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Jeder Mensch nimmt die Realität auf eine ganz bestimmte Weise wahr - auf jene nämlich, die seinem Typus, seinem Punkt im Enneagramm entspricht. Es ist, als trügen wir eine Brille, die uns ein verzerrtes und gefärbtes Bild unser selbst aufzwingt, all unsere Handlungen und Verhaltensweisen bestimmt und uns daran hindert, die wahre Wirklichkeit zu erkennen. In der Arbeit mit dem Enneagramm lernen wir, diese Brille genauer zu betrachten und den Einfluss, den sie auf unser Leben ausübt, wahrzunehmen, zu spüren und als Hinweis oder Landkarte für unsere Befreiung zu nutzen. Die meisten Autoren behandeln das Enneagramm aus psychologischer Sicht - Maitri hingegen sieht und beschreibt es außerdem als Instrument für spirituelle Transformation. Alle Anteile unserer Persönlichkeit liefern Hinweise auf unser wahres Wesen. Wenn wir sie ehrlich anschauen, verstehen und umarmen, verwandeln sie sich in unsere Seelenqualitäten. Unsere ursprüngliche Freude, Lebendigkeit, Liebe und unsere Kraft stehen uns wieder zur Verfügung. In ihrer sehr differenzierten, sorgfältig recherchierten und brillant dargestellten Studie des Enneagramms zeigt Sandra Maitri dem Leser einen Weg, sich selbst ehrlich zu begegnen und das, was er vorfindet, mit den Augen der Wahrheit und der Liebe zu betrachten. Das Buch hält dem Leser einen Spiegel vor, aus dem ihm hinter den Farben und Schatten seiner Persönlichkeit seine Seele zulächelt.
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Seitenzahl: 599
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Herausgegeben von Jeremy P. Tarcher / Putnam,a member of Penguin Putnam Inc.
Titel der Originalausgabe „The Spiritual Dimension of the Enneagramm“, erschienen 2000
Übersetzung: Christine Bolam
Umschlaggestaltung:
© J. Kamphausen
Shivananda Ackermann
Mediengruppe GmbH, Bielefeld
Typografie und Satz:
Projektleitung: Marianne Nentwig
Wilfried Klei
E-Book Gesamtherstellung:
Lektorat: Dr. Juliane Molitor
Bookwire GmbH, Frankfurt
www.weltinnenraum.de
E-Book Ausgabe 2014
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.deabrufbar.
ISBN Print 978-3-933496-05-8ISBN E-Book 978-3-89901-873-8
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.
Sandra Maitri
Diespirituelle Dimensiondes Enneagramms
Für
Oscar Ichazo,
den Lehrer hinter der Tür,
Claudio Naranjo,
der die Tür öffnete,
und
Hameed Ali (A. H. Almaas),
der mir zeigt, wie man hindurchgeht.
Diagramm 1 Die objektiven Enneagramme
Diagramm 2 Das Enneagramm der Persönlichkeit
Diagramm 3 Die Enneatypen
Diagramm 4 Das innere Dreieck
Diagramm 5 Der innere Fluss
Diagramm 6 Die Selbsterhaltungs-Untertypen
Diagramm 7 Die sozialen Untertypen
Diagramm 8 Die sexuellen Untertypen
Diagramm 9 Das Enneagramm der Fallen
Diagramm 1O Das Enneagramm der Vermeidungen
Diagramm 11 Das Enneagramm der Handlungen gegen das Selbst
Diagramm 12 Das Enneagramm der Lügen
Mir ist kein Buch bekannt, das den Fluss und die Dynamik des Enneagramms besser darstellt als dieses. Sandra Maitri sieht das Enneagramm nicht als festgelegtes System, das menschliche Wesen in vorgegebene Kategorien einteilt, sondern als eine Möglichkeit zur Erkenntnis. Wir können erkennen, wie jeder von uns auf seine eigene Weise darum kämpft, in dieser Welt ein ganzer Mensch zu sein, und wo wir am besten nach Hilfe und Unterstützung bei unseren Bemühungen Ausschau halten können. Die Verwirklichung unseres menschlichen Potenzials ist kein einfaches Unterfangen. Das Enneagramm lehrt uns, dass wir diesen Weg mit unterschiedlichen Begabungen, unterschiedlichen Anliegen und unterschiedlichem Reisegepäck antreten und aus diesem Grund verschiedene Wege beschreiten, um unser wahres Selbst zu verwirklichen. Dabei entspricht das Enneagramm sozusagen einer Landkarte, welche uns von da, wo wir gerade stehen, genau dorthin begleitet, wo wir hingehen.
Gurdjieff lehrt, dass das Enneagramm ein Mikrokosmos des Universums und nicht nur der menschlichen Persönlichkeit ist. Dieser Lehre folgt Sandra Maitri, wenn sie nachvollzieht, wie die individuellen menschlichen Seelen in die Welt der persönlichen Erfahrung eintreten, die Erinnerung an ihren Ausgangszustand verlieren und die schwierige Aufgabe der „Selbsterinnerung“ in Angriff nehmen. In ihren Händen ist das Enneagramm weitaus mehr als ein Gesellschaftsspiel oder ein Verzeichnis verschiedener Persönlichkeiten. Ihr geht es wirklich um die spirituelle Dimension des Enneagramms. Es ist für sie ein Werkzeug für die verbindliche spirituelle Arbeit.
Beim Eintritt in die spirituelle Dimension des Enneagramms wird der ernsthafte Leser schnell feststellen, dass das Enneagramm nur die zweidimensionale Darstellung eines komplexen Gefüges aufeinander bezogener Bewegungskräfte ist, welches sowohl in allen drei Raumdimensionen als auch durch die Zeit hindurch aktiv ist. Auf der oberflächlichsten Ebene ist das Enneagramm ein Kreis mit neun Punkten auf seinem Radius, welche die wichtigsten Neigungen menschlichen Erlebens darstellen. Es ist durchaus hilfreich, die Eigenschaften der neun Hauptpunkte zu verstehen, doch Sandra Maitris Darstellung verdankt ihre Kraft hauptsächlich ihrer Fähigkeit, die Bewegungen innerhalb des Enneagramms zu vermitteln. Ihr Enneagramm ist dynamisch, es verschiebt sich, es wächst mit unserem eigenen Wachstum
In der Sprache menschlichen Erlebens ausgedrückt spiegelt die Bewegung im Inneren des Enneagramms die Transformation unserer Seele, die mit ihrem Eintritt in die Existenz beginnt. Ausgestattet mit ihren jeweiligen Neigungen verliert sie den Kontakt zum Ursprung des Seins auf ihre eigene, spezifische Art, wird durch die ihr entsprechenden Interaktionen mit der Welt geprägt und macht sich auf ihre eigene, unvergleichliche Art auf den Weg zurück nach Hause. Weil es die Betonung auf Veränderung und Entwicklung legt, lässt sich Sandra Maitris Enneagramm nicht als Mittel zur festgelegen Einordnung unserer selbst und anderer missbrauchen. Vielmehr versteht es die Autorin, die Entwicklung der Seele im Enneagrammkreis als Bewegung aus der Fixierung durch die benachbarte Qualität hindurch auf eine im Erleben als tiefer empfundene und in der Entwicklungsdynamik höher einzustufende Ebene darzustellen. Diese Bewegung findet auf dem Kreis statt, wo eine Eigenschaft durch die ihr benachbarte Qualität hindurch in eine Eigenschaft auf höherer Ebene „fällt“, und sie findet auch innerhalb des Enneagramms selbst statt.
In ihren Beschreibungen der Eigenschaften, die für jeden der neun Hauptpunkte charakteristisch sind, hält sich Sandra Maitri dicht an unsere alltägliche Erfahrungswelt. Ihre Sprache ist frei von Urteilen, elegant und mit liebevollem Humor gewürzt. Ihre Darstellungen werden durch eine gründliche Kenntnis und ein tiefes Verständnis des modernen psychoanalytischen Denkens und der Entwicklungspsychologie sowie durch ihre langjährigen Erfahrungen als spirituelle Lehrerin untermauert. Ihre lange Verbindung mit A. H. Almaas und seiner Arbeit ermöglichen es ihr, das Enneagramm solide in einer der stärksten und innovativsten spirituellen Lehren unserer Zeit zu verankern.
Hier finden wir Klarheit und Mitgefühl sowie die Einladung, uns selbst freundlich und mitfühlend zu betrachten und uns unserem eigenen Werden aktiv zu verpflichten. Maitris Beschreibungen unterstützen eine Sichtweise, die in jedem gewöhnlichen menschlichen Leben das Heldenhafte erkennt, die Tatsache, dass ein jeder von uns bewusst oder unbewusst sein Bestes tut, um sich zu erinnern, wer oder was er ist. Es tut gut zu wissen, dass andere den Weg vor uns gegangen sind und Zeichen hinterlassen haben.
Wir wünschen den Lesern dieses Buches eine gute Reise. Wenn Sie die Landkarte, die das Enneagramm zur Verfügung stellt, wirklich nutzen wollen, gibt es keine bessere Einführung. Sie sind in guten Händen.
Hunter Beaumont
Diagramm 1
DIE OBJEKTIVEN ENNEAGRAMME
Diagramm 2
DAS ENNEAGRAMM DER PERSÖNLICHKEIT
Diagramm 3
DIE ENNEATYPEN
Der kürzlich verstorbene Sufi-Lehrer Idris Shah erzählte eine Parabel, die auch ich immer zitiere, wenn ich das Enneagramm vorstelle: Ein Zinnschmied war zu Unrecht ins Gefängnis gesperrt worden und auf scheinbar wunderbare Weise daraus entkommen. Jahre später wurde er gefragt, wie ihm die Flucht gelungen sei. Er erzählte: Seine Frau, eine Weberin, hatte den Bauplan seines Zellenschlosses in den Teppich eingewebt, auf dem er fünf Mal täglich seine Gebete verrichtete. Als er erkannt hatte, dass das Muster im Teppich das Türschloss seiner Zelle darstellte, traf er mit seinen Gefängniswärtern eine Absprache. Sie sollten ihm Werkzeug besorgen, und er würde kleine Kunstgegenstände herstellen, die sie mit Gewinn verkaufen konnten. Aber er benutzte das Werkzeug auch, um einen Schlüssel herzustellen, der ihm eines Tages die Flucht ermöglichte. Die Moral dieser Geschichte: Wenn wir nur den Bauplan des Schlosses kennen, das uns eingesperrt hält, können wir auch den Schlüssel anfertigen, der es öffnen wird.
Wie alle Sufigeschichten ist auch diese eine Metapher. Sie beschreibt den Zustand, in dem sich der größte Teil der Menschheit befindet: eingeschlossen im Labyrinth der eigenen Ichstrukturen. Die meisten von uns leben ihr Leben in den engen Grenzen ihrer Vorstellungen von sich selbst und der Welt. Aus der Perspektive all jener, die nicht eingesperrt sind, entspricht das einem winzigen Fragment des Raumes, der uns wirklich zur Verfügung steht. Bestimmte Gedankenmuster, Gefühle und – am eindeutigsten – Situationen wiederholen sich in unserem Leben immer wieder und verleihen unserem inneren Erleben den Anschein von Gleichförmigkeit. Hinter diesen sich wiederholenden Mustern stehen unsere festen Vorstellungen davon, wer wir sind und wie die Welt beschaffen ist, in der wir leben. Diese Überzeugungen haben sich in den ersten Lebensjahren herausgebildet, als unser Selbstbild in Reaktion auf unsere Begegnungen mit der Umwelt und den Menschen sowie in Verbindung mit unseren angeborenen Veranlagungen entstanden ist. Sie haben unseren Gedankenmustern und emotionalen Reaktionen ihre Form gegeben und uns zu einer konsequenten eigenen inneren Erfahrung verholfen. Die innere und äußere Welt, in der die meisten von uns leben, ist deshalb größtenteils ein Produkt unserer Vergangenheit – so schwer es auch sein mag, das anzuerkennen. Diese Welt mag einen anspruchsvolleren und zeitgemäßeren Anschein haben als die unserer frühen Kindheit, doch der Kern dessen, wofür wir uns halten, trägt verblüffenderweise die Züge unser selbst im Alter von drei oder vier Jahren. Die Menschen in unserem Umfeld mögen im Laufe unseres Lebens wechseln, doch sowohl unsere Beziehungen und Begegnungen mit ihnen als auch das, was wir für sie empfinden, ja sogar wie wir sie wahrnehmen – all das bleibt mehr oder weniger unverändert und trägt den schalen Geschmack des Bekannten. Zwar können wir die Gitterstäbe oder Mauern, die uns eingeschlossen halten, nicht wie der Zinnschmied in Shahs Parabel sehen, sind aber dennoch Gefangene einer holografischen Realität, durch die wir die Welt um uns her und sogar uns selbst wie durch einen Filter wahrnehmen.
Oft erkennen wir nicht, wie begrenzt unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit ist und dass wir eine Welt bewohnen, die uns unnötig einschränkt. Trotz all unserer Bemühungen, mit dem zufrieden zu sein, was uns die Gesellschaft als erstrebenswert vorgibt – Geld, Besitz, Anerkennung, Macht, Berühmtheit oder Beziehungen – fühlen wir womöglich nur eine vage Unzufriedenheit, ein dumpfes Gefühl von Leblosigkeit und einen Mangel an Sinn und Erfüllung. Bei anderen macht sich der Eindruck, ein begrenztes Leben zu führen, vielleicht noch deutlicher bemerkbar – als schmerzhaftes, nagendes Gefühl der Unzulänglichkeit, des Mangels, der Leere oder der Aussichtslosigkeit. Krisenzeiten bringen diese Gefühle eher an die Oberfläche und geben uns einen kurzen Einblick in unser Gefängnis.
Diese Einblicke markieren den Beginn unserer Befreiung, denn wenn wir wissen, dass wir quasi in Gefangenschaft leben, können sich neue Möglichkeiten eröffnen. Über Jahrhunderte haben spirituelle Lehren uns wissen lassen, dass das Leben mehr zu bieten hat als wir vielleicht denken, und dass jenseits der von unseren inneren Fesseln umschriebenen Welt eine andere auf uns wartet. Verschiedene spirituelle Traditionen sprechen nicht nur von unserer Gefangenschaft und ihrer Sicht der Realitätsdimensionen jenseits der Scheuklappen des Ego – sie bieten auch viele Möglichkeiten an, dieser Gefangenschaft zu entfliehen. Die Geschichte des Zinnschmiedes berichtet von einer solchen Methode zur Wiedererlangung unserer Freiheit: das Muster dessen zu verstehen, was uns in unserem Gefängnis festhält. Ohne eine Art Gegenstück zu dem Gebetsteppich, das uns die inneren Zusammenhänge unserer holografischen Realität enthüllt, haben wir oft kaum eine Chance zu entkommen.
Es gibt eine Anzahl psychologischer und spiritueller Landkarten, auf denen das Gebiet des Ego verzeichnet ist, aber ich kenne keine, die ähnlich mächtig und wirkungsvoll ist wie das Enneagramm, das ich seit fast dreißig Jahren benutze und unterrichte. Das Enneagramm der Persönlichkeit beschreibt neun verschiedene Persönlichkeits- oder Egotypen, jeweils mit den für sie charakteristischen mentalen, emotionalen und verhaltensspezifischen Mustern. Richtig verstanden beschreibt es auch, wie und warum diese Muster entstehen, wenn wir in frühester Kindheit den Kontakt mit unseren spirituellen Tiefen verlieren. Darüber hinaus schildert es die affektive und verhaltensspezifische Wandlung, die jeder Typus durchmachen wird, wenn er sich einer ernsthaften spirituellen Disziplin widmet, die ihn schrittweise wieder mit diesen Tiefen in Verbindung bringt. Wir werden diese Dimensionen des Enneagramms später noch genauer besprechen, denn sie sind wichtig, wenn wir das Enneagramm so nutzen wollen wie es ursprünglich beabsichtigt war: als ein Instrument für die spirituelle Transformation, welche uns helfen kann, das in ihm dargestellte Labyrinth der Ego-Realität hinter uns zu lassen.
Die derzeitige Popularisierung des Enneagramms hat sich hauptsächlich auf die psychologischen Wesenszüge und Muster der verschiedenen Typen konzentriert, mit dem Resultat, dass sich das Wissen der meisten Menschen auf diesen Bereich beschränkt. Vor allem die Bücher von Helen Palmer und Don Riso haben das Enneagramm einem großen Publikum zugänglich gemacht. In der Presse sind Artikel über das Enneagramm erschienen, und mittlerweile gibt es sogar Vereine, die sich mit ihm befassen und Rundbriefe zu diesem Thema herausgeben. Im Geschäftsleben wird es für Entscheidungen im Personalbereich benutzt und im Privatleben als Methode, einen geeigneten Partner zu finden. Lag der Augenmerk bislang hauptsächlich auf der Psychologie der neun Typen, so ist durch all dieses Interesse möglicherweise ein Publikum entstanden, das auch für seine weiteren Dimensionen empfänglich ist. Die tiefere Funktion des Enneagramms besteht darin, uns den Weg zu unserem wahren Wesen jenseits der Persönlichkeitsebene aufzuzeigen; zu einer Dimension unser selbst, die ungleich viel tiefer, interessanter, zufriedenstellender und wahrer ist. Dieses Buch wurde in der Absicht geschrieben, jenes Bestreben zu unterstützen.
Die Ursprünge des neuneckigen Enneagramm-Symbols sind in Geheimnisse gehüllt, was daran liegen mag, dass alle es betreffenden Lehren bis zur heutigen Generation nur mündlich vermittelt wurden. Im Westen erschien das Enneagramm zuerst um die Wende des zwanzigsten Jahrhunderts in der Lehre des armenischen Mystikers Georg Iwanowitsch Gurdjieff, der behauptete, es in der Sarmoung-Bruderschaft, einer mystischen Vereinigung Zentralasiens, studiert zu haben. Gurdjieffs Biograph James Moore erhebt die Frage, ob es die Sarmoung wirklich gegeben hat; – dieser Punkt ist nie geklärt worden.1 Der Gurdjieff-Chronist James Webb, der versuchte, die Ursprünge zu ergründen, konnte für die Zeit vor Gurdjieff keine definitiven Spuren des Enneagramms in seiner uns heute bekannten Form ausmachen.2 Zwar fand er vage Hinweise darauf, dass es möglicherweise im Altertum eine Rolle gespielt hat, und machte die Titelseite eines von Jesuiten im Jahre 1665 verfassten Textes ausfindig, die ein Bild mit neun Ecken zeigt. Allerdings setzte sich dieses aus drei gleichschenkligen Dreiecken zusammen und entsprach nicht dem Bild des Enneagramms, wie wir es heute benutzen.
Gurdjieff macht ein paar interessante Bemerkungen über das Enneagramm und ich möchte ihn hier ausführlich zitieren, da seine Aussagen für das Verständnis der vielen möglichen und heute gebräuchlichen Interpretations- und Nutzungsmöglichkeiten des Enneagramms von großer Bedeutung sind:
Allgemein gesprochen muss man verstehen, dass das Enneagramm ein universales Symbol ist. Alles Wissen kann im Enneagramm zusammengefasst und mit Hilfe des Enneagramms gedeutet werden. Und so kann man sagen, dass man nur das weiß beziehungsweise versteht, was man in das Enneagramm einfügen kann. Was man nicht in das Enneagramm einfügen kann, versteht man nicht. Für den Menschen, der es benutzen kann, macht das Enneagramm Bücher und Bibliotheken vollkommen überflüssig. Alles kann im Enneagramm zusammengefasst und in ihm gefunden werden. Ein Mensch, der allein in der Wüste ist, kann das Enneagramm in den Sand malen und die ewigen Gesetze des Weltalls daraus lesen, und jedesmal kann er etwas Neues lernen, etwas, was er vorher noch nicht wusste. ... Das Enneagramm ist die fundamentale Hieroglyphe einer Universalsprache, die so viele verschiedene Bedeutungen hat als es Stufen von Menschen gibt. ... Das Enneagramm ist ein schematisches Diagramm der dauernden Bewegung, das heißt einer Maschine von dauernder Bewegung. Aber natürlich muss man wissen, wie dieses Enneagramm zu lesen ist. Es ist das perpetuum mobile und ist auch der Stein der Weisen der Alchimisten.3
Wenn wir wirklich würdigen wollen, wie sehr sich unser Verständnis des Enneagramms und der unterschiedlichen Ansichten darüber, was es darstellt, entwickelt hat, müssen wir, wie Gurdjieff sagt, zunächst erkennen, dass das Symbol des Enneagramms mehr darstellt als eine Reihe von Bedeutungen oder eine einzige Ebene der Wirklichkeit. Das ist wichtig, denn es erklärt, warum verschiedene psychologische, religiöse und spirituelle Schulen dieses Symbol benutzen, um gänzlich verschiedene Phänomene zu erklären – obwohl sie sich, wenn phänomenale oder inhaltliche Meinungsverschiedenheiten auftauchen, gegenseitig beschuldigen, es nicht korrekt zu gebrauchen. Es erklärt auch, warum dasselbe Phänomen auf verschiedenen Interpretationsebenen erklärt werden kann. Wie Gurdjieff im oben angeführten Zitat sagt, hat das Enneagramm „so viele verschiedene Bedeutungen wie es Ebenen im Menschen gibt“. Als archetypisches Symbol kann es benutzt werden, um sowohl physische als auch psychische und spirituelle Prozesse und Prinzipien zu beschreiben. Daraus folgt, dass es Enneagramme gibt, die sich auf eine Vielzahl von Ebenen beziehen und sie erklären – unter anderem die Wochentage und die Planeten in unserem Sonnensystem.
Gurdjieff nutzte das Enneagramm als Modell, um die Abläufe im Universum zu verstehen und glaubte, es könne nur von jemandem verstanden werden, der auch die von ihm entworfenen Bewegungsmeditationen praktizierte. Anscheinend hat er es nicht als eine Landkarte für innere Erfahrungen verwendet wie beispielsweise der bolivianische Mystiker Oscar Ichazo. Als eine solche Landkarte präsentierte Ichazo das Enneagramm Anfang der siebziger Jahre einer Gruppe von Anhängern in Arica (Chile).
Ein Schüler Ichazos, der in der neueren Geschichte des Enneagramms eine zentrale Rolle spielen sollte, war der chilenische Psychiater Claudio Naranjo. Ich lernte das Enneagramm 1971 von Naranjo kennen – in der meines Wissens ersten spirituellen Gruppe in den USA, in der es unterrichtet wurde. Bevor er Ichazo begegnet war, hatte sich Naranjo intensiv mit vielen spirituellen Traditionen des Ostens sowie westlichen Psychologierichtungen beschäftigt und sie in seine Arbeit integriert. In die USA zurückgekehrt begann er, das Enneagramm zu lehren und erweiterte die Theorie, die er von Ichazo gelernt hatte, um seine eigenen psychologischen Erkenntnisse auf der Grundlage seiner klinischen Erfahrungen und seiner Arbeit mit der Gestalttherapie von Fritz Perls sowie mit der Selbst-Psychologie von Karen Horney. Für die Gruppe, die Naranjo in Berkeley, Kalifornien, gründete und der ich angehörte, war das Enneagramm das zentrale psychologische Modell. Diese Gruppe war die erste einer Reihe, die er nach dem Sanskrit-Begriff für „Wahrheit“ SAT nannte. SAT stand auch für „Suchende nach der Wahrheit“ (Seekers After Truth). Denselben Namen hatte Gurdjieff den ersten Gruppen seiner Anhänger gegeben. A. H. Almaas, der Begründer des Diamond Approach to Inner Realization, war ebenfalls Mitglied dieser Gruppe.
Die Gruppe blieb vier Jahre lang zusammen. In dieser Zeit lernten wir die spirituellen Perspektiven und Disziplinen der meisten großen Traditionen kennen und bekamen einen Einblick in die Lehren des Theravada-Buddhismus, des tibetischen Buddhismus, des Hinduismus, der Sufis, des Kofuzius und verschiedener Lehrer des Vierten Weges (wo die spirituelle Arbeit in den Kontext des täglichen Lebens integriert wird). Primär war die Gruppe allerdings deutlich von Gurdjieffs Arbeit geprägt und betonte die Überwindung dessen, was Gurdjieff die Persönlichkeit nennt – den konditionierten Eindruck eines separaten Selbst, das auf in der Vergangenheit errichteten Denkstrukturen basiert4. Es war das Ziel, wieder mit unseren spirituellen Tiefen in Kontakt zu kommen. Zu diesem Zweck verband Naranjo die psychologische mit der spirituellen Herangehensweise – zu jener Zeit eine bemerkenswerte Innovation. Das war die Grundlage für unsere Arbeit mit dem Enneagramm.
Wir lebten und atmeten das Enneagramm. Wir entdeckten und erweiterten seine Theorie um die Dimensionen unserer eigenen Erfahrungen. Die Art, wie Naranjo dieses mächtige Modell einsetzte, vermochte unsere Widerstände gegenüber dem Erkennen und Erleben der Funktionsweisen unserer eigenen Persönlichkeiten radikal zu durchbrechen. Es führte uns in unsere persönliche Hölle, in das individuelle Erleben der Unvollkommenheit im Kern unserer Persönlichkeit, die zwangsläufig aus dem Kontaktverlust mit unserem wahren Wesen resultiert. Unsere Ich-Defizite – vielen Lesern dieser Seiten sicher nur zu bekannt – können sich wie eine innere Leere, Bedeutungslosigkeit, Richtungslosigkeit oder Sinnlosigkeit anfühlen, wie ein Mangel an Substanz, ein Gefühl von Wertlosigkeit, Unzulänglichkeit oder Mangel. Dieses sind nur einige Charakteristika dieses unangenehmen Zustands. Nachdem uns unsere bisherigen Mittel zur Vermeidung diesen defizitären Zustandes genommen waren, hörte er für die meisten oder sogar alle von uns nicht auf zu existieren – und das trotz der Vielzahl spiritueller Praktiken, die wir in der Gruppe ausübten, trotz all der aufregenden und erhebenden Erlebnisse, die uns zuteil wurden. Nach vier Jahren lösten sich die SATGruppen auf und ihre Mitglieder trennten sich, fanden andere spirituelle oder psychologische Lehrer oder ließen das, was wir nach Gurdjieff „die Arbeit“ genannt hatten, ganz hinter sich.
Die Enneagramme, die den meisten Menschen vertraut sind, haben ihren Ursprung in den von Naranjo erweiterten Lehren Ichazos, die sich auf das innere Erleben der menschlichen Psyche beziehen. Diese Enneagramme können in zwei Hauptkategorien eingeteilt werden. Die erste bezieht sich auf das egoische Erleben (der Persönlichkeit), die zweite auf das essenzielle Erleben, das sich jenseits des konditionierten Selbst abspielt und auch spirituell genannt wird. Es hieß, dass diese beiden Gruppen untrennbar miteinander verbunden seien, aber es war nicht klar, auf welche Weise. Wir lernten, dass das, was in der Sprache des Enneagramms heilige Ideen genannt wird, neun verschiedene, objektive oder erleuchtete Sichtweisen der Realität darstellt. Der Verlust dieser heiligen Ideen, so hieß es, führe zu jenen Verschiebungen in unserer Realitätswahrnehmung – Fixierungen genannt – die den Kern der neun Persönlichkeitstypen bilden. Welche Auswirkungen das auf unsere Wahrnehmung hat und warum es passiert, blieb eher unklar. Doch ohne dieses Wissen können wir das Enneagramm nicht nutzen, um unsere Schritte nachzuvollziehen und uns wieder mit dem verlorenen Reich des Spirituellen zu verbinden. Dann bleibt uns nur das Bemühen, unsere Persönlichkeiten auszulöschen oder zu transzendieren, um den Bereich des Seins zu erleben. Es war Almaas, meinem alten Freund aus SAT-Tagen vorbehalten, den eigentlichen Prozess zu entwickeln.
Ein kurzer Rückblick auf Gurdjieff: Er lehrte, dass unser Verständnis des Enneagramms von dem geprägt wird, was wir selbst ihm entgegenbringen. Für sich betrachtet ist das Enneagramm nichts als eine archetypische Landkarte. Die Art, wie wir diese Karte lesen, ist in jeder Hinsicht von unserer philosophischen oder spirituellen Orientierung abhängig. Mit anderen Worten: Was wir auf ihr sehen, wird von unserem Verständnis des auf ihr dargestellten Gebietes bestimmt. Da das in diesem Buch dargestellte Gebiet sich mit der Persönlichkeit und ihrer Beziehung zu ihren spirituellen Tiefen befasst, ist es für Sie als Leser wichtig, meine Perspektive und meine Herangehensweise zu verstehen.
Die in diesem Buch dargestellte Sichtweise des Enneagramms basiert auf der Auffassung, dass das grundsätzliche Wesen der gesamten Existenz – ihr spiritueller Urgrund, den ich mit dem Begriff Sein bezeichnen werde, das letztendliche oder wahre Wesen von allem ist. Unser individuelles Bewusstsein werde ich Seele nennen. Diese betrachte ich als individuelle Manifestation unserer göttlichen Natur, des Seins. Jeder von uns ist also eine einzigartige Erscheinungsform des Seins. Wenn wir das Sein in uns selbst erleben, geschieht das als die Essenz dessen, der wir sind – also das, was übrig bleibt, wenn sich alle Konstrukte der Persönlichkeit aufgelöst haben – und wir sind in Kontakt mit unserem essenziellen Wesen. Was ich Essenz nennen werde, entspricht also dem durch unsere individuelle Seele erfahrenen Sein.
Unsere Seelen sind formbar und werden von allem, was uns im Leben begegnet, beeinflusst und gestaltet. Das trifft besonders auf die Entwicklungsjahre der frühen Kindheit zu, in denen sich unsere Strukturen verfestigen. In dieser Zeit entwickeln wir eine Persönlichkeit, ein strukturiertes und festes Gefühl unser selbst und der Realität, welches die äußerste Schicht unserer Seele bildet und uns früher oder später, wenn wir uns zunehmend mit ihm identifiziert haben, von dem Göttlichen im eigenen Inneren abschneidet. Wie das geschieht, ist eine komplexe und faszinierende Geschichte, die im ersten Kapitel zur Sprache kommt, wo wir die drei Spitzen erforschen, die das inneres Dreieck des Enneagramms bilden.
Die Arbeit an der spirituellen Entwicklung bringt aus meiner Sicht mit sich, dass wir uns erneut mit den spirituellen Tiefen unserer Seele, unserer essenziellen Natur verbinden. Essenz ist kein gleichbleibender Zustand und kein statisches Erleben. Vielmehr kann sie in Form von Qualitäten wie Mitgefühl, Frieden, Klarheit, Akzeptanz, Unfehlbarkeit, Weite, Intelligenz und so weiter in unserem Bewusstsein auftauchen und ihren jeweils ganz eigenen Duft und Geschmack mit sich bringen. Diese vielfältigen Manifestationen oder Erscheinungsformen unserer Essenz oder wahren Natur werden als essenzielle Aspekte bezeichnet.
Wie wir die im Enneagramm aufgezeichneten Informationen über unsere Persönlichkeit und unsere essenzielle Natur anwenden oder nutzbar machen, hängt von unserer Vorgehensweise ab. Kurz gesagt geht es bei der Methode, auf der dieses Buch beruht, einfach nur darum, zu lernen, im eigenen Körper, in den Emotionen und in den Gedanken völlig gegenwärtig zu sein und das, was wir dort vorfinden, zu untersuchen und zu erforschen. Gegenwärtigkeit und Erforschen bilden also das Fundament der Methode. Ein rein mentales Erforschen kann nicht zu Einsichten führen, welche die inneren Funktionsweisen unserer Seele beleuchten und enthüllen. Deshalb muss diese innere Reise zutiefst erlebt werden. Wenn wir in unserem jeweiligen Erleben mit einer forschenden und wissbegierigen Haltung gegenwärtig sind, wenn wir in unserer inneren Welt nichts für selbstverständlich oder gegeben hinnehmen, enthüllt sich uns die Beschaffenheit unserer Seele. Gewöhnlich berühren und erkennen wir zunächst die äußersten Schichten der Persönlichkeit, ganz besonders unseren inneren Kritiker, das Über-Ich. Im Laufe unserer Reise treten zunehmend tiefere Schichten zutage, die schließlich immer transparenter werden. Allmählich offenbaren sich die unterschiedlichen Aspekte unserer ursprünglichen Natur.
Etwas anders ausgedrückt: Wenn wir die Welt der Persönlichkeit wahrnehmend erforschen anstatt sie für real zu halten, dann erkennen wir, dass sie ein holographisches Universum ist, durch das wir unsere inneren und äußeren Erlebnisse filtern. Sie ist unser selbst gemachter Film, dessen Handlung durch die Schlüsse geprägt ist, die wir aufgrund frühester Kindheitserfahrungen über das Wesen der Realität gezogen haben. Alles, was wir erleben, wird durch diesen endlos ablaufenden und häufig unbewussten Film gefiltert und somit verzerrt – auch die Menschen, denen wir in unserem Leben begegnen und die deshalb die unangenehme Angewohnheit haben, Rollen und Charakterzüge wichtiger Personen aus unserem frühen Leben anzunehmen. Der Handlungsverlauf, die emotionale Atmosphäre und die Art, wie wir in diesem Film agieren – all das trägt den unauslöschlichen Stempel unseres enneagrammatischen Typs.
Bei näherer Betrachtung erweist sich diese innere Realität als ebenso unwirklich wie die computeranimierten Bilder einer virtuellen Realität. Die moderne Teilchenphysik hat uns gezeigt, dass die Materie, in äußerster Vergrößerung betrachtet, größtenteils aus Raum besteht und ihre Festigkeit daher nichts weiter ist als eine Illusion unserer Wahrnehmung. Genauso ist es mit unserer inneren Welt: Was dem normalen Bewusstsein nur zu real erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als nicht solide. Indem wir die Fähigkeit entwickeln, stets gegenwärtig zu sein, in tiefem Kontakt mit unserem Erleben zu stehen und seine Inhalte voller Interesse wahrzunehmen, können wir beginnen, die Wirklichkeit frei von den Verzerrungen unseres inneren Films zu sehen. Immer tiefere Ebenen der Wirklichkeit, die nicht zu unserem Drama gehören, können sich uns darstellen und uns stetig dem näher bringen, was jenseits des Egofilters liegt und viel grundlegender ist als er: der Wirklichkeit, unserem letztendlichen wahren Wesen und dem Wesen oder der Natur von allem.
In dieser Sichtweise ist psychologische Arbeit von spiritueller Entwicklung, die wahrhaftig die Seele verwandelt, nicht zu trennen. Sich mit spiritueller Arbeit zu befassen, ohne zugleich an der Persönlichkeit zu arbeiten, führt üblicherweise dazu, dass tief sitzende Themen nicht gelöst werden und unsere Spiritualität nicht wirklich integriert wird – eine Situation, die viele spirituelle Lehrer und Traditionen begrenzt oder sogar zum Scheitern gebracht hat. Auf der anderen Seite baut psychologische Arbeit in der Regel zu stark auf der Überzeugung auf, dass der Bereich der Persönlichkeit letztendlich wirklich ist. Wenn essenzielle Zustände auftauchen, ist der Psychotherapeut meist weder auf sie eingestellt noch fähig, ihre Bedeutung zu verstehen und ihnen zu erlauben, in den Vordergrund zu treten. Obwohl sich wahre psychologische Einsicht nur in Momenten einstellt, in denen uns ein blitzartiges Verstehen zuteil wird, das unserer Seele zutiefst berührt, kommt die Vorstellung, in unserem Erleben gegenwärtig zu sein, in der psychologischen Theorie nicht vor. Wie wir sehen werden, kann diese Sichtweise unser Verständnis des vom Enneagramm dargestellten Gebietes grundlegend verändern. Damit wird das Enneagramm wahrlich zu einem Werkzeug für die authentische spirituelle Transformation.
Richten wir jetzt unseren Blick auf das Enneagramm selbst. In den Diagrammen, mit denen dieser Abschnitt beginnt, sehen wir zwei verschiedene Kategorien von Enneagrammen. Diagramm 1 stellt diejenigen dar, die sich (im Gegensatz zu den subjektiven Erfahrungen der Persönlichkeit) auf objektive Erfahrungen beziehen. Diagramm 2 zeigt jene, die mit Erfahrungen auf der Ebene des Ego zu tun haben und in ihrer Gesamtheit das Enneagramm der Persönlichkeit genannt werden. Wir werden uns in diesem Buch immer wieder auf die Informationen aus diesen beiden Diagrammen beziehen. Daher müssen Sie sie nicht sofort verstehen und im Kopf behalten. Betrachten wir zunächst das Enneagramm der Persönlichkeit. Wir sehen sofort, dass die Gestalt, auf der die Enneagramme aufgezeichnet sind, auf dem Kopf steht. Das ist ein Abbild des menschlichen Egozustandes, der in manchen spirituellen Traditionen als Schlafzustand bezeichnet wird; als Verweilen in Dunkelheit, Unwissenheit oder Verblendung; als verdrehte Sichtweise. In der Tarotkarte vom Gehängten finden wir das gleiche Symbol für den Egozustand: einen Mann, der kopfüber hängt5.
Wir werden zunächst erforschen, worauf sich die heiligen Ideen beziehen, denn sie bilden das Grundgerüst für unser Verständnis der spirituellen Dimension des Enneagramms. Bei den neun heiligen Ideen handelt es sich um neun direkte Wahrnehmungen der Realität ohne den Filter der Persönlichkeit. Es sind also neun verschiedene erleuchtete Perspektiven. Das Wort Idee mag hier zu Missverständnissen führen, weil wir damit normalerweiseein mentales Konzept bezeichnen. In der Sprache des Enneagramms steht Idee jedoch für eine bestimmte Erkenntnis der Realität, für einen Blickpunkt, von dem aus sie gesehen, erfahren und verstanden wird. Wir müssen begreifen, dass mit den heiligen Ideen keineswegs bestimmte spirituelle Erlebnisse oder Bewusstseinszustände gemeint sind, sondern vielmehr Sichtweisen der Realität, die frei von den Vorurteilen der Persönlichkeit sind. Sie stehen deshalb auch für die tiefere Bedeutung, die von einer Erfahrung transportiert wird, und für das Erkennen unterschwelliger Verbindungen zwischen verschiedenen Erfahrungen. Da sie auf die verschiedenen unmittelbaren Wahrnehmungen der Realität Bezug nehmen, befinden sich die neun heiligen Ideen im Kopfbereich der Gestalt in Diagramm 1.
Wie wir sehen werden, konzentrieren sich einige der heiligen Ideen mehr auf allgemeine Bereiche der Wirklichkeit als Ganzem, während sich andere auf den Platz des Menschen im Universum beziehen. Die heiligen Ideen können wahrscheinlich am besten vermittelt werden, indem man jede einzeln erläutert. Einige mögen verständlich erscheinen, während andere einem vielleicht fremd und merkwürdig vorkommen. In diesem Zusammenhang sollte man sich vor Augen führen, dass die Wirklichkeitsperspektiven, die sie vermitteln, sehr tiefgründig sind; dass in den großen spirituellen Traditionen jahrhundertelang über sie sinniert wurde und dass sie unsere gewöhnliche Sicht der Dinge eindeutig überschreiten.
Wir beginnen mit der heiligen Idee von Punkt Neun an der Spitze des Enneagramms, wo wir die Realität aus dem Blickwinkel der heiligen Liebe betrachten und erkennen, dass die letztendliche Natur von allem, was existiert, wohlwollend und liebevoll ist und wir alle aus jener Liebe bestehen und ihr Ausdruck sind. Nun gehen wir im Uhrzeigersinn weiter durch das Enneagramm und betrachten die Realität aus der Perspektive der heiligen Idee von Punkt Eins, die als heilige Vollkommenheit bezeichnet wird. Hier erkennen wir, dass die grundlegende Natur von allem – uns selbst eingeschlossen – in sich vollkommen, gut und positiv ist. Wenn unser Erleben von der heiligen Idee von Punkt Zwei heiliger Wille ausgeht, sehen wir, dass der Entfaltung des Universum eine eigene Richtung und Bewegungskraft zugrunde liegt und dass alles, was im Leben eines jeden von uns geschieht, jenem göttlichen Willen unterworfen ist. Aus dem Blickwinkel des heiligen Gesetzes, der heiligen Idee von Punkt Drei, erkennen wir, dass alles, was geschieht, ein Teil des sich wandelnden Musters des Universums ist und nichts und niemand unabhängig von der Bewegung des Ganzen funktioniert. Wenn wir die Realität vom Standpunkt der heiligen Idee von Punkt Vier, vom heiligen Ursprung aus erleben, sehen wir, dass jede Manifestation ihren Ursprung in der wahren Natur hat und nichts von ihr getrennt werden kann.
Aus der Perspektive der heiligen Idee von Punkt Fünf, des heiligen Allwissens, erkennen wir, dass ein jeder von uns untrennbar am Gesamtgefüge der Wirklichkeit teilhat und dass die Grenzen, die unsere Verschiedenheit ausmachen, nicht endgültig sind. Erleben wir die Realität aus dem Blickwinkel des heiligen Glaubens, der heiligen Idee von Punkt Sechs, dann erkennen wir mit absoluter Sicherheit, dass unser innerstes Wesen Essenz ist. Das trägt uns und gibt uns Zuversicht und Vertrauen sowohl in uns selbst als auch in die gesamte Realität. Vom Standpunkt des heiligen Plans, der heiligen Idee von Punkt Sieben, erkennen wir, dass die Entfaltung der menschlichen Seele – auch unserer eigenen – einer inneren Logik folgt, die sich ganz von selbst auf die Selbstverwirklichung zu bewegt, wie sich eine Raupe ganz von selbst zum Schmetterling entwickelt. Wenn heilige Wahrheit, die heilige Idee von Punkt Acht, unsere Wahrnehmung durchdringt, sehen wir, dass das Sein allem zugrunde liegt, was existiert, und dass alles aus Ihm besteht. Damit ist jede Dualität wie Gott und die Welt, Geist und Materie, ja sogar Ego und Essenz grundsätzlich illusorisch.
Wir können die Wirklichkeit im Grunde aus dem Blickwinkel einer jeden heiligen Idee erfahren, doch am unwiderstehlichsten ist die unserem persönlichen Punkt im Enneagramm entsprechenden Sichtweise. Der ursprünglichen, von Oskar Ichazo gelehrten Theorie zufolge stehen uns alle heiligen Ideen von Geburt an zur Verfügung, aber für eine von ihnen sind wir besonders „sensibilisiert“, auf sie sind wir am besten eingestimmt. Mit unserer Ankunft auf dem Planeten scheinen wir so empfindlich und empfänglich wie ein sensibler Nerv auf diese bestimmte Sichtweise des Lebens anzusprechen. Was immer auch geschieht, hat Einfluss auf unsere Verbindung mit dieser Sichtweise, und indem wir eine Persönlichkeitsstruktur entwickeln, verlieren wir alle unweigerlich mehr oder weniger vollständig den Kontakt zu unserem essenziellen Wesen. Wenn wir den Kontakt zur Essenz verlieren, geht uns auch der Kontakt zu jener Wahrheit verloren, die von unserer heiligen Idee dargestellt wird.
Wir beginnen, die Wirklichkeit ohne ihre Tiefendimension wahrzunehmen. Unsere Wahrnehmung der Realität wird unvollständig. Es mangelt uns an dem entscheidenden Verständnis, welches von unserer heiligen Idee repräsentiert wird. Die Art und Weise, wie wir diese begrenzte Sichtweise interpretieren, wird zu einer starren Vorstellung von der Realität – zu einer Täuschung, die ganz spezifisch zu unserem Punkt im Enneagramm gehört und unsere Fixierung genannt wird. Dieses Trugbild der Wirklichkeit und der menschlichen Natur tritt nun an die Stelle unserer heiligen Idee, und wir sehen nur mehr die Fixierungen (s. Kopfregion in Diagramm 2). Unsere Fixierung bildet die Basis, auf der ein vollständiger Persönlichkeitsstil entsteht, komplett mit bestimmten gedanklichen Vorurteilen, emotionalen Reaktionen und Verhaltensmustern. Nehmen wir an, dass Ihnen der Typus von Punkt Eins des Enneagramms entspricht. Dessen heilige Idee hat damit zu tun, die grundlegende Vollkommenheit, Güte und Richtigkeit von allem zu erkennen. Sie haben den frühkindlichen Kontaktverlust mit der Essenz also als einen Verlust dessen erlebt, was Sie selbst und die ganze Welt vollkommen macht. Das hat zu der tiefen inneren Überzeugung geführt, mit Ihnen und dem Rest der Wirklichkeit stimme irgendetwas nicht, zu der Fixierung, die im Diagramm Groll genannt wird. Dem entspricht eine innere emotionale Atmosphäre von Zorn über all die Falschheit und ein Verhaltensmuster, das versucht, die Dinge heil zu machen und wieder in Ordnung zu bringen.
Zu der Vorstellung, dass wir von Geburt an für eine bestimmte heilige Idee sensibilisiert sind, gehört auch ihre Entsprechung: Wir werden mit der Veranlagung für einen bestimmten Persönlichkeitstyp geboren. Die Enneagrammtheorie sagt also aus, dass wir nicht nur die Produkte unserer Konditionierung sind, sondern dass unsere Veranlagung uns dazu veranlasst, diese Konditionierung auf eine bestimmte Weise zu interpretieren. Psychologische Theorien haben sich von einer Seite des Spektrums – wonach unsere natürlichen Begabungen entscheiden, welchen Charakter wir entwickeln – zur anderen bewegt: zu dem Glauben, dass die in frühester Kindheit erfahrene Behandlung unseren Charakter bestimmt. Nun schwingt das Pendel wieder zurück; unser Charakter wird unseren genetischen Vorgaben zugeschrieben. Nach der Enneagrammtheorie wird unsere Persönlichkeit zu gleichen Teilen von unserer angeborenen Sensibilität (engl.: nature) für eine bestimmte heilige Idee und den Auswirkungen unserer Konditionierung (engl.: nurture) geprägt.
Jeder von uns ist also auf eine bestimmte Sichtweise der Realität eingestimmt, die seinem Punkt im Enneagramm entspricht; ganz gleich, ob er auf der Persönlichkeitsebene oder auf der Essenzebene agiert. Es scheint also angemessener, die neuerdings von Naranjo6 geprägten Bezeichnungen zu benutzen und von enneagrammatischen Typen oder Enneatypen zu sprechen, anstatt sich der früheren Begriffe Ego-Typen oder Fixierungen zu bedienen, die sich nur auf die Persönlichkeit beziehen. Anders ausgedrückt: Wenn wir völlig erleuchtet wären, gänzlich frei von den Verdunkelungen unserer Konditionierung, wäre unsere Empfindsamkeit für die Realität immer noch von der heiligen Idee unseres Enneagrammpunktes geprägt und wir würden den erleuchteten affektiven Zustand jenes Punktes – seine Tugend – stärker erfahren und manifestieren als die Tugend irgendeines anderen Punktes. Ob wir nun erwacht sind oder schlafen – unser Typus bleibt der gleiche.
Das Enneagramm der Persönlichkeit ist eine Landkarte, auf der sämtliche Funktionen des Ego oder der Persönlichkeit verzeichnet sind. Das bedeutet: Obwohl wir alle von Geburt an für eine bestimmte Idee sensibilisiert und mit einem bestimmten Enneatyp in Resonanz sind, tragen wir alle neun Typen in uns. Aus diesem Grund können die meisten Menschen alle Typen begreifen und ihre Dynamik nachvollziehen. Alle Typen sind demnach in uns angelegt, doch einer von ihnen ist besonders ausgeprägt, und seine grundlegende Täuschung über das Wesen der Realität bildet den Kern unserer Struktur.
Wenden wir uns nun wieder dem Enneagramm der Persönlichkeit in Diagramm 2 zu. Wir sehen in der Kopfregion die Fixierungen, die festen Vorstellungen oder Täuschungen über die Realität, die den Kern eines jeden Enneatyps bilden. Die Bezeichnungen am Rande dieses Enneagramms sind nicht identisch mit denen, die ich in meinem Text benutze – um Ichazo zu würdigen, habe ich seine ursprünglichen Versionen beibehalten7.
Das Enneagramm der Leidenschaften in der Herzgegend bezieht sich auf die charakteristische emotionale oder affektive Stimmungslage eines jeden Typs auf der Basis seiner Grundvorstellungen von der Realität, der Fixierungen. Diese emotionalen Qualitäten sind zwanghaft, reaktiv und geladen. Sie bilden eine Art Hintergrund für weitere emotionale Zustände – eine ständige, zwingende und für jeden Typ charakteristische Gefühlsstimmung.
Das korrespondierende Enneagramm der Tugenden in Diagramm 1 stellt die affektiven Zustände dar, die in Erscheinung treten, wenn die Perspektiven der heiligen Ideen integriert werden. Je objektiver wir werden, beziehungsweise je weiter sich unser Erfahrungsbereich über unseren subjektiven Film hinaus ausdehnt, desto mehr bringen sich die Tugenden in unserem Erleben und Handeln als affektive Stimmung oder Atmosphäre zum Ausdruck und treten an die Stelle der reaktiven Leidenschaften. Auf einer tieferen Ebene entspricht die unserem Enneagrammpunkt zugehörige Tugend genau der Eigenschaft, die wir brauchen, um uns objektiv so zu erleben, wie wir wirklich sind. Gleichzeitig entwickelt sich unsere spezifische Tugend in dem Maße, in dem wir uns selbst auf wahrhaftige und intime Weise erleben. Was das genau bedeutet, werde ich in den Kapiteln über die einzelnen Enneatypen noch erläutern.
Die Enneagramme der Triebe (in Diagramm 1 in unverfälschter, in Diagramm 2 in verfälschter oder verzerrter Ausprägung dargestellt) bedürfen einiger Erklärung. In Naranjos Theorie gibt es drei Triebe, von denen jeweils einer am deutlichsten ausgeprägt, also am „leidenschaftlichsten“ ist: den sozialen Trieb, den sexuellen Trieb und den Selbsterhaltungstrieb. In dem von unserem stärksten Trieb bestimmten Lebensbereich kommen die zu unserem Enneatyp gehörenden Leidenschaften am deutlichsten zum Tragen. Ein ausgeprägter Selbsterhaltungstrieb bringt ein verstärktes Sicherheits- und Überlebensinteresse mit sich, während ein ausgeprägter Sozialtrieb dazu führt, dass der soziale Status, Freundschaften und Besitztümer im Mittelpunkt stehen. Der ausgeprägte Sexualtrieb richtet unser Hauptinteresse auf intime Beziehungen. Jeder Enneatyp besitzt diese drei Untertypen, die sich jeweils auf einen der Triebe beziehen und der Persönlichkeit ihren spezifischen Stil geben. Es gibt also drei Formen oder Variationen eines jeden Typs, die ich im Kapitel über die Untertypen erforschen werde. Die entsprechenden Enneagramme im Diagramm 1 heißen einfach unverfälschte Instinkte, was darauf hindeutet, dass wir in diesen Lebensbereichen umso objektiver funktionieren, je mehr wir unsere Identifikation mit der Gesamtpersönlichkeit aufgelöst haben. Dann agieren wir in direktem Kontakt mit der augenblicklichen Realität, anstatt auf die Vergangenheit zu reagieren.
Zu Beginn dieses Buches erforschen wir, was von dem Dreieck mit den Punkten Neun, Sechs und Drei (dem inneren Dreieck des Enneagramms) dargestellt wird. Dieses innere Dreieck steht für den archetypischen Prozess des Kontaktverlustes mit dem Sein oder unserem wahren Wesen und der Entwicklung einer Ichstruktur oder Persönlichkeit und bildet damit die Basis für alle weiteren Typen. Weiterhin werden wir jeden der in Diagramm 3 dargestellten neun Enneatypen untersuchen, die ihm zugehörige heilige Idee beschreiben und sehen, wie durch deren Verlust ein jedes Persönlichkeitsmuster entsteht8. Wir werden auch die daraus resultierenden kognitiven, emotionalen und verhaltensspezifischen Eigenschaften sowie ihre jeweiligen psychodynamischen Tendenzen beleuchten. Ich hoffe, dass ich auf diese Weise ein Verständnis für den Prozess vermitteln kann, der all diesen Ausprägungen zugrunde liegt und mit dem primären Wahrnehmungsknick beginnt, welcher die Seele verdreht und die Erscheinungen eines jeden Enneatyps hervorbringt. Die Manifestationen der Persönlichkeit folgen ihrer eigenen Logik. Sie zu erkennen ist der erste Schritt zum Verstehen der eigentlichen Persönlichkeitsmerkmale.
In Anhang A finden alle, die nicht genau wissen, zu welchem Enneatyp sie gehören, verschiedene Möglichkeiten, ihren Typ zu erforschen. Den Enneatyp eines Menschen festzulegen erfordert große Kunstfertigkeit, eine ausführliche Kenntnis des Enneagramms und eine tiefe Vertrautheit mit Menschen, deren Typ recht sicher feststeht. Manches von dem, was ich gelernt und angewandt habe, um Menschen bei der Selbsteinschätzung zu helfen, mag in diesem Prozess hilfreich sein.
Ich werde die Typen in der Reihenfolge vorstellen, die der dynamischen Bewegung zwischen den Punkten entspricht, dem so genannten inneren Fluss des Enneagramms, der in Diagramm 5 vorgestellt und in Kapitel 11 behandelt wird. Es mag manche Leser oder Leserinnen reizen, sofort die Seiten aufzuschlagen, die seinem oder ihrem Enneatyp gewidmet sind, und nur diese Kapitel zu lesen. Ich empfehle jedoch nachdrücklich, die Beschreibungen der Typen in der Reihenfolge zu lesen, in der sie dargestellt sind. Der Grund dafür ist, dass jeder Typ die Weiterführung und Lösung des vorhergehenden darstellt und dass das Gesamtbild nicht deutlich werden kann, bevor man diese Wechselbeziehungen verstanden hat.
Alle, die schon andere Bücher über das Enneagramm kennen, werden feststellen, dass ich in meinen Typenbeschreibungen größtenteils die Vorzüge oder Funktionsabstufungen der Typen nicht berücksichtige. Die Autoren, welche die gesunden und gestörten Manifestationen eines jeden Typs darstellen, beschreiben damit höhere, gut funktionierende sowie niedere, funktionsgestörte Ichstrukturen. Aus psychologischer Sicht gesehen sind dies berechtigte und nützliche Unterscheidungen, doch wir wollen nicht vergessen, dass das Enneagramm der Persönlichkeit der Bauplan der Ichstruktur darstellt. Variationen im Muster machen die Gefängnismauern nicht weniger einschränkend. Ich möchte den Lesern dabei helfen, über diese Begrenzungen hinauszugehen anstatt sie mit ihrer Gefangenschaft zu versöhnen.
Auch mögen Ihnen die geschilderten Eigenschaften, emotionalen Zustände und Verhaltensweisen der Typen manchmal überzogen und jenseits des Normalen erscheinen. Es ist jedoch meine Erfahrung, dass selbst die Vernünftigsten von uns ziemlich verrückte Anteile haben, die uns umso stärker bewusst werden, je tiefer wir in unsere Seelen eintauchen. Das relative Vorherrschen dieser Extreme kann als Barometer für unsere geistige Gesundheit gelten – je häufiger sie vorkommen, desto rigider und deshalb auch fragiler ist unsere Persönlichkeitsstruktur. Dennoch haben die Bewusstseinsinhalte eines jeden Typs dieselbe Form und Beschaffenheit.
Oft unterscheidet sich das äußere Verhalten eines Typs von seiner tatsächlichen inneren Erfahrung. Die Vier zum Beispiel mag distanziert und überlegen erscheinen, sich im Inneren dagegen sozial unsicher fühlen und die Angst hegen, ausgeschlossen zu werden. Eine Acht tritt vielleicht einschüchternd und angriffslustig auf, während sie sich im Inneren davor fürchtet, schwach, ohnmächtig und hilflos zu sein. Ich habe den Versuch unternommen, die inneren Erfahrungen einiger Typen ebenso wie die Wirkung zu vermitteln, die sie auf andere haben. Diese Unvereinbarkeit mag bei einigen Leser/innen vielleicht den Eindruck hinterlassen, missverstanden oder kritisiert zu werden. Mir geht es jedoch nur darum, eine vollständige und abgerundete Beschreibung eines jeden Typs zu geben.
Meine gelegentlich lockere und humorvolle Haltung gegenüber den Einstellungen und Verhaltensweisen der verschiedenen Typen mögen manche als verletzend empfinden, aber das ist nicht meine Absicht. Es gibt eine feine Trennungslinie zwischen einer Haltung, welche die Persönlichkeit zu ernst nimmt und damit unbeabsichtigt unsere Identifikation mit ihr fördert, und ihrem Gegenteil, dem Mangel an Sensibilität ihren Manifestationen gegenüber. Ich habe versucht, mich mit Sorgfalt und Mitgefühl auf dieser Linie zu bewegen, was hoffentlich zu spüren ist.
Einige Bücher über das Enneagramm sprechen über die für einen jeweiligen Typ charakteristischen Eltern und typische Kindheit. Ich möchte deshalb meine Ansichten zum Thema Psychodynamik erläutern. Es scheint mir angemessener, die Sichtweisen zu beschreiben, welche die verschiedenen Enneatypen von ihren Eltern und ihren Kindheitsereignissen haben, als zu behaupten, dass dieses und jenes wirklich passiert sei. Da jeder Typ das Leben durch einen bestimmten Wahrnehmungsfilter erlebt, ist es logisch, dass es sich bei den Dingen, die damals im Vordergrund standen und die auch jetzt eine Vorrangstellung im Gedächtnis einnehmen, um jene Elterneigenschaften und Kindheitserlebnisse handelt, die mit dem Filter übereinstimmen. Wenn die Kinder einer Familie unterschiedlichen Enneatypen angehören, wird jedes dieselben Eltern durch eine bestimmte Linse erleben. Eine Vier wird sich von seiner oder ihrer Mutter beschämt und im Stich gelassen fühlen. Eine Fünf wird sie als überwältigend und hysterisch erleben. Ein Sechser wird sie unbeständig finden und so weiter, rund um das Enneagramm. Jeder Persönlichkeit ist eine charakteristische Unveränderlichkeit zu eigen, und obwohl jedes Kind dieselben Eltern in einem anderen Alter erlebt, werden sich diese Eltern nicht grundlegend ändern und zu völlig anderen Menschen werden. Die Behauptung, dass die Mutter eines spezifischen Typs bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen an den Tag gelegt hat und dass die Kindheit dieses Typs von bestimmten festgelegten Ereignissen geprägt war, ist deshalb ziemlich fragwürdig. Es ist mit Sicherheit passender, von der Deutung oder Sichtweise des jeweiligen Typs in Bezug auf seine Mutter, seinen Vater, seine Geschwister und seine Kindheitserlebnisse zu sprechen. Jedes Kind wird sich auf bestimmte Eigenschaften der Eltern und seiner Beziehung zu ihnen konzentrieren, auf bestimmte Situationen, die es aufgrund seiner vorgegebenen Empfindsamkeit so und nicht anders erlebt hat. Man mag argumentieren, dass ein jedes Kind bestimmte Aspekte der Elternpersönlichkeit und ihrer Beziehungsmodalitäten auf den Plan ruft und die Eltern deshalb für jedes Kind etwas andere Menschen sind. Bestenfalls besagt diese Sichtweise, dass die Prädispositionen und Empfindsamkeiten des Kindes zu einem gewissen Grad den Stil der Eltern bestimmen. Das Verhalten der Eltern bestimmt also nicht gänzlich die Persönlichkeit oder den Enneatyp des Kindes.
Um dem Leser ein Gefühl für einige Eigenschaften und den Gesamteindruck eines jeden Typs zu geben, habe ich bekannte Menschen als Beispiele gewählt. Ich möchte warnend vorausschicken, dass ich diese Menschen nicht persönlich kenne. Ich kann nicht mit Sicherheit behaupten, dass sie einem bestimmten Typ angehören. Meine Einschätzung basiert lediglich auf ihrer jeweiligen öffentlichen Persona.
Meiner Beschreibung eines jeden Typs habe ich untergeordnete Enneagramme beigefügt, die in Anhang B zu finden sind. Wenn ich auf diese untergeordneten Enneagramme Bezug nehme, kann es hilfreich sein, die entsprechenden Seiten aufzuschlagen und sich diese Diagramme anzuschauen. Bei den Fallen (Diagramm 9) handelt es sich um bestimmte Vorstellungen, die der betreffende Typ für die Lösung all seiner Probleme hält, die aber in Wahrheit seine Ablenkungsmanöver sind. Die Vermeidungen (Diagramm 10) stehen für bestimmte Gefühlszustände, die der entsprechende Typ unter allem Umständen vermeidet. Die Handlungen gegen das Selbst (Diagramm 11) zeigen auf, wie der jeweilige Typ seine eigene Seele unterminiert und angreift. Die Lügen (Diagramm 12) stehen für charakteristische Haltungen und Ausrichtungen, mit denen der betreffende Typ sich selbst und andere über die Wirklichkeit täuscht. Ich habe sie alle von Naranjo gelernt; nur das Enneagramm der Fallen stammt ursprünglich von Ichazo9.
Wir werden auch den von Almaas so genannten idealisierten Aspekt eines jeden Enneatyps untersuchen. Dem Sein sind Hunderte von Qualitäten – essenzielle Aspekte – zu eigen, aber jeder Enneatyp greift sich einen bestimmten heraus und idealisiert ihn. Diese spezifische Seinsqualität erscheint ihm als das Gegengift zu seinem Leiden und seinem Mangelgefühl. In Wirklichkeit ist sie eine Eigenschaft der Essenz, doch die Persönlichkeit schafft sich ihre eigene Nachahmung von ihr. Jeder Enneatyp strebt also nach den Eigenschaften seines idealisierten Aspekts und erschafft mit seinem Verhalten, seinen Zielen und seiner generellen Orientierung eine Art Reproduktion von ihm. Auch sucht jeder Typ nach Dingen, welche die Qualitäten dieses idealisierten Aspektes zu verkörpern scheinen. Die Persönlichkeit ist jedoch nie in der Lage, durch Imitation dieser Essenzqualität das innere Gefühl von Unvollkommenheit aufzulösen, das für den jeweiligen Typ charakteristisch ist. Das intensive innere Gefühl eines Mangels kann von nichts im Außen je gefüllt und durch nichts von außen je geheilt werden, ebenso wenig wie das innere Dilemma eines jeden Typs durch den Erwerb von Dingen gelöst werden kann, welche die erwünschte Essenzqualität verkörpern.
Ein Enneatyp Sechs zum Beispiel, der hauptsächlich unter einem Dauerzustand von Angst und Zweifel leidet, hält innere Unterstützung für das, was ihm fehlt. Also idealisiert er diesen Aspekt – seine charakteristischen Eigenschaften scheinen es wert, erworben zu werden. Die Sechser streben also nach innerer Festigkeit, Selbstvertrauen und Mut, jenen Eigenschaften, die ihnen fehlen. Sie ärgern sich über ihren eigenen Mangel an innerer Sicherheit und handeln oft so, als ob sie statt der Angst und dem Zweifel, von denen sie in Wirklichkeit erfüllt sind, die erwünschten Eigenschaften schon besäßen. Wenn wir das verstehen, können wir die typische Abwehrhaltung und Rebellion der Sechser als das erkennen, was sie wirklich sind: Versuche, eine Stärke zur Schau zu stellen, die sie im tiefsten Inneren gar nicht fühlen. Der Versuch, bestimmte Anteile unseres idealisierten Aspekts zu erwerben, ist an sich keine schlechte Sache, aber er wird uns nicht die Zufriedenheit bringen, die wir uns wünschen. Wie viele heroische Großtaten ein Sechser auch vollbringt – sein inneres Gefühl der Unsicherheit und der Angst verschwindet dadurch nicht. Wenn wir begreifen, in welchem Maße unser Versuch, die idealisierten Aspekte zu erlangen, unser Leben und unser Bewusstsein bestimmt, werden wir letztendlich auch herausfinden und schließlich erleben, was uns wirklich erfüllen kann: der Kontakt mit den eigentlichen Tiefen unser selbst.
Wenn wir den Begriff des idealisierten Aspektes noch um eine Dimension erweitern, kommen wir zu der direkten Beziehung zwischen dem idealisierten Aspekt und der heiligen Idee eines jeden Enneatyps. Wie schon erwähnt, stellt eine heilige Idee ein spezifisches Verständnis der Realität und der menschlichen Seele dar, zu dem wir im frühkindlichen Konditionierungsprozess den Kontakt verloren haben. Sie ist, wie schon festgestellt, kein Bewusstseinszustand. Der idealisierte Aspekt eines jeden Typs hingegen ist ein Bewusstseinszustand und scheint als solcher die Realitätsperspektive der jeweiligen heiligen Idee zu verkörpern. Jeder Enneatyp versucht also, sich durch das Erleben seines idealisierten Aspektes wieder mit seinem verloren gegangenen Verständnis von der Wirklichkeit zu verbinden. Das scheint nach folgender inneren Logik abzulaufen: Wenn ich diese bestimmte Eigenschaft hätte (zum Beispiel freundlich oder klar oder stark zu sein), würde ich mich vollständig fühlen.
Obiges Beispiel kann uns vielleicht helfen, diese komplexe Verkettung besser zu verstehen. Die Realitätswahrnehmung (heilige Idee), die dem Sechser fehlt, sieht im Sein unser inneres Fundament und unsere wahre Unterstützung. Ohne diese Wahrnehmung erscheint die Realität dem Sechser wie ein erschreckender Kampf ums Überleben, in dem er von potenziellen Feinden umgeben ist. Wenn wir wüssten, dass wir dieses innere Fundament besitzen, würden wir uns unterstützt, zuversichtlich und mutig fühlen – alles Eigenschaften des idealisierten Aspektes. In seinem Bemühen, sich mutig und angstfrei zu fühlen, versucht der Sechser genau das in seinem Erleben zu verkörpern, was die heilige Idee von Punkt Sechs beinhaltet: die Tatsache, dass unsere Existenz vom Sein getragen wird.
Am Ende eines jeden Kapitels, das sich mit einem Enneatyp beschäftigt, werde ich einige Stadien der inneren Arbeit erörtern und auf die Themen hinweisen, die ein jeder Typ durcharbeiten muss. Außerdem werde ich aufzeigen, dass die zugehörige Tugend sowohl eine Richtschnur für die innere Ausrichtung auf den jeweiligen Prozess als auch eine Eigenschaft darstellt, die sich verstärkt, je länger man an sich arbeitet. Im Anschluss an die Kapitel über die Typen werde ich Naranjos ursprüngliche Theorie über den inneren Fluss – die dynamische Beziehung zwischen den miteinander verbundenen Punkten im Enneagramm – behandeln und erweitern. Ich werde auch Almaas’ Lehre über eine der ursprünglichen Strukturen in der Seele, das innere Bild unser selbst als kleines Kind sowie ihre Beziehung zu den idealisierten Aspekten in unsere Betrachtungen einbeziehen. Die Arbeit mit diesem Material und seine Integration vervollständigen das Bild der Kernthemen, mit denen sich ein jeder Typ im Rahmen einer wirklich transformativen inneren Arbeit auseinandersetzen muss. Auch die Ausführungen am Ende eines jeden Kapitels werden dadurch erweitert.
Um unser Verständnis des Enneagramms abzurunden, werde ich im Schlusskapitel die triebhaften Untertypen vorstellen, von denen schon die Rede war, und die Arbeit mit den Flügeln, den Punkten zu beiden Seiten eines jeden Enneatyps, erörtern. Die den Kapiteln beigefügten Beschreibungen sind weder vollständig noch endgültig. Es handelt sich lediglich um Tore zur persönlichen Erforschung und um Hilfen zum besseren Verständnis dieser Facetten des Enneagramms.
Ein Wort über die Geschlechtspronomen: Viele Frauen nehmen an der althergebrachten Gewohnheit Anstoß, durchgängig er, ihm, ihn oder sein zu gebrauchen, aber die Alternative sie oder er, beziehungsweise er/sie macht das Lesen sehr mühsam. Ich habe mich deshalb entschieden, in der Beschreibung der Enneatypen die Pronomen abwechselnd zu benutzen. Bei einige Typen scheint es mehr Männern, bei anderen mehr Frauen zu geben, und ich habe die Pronomen entsprechend eingeteilt. Das soll allerdings nicht heißen, dass es bei den Zweien und Vieren zum Beispiel nur Frauen und bei den Sechsern und Achtern nur Männer gibt. In den Kapiteln über den inneren Fluss, die Untertypen und die Flügel habe ich dann einfach die entgegengesetzten Geschlechtspronomen verwendet. Diesen Wechsel halte ich für eine nicht unbedingt zufrieden stellende Lösung eines komplizierten Problems.
Bevor wir uns jetzt dem eigentlichen Material zuwenden, möchte ich eine Warnung aussprechen: Der hier präsentierte Stoff ist sehr machtvoll und muss mit größter Sorgfalt behandelt werden. Er kann zu bedeutenden Bewusstseinserweiterungen führen und auf der anderen Seite tief verletzen. Deshalb müssen wir in unserer Herangehensweise und Handhabung große Vorsicht walten lassen. Das Enneagramm macht Aspekte unser selbst und anderer bewusst, welche die Abwehrmechanismen der Persönlichkeit tunlichst zu verbergen trachten. Das mag zwiespältige Gefühle in uns hervorrufen, die von der Erleichterung darüber, dass das Verborgene offenbart wurde, bis zu einem tiefen Unbehagen reichen können. Es kann ziemlich beunruhigend sein, das, wofür wir uns gehalten haben, wirklich in großen Zügen zu durchschauen und sogar zu erkennen, dass unsere Erfahrungen unser selbst auf einer grundlegenden konzeptuellen Verzerrung beruhen. Wenn wir die heiligen Ideen wirklich erfahrend begreifen, müssen wir erkennen, wie wenig wir bislang in Einklang mit ihnen gelebt haben. Das Ausmaß unserer Entfremdung von unseren eigenen Tiefen wird offenbar. Doch ohne eine derartige Konfrontation ist wahre Veränderung nicht möglich.
Im Idealfall sollte das folgende Material uns helfen zu verstehen, wer wir zu sein glauben, damit wir anfangen können, die Knoten der Identifikation zu lösen. Es kann uns auch helfen, klarer zu verstehen, wie und warum andere so handeln, fühlen und denken, wie sie es tun, und damit unsere Herzen für ein mitfühlendes Verstehen öffnen. Diese Informationen sollen Bewusstsein und Entfaltung unterstützen. Sie können allerdings auch leicht von der Persönlichkeit benutzt werden, um sich auf verschiedene Arten selbst zu erhalten. Eine Möglichkeit ist, dass sie das Material als Grundlage nutzt, um sich selbst und andere zu verurteilen und dadurch ihre inneren Positionen von Richtig oder Falsch aufrechtzuerhalten. Es ist von immenser Wichtigkeit, das dargestellte Material nicht mit Werturteilen oder Selbsteinschätzungen zu überfrachten, so schwer das auch fallen mag. Das Material selbst ist neutral, aber wir können es auf eine Weise benutzen, die nicht neutral ist. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass wir unsere Identifikation mit einem bestimmten Enneatyp benutzen, um eine neue, verbesserte Identität für uns selbst zu schaffen. Das ist, als würden wir dem alten Inhalt eine neue und schickere Verpackung geben. In beiden Fällen entwickelt sich überhaupt nichts – nur unsere Persönlichkeit wird verstärkt. Das ist wahrscheinlich der Hauptgrund, warum das Enneagramm in den Mysterienschulen bis zum heutigen Tage nur mündlich überliefert wird.
Die Art und Weise, wie das Enneagramm der Persönlichkeit in diesem Buch betrachtet wird, ist zwar durch Ausführungen von Almaas und mir erweitert worden, bleibt aber dem ursprünglichen Geist und der Theorie treu, die ich von Naranjo übernommen habe. Ich habe dieses Buch in der Absicht verfasst, jenem Geist, der durch die Popularisierung des Materials größtenteils verloren gegangen ist, zum Ausdruck zu verhelfen und sowohl meinem ehemaligen Lehrer als auch der von ihm übermittelten Weisheit die Ehre zu erweisen. Darüber hinaus möchte ich das Enneagramm als spirituelles (und nicht nur als psychologisches) Instrument vorstellen. Vielleicht hat das Interesse, das in letzter Zeit durch die allgemeine Verbreitung der psychologischen Seite des Enneagramms entstanden ist, den Wunsch geweckt, mehr über seine tieferen Dimensionen zu erfahren. Und vielleicht kann diese Wissbegierde als ein Hinweis darauf gesehen werden, dass wir uns kollektiv an einem Punkt befinden, wo die Menschheit von einer größeren Verbreitung der Weisheit des Enneagramms profitieren kann.
Es ist meine Hoffnung, dass das Folgende in demselben Geist genutzt wird, in dem es geschrieben wurde: um das, was wir wirklich sind, voller Mitgefühl zu unterstützen. Beginnen wir also, die Schlösser unserer Gefangenschaft zu untersuchen, und möge die dadurch gewonnene Erkenntnis uns befreien.
Das Enneagramm ist eine Figur, die aus einem inneren Dreieck mit den Punkten Neun, Sechs und Drei sowie einer äußeren Form besteht, welche die Punkte Eins, Vier, Zwei, Acht, Fünf und Sieben verbindet. Diese beiden Formen stehen nicht miteinander in Verbindung (siehe Diagramm 4), wodurch das innere Dreieck eine gewisse Eigenständigkeit besitzt. Auf der Ebene des Enneagramms der Persönlichkeit stellt das innere Dreieck auslösende Faktoren und Stadien des archetypischen Prozesses dar, in welchem wir den Kontakt zu unserem grundlegenden oder essenziellen Wesen verlieren und schließlich eine Ichstruktur entwickeln. Wenn wir uns selbst frei von allen vergangenen Einflüssen wahrnehmen, sind wir identisch mit unserem essenziellen Wesen, unserem angeborenen und unkonditionierten Bewusstseinszustand. Es ist unser frühkindlicher Zustand, der mit der jeweiligen Eigenart unserer Seele wie Freundlichkeit, Aufgewecktheit, Robustheit und so weiter korrespondiert. Als Kleinkinder können wir unsere Erfahrung allerdings nicht als solche erkennen, weil wir noch nicht zur Selbstreflexion fähig sind.
Der Prozess, in dessen Verlauf wir die Verbindung zu unserem wahren Wesen verlieren, ist universal: Jeder, der ein Ich entwickelt, macht ihn durch – im Grunde also jeder Mensch auf diesem Planeten, es sei denn, er wird als Heiliger geboren oder als Narr, das heißt als jemand, der keine Ichstruktur entwickelt. Jeder Enneatyp des Dreiecks „spezialisiert“ sich sozusagen auf einen der drei archetypischen Verlustmomente und entwickelt sich in dessen Umfeld. Genauso könnte man sagen, dass die drei Typen die drei entsprechenden Phasen im Prozess der Ich-Entwicklung beleuchten und präzisieren, während die restlichen Punkte des Enneagramms diesen Prozess weiterverfolgen. Indem wir den durch das innere Dreieck dargestellten Prozess verstehen, gewinnen wir nicht nur tiefere Einsichten in das Enneagramm der Persönlichkeit, sondern erkennen auch, was wir in uns konfrontieren müssen, um uns wieder mit unserem essenziellen Wesen zu verbinden. Da ich hier die Phasen eines universellen Prozesses und nicht die drei Enneatypen als solche beschreibe, werde ich mich auf Punkt Neun, Sechs und Drei beziehen, anstatt die Namen der zugehörigen Enneatypen zu verwenden.
Diagramm 4
DASINNERE DREIECK
Wie seine Position an der Spitze des Enneagramms schon andeutet, repräsentiert Punkt Neun das grundlegende Prinzip, welches die Ich-Entwicklung einleitet, den eigentlichen Verlust des Kontakts zu unserem wahren Wesen. Dieser Kontaktverlust wird in der spirituellen Literatur oft als Schlaf bezeichnet, der einen Zustand von Unwissen und Dunkelheit mit sich bringt. Der Prozess, in dem wir den Kontakt zu unseren angeborenen und noch nicht konditionierten Anteilen verlieren, vollzieht sich als allmählicher Vorgang während der ersten Lebensjahre, und im Alter von vier Jahren haben wir meist schon keinen bewussten Zugang zur Essenz mehr. Und damit, dass wir uns unseres wahren Wesens nicht mehr bewusst sind, beginnt der Bau des Gerüstes, der Aufbau unserer Ichstruktur.
Für unsere spirituelle Entwicklung ist der Aufbau dieser Struktur eine notwendige Vorbedingung, da das sich selbst reflektierende Bewusstsein eine Errungenschaft des Ich ist. Ohne es könnten wir keine Wahrnehmung unseres eigenen Bewusstseins entwickeln. Verschiedene Traditionen erklären diese anscheinend unvermeidliche und offensichtlich beklagenswerte Entwicklung auf ganz unterschiedliche Weise. In ihrem Kern bleibt sie ein Geheimnis, und unsere Vorstellungen über die Gründe, die dazu geführt haben, sind letztendlich bedeutungslos. Es ist einfach so wie es ist, und wir können uns entweder mit unserer Entfremdung auseinandersetzen oder weiterschlafen, ohne sie zu erkennen.
Es gibt eine Anzahl von Faktoren, die dafür verantwortlich sind, dass wir den Kontakt zur Essenz verlieren. Der erste hat damit zu tun, dass wir uns mit unserem Körper identifizieren und ihn für das halten, was oder wer wir sind. Nach Heinz Hartmann, dem Vater der Ich-Psychologie und einem der bedeutendsten post-freudianischen Psychoanalytiker, kann man unser Bewusstsein kurz nach der Geburt unter anderem als undifferenzierte Matrix beschreiben, in der die psychologischen Strukturen, die erst später in Erscheinung treten – das Ich, das Über-Ich und die Triebe –, weder eine Form angenommen haben noch sich voneinander unterscheiden. Rene Spitz, in etwa ein Zeitgenosse Hartmanns und einer der ersten, der sich der analytischen Erforschung der Mutter-Kind-Beziehung widmete, erweiterte dieses Konzept um den Begriff der Nichtdifferenziertheit, wo nicht zwischen Innen und Außen, dem Selbst und dem Anderen, Psyche und Soma unterschieden wird und demnach auch keine Wahrnehmung (kein Erkennen) stattfindet.