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Nach ihren ursprünglichen Quellen enthüllt die beeindruckende Landkarte des Enneagramms die mannigfaltigen Ebenen der Realität in all ihren Facetten. Sandra Maitri, die bekannte Autorin von “Neun Porträts der Seele. Die spirituelle Dimension des Enneagramms” legt nun mit “Der Weg zurück zum Selbst. Das Enneagramm der Leidenschaften und Tugenden” ihr zweites Buch zu dem unendlich vielfältigen Thema des Enneagramms vor. Hierin konzentriert sie sich erstmals umfassend und detailliert auf die Leidenschaften und entsprechenden Tugenden, die im Prozess der individuellen Entwicklung und Entfaltung auf natürlicherweise zu Tage treten und im ersten Buch wenig Raum hatten. Die Leidenschaften sind die vom Ego gespeisten emotionalen Zustände, die unser Leben so leicht beherrschen, wie zum Beispiel Zorn, Stolz und Angst. Diese Leidenschaften in unserer Erfahrungswelt zu erforschen und zu verstehen, kann uns in den Bereich jenseits der Persönlichkeit zu unserer Essenz führen. Dort entstehen ganz natürlich die Tugenden, wie zum Beispiel Gelassenheit, Demut und Mut, und unterstützen unsere Entfaltung und unser Leben. Sie ersetzen die zwanghaften und reaktiven emotionalen Muster der Leidenschaften, und an diesem Übergang von den Leidenschaften zu den Tugenden zeigt sich innere Entwicklung, die schließlich im Erwachen gipfelt.
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Seitenzahl: 405
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Amerikanische Originalausgabe: Sandra Maitri: The Enneagram of Passions and Virtues. Finding the Way Home. Published by Jeremy P. Tarcher/Penguin Group
Deutsche Ausgabe: Sandra Maitri: Der Weg zurück zum Selbst. Das Enneagramm der Leidenschaften und Tugenden. Übersetzt von Anama Frühling, erschienen bei: ©advaitaMedia – Weisheit aus der StilleMaria-Louisen-Str. 57, D-22301 Hamburgwww.advaitamedia.com [email protected]
©2009 advaitaMedia GmbH Projektleitung, Korrektorat: Lijoy Karikott, Hamburg Lektorat: Hendrik Bönisch, Bielefeld Cover, Satz: Frank Ziesing, Bielefeld Druck und Bindung: C.H. Beck, Nördlingen
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.
ISBN 978-3-936718-15-7
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige, auch elektronische Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.
Für meine Weggefährten aller Traditionen
INHALT
DANKSAGUNG
VORWORT VON A. H. ALMAAS
EINFÜHRUNG
KAPITEL 1 DAS ENNEAGRAMM, DIE SEELE, DIE LEIDENSCHAFTEN UND DIE TUGENDEN
TEIL 1
Die nach außen gerichtete Gruppe
KAPITEL 2 PUNKT NEUN – BEQUEMLICHKEIT UND HANDELN
KAPITEL 3 PUNKT ACHT – WOLLUST UND UNSCHULD
KAPITEL 4 PUNKT EINS – ZORN UND GELASSENHEIT
TEIL 2
Die Image-Gruppe
KAPITEL 5 PUNKT DREI – TÄUSCHUNG UND WAHRHAFTIGKEIT
KAPITEL 6 PUNKT ZWEI – SOLZ UND DEMUT
KAPITEL 7 PUNKT VIER – NEID UND GLEICHMUT
TEIL 3
Die Angst-Gruppe
KAPITEL 8 PUNKT SECHS – ANGST UND MUT
KAPITEL 9 PUNKT SIEBEN – VÖLLEREI UND NÜCHTERNHEIT.
KAPITEL 10 PUNKT FÜNF – HABGIER UND NICHTANHAFTUNG
NACHWORT
QUELLENANGABEN DER ZITATE
BIBLIOGRAPHIE
ABBILDUNGEN
DIAGRAMM 1DAS ENNEAGRAMM
DIAGRAMM 2DIE ENNEA-TYPEN
DIAGRAMM 3DIE OBJEKTIVEN ENNEAGRAMME
DIAGRAMM 4DAS ENNEAGRAMM DER PERSÖNLICHKEIT
DIAGRAMM 5DIE LEIDENSCHAFTEN
DIAGRAMM 6DIE TUGENDEN
DIAGRAMM 7DAS INNERE DREIECK
DIAGRAMM 8DIE PUNKTE AUF DEM RAND
DIAGRAMM 9DER INNERE FLUSS
DIAGRAMM 10DIE NACH AUßEN GERICHTETE GRUPPE
DIAGRAMM 11DIE IMAGE-GRUPPE
DIAGRAMM 12DIE ANGST-GRUPPE
Danksagung
Die Idee zu diesem Buch entstand, nachdem ich im Herbst 2002 und im Frühjahr 2003 für die Ridhwan-Schule in Boulder, Colorado, und für die Enneallionce, School for Inner Work, in Hamburg einen Workshop geleitet hatte. Ich danke Anne Laney dafür, dass sie den Workshop in Boulder organisiert hat, und all jenen, die sie dabei unterstützt haben und den verschiedenen Organisatoren in Hamburg, besonders meinem Übersetzer Boris Fittkau.
Besonders dankbar bin ich meinem sehr klugen und begabten Lektor bei Tarcher, Mitch Horowitz, für seine beständige Anerkennung und Unterstützung und sein Verständnis für meine Arbeit. Sein scharfsinniges Lektorat hat auch diesmal dazu beigetragen, ein besseres Buch herauszugeben. Ich bin ihm auch dankbar dafür, dass er mich zu meiner wunderbaren und ebenfalls sehr klugen Agentin Katherine Boyle geführt hat, der ich gleichfalls meine Dankbarkeit für ihre stetige Unterstützung ausdrücken möchte. Mitch und Katie haben beide meine Vision verstanden, die Wichtigkeit dieses Buches erkannt und mich gemeinsam ermutigt, es zu schreiben. Ich möchte auch Deborah Miller für ihre sorgfältige Bearbeitung dieses Buches und für ihre scharfsinnigen Einwände und Vorschläge danken, die dieses Buch wie mein erstes Buch besser gemacht haben.
Mein tief empfundener Dank gilt Hameed Ali (A. H. Almaas) dafür, dass er mir sein Material so großzügig zur Verfügung gestellt und mich ermutigt hat, dieses Buch zu schreiben, für sein liebenswürdiges Vorwort, für seine Weisheit und für das bemerkenswerte Licht, das er zurzeit für den Planeten darstellt. Meine tiefe Dankbarkeit gebührt auch Claudio Naranjo, der mich vor langer Zeit, 1970, mit dem Enneagramm bekannt gemacht und mich als mein erster spiritueller Lehrer auf den Weg gebracht hat. Ich fühle mich tief geehrt durch seine Unterstützung für meine Arbeiten über das Enneagramm.
Ich möchte mich auch bei Sherry Anderson, Mayuri Onerheim und besonders bei Rosanne Annoni dafür bedanken, dass sie das Manuskript gelesen, hilfreiche Anmerkungen gemacht und mich ermutigt haben. Besonders Rosanne verbrachte Stunden damit, es durchzugehen und nützliche Vorschläge zu machen. Sie ist auch ein Mitglied meiner Malgruppe, der außerdem Jeannine Jourdan und Gabi Spina angehören, denen ich allen dreien dankbar für die wöchentliche nonverbale Unterbrechung des Schreibens bin. Noch viele andere haben direkt oder indirekt zu diesem Buch beigetragen und ich möchte einigen von ihnen meine Dankbarkeit ausdrücken: Eugene Cash für seinen hilfreichen ätiologischen Beitrag und die buddhistischen Zitate; Ralph Sharrett für die Gestaltung der Diagramme; Alia Johnson dafür, dass sie mir vor vielen Jahren den Textabschnitt von Virginia Woolf gezeigt hat; Bob Rosenbush für seine unermüdliche Unterstützung und Ermutigung meines Schreibens; meiner lieben Freundin Geneen Roth für ihr Interesse, ihren Enthusiasmus und ihren Rat in Bezug auf dieses Buch und viele andere Dinge; Jeanne und Paul Rosenblum für ihre Freundschaft, viele Mahlzeiten und unterstützende Wärme; Joyce Lyke dafür, dass sie mir in dieser Zeit eine so gute Freundin war, wofür ich dankbarer bin, als ich ausdrücken kann; und schließlich Brian La Forgia für seine heilende Gegenwart, seine Weisheit, für die Großzügigkeit seines Herzens und seine Liebe.
Meine Schüler haben mich viel von dem gelehrt, was in diesem Buch enthalten ist, und ihnen allen möchte ich meinen Dank ausdrücken für ihre Aufrichtigkeit und ihre Hingabe an die Wahrheit. Es ist mir eine Ehre, mit ihnen allen zu arbeiten, und ich bin dankbar dafür, dass es mir möglich ist. Die Jahrzehnte, in denen ich Zeuge der persönlichen Prozesse meiner Gruppengefährten und Lehrerkollegen des Diamond Approach war, haben ebenfalls zu dem Verständnis beigetragen, das sich in diesen Seiten ausdrückt. Es ist mir eine Ehre, mit ihnen auf dieser Reise zu sein, ihre Transformation zu beobachten und Teil davon zu sein.
Und ich bin auch all jenen dankbar, die im Laufe der Jahrhunderte ihre eigene innere Reise unternommen haben. Es gäbe dieses Buch nicht ohne das Erbe, das sie uns durch die Erweiterung unseres kollektiven Bewusstseins hinterlassen haben.
Vorwort
Da wir so verwickelt in die Details unseres Lebens sind, dass wir uns in ihnen verlieren, vergessen wir, dass diese Einzelheiten in Wirklichkeit nur die äußere Schicht unseres wirklichen Lebens sind. Wenn wir nicht das große Glück gehabt haben, Erfahrungen des Erwachens in die wahre Realität zu machen oder einer echten spirituellen Lehre zu begegnen, wissen wir vielleicht nicht einmal, dass diese Details nur die äußere Schicht einer viel großartigeren Realität bilden. Wir bleiben vielleicht so sehr an die Oberfläche gebunden, dass wir alte spirituelle Werkzeuge und Methoden für den Zugang zu dieser großartigen Realität nur als Hilfsmittel ansehen, um mit diesen alltäglichen Details fertig zu werden. Auf solche oberflächliche Weise wird auch hauptsächlich die Weisheit des Enneagramms benutzt, und daher bin ich glücklich, wenn ich auf Bücher über das Enneagramm stoße, wie das vorliegende Werk, die uns an seine ursprüngliche und noble Absicht erinnern.
Sandra Maitri gelingt es in ihrem zweiten Buch über das Enneagramm, noch deutlicher zu zeigen, dass das Enneagramm vor allen Dingen ein Werkzeug für innere Transformation ist, indem sie sowohl die grundlegenden subtilen Aspekte des Transformationsweges erhellt, als auch die innere Bedeutung wichtiger Wissensebenen des Enneagramms aufzeigt. In ihrem ersten Buch Neun Porträts der Seele – Die spirituelle Dimension des Enneagramms stellte Sandra das Enneagramm der Fixierungen oder der psychologischen Typen in den Mittelpunkt. Hier verlagert sie den Schwerpunkt auf die Enneagramme der Leidenschaften und Tugenden und leistet Pionierarbeit mit ihrem Kommentar zu diesen wichtigen Dimensionen der erstaunlichen Weisheit, die im Enneagramm enthalten ist.
Die Landkarte des Enneagramms stellt entsprechend der ursprünglichen Quellen einen Entwurf der Realität in all ihren Facetten dar. Es gibt viele Enneagramme in diesem System und jedes von ihnen enthüllt und beleuchtet die Struktur der Realität in einer ihrer Dimensionen. Das Enneagramm der Fixierungen zum Beispiel widmet sich der Dimension der Ego- oder Persönlichkeitstypen, das heißt der Dimension der normalen ichbezogenen Erfahrung. Es konzentriert sich auf die geistige Beschaffenheit der Ego-Typen, die ihnen zugrunde liegenden Täuschungen und die vielen Charakterzüge, die aus solchen Täuschungen entstehen. Sandra zeigte in ihrem ersten Buch einleuchtend auf, wie die Fixierungen aus dem Verlust der Heiligen Ideen entstehen. Damit trug sie unter anderem zur Weiterentwicklung und Veranschaulichung der Einsichten meines eigenen Buches über das Enneagramm, Facetten der Einheit, bei, in dem ich mich vor allem auf die Heiligen Ideen konzentrierte und erklärte, wie ihr Verlust zu den Täuschungen jeder der Fixierungen führt. Dagegen beschrieb Sandra in ihrem Buch, wie sich die kompletten Fixierungen aus solchen Täuschungen entwickeln.
In meiner Arbeit des „Diamond Approach“ benutze ich die Landkarte des Enneagramms an drei strategisch wichtigen Punkten. Zu Beginn der inneren Transformationsarbeit verwende ich häufig das Enneagramm der Fixierungen, das dazu beitragen kann, die Muster der eigenen Ego-Persönlichkeit und des mit ihr verbundenen Selbstgefühls ganz genau zu erkennen und zu verstehen. Wenn sich der Weg entfaltet und tief in das Wesen der Realität und der Realisation eintaucht, benutze ich das Enneagramm der Heiligen Ideen, das sich als ein erstaunlich klares Hilfsmittel erweist, um den wahren Plan der Realität, der Realität, wie sie in der Erfahrung des erleuchteten Bewusstseins erscheint, zu erkennen. In der Mitte des Weges jedoch, wo man beginnt, sein essenzielles Wesen zu erfahren, und auch etwas von dessen essenzieller Präsenz integriert, gebrauche ich das Enneagramm der Leidenschaften und der Tugenden, wie es aus der Sicht des Diamond Approach entwickelt wurde und verstanden wird. Die Leidenschaften stellen die Eigenschaften des Herzens dar, wenn es unter dem Einfluss der ichbezogenen Erfahrung steht, die sich als innere Haltung und affektive Stimmung manifestieren, die beide Ausdruck der Fixierung sind und ihre spezifischen Verhaltensweisen verursachen. Die Tugenden sind der Ausdruck eines offenen Herzens, das durch eine innere Transformation gegangen ist und sein spirituelles Wesen verwirklicht hat.
Die Arbeit mit diesen Enneagrammen trägt viel zu der Erkenntnis bei, dass die so genannten Leidenschaften wie Zorn, Neid, Habgier und Wollust nicht nur Ausdruck des egoverhafteten Ichs sind, sondern auch die Haupthindernisse auf dem Weg der Transformation und Realisation bilden. Die Tugenden hingegen zeigen, wie innere Verwirklichung auf die Seele oder das individuelle Bewusstsein wirkt, indem sie ihm die Haltung von Gelassenheit, Wahrhaftigkeit, Demut, Nichtanhaften etc. verleiht. Die Tugenden erweisen sich als die sichtbaren Zeichen innerer Realisation – sowohl in der Einstellung als auch im Handeln.
In ihrem vorliegenden Buch verwebt Sandra geschickt das Wissen, das ihr von Dr. Claudio Naranjo über das Enneagramm im Allgemeinen und über die Leidenschaften und Tugenden im Besonderen vermittelt wurde, mit dem Verständnis der Seele, der Leidenschaften und der Tugenden des Diamond Approach. Sie nutzt ihre umfassende Erfahrung als Lehrerin des Enneagramms und des Diamond Approach, um einen Weg zu entwickeln, der ein Verständnis der inneren Transformation der Seele im Kontext dieser beiden Enneagramme ermöglicht. Das Ergebnis ist ein Buch, das eine klare und tiefe Würdigung des inneren Transformationsweges darstellt und gleichzeitig ein detailliertes Wissen über die vom Enneagramm gezeichnete Landkarte des Herzbereiches vermittelt. Mit der ihr eigenen Klarheit zeigt Sandra, wie das menschliche Herz, wenn es durch die Fixierungen der Ego-Persönlichkeit begrenzt und eingeschränkt wird, nur die Leidenschaften des Zorns, des Stolzes, der Täuschung, des Neides etc. mit dem sie begleitenden psychischen Leiden ausdrücken kann. Wenn sich das Buch auch hauptsächlich auf das Enneagramm der Leidenschaften konzentriert, vermittelt Sandra doch auch die Lehre von den Tugenden mit der notwendigen Klarheit und Ausführlichkeit und zeigt deutlich, wie das Herz, wenn es offen und durch die Verwirklichung innerer Transformation gereift ist, mit den schönen und großmütigen Tugenden der Wahrhaftigkeit, des Gleichmutes, der Nüchternheit, des Mutes, der Gelassenheit, der Nichtanhaftung, der Demut, wahrer Handlung und essenzieller Unschuld geadelt wird.
—A. H. Almaas
DIAGRAMM 1
DAS ENNEAGRAMM
DIAGRAMM 2
DIE ENNEA-TYPEN
DIAGRAMM 3
DIE OBJEKTIVEN ENNEAGRAMME
DIAGRAMM 4
DAS ENNEAGRAMM DER PERSÖNLICHKEIT
Einführung
In diesem Buch geht es nicht einfach nur um das Enneagramm. Es geht um innere Transformation. Es geht darum, einige der Hauptmerkmale unseres Bewusstseins auf der Ebene der Ich-Persönlichkeit zu verstehen – jenes Bewusstseins, das uns für die Person hält, die das Ergebnis unserer persönliche Geschichte ist. Es geht auch um die Veränderungen, die unsere innere Stimmung durchläuft, wenn wir frei werden von dieser Identifikation. Und schließlich geht es um geeignete Mittel, wie die Buddhisten sagen würden, um diese Transformation Realität werden zu lassen.
Diese Ziele weisen offensichtlich darauf hin, dass die meisten von uns in inneren Einschränkungen leben, deren sie sich nicht bewusst sind, und dass wir und unsere Erfahrung der Realität viel mehr Potenzial haben, als was wir innerhalb der Grenzen unseres Egos erleben. Es bedeutet auch, dass es möglich ist, unser Bewusstsein über diese Beschränkungen hinaus zu erweitern. Das war zu allen Zeiten das Bestreben spiritueller Suchender und gründete sich auf eine innere Intuition oder vielleicht auch auf die direkte Erfahrung von tieferen, über das alltägliche Bewusstsein hinausgehenden Dimensionen in außergewöhnlichen Momenten.
Seit dem Zeitalter der Aufklärung im 18. Jahrhundert hat das kollektive Bewusstsein der Menschheit besonders im Westen die physikalische Dimension der Realität zunehmend als endgültig angesehen. Als Ergebnis dieser Entwicklung haben wir das Numinose aus den Augen verloren. Unsere moderne und postmoderne Welt, die sich auf die materialistische Sicht gründet und lediglich Verstand und wissenschaftliche Objektivität gelten lässt, hat für viele Menschen Entfremdung, Entpersönlichung und existenzielle Sinnlosigkeit in unterschiedlichem Ausmaß mit sich gebracht. In den 1960er-Jahren kam es überall in der westlichen Welt zu einer Rebellion gegen diese Weltsicht, bestärkt sowohl durch den Wohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg, der es möglich machte, sich den Luxus der Innenschau zu leisten, wie auch durch ein reiches Angebot an bewusstseinser-weiternden Drogen, die die Tore der Wahrnehmung öffneten, um mit Aldous Huxley zu sprechen.
Die Generation des Babybooms versuchte in jenen Jahren der Begeisterung auf verschiedenen Wegen, mehr Sinn und mehr Tiefe in ihrer damaligen Lebenserfahrung zu finden. Da sie wenig Sinn in religiösen Dogmen oder der mechanischen Befolgung religiöser Regeln entdecken konnten, suchten viele Menschen nach einem direkten Zugang zum Göttlichen, und das Interesse an mystischer Spiritualität blühte. Das führte dazu, dass Spiritualität, eine der tiefsten und zuvor unterirdischsten Strömungen im Fluss des menschlichen Bewusstseins, in den folgenden Jahrzehnten im Mainstream auftauchte. Auch wenn es spirituell Suchende durch die ganze menschliche Geschichte hindurch gab, so existierten sie überwiegend am Rande der Gesellschaft und der verschiedenen Religionen und ihre Anzahl war – wenigstens im Westen – relativ gering. Auch diese Situation begann sich in den 1960er-Jahren zu ändern. Das bedeutet nicht, dass Spiritualität für viele oder sogar die meisten Menschen ein Anliegen geworden wäre, aber die Zahlen der spirituell Suchenden sind gestiegen, und östliche Traditionen wie der Buddhismus, ob Zen, Theravada oder die tibetische Richtung, und der Sufismus sind dem Westen nicht mehr fremd. Fast jeder kennt jemanden, der meditiert oder Yoga macht. Und selbst viele von denen, die in der Gesellschaftskultur mitschwimmen, haben vom Enneagramm gehört, von dem dieses Buch nicht zuletzt handelt.
Ich wurde 1970 in die Landkarte eingeführt, die das Enneagramm darstellt, als ich Claudio Naranjo das erste Mal im Hinterhof seines Hauses in Berkeley traf. Der ausgewanderte chilenische Psychiater hatte ins Blickfeld gerückt, was schließlich in den 1960er-Jahren als Human-Potential-Bewegung bekannt wurde, und war auch einer der Verantwortlichen dafür, dass Spiritualität sozusagen einen Platz auf der zeitgenössischen kulturellen Landkarte fand, obgleich ich das zu jener Zeit nicht wusste. Naranjo sollte in den darauf folgenden Jahren auch die Quelle für fast alles öffentlich bekannte Wissen über das System des Enneagramms werden.
Dieses Zusammenkommen in Naranjos Garten war der Kern einer Gruppe, die er später SAT, Seekers After Truth (nach der Wahrheit Suchende), nannte. Das war auch der Name, den der griechisch-armenische Mystiker G. I. Gurdjieff und seine Weggefährten ihrer Gruppe am Ende des 19. Jahrhunderts gegeben hatten. Der Schwerpunkt der Gruppe lag auf spiritueller Entwicklung, und obgleich Naranjos Lehre einen ähnlichen Geist verkörperte wie die von Gurdjieff, war ihr bemerkenswertester und innovativster Zug, dass sie als eine Art Pioniergruppe psychologisches Verständnis in spirituelle Arbeit einbezog. Herkömmlich waren spirituelle Praktiken in allen Traditionen dafür bestimmt, über unsere Psychologie, über die Ansammlung von durch unsere persönliche Geschichte geformten Geistes-, Gefühls- und Verhaltensmustern, hinauszugehen, sie zu überwinden oder zu umgehen. Direkt mit unserer Psychologie zu arbeiten, war in der spirituellen Arbeit etwas ganz und gar Radikales, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, des so genannten psychologischen Jahrhunderts, überhaupt erst möglich wurde.
Während wir heutzutage selbst in der Volkskultur psychologisches Verständnis voraussetzen, wurde das Wissen darüber, wie unsere Psyche funktioniert, und über die Kräfte, die unsere Verhaltensmuster, unseren Charakter und unsere psychologische Struktur geformt haben, erst in den letzten hundert Jahren ausführlich erklärt. Der moderne Bereich der Psychologie entstand erst zu Beginn des letzten Jahrhunderts durch die Arbeit von Sigmund Freud. Und auch wenn einer seiner Schüler, Carl Gustav Jung, das Verständnis der Psyche mit in den spirituellen Bereich aufnahm, dauerte es noch einmal siebzig Jahre, bevor die Psychologie Spiritualität zu beeinflussen begann.
Diese Verschmelzung von Psychologie und Spiritualität ist heute ziemlich weit verbreitet, denn sie ermöglicht, dass spirituelle Entwicklung nicht einfach nur auf ein paar außergewöhnliche Individuen beschränkt bleibt. Auch dieses Buch gründet sich letztendlich auf die Verbindung von Psychologie und Spiritualität, die während der letzten dreieinhalb Jahrzehnte entwickelt und angewandt wurde. Durch das Verständnis der psychologischen Fallstricke, die spirituell Suchenden durch Jahrhunderte hindurch das Leben schwer gemacht haben, und – damit verbunden – durch die Fähigkeit, geschickt mit ihnen zu arbeiten, können die tieferen Dimensionen der Wirklichkeit leichter zugänglich gemacht werden. Wir werden dazu das Wissen verwenden, das durch die Figur des Enneagramms, des Kreises mit den neun Punkten, erfasst wird. Wie wir sehen werden, enthält das Enneagramm den Schlüssel zu umfassendem Wissen darüber, wie die Persönlichkeit funktioniert und wie wir den Weg zu dem finden können, was jenseits von ihr liegt. Mit dem Enneagramm als Wegweiser werden wir unsere Persönlichkeitsstruktur genau erforschen, nicht um besser zu funktionieren, sondern wie es ursprünglich schon Naranjos Einstellung zu dieser Landkarte war, um einen tieferen Zugang zu der ganzen Dimension dessen, wer und was wir sind, zu finden.
Wir wollen für einen Moment zu unserer Geschichte über einen der Pioniere dieser Bewegung zurückkehren. Der als Psychiater ausgebildete Claudio Naranjo war in den frühen 1960er-Jahren in die Vereinigten Staaten gekommen und schließlich an der Spitze der „Bewusstseinsrevolution“ gelandet. Diese hatte ihren Mittelpunkt hauptsächlich in der San Francisco Bay Area und im Esalen Institute in Big Sur, Kalifornien, dem Zentrum für menschliches Wachstum, wo die Human-Potential-Bewegung mehr oder weniger ihre Wiege hatte. Naranjo gab die formellere akademische Wissenschaft auf und arbeitete mit Fritz Perls, dem Begründer der Gestalttherapie. Von da an begann er auch, Spiritualität in seinen Blickwinkel mit einzubeziehen. Er arbeitete zusammen mit Idries Shah, einem Sufilehrer aus dem mystischen Zweig des Islam, und benutzte seinen scharfen und abenteuerlustigen Intellekt, um sich gleichzeitig mit einem breiten Spektrum anderer spiritueller und psychologischer Ideen vertraut zu machen. Er wob sein Destillat daraus in eine Lehre, die diese Traditionen zusammenfasste und zu einem Ganzen zusammenfügte.
Das Enneagramm wurde das wichtigste Grundgerüst für die Struktur seiner Lehre in unserer ersten SAT-Gruppe. Naranjo war gerade aus der Arica-Wüste in Nordchile zurückgekehrt, wo er mit einem bolivianischen Mystiker namens Oscar Ichazo gearbeitet hatte, durch den er von dem Diagramm mit den neun Punkten erfahren hatte. Als Ichazos Quelle für das Enneagramm wurde vereinzelt, kürzlich auch ganz offiziell von Ichazo selbst, derselbe geheime Sufiorden im heutigen Afghanistan genannt, von dem auch Gurdjieff das System gelernt haben soll. Gurdjieff benutzte das Bild des Enneagramms, zu sehen in Diagramm 1, Seite 15, eines Kreises mit neun Punkten (ennea ist griechisch und bedeutet „neun“), die durch verschiedene Linien miteinander verbunden sind, um die kosmische Ordnung des Universums von den Planeten bis zur Tonleiter zu beschreiben.
Ichazo war der Erste, der das Symbol öffentlich deutete, um verschiedene Aspekte menschlicher Erfahrung zu beschreiben. Ichazo lehrte, unter anderen Deutungsebenen, dass die neun Punkte des Enneagramms sich auf neun unterschiedliche Ego-oder Persönlichkeitstypen beziehen, die wir in Diagramm 2 auf Seite 15 sehen. Dies bedeutet faktisch, dass die Menschheit sich in neun Typen von Persönlichkeitsstrukturen aufteilt, die alle durch eine Entfremdung von der spirituellen Dimension der Realität entstanden sind. Diese Entfremdung führt zu neun verschiedenen „Nachbildungen“ der von ihrer eingeborenen Tiefe abgeschnittenen Realität. Diese neun verfestigten und verzerrten Glaubensvorstellungen darüber, wie die Dinge sind – verzerrt, weil auf unvollständigen Wahrnehmungen beruhend –, führen zu neun verschiedenen Charakter- oder Enneatypen, von denen jeder charakteristische mentale und emotionale Strukturen und Verhaltensmuster entwickelt, die sich aus der grundlegend schiefen Sicht der Realität ergeben.
Obgleich ich nicht mit Ichazos ursprünglicher Lehre des Enneagramms vertraut bin, scheint mir klar, dass Naranjo das Enneagramm mit seinem eigenen psychologischen Verständnis weiterentwickelte, indem er die Grundbeschreibungen der Enneatypen in psychologisch stimmige Charakterbilder ausgestaltete. Wir arbeiteten in den vier Jahren, über die sich die erste SAT-Gruppe erstreckte, intensiv mit der Enneagrammtheorie und fanden ihre Wahrheit in der direkten Erfahrung mit uns selbst und miteinander bestätigt. Als Landkarte der menschlichen Psyche machte das Enneagramm uns Aspekte von uns bewusst, die ohne das Enneagramm zu sehen viele Jahre schwieriger Innenschau nötig gemacht hätte. Naranjo erkannte die Macht des Enneagramms als psychospirituelles Werkzeug sowie seinen Stellenwert und sein Potenzial im Rahmen ernsthafter spiritueller Arbeit und beschwor deshalb alle seine Schüler, das Enneagramm nicht ohne seine Erlaubnis zu lehren.
Angesichts seiner Mächtigkeit war es vielleicht unvermeidlich, dass das Enneagrammwissen dennoch durchzusickern begann. So fand das Enneagramm seinen Weg in die Jesuitengemeinschaft und ist seitdem ein anerkannter Teil ihres Trainings geworden. Das von seiner spirituellen Funktion entblößte Enneagramm wurde weithin als psychologische Typologie bekannt, da Enneagrammbücher den Markt überfluteten und selbst Unternehmenseinrichtungen es aufzugreifen begannen. Naranjo hörte daraufhin auf, das Enneagramm in den Vereinigten Staaten zu lehren.
Trotz seiner Popularität wurde das Enneagramm jedoch auch weiterhin als Teil engagierter Arbeit an persönlicher Transformation genutzt. Einer meiner Freunde und Gruppengefährten der alten SAT-Tage war Hameed Ali, der unter dem Namen A. H. Almaas schreibt. Nach der Auflösung der Gruppe startete Almaas’ eigene Entwicklung durch und veranlasste ihn zur Formulierung eines neuen Weges zur Transformation der Persönlichkeit. In den späten Siebzigern entwickelte er das Verständnis, das später offiziell der „Diamond Approach for Inner Realization“ werden sollte, und begann mit einer kleinen Gruppe von Schülern in Boulder, Colorado, zu arbeiten. Almaas, der Naranjos Synthese von psychologischem Verständnis und spiritueller Übungspraxis fortsetzte und erweiterte, gründete mit dem „Diamond Approach“ eine spirituelle Schule, deren Lehre und Methodik das Leben von vielen Hunderten von Schülern überall auf der Welt verändert hat.
Almaas gab das alte spirituelle Modell des Egos als Feind oder Teufel, der überwunden oder ausgelöscht werden muss, auf. Er sah, dass der unmittelbare Kontakt mit unseren mentalen Konstrukten und ihre Erforschung eine Öffnung bewirkt, die die Psychodynamik aufdeckt, die diese Selbstrepräsentanzen und Überzeugungen hervorgebracht hat. Weitere Erforschung führt dann zum Kern dieser psychologischen Strukturen, dem Kontaktverlust mit einer der Qualitäten, die in verschiedenen Traditionen als das Göttliche, Gott, das Sein, das Wahre Wesen oder das SELBST bezeichnet werden. Mit anderen Worten: Er fand heraus, dass unsere psychologischen Strukturen sich als Reaktionen und Strategien bilden, um mit der Entfremdung von Aspekten unseres göttlichen Wesens fertig zu werden, ein Prozess, der meist in der frühen Kindheit stattfindet. Hand in Hand mit der Entwicklung unserer Ego-Struktur verlieren wir dann allmählich den Zugang zur Vollständigkeit unseres Wesens.
Der Schlüssel zur Methode des „Diamond Approach“ besteht darin, zu lernen, in unserer Erfahrung des Hier und Jetzt präsent zu sein und die inneren Gegebenheiten, die wir antreffen, zu erforschen und zu hinterfragen. Damit diese Erforschung transformierende Kraft besitzt, muss mehr daran beteiligt sein als nur intellektuelle Einsichten über uns. Statt nur unseren Verstand für die innere Erforschung zu benutzen, ist es nötig, unser Verständnis aus unserer direkten Erfahrung zu gewinnen. Wir müssen mit dem Ganzen unserer gegenwärtigen Erfahrung, einschließlich unseres emotionalen Lebens und unserer Körperlichkeit, in Berührung sein. Almaas fand heraus, dass die Dinge sich von selbst in uns entfalten und zunehmend tiefere Schichten von Erfahrung aufdecken, wenn wir unseren inneren Prozess auf diese Weise in Angriff nehmen. Wenn wir derart in die Inhalte unseres Bewusstseins eintauchen, arbeiten wir uns durch sie hindurch. Ohne Zwang auf uns auszuüben, können wir uns mühelos durch die Schichten unserer Persönlichkeitsstruktur bis in den Bereich des Seins bewegen und entdecken, wer und was wir jenseits unseres vertrauten historischen Selbstgefühls sind.
Das folgende Beispiel soll einen kurzen Einblick in die Methode des „Diamond Approach“ geben. Wenn unser Realitätssinn uns sagt, dass die Welt unsere Unternehmungen nicht unterstützt und dass uns die Fähigkeit fehlt, in materieller, emotionaler oder spiritueller Hinsicht für uns zu sorgen, wird unsere Präsenz in der direkten Erfahrung dieser Überzeugungen uns wahrscheinlich zu den Kindheitserinnerungen führen, in denen sie in unserer Psyche Gestalt annahmen. Diese Erinnerungen zu erforschen, was heißt, ganz in sie einzutauchen, führt wahrscheinlich zu dem Gefühl, dass keine Unterstützung vorhanden ist. Wenn wir mit dieser Erfahrung präsent bleiben, fühlen wir uns aller Wahrscheinlichkeit nach so, als ob wir schwankenden Boden unter den Füßen hätten, und vielleicht sogar, als ob wir durch den Raum fielen. Wenn wir uns wirklich fallen lassen, empfinden wir vielleicht ein inneres Schweben und haben das Gefühl, von der Realität gehalten und getragen zu werden. Möglicherweise fühlen wir dann die greifbare Anwesenheit von Unterstützung, von etwas, das wir nicht erzeugen oder aufrechterhalten müssen, sondern das einfach Teil der Realität ist und anscheinend wie magisch durch den Prozess, mit dem Gefühl seiner Abwesenheit Kontakt aufzunehmen, hervorgerufen wird.
Eine solche Annäherung an unsere innere Welt verleiht spiritueller Praxis eine radikale Wendung, indem sie die traditionelle Betonung der Auflösung unserer Identifikation mit der Maske unserer Persönlichkeit vermeidet. Statt zu versuchen, uns von unserem Ego-Material zu trennen oder Abstand davon zu gewinnen, ändert sich der Schwerpunkt dahingehend, es aktiv einzubeziehen. Durch die Weiterentwicklung des psychologischen Verständnisses im 20. Jahrhundert war die Zeit reif für Almaas’ Entdeckung. Ohne das psychologische Wissen und die psychologische Methodik, die uns jetzt zur Verfügung stehen, war es zu schwierig, direkt mit der Persönlichkeit zu arbeiten. Praktisch arbeitende spirituelle Lehrer der Vergangenheit hatten kaum eine andere Wahl, als die Persönlichkeit wie ein Hindernis, wenn nicht wie einen Feind der spirituellen Entfaltung zu behandeln.
Der Diamond Approach unterrichtet ebenso wie das Enneagramm die Lehren, die dieses Buch beschreibt. Einige der Informationen auf diesen Seiten wurzeln in der Lehre von Naranjo und andere gründen sich auf die von Almaas. Beide schätze ich zutiefst und empfinde es als Segen, dass ich die Gelegenheit hatte, mit ihnen zu arbeiten. Das Enneagramm war, wie ich schon sagte, Teil des Stoffes meiner Einführung in die spirituelle Arbeit als ich Anfang zwanzig war und ist auch weiterhin nicht von ihr zu trennen. Dieses Buch ist das Ergebnis der auf diese Einführung folgenden dreieinhalb Jahrzehnte, in denen mein Leben dem spirituellen Weg gewidmet war und in denen das Enneagramm den Hintergrund meiner Reise bildete.
Auf den folgenden Seiten werden wir das Enneagramm als Grundgerüst verwenden, um zu verstehen, worum es bei innerer Arbeit überhaupt geht. Es wird uns zeigen, wie wir mit unserem inneren Prozess so arbeiten können, dass unsere Reise Erfüllung findet und uns in direkten und anhaltenden Kontakt mit unserem tiefsten Wesen bringt. Insbesondere werden wir die vom Enneagramm dargestellten Leidenschaften erforschen, die Triebe, Ausrichtungen und emotional beeinflussten Verhaltensweisen, die uns charakterisieren, wenn wir mit unserer Persönlichkeitsstruktur identifiziert sind. Dann werden wir sehen, wie die Leidenschaften sich in Tugenden verwandeln, die sowohl innere Stimmungen beschreiben, die entstehen, wenn wir über unsere Persönlichkeitsstrukturen hinausgehen, als auch Verhaltensweisen, die uns bei jener Verwandlung unterstützen. (Siehe Diagramme 5 und 6 auf Seite 36 und 43, die das Enneagramm der Leidenschaften und das Enneagramm der Tugenden darstellen.)
Die radikale Veränderung des Bewusstseins, die sich in der Bewegung von den Leidenschaften zu den Tugenden ausdrückt, erfordert zuallererst Kenntnis des Territoriums, das heißt das Verständnis dessen, welche Kräfte und Motivationen unser alltägliches Bewusstsein antreiben. Und ich meine nicht einfach nur intellektuelles Verständnis; denn wir werden nur dann entdecken, was jenseits davon liegt, wenn wir durch diesen Bereich wirklich hindurchgehen. Wir werden tief in die Leidenschaften hineinsehen und dabei erforschen, wie das Enneagramm Gefühle und innere Kräfte erklärt, die uns charakterisieren, wenn wir unserer Persönlichkeitsstruktur entsprechend funktionieren – und zwar nicht nur für diejenigen, die einem bestimmten Enneatyp angehören, sondern für uns alle.
Es ist wichtig zu betonen, was ich gerade erwähnt habe: Eins der grundlegendsten Prinzipien des Enneagramms besteht darin, dass es universelle Wahrheiten über das Wesen der Realität und das Wesen des Menschen aufzeichnet. Universell bedeutet, uns allen gemeinsam, und aus einer solchen Perspektive ist dieses Buch geschrieben. Wenn die Themen und Probleme, die an einem bestimmten Punkt des Enneagramms symbolisiert sind, für diejenigen, die diesem Typ angehören, auch stärker sind, sind es dennoch Themen und Probleme, die wir alle teilen.*
Wir werden auch erforschen, wie wir uns durch diese Facetten der Persönlichkeit hindurcharbeiten können und wie sie sich in Qualitäten verwandeln, die für eine echte spirituelle Verwirklichung unabdingbar sind. Die Tugenden beschreiben, wie unsere Landschaft sich verändert, wenn die Identifikation mit der Ego-Struktur unserer Persönlichkeit abnimmt, und was geschieht, wenn die Neigungen und Triebe des Egos schwächer werden und sich beruhigen. Wir werden sehen, wie das Verstehen der Leidenschaften aus der Erfahrung heraus, die wir mit ihnen machen, uns ganz von selbst zu den Tugenden führt, und wir werden diese Metamorphose, die eine jede Leidenschaft in ihre entsprechende Tugend verwandelt, genau erforschen. Wir werden auch spüren, wie sich unsere innere Atmosphäre allmählich verändert, wenn wir uns weiterentwickeln. Ebenso werden wir wahrnehmen, wie die Leidenschaften den Tugenden als Aromen unseres inneren Lebens Platz machen, und wie sich diese Veränderung in unseren sich wandelnden Verhaltensweisen und Gefühlsnuancen spiegelt. Wir würden zum Beispiel vielleicht das Nichtanhaften (die Tugend von Punkt fünf) eines realisierten Lehrers wahrnehmen, oder wir würden seine Offenheit gegenüber allem, was geschieht (die Tugend von Punkt eins), erkennen oder seine Hingabe an die Wahrhaftigkeit (die Tugend von Punkt drei).
Die Tugenden repräsentieren auch die Haltung, die wir gegenüber den inneren oder äußeren Erfahrungen einnehmen, die diese Transformation unterstützen oder vorbereiten. Um das zu verstehen, müssen wir uns an die Wahrheit erinnern, die in dem alten Sprichwort enthalten ist, dass die Mittel den Zweck bestimmen. Das bedeutet in spiritueller Ausdrucksweise: Wenn unsere Übungen und unsere Einstellung zu unserem persönlichen Prozess mit unserem tiefsten Wesen übereinstimmen, sodass er die Seele berührt, wird unsere innere Arbeit uns mit großer Wahrscheinlichkeit unseren Tiefen näher bringen. Wenn unsere Übungen und unsere Einstellung aber der Persönlichkeit entsprechen, werden sie uns nur tiefer in die Verstrickung mit der Persönlichkeitsstruktur führen.
Wir sehen also, dass die Tugenden Einstellungen und Verhaltensweisen beschreiben, die nicht nur Ausdruck der Verwirklichung unseres tiefsten Wesens sind, sondern auch Einstellungen und Verhaltensweisen, die diese Verwirklichung ermöglichen. Für sinnvolle spirituelle Arbeit aus der Perspektive des Enneagramms ist es erforderlich, sich den Einstellungen der Tugenden zu öffnen und sie als innere Orientierungen zu benutzen.
Jetzt wollen wir also unsere Aufmerksamkeit dem Enneagramm zuwenden, um herauszufinden, was diese uralte spirituelle Landkarte uns über unsere innere Landschaft zeigt. Wir werden sehen, wie diese Karte hilfreich dabei sein kann, uns auf eine Weise den Weg durch unsere innere Erfahrung zu bahnen, die zu Vertiefung und Bereicherung führt und uns den Zugang zu dem öffnet, was jenseits unseres vertrauten Territoriums liegt. Ich hoffe aufrichtig, dass das, was ich verstanden habe, meinen Weggefährten behilflich sein wird, den Weg zu ihrem Zuhause zu finden, das immer schon hier war, wie sie bei der Ankunft erkennen werden.
* Für eine genaue Beschreibung jedes Enneatyps und eine Anleitung beim Herausfinden des eigenen Typs verweise ich auf mein vorheriges Buch Neun Porträts der Seele–Die spirituelle Dimension des Enneagramms.
KAPITEL 1
Das Enneagramm, die Seele, die Leidenschaften und die Tugenden
Alle Dinge sind voller Zeichen, und wer von einem Ding über ein anderes lernen kann, ist weise.
—Plotin1
Bevor wir die Leidenschaften und Tugenden erforschen, ist etwas Vorarbeit nötig, so dass wir ihren Platz im Gesamtsystem des Enneagramms verstehen können. In der Enneagrammtheorie Oscar Ichazos, wie sie von Claudio Naranjo weitergegeben wurde, gibt es zwei Gruppen von Enneagrammen.
Die eine Gruppe beschreibt spezifische Eigenheiten von Erfahrung auf der Persönlichkeitsebene und die andere beschreibt ihre Entsprechungen, gleichfalls spezifische Eigenheiten menschlicher Erfahrung jenseits der Persönlichkeits- oder Ego-Struktur – mit anderen Worten: erleuchtete Erfahrung. Das impliziert ein übergreifendes Verständnis, das von allen spirituellen Traditionen geteilt wird: dass unsere gewöhnliche Erfahrung durch die Schleier der Persönlichkeit gefiltert wird und dass es möglich ist, die Realität objektiv ohne diese subjektive Verzerrung wahrzunehmen. Es gibt also die Gruppe der Enneagramme, die sich auf die Erfahrung der Persönlichkeitsebene bezieht und kollektiv das Enneagramm der Persönlichkeit genannt wird, und die Gruppe der Enneagramme, die sich auf Erfahrung bezieht, die frei von der Verzerrung durch die Persönlichkeit ist, die objektiven Enneagramme, die wir in den Diagrammen 3 und 4, Seite 16 und 17 dargestellt sehen.
Wenn wir uns diese Diagramme anschauen, sehen wir, dass die Enneagramme der Fixierungen und der Heiligen Ideen jeweils im Kopfzentrum der beiden Figuren lokalisiert sind. Der Grund dafür ist, dass diese beiden Enneagramme sich auf unsere Glaubensvorstellungen und Realitätswahrnehmungen beziehen, wobei die Fixierungen unseren geistigen Apparat beschreiben, wenn wir die Realität durch die Verzerrung der Persönlichkeit sehen, und die Heiligen Ideen, wenn unser Realitätssinn nicht von der Persönlichkeit beeinflusst wird. Die Leidenschaften und die Tugenden sind im Herzzentrum der beiden Figuren abgebildet. Das bedeutet, dass die Leidenschaften mit unseren emotionalen oder affektiven Zuständen zu tun haben, wenn wir mit unserer Persönlichkeit identifiziert sind, und die Tugenden, wenn wir zunehmend frei werden von dieser Identifikation. Die dritte Gruppe von Enneagrammen bezieht sich auf unsere instinktiven Triebe, von denen es auf der Landkarte des Enneagramms drei gibt: den Selbsterhaltungstrieb, den sozialen und den sexuellen Trieb. Wenn unser Bewusstsein mit der Persönlichkeit identifiziert ist, werden diese Triebe durch die Leidenschaften motiviert und dadurch verzerrt. Je freier wir von unserer Ego-Identifikation sind, desto mehr werden diese Triebe von den Tugenden beeinflusst und funktionieren auf natürliche Weise.
Entsprechend dem durch das Enneagramm ausgedrückten Verständnis verlieren wir nach und nach den Kontakt mit dem Sein, da wir in der frühen Kindheit eine Persönlichkeitsstruktur entwickeln. Zu der Zeit, wenn unsere psychologische Struktur sich gefestigt hat, ist der Kontakt mit den Tiefen unserer selbst unserem Bewusstsein weitgehend verloren gegangen und das Enneagramm der Persönlichkeit dominiert unsere Erfahrung. Durch den Verlust des Erfahrungskontaktes mit dem, was das Leben erfüllt, reich und bedeutungsvoll macht – unserem tiefsten Wesen, unserem SELBST –, ist im Kern unserer Persönlichkeit eine gähnende Leere von Abwesenheit entstanden. Wir sehen die Realität durch die getrübte Linse unserer Fixierung, in der diese Tiefendimension fehlt, unser emotionales Leben wird durch unsere Leidenschaft gefärbt und unsere Leidenschaft treibt unsere Instinkte an in dem Versuch, die Leere, die wir fühlen, zu füllen.
Unser innerer affektiver Zustand geht Hand in Hand mit unserer Wahrnehmung der Realität. Das bedeutet, dass, wie wir uns fühlen, eng verbunden ist mit der Art und Weise, wie wir die Dinge sehen. Die meisten von uns nehmen die Realität durch den Filter ihrer Persönlichkeitsstruktur wahr und ihr emotionaler Zustand korrespondiert damit. In der Sprache des Enneagramms nehmen wir die Realität durch die Fixierungen wahr und unser emotionales Leben nimmt die Gefühlstönung der Leidenschaften an. Wenn wir an uns arbeiten und sowohl die äußere als auch die innere Realität immer unverzerrter sehen, wird unsere Sicht objektiver und unsere affektive Stimmung klärt und reinigt sich. Dann sehen wir die Realität zunehmend aus dem Blickwinkel der Heiligen Ideen, und unsere affektive Stimmung nimmt die Eigenschaften der Tugenden an. Die Fixierungen und die Leidenschaften sind also miteinander verknüpft, genauso wie die Heiligen Ideen und die Tugenden eng verbunden sind.
Dabei erhebt sich eine interessante Frage: Prägt unsere Sicht der Realität die Art und Weise, wie wir fühlen, oder ist es anders herum? Das ist im Grunde die Frage danach, was wesentlicher für unsere Persönlichkeitsstruktur ist: der Verlust der Wahrnehmung der Realität, wie sie ist (d.h. der Verlust der Heiligen Ideen), oder der Verlust der Gefühlsverbindung mit dem Reich des Seins (d.h. der Verlust der Tugenden)? Lässt die Leidenschaft die Fixierung entstehen, oder umgekehrt? Es ist wichtig für unser Verständnis der Leidenschaften und der Tugenden, einen kurzen Blick auf diese Fragen zu werfen.
Wie wir beide, Almaas und ich, erinnern, lehrte Naranjo uns, dass der Ursprung unserer Persönlichkeitsstruktur oder unseres Enneatyps in unserer „Empfindsamkeit“ gegenüber einer bestimmten Heiligen Idee wurzelt. Das bedeutet, dass eine der erleuchteten Sichtweisen der Realität, eine der Heiligen Ideen, schwächer ausgeprägt war, als wir geboren wurden. Die Eindrücke der frühen Kindheit werden durch diese Empfindsamkeit wie durch einen feinfühligen Nerv gefiltert. Dadurch wird unsere spezifische, unverstellte Sicht der Realität geschwächt und dann durch die Wechselfälle der entscheidenden Jahre überschattet. Wir verlieren diese bestimmte Art, uns und die Welt um uns herum wahrzunehmen und zu erleben, aus dem Blick und entwickeln an ihrer Stelle eine verzerrte Sichtweise, die sich zunehmend verfestigt und zu unserer Fixierung wird. Da die Wahrnehmung nun nicht mehr zutreffend ist, kann man sie jeweils als die Kerntäuschung eines Typs bezeichnen. Sie bildet die kognitive Grundlage unserer Persönlichkeitsstruktur, und wie uns gelehrt wurde, entstehen aus ihr unsere verhaltensbezogenen, emotionalen und psychischen Muster. Claudio bezeichnet unsere Fixierung als einen kognitiven Fehler und eine ontische Verdunkelung, was bedeutet, dass unsere Wahrnehmung des Seins verdunkelt ist und dass wir ein mentales Realitätskonstrukt ohne Sein bilden. Er zitiert Ichazo, indem er die Fixierungen als „besondere kognitive Fehler – als Facetten eines Systems der Verblendung im Ego“2 definiert.
Wenn wir beispielsweise mit einer Empfindlichkeit gegenüber der Heiligen Idee der Heiligen Vollkommenheit geboren wurden (was bedeutet, dass wir eine Disposition dafür haben, ein Enneatyp eins zu werden), geht uns, während wir allmählich den Kontakt mit dem Sein verlieren und eine Persönlichkeitsstruktur zu entwickeln beginnen, ebenso nach und nach die Wahrnehmung der Vollkommenheit verloren, die jedem Menschen und jedem Ding, einschließlich uns selbst, innewohnt. Mit der Zeit gelangen wir zu dem Schluss, dass wir so, wie wir sind, nicht in Ordnung sind, und zu der festen Überzeugung, dass wir an einem fundamentalen Defekt leiden. Dieser verfestigte, auf unserer falschen Sicht beruhende Glaube, dass die Dinge und wir selbst nicht richtig sind, wird zur Grundlage für den Perfektionismus des Enneatyps an Punkt eins. Ichazo nennt die Fixierung von Punkt eins Groll, aber vielleicht erfasst Unvollkommenheit die kognitive Verzerrung dieses Typs noch besser.*
Almaas entwickelte das Verständnis davon, wie der Verlust der Heiligen Ideen zu den Fixierungen führt, weiter und erläuterte die Sichtweisen der Heiligen Ideen noch umfassender. Sein Buch Facetten der Einheit – Das Enneagramm der Heiligen Ideen beschreibt, wie unvermeidliche frühe Erfahrungen vom Fehlen vollkommener Übereinstimmung und vollkommener Erfüllung unserer Bedürfnisse zum allmählichen Verlust der Wahrnehmung der spirituellen Tiefendimension führen. Gleichzeitig mit dem Verlust des Kontaktes zum Sein tritt offensichtlich der Verlust der neun verschiedenen Wahrnehmungen davon, der Heiligen Ideen, auf. Wir werden diesen Prozess der Einschränkung der Wahrnehmung, der in traditionellen spirituellen Lehren als der Fall aus dem Paradies bezeichnet wird, ausführlicher in Kapitel 2 betrachten, wo wir uns mit der Leidenschaft und der Tugend von Punkt neun befassen.
DIAGRAMM 5
DIE LEIDENSCHAFTEN
Aller Wahrscheinlichkeit nach sind unsere frühen Reaktionen auf traumatische Erfahrungen für unser frühkindliches Bewusstsein untrennbar verbunden mit unserem Verlust der Wahrnehmung, dass die Realität letztendlich gut ist. Das heißt, unsere emotionalen Reaktionsmuster, die sich mit der Zeit zu unserer Leidenschaft verfestigen, entstehen gleichzeitig mit unserer verzerrten Sicht der Realität, unserer Fixierung. Was immer der auslösende Faktor ist, es ist klar, dass wir empfänglich dafür sind, uns zu einem bestimmten Enneatyp mit seiner Glaubensstruktur und seinem entsprechenden Satz an emotionalen Mustern und Verhaltensweisen zu entwickeln.
Die Leidenschaften
Die Leidenschaften sind, wie wir gesehen haben, die emotionalen Stimmungen oder Eigenschaften, die jeden Enneatyp charakterisieren. Wie Naranjo es beschreibt, handelt es sich bei ihnen auch um von „einer Defizitmotivation bestimmte Triebe, die die Psyche animieren“,3 was bedeutet, dass die Leidenschaften aus der Leere des Egos entstehen und nach der Wiederherstellung von Erfüllung und Zufriedenheit streben, während sie sie gleichzeitig blockieren. Wenn der Kontakt mit dem Reich des Seins nicht vorhanden ist, fühlen wir uns dazu getrieben, nach dem Ganzsein zu suchen, das wir vage aus der frühen Kindheit erinnern. Da wir nicht bewusst verstehen, dass es die Abwesenheit unseres wahren Wesens, unseres SELBST, ist, die wir erleben, werden wir von unserer Leidenschaft dazu getrieben, die Leere zu füllen.
So wie das Wort Leidenschaft herkömmlich gebraucht wird, bezeichnet es vor allem eine intensive und verzehrende emotionale Energie, wie zum Beispiel Verliebtheit, die unser Handeln antreibt. In der Sprache des Enneagramms ist Leidenschaft die gefühlsmäßige Gestimmtheit, die das Bewusstsein eines Menschen angenommen hat, der sich in der Macht seiner Persönlichkeits- oder Ego-Struktur befindet, eine gewohnheitsmäßige Tendenz, ein Reflex zu reagieren. Genau wie das Wort Passion (Leiden/Leidenschaft) das Leiden Jesu während der Kreuzigung beschreibt, solange er sie noch nicht bewusst angenommen hatte, ist unsere Leidenschaft auch unser Leiden.
Die Leidenschaften sind „leidenschaftlich“, insofern sie krankhafte Zwänge sind, wie Naranjo sagt: „Wir sind ihnen als passiv Handelnde unterworfen.“4 Wir haben nicht die Wahl, die Identifikation mit unserer Leidenschaft aufzugeben, da ihre ganze Ausrichtung und Einstellung die Grundlage unserer Persönlichkeitsstruktur ist. Unsere Leidenschaft ist daher in dem Maße wirksam, in dem wir mit unserer Persönlichkeit identifiziert sind. Unsere Leidenschaft einfach als eine Emotion zu bezeichnen, wäre irreführend. Kant schreibt in seiner Anthropologie:
Eine Emotion ist wie Wasser, das durch einen Damm bricht, die Leidenschaft wie ein reißender Strom, der sein Bett tiefer und tiefer gräbt. Eine Emotion ist wie eine Trunkenheit, die einschläfert; Leidenschaft ist wie eine Krankheit, die man bekommt, wenn man in schlechter Verfassung ist oder eine Vergiftung hat.5
Die gefühlsmäßige Gestimmtheit unserer Leidenschaft setzt sich aus gewohnheitsmäßigen Reaktionen zusammen, die aus unserer verzerrten Sicht der Realität entstehen. Wenn wir zum Beispiel glauben, dass wir letztendlich getrennt sind vom Rest der Realität (die in die Irre führende Sicht von Punkt fünf), folgt daraus, dass das, was wir besitzen, vielleicht auch alles ist, was wir bekommen, und so müssen wir unsere Reserven schonen. Daher die Leidenschaft von Punkt fünf, Habgier oder Habsucht, und die charakteristische Enge, der Rückzug und das Ausweichen, das Fünfen eigen ist. Wir können an diesem Beispiel sehen, dass die Leidenschaften sowohl Gefühlszustände als auch motivierende Triebe sind, wie Naranjo es beschreibt. Natürlich gibt es viel mehr über diese bestimmte Leidenschaft zu sagen, aber vielleicht kann uns dieses kleine Beispiel ein Gefühl dafür vermitteln, was eine Leidenschaft ist.
Leidenschaft hat im gewöhnlichen Wortgebrauch auch damit zu tun, dass unser Verstand durch starke oder heftige Emotionen überwältigt wird, die durch irgendetwas oder irgendjemand außerhalb von uns ausgelöst werden. Wenn wir von Leidenschaft gepackt werden, sind wir nicht mehr wir selbst. In dem Maße, in dem unsere Leidenschaft uns dominiert, sind wir wirklich Kräften außerhalb von dem, der wir wirklich sind, unterworfen. Wir sind dem Hin und Her unserer Persönlichkeit oder unseres Egos ausgeliefert. Wir agieren aus dem Empfinden einer irrtümlich angenommenen Identität, da wir uns für letztendlich getrennte Wesen halten. Unser Empfinden, wer oder was wir sind, gründet sich auf den Glauben, dass wir in erster Linie unser Körper sind und dass unser wahres Wesen keine tiefere Dimension hat als das Physische – und selbst das Physische nehmen wir durch eine verzerrende Linse wahr. Das ist die tiefste Überzeugung, auf der der allgemeine Zustand der Menschheit beruht. Es ist auch der fundamentale Glaube, der unserer Persönlichkeit, ungeachtet unseres Enneatyps, zugrunde liegt. Da laut Definition die Persönlichkeit ein Selbstgefühl ist, das sich um die Abwesenheit der Tiefendimension der Realität gebildet hat, haben wir, wenn wir mit ihr identifiziert sind, unvermeidlich das Gefühl, dass uns etwas Wesentliches fehlt. Wir erleben mit anderen Worten ein Gefühl von Mangel, das wir verschiedenen Ursachen oder Charakterfehlern zuschreiben mögen, das aber einfach mit der Herrschaft des Egos verbunden ist.
Die Untertypen
Wir werden unsere Aufmerksamkeit gleich den Tugenden zuwenden, aber erst einmal ist es wichtig, die instinktbezogenen Untertypen, die auf den Diagrammen 3 und 4, Seite 16 und 17, zu sehen sind, und ihre Beziehung zu den Leidenschaften etwas besser zu verstehen. Wie schon erwähnt, gibt es auf der Landkarte des Enneagramms drei Instinkte: den Selbsterhaltungstrieb, den sozialen und den sexuellen Trieb. Wir sind ein Enneatyp und erleben zudem eines dieser Lebensgebiete als am meisten belastet, als am meisten hervorstechend, und haben dadurch einen dominanten Untertyp. Jeder der Untertypen besitzt einen charakteristischen Stil und daraus ergibt sich eine weitere Differenzierung der neun übergeordneten Enneatypen in 27 verschiedene Persönlichkeitsstile. Die drei Untertypen lassen sich folgendermaßen beschreiben:
■ Wenn der Selbsterhaltungsinstinkt am stärksten ausgeprägt ist, bemüht man sich vor allem durch intensive Beschäftigung mit dem Überleben und mit materieller Sicherheit, Glück und Erfüllung zu finden.
■ Wenn der soziale Instinkt vorherrscht, ist man darauf ausgerichtet, ein Zugehörigkeitsgefühl, einen Platz und einen Status in der Gemeinschaft zu erlangen.
■ Wenn der sexuelle Instinkt am meisten betont ist, scheint eine intime Beziehung Befriedigung zu versprechen.
Das fundamentale innere Mangelgefühl, das der Persönlichkeit zugrunde liegt, wird hier am zentralsten erlebt. Mit anderen Worten, es ist der Lebensbereich, in dem wir uns am unzulänglichsten fühlen, in dem Sinne, dass wir nicht das Zeug zu etwas haben, und in dem wir uns auch für am meisten benachteiligt halten. Weil die Brille, durch die wir unser Leben sehen, solchermaßen eingefärbt ist, haben wir das Gefühl, dass uns auf einem dieser Lebensschauplätze irgendetwas fehlt, und da die Realität ihre eigene Art und Weise hat, solche Überzeugungen zu untermauern, fällt es uns schwer, in diesem Bereich wirklich die Erfüllung zu finden und zu erleben, die wir suchen.
Da dieser bestimmte Lebensschauplatz am stärksten mit Emotionen aufgeladen ist, ist er auch das Lebensgebiet, auf dem wir die Leidenschaft unseres Typs am stärksten wahrnehmen. Wie Naranjo es ausdrückt, wird unsere Leidenschaft oder unser Motivationsantrieb in einen dieser Instinktbereiche hineingeleitet. Man könnte auch sagen, ein bestimmter Instinkt wird dadurch am „leidenschaftlichsten“ erlebt, dass unsere Persönlichkeit auf seine Befriedigung hin ausgerichtet ist, und dies wird dann der Lebensbereich, in dem wir unsere Unsicherheit und Verletzlichkeit am stärksten spüren. Die Leidenschaften fesseln und verzerren nacheinander unsere instinktbezogenen Triebe, so dass, wenn wir mit der Persönlichkeit identifiziert sind, unsere Instinkte nicht frei funktionieren, sondern mit den Sorgen verbunden sind, die aus einer begrenzten und dadurch verzerrten Selbstdefinition entstehen.
Zu beobachten, wo die Leidenschaft unseres Typs am stetigsten und stärksten in Erscheinung tritt, liefert uns einen guten Hinweis darauf, zu welchem instinktbezogenen Untertyp wir gehören. Wenn wir beispielsweise zufällig eine Vier sind, entdecken wir vermutlich, dass unsere Leidenschaft, der Neid, in Momenten auftaucht, wenn sich entweder unser Selbsterhaltungstrieb bedroht fühlt, wenn wir das Gefühl haben, dass unser soziales Ansehen und unsere soziale Zugehörigkeit in Frage gestellt werden, oder wenn unsere intime Beziehung oder unsere Fähigkeit eine solche zu haben, in Gefahr geraten. Als Vier empfinden wir vielleicht Neid auf das, was ein anderer besitzt, wenn wir ein Selbsterhaltungstyp sind; oder wir empfinden vielleicht Missgunst gegenüber einem Freund, der auf sozialem Gebiet Talent und Ansehen zu haben scheint, wenn wir ein sozialer Untertyp sind; oder wir begehren die sinnliche Anziehungskraft eines anderen, wenn wir ein sexueller Untertyp sind. Dadurch dass die neun Leidenschaften in drei verschiedene instinktbezogene Schauplätze fließen und sich mit ihnen verbinden, entstehen 27 verschiedene Untertypen, jeder mit einem charakteristischen Stil, der die jeweilige Betonung reflektiert. Da eine vollständige Beschreibung der Untertypen über den Rahmen dieses Buches hinausgeht, verweise ich Interessierte auf mein vorhergehendes Buch.**
Wie wir sehen, kann die Landkarte des Enneagramms sehr spezifisch Auskunft geben über unsere grundlegenden kognitiven Ausrichtungen, unsere charakteristischen Merkmale, unser Verhalten und unsere emotionalen Muster. Aber sie beschreibt dennoch Muster, die wir alle miteinander teilen. Wie in der Einführung beschrieben, bezieht sich das Enneagramm prinzipiell auf universelle Wahrheiten, die alle Menschen und das Wesen der Realität betreffen.
Das bedeutet, dass, obgleich wir jeder eine Leidenschaft haben, die in unserer Erfahrung am stärksten hervortritt, in uns dennoch auch die anderen acht Leidenschaften wirken. Insgesamt erhellen die Leidenschaften neun Haupttendenzen, die egoverhaftete Existenz charakterisieren. Wir werden die Leidenschaften in den folgenden Kapiteln hauptsächlich aus einer Perspektive erforschen, die deutlich macht, dass jeder von uns mit allen neun Leidenschaften zu kämpfen hat. Ebenso beschreiben die Tugenden neun universelle Einstellungen, an denen sich die Transformation der Persönlichkeit ausrichtet und die in Erscheinung treten, wenn wir uns durch unsere Persönlichkeitsstruktur hindurcharbeiten.
Die Tugenden