu einem Baum zu sprechen und von ihm verstanden zu werden. Zier’ dich nicht! Du bist nicht verdreht! Wenn du dich von deiner falschen Vorstellung über Bäume löst, kannst du mit ihnen in Kontakt treten und du wirst es bemerken. Geh zu dem Baum und erzähle ihm dein Leid! Gib weg, was dich bedrückt! Bleib bei dem Baum, bis du sicher bist, dass er dich verstanden und dein Problem genommen hat!