Der Wiener Spionagezirkel - Thomas Riegler - E-Book

Der Wiener Spionagezirkel E-Book

Thomas Riegler

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Beschreibung

Österreichische EmigrantInnen spielten in den 1930er- und 1940er-Jahren Hauptrollen im internationalen Spionagegeschehen. Der Historiker Thomas Riegler begibt sich auf die Spuren von AgentInnen wie Engelbert Broda, Arnold Deutsch, Alice ("Litzi") Friedmann, Edith Tudor-Hart (geborene Suschitzy) und Peter Smolka, die dem sowjetischen Geheimdienst und der Kommunistischen Internationale (Komintern) wichtige Unterstützung gaben. Dieser "Wiener Spionagezirkel" leistete Vorarbeit für einen der größten Spionageskandale im Kalten Krieg. Der in Wien um die Jahrhundertwende geborene Arnold Deutsch gilt bis heute als fleißigster Agentenführer aller Zeiten. Unter dem Decknamen "Otto" rekrutierte er in London zwischen 1934 und 1937 insgesamt 20 Mitstreiter. Zur Berühmtheit gelangte einer seiner "Fänge", der Brite Kim Philby. Während eines Wien-Aufenthalts 1933/34 begeisterte sich Philby erstmals für die kommunistische Sache. Ausschlaggebend war seine Liebesbeziehung mit der Aktivistin "Litzi" Friedmann und die Tatsache, dass sie gemeinsam die Februarkämpfe 1934 durchlebten. Später infiltrierte er den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 und wurde erst 1963 endgültig enttarnt. Auch Engelbert Broda, der Bruder des langjährigen österreichischen Justizministers, spionierte im britischen Exil als bedeutender Physiker für die Sow­jetunion. Peter Smolka lieferte dem Autor Graham Greene wichtige Anstöße für den "Dritten Mann". Das Buch schließt eine Lücke in der zeithistorischen Betrachtung und präsentiert neue Erkenntnisse aus österreichischen, britischen und deutschen Archiven.

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Thomas RieglerDer Wiener Spionagezirkel

Kim Philby, österreichische Emigranten und der sowjetische Geheimdienst

  

© 2024 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

Umschlaggestaltung: Sophie Gudenus

ISBN: 978-3-85371-922-0(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-536-9)

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Über den Autor

Thomas Riegler, Jahrgang 1977, studierte Geschichte und Politikwissenschaften an den Universitäten Wien und Edinburgh. Seit 2016 Affiliate Researcher am Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies (ACIPSS). Zu seinen Veröffentlichungen zählt unter anderem: „Österreichs geheime Dienste. Eine neue Geschichte“ (Wien 2022).

Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Die »Bolschewikenzentrale«: Wien als Zentrum sowjetischer Spionage
Alles begann in Wien – Litzi und Kim
Der beste Agentenführer aller Zeiten: Arnold Deutsch
Die Talentsucherin: Edith Tudor-Hart
Der Atomspion: Engelbert Broda
Der Propagandist: Peter Smolka
Sowjetisch-russische Spionage in Österreich von 1945 bis heute
Literaturverzeichnis

Einleitung

»Wir haben nicht viel erreicht, um den Lauf der Geschichte zu verändern, oder?« Zu diesem bitteren Schluss kommen zwei gealterte Spione in Silverview, einem Romanfragment des britischen Schriftstellers John Le Carré. Tatsächlich haben Geheimdienste selten entscheidenden Einfluss auf den Gang weltpolitischer Ereignisse ausgeübt. Es gibt aber auch Beispiele für das Gegenteil. So spielten österreichische Emigrantinnen und Emigranten in den 1930er- und 1940er-Jahren eine große Rolle in der Geschichte der Spionage: Engelbert Broda, Arnold Deutsch, Alice (»Litzi«) Friedmann, Edith Tudor-Hart (geborene Suschitzy) und Peter Smolka leisteten dem sowjetischen Geheimdienst und der Kommunistischen Internationalen (Komintern) in verschiedenen Rollen Unterstützung. Rückblickend kann man von einem Wiener Spionagezirkel sprechen.

Speziell Deutsch gilt als einer der größten Agentenführer aller Zeiten. Unter dem Decknamen »Otto« rekrutierte er in London 1934−1937 20 Agenten. Der wichtigste war Kim Philby, der zum prominentesten Doppelspion des Kalten Krieges wurde. Er infiltrierte den britischen Auslandsgeheimdienst SecretIntelligenceService (SIS, besser bekannt als MI6) und wurde erst 1963 enttarnt. Philbys Anwerbung geschah auf Empfehlung von Tudor-Hart, die mit Broda auch einen wissenschaftlichen Mitarbeiter am anglo-amerikanischen Atomwaffenprojekt für den sowjetischen Geheimdienst gewann. Der Bruder des österreichischen Justizministers Christian Broda sollte nach der Rückkehr aus dem Exil 1945 einer der bedeutendsten Physiker des Landes und erst Jahrzehnte nach seinem Tod im Jahr 1983 enttarnt werden.

Philby wiederum hatte sich während eines Wien-Aufenthalts 1933/34 zum ersten Mal für die kommunistische Sache begeistert. Ausschlaggebend war seine Liebesbeziehung mit der Aktivistin »Litzi« Friedmann und die Tatsache, dass sie beide die Februarkämpfe 1934 durchlebten. Auch wenn Philby nicht schon in Wien rekrutiert wurde, »trug die ›österreichische Verbindung‹ doch entscheidend dazu bei, dass er mit dem sowjetischen Geheimdienst in Kontakt kam«.1 Von Philby bekam Deutsch eine Liste mit weiteren passenden Kandidaten. Darunter waren Donald Maclean, Antony Blunt und Guy Burgess. Gemeinsam mit Anthony Blunt und John Cairncross, bildeten sie den Agentenring der »Cambridge Five«.

Smolka wiederum war nicht nur ein Bekannter von Friedmann, sondern wurde von Philby rekrutiert. Als Spezialist für »aktive Maßnahmen«, also Beeinflussungsstrategien, besetzte Smolka im Zweiten Weltkrieg eine führende Stelle im britischen Informationsministerium und trat in der Öffentlichkeit für die Allianz Großbritanniens mit der Sowjetunion ein. Nach seiner Rückkehr nach Wien war Smolka eine der wichtigsten Quellen von Graham Greenes Hintergrundrecherche für die Romanvorlage und das Drehbuch zu Der dritte Mann. In diesem Filmklassiker von 1949 spiegelte sich zudem Philbys Vergangenheit wider.

Während Philbys Geschichte durch zahllose Publikationen gut dokumentiert ist, wird die zentrale Bedeutung dieses Spionage-Rings von österreichischen Emigrantinnen und Emigranten noch immer wenig reflektiert.2 Dabei war die Rekrutierung von Philby und in weiterer Folge der anderen Cambridge Five eine der erfolgreichsten Missionen in der gesamten Spionagegeschichte.3

Die Biografien von Engelbert Broda, Arnold Deutsch, Alice Friedmann, Edith Tudor-Hart und Peter Smolka, die alle in Wien aufwuchsen und politisch sozialisiert wurden, sind untrennbar mit dem Kontext des RotenWien und der spannungsgeladenen Zwischenkriegszeit in Österreich verbunden. Das Ende des Ersten Weltkriegs und der Zusammenbruch der Donaumonarchie 1918 hatten einen traumatischen Einschnitt markiert. Zwischen 1914 und 1920 ging die EinwohnerInnenzahl Wiens von 2,2 Millionen auf 1,84 Millionen zurück. Innerhalb weniger Jahre verlor die Stadt jede sechste Bewohnerin und jeden sechsten Bewohner.4 Gleichzeitig stellte das Wien der 1920er- und frühen 1930er-Jahre den Schauplatz eines »der außergewöhnlichsten, kreativsten und mutigsten kommunalen Experimente der neueren europäischen Geschichte« dar, so der Historiker Wolfgang Maderthaner.5 Zwischen 1919 und 1934 wurde Wien nämlich mit absoluter sozialdemokratischer Mehrheit unter den Bürgermeistern Jakob Reumann und Karl Seitz verwaltet. Das war die Zeit des RotenWienund seiner politischen Schwerpunkte soziale Fürsorge, kommunaler Wohnbau und Schulreform. Diese Politik lief auf eine »Veralltäglichung der Revolution durch Evolution« hinaus. Nicht umsonst meinte der spätere russische Revolutionär Leo Trotzki rückblickend über Diskussionsrunden mit sozialdemokratischen Parteiführern wie Karl Renner, Friedrich Adler und Otto Bauer: »Das waren sehr gebildete Menschen, die auf verschiedenen Gebieten mehr wussten als ich. Ich habe mit lebhaftestem, man kann schon sagen, mit ehrfurchtsvollem Interesse ihrer Unterhaltung im Café ›Zentral‹ zugehört. Doch schon sehr bald gesellte sich zu meiner Aufmerksamkeit ein Erstaunen. Diese Menschen waren keine Revolutionäre.«6

In der Gesundheits- und Sozialpolitik verschrieb sich das Rote Wien dem Ziel einer radikalen Senkung der Säuglings-, Kinder- und Tuberkulosesterblichkeit. International viel Beachtung fanden die Errungenschaften im sozialen Wohnbau. Zwischen 1925 und 1933 entstanden 382 Gemeindebauten mit rund 60.000 Wohnungen. Eine progressive Steuer auf Wohnungseigentum ermöglichte die Finanzierung. Kernprinzip der Bildungspolitik wiederum war eine »Pädagogik vom Kinde aus«, die sich auf Arbeitsunterricht, Gesamtunterricht und Bodenständigkeit stützte. Dass die Sozialausgaben zwischen 1924 und 1932 bei rund 60 Prozent der Gesamtausgaben lagen, verdeutlicht die zentrale Priorität, den Lebensstandard und die Wohnqualität der Mehrheit der Wiener Bevölkerung zu verbessern.7

Am Erfolg des Roten Wien und der Sozialdemokratie waren viele Jüdinnen und Juden beteiligt. Sie standen überhaupt an der Spitze vieler gesellschaftlicher, kultureller und politischer Entwicklungen. Zwischen 1867 und 1936 wuchs der jüdische Bevölkerungsanteil von 6000 registrierten Jüdinnen und Juden auf 180.000. Das waren 10 Prozent aller in Wien lebenden Menschen. In Europa verzeichneten nur Warschau und Budapest höhere Werte.8 Jüdinnen und Juden reagierten unterschiedlich auf die gesellschaftlichen und politischen Krisen nach dem Ersten Weltkrieg. Manche mit der Hinwendung zur Tradition, andere wandten sich von ihrem Jüdischsein kategorisch ab und schufen neue, allumfassende politische und kulturelle Identitäten.9

Deutsch, Friedmann, Tudor-Hart und Smolka standen ganz für diesen Typus von jungen Leuten, die ihrer jüdischen Identität keine Bedeutung zumaßen (Broda hatte jüdische Wurzeln – seine Großeltern väterlicherseits waren vom Judentum zum Katholizismus konvertiert). Umso mehr begeisterten sie sich für säkulare, politische Ideen, die Modernisierung, eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und den Bruch mit repressiven bürgerlichen Normen verhießen. Hilde Oppenheim, die später den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ), Johann Koplenig, heiratete, meinte rückblickend: »Die Emanzipation hatte nach jahrhundertelanger Unterdrückung den Juden die Möglichkeit gegeben, sich in der Gesellschaft ihren Fähigkeiten entsprechend zu integrieren und sich Positionen zu verschaffen. Es ist daher verständlich, dass sich gerade von ihnen viele an der Stelle der Armen und Unterdrücken stellten, um in der Arbeiterbewegung für eine Welt ohne Not und Unterdrückung zu kämpfen.«10

Ein weiterer wichtiger Faktor, der Jüdinnen und Juden für den Kommunismus begeisterte, war der Antisemitismus, der ihnen entgegenschlug. Das Zusammenspiel aus ökonomischer Misere, restriktiven Gesetzen und gewalttätigen Pogromen, die das Leben der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa Anfang des 20. Jahrhunderts bestimmte, machte aus vielen von ihnen überzeugte Revolutionäre.11 In Österreich war der Antisemitismus bereits in den 1920er-Jahren institutionalisiert und Jüdinnen und Juden von den obersten Ämtern des öffentlichen Dienstes und der Regierung ausgeschlossen worden.12 Somit gab es neben jenen, die sich für die Sozialdemokratie begeisterten, auch viele, die der Meinung waren, dass das reformistische Konzept des RotenWien nicht radikal genug sei, um die herrschende Ungleichheit, den Antisemitismus und die großen sozialen Probleme zu bewältigen. Die Ideologie des Kommunismus bot hier weitergehende Antworten und Orientierung. Und nachdem die Bolschewiki 1917 in Russland die zaristische Herrschaft gestürzt und 1922 die Sowjetunion errichtet hatten, gab es auch ein konkretes Anschauungsbeispiel, von dem man lernen konnte, wie sich angeblich das »Paradies auf Erden« verwirklichen ließe.

Das Rote Wien dagegen geriet im Verlauf der 1920er-Jahre immer mehr in Konflikt mit der Bundesregierung und den übrigen Bundesländern, die von konservativ-katholischen Kräften dominiert wurden. Die Sozialdemokratie war nur bis 1920 an der Bundesregierung beteiligt und danach durchgehend in Opposition. Sie konnte aber im Durchschnitt rund 40 % der Stimmen für sich gewinnen und ging aus der letzten freien Wahl vom 9. November 1930 als stimmenstärkste Partei hervor. Infolge der voranschreitenden Polarisierung inmitten einer sozialen und ökonomischen Dauerkrise bildeten die großen Parteien eigene Wehrverbände: Auf Seiten der Sozialdemokratie war das der Republikanische Schutzbund, bei den Christlichsozialen die Heimwehr.

Ab Ende der 1920er-Jahre kam es immer öfter zu gewalttätigen Auseinandersetzungen wie den Schattendorf-Morden und dem darauffolgenden Sturm auf den Justizpalast (1927). Gleichzeitig wurde die liberale Demokratie schrittweise beseitigt. 1933 verhinderte Bundeskanzler Engelbert Dollfuß das Zusammentreten des Parlaments mit Polizeigewalt. Er regierte nun autoritär mittels Notverordnungen auf Grundlage des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes. Am 26. Mai 1933 wurde die KPÖ verboten und in die Illegalität gedrängt. Es kam zur Einschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit und der Aufhebung des Streikrechts.

Das Verbot und die Entwaffnung des Schutzbundes samt provokativer Verhaftungswellen führte schließlich zwischen 12. und 15. Februar 1934 zum Bürgerkrieg. Der Aufstand des Schutzbundes war schlecht vorbereitet und verlief unkoordiniert, was es Polizei, Bundesheer und Heimwehr relativ leicht machte, Widerstandsnester nacheinander niederzukämpfen. Philby und Friedmann durchlebten diese schicksalshaften Tage und leisteten Schutzbündlern Unterstützung und Fluchthilfe. Eine prägende Erfahrung für den jungen Briten.

Dollfuß versuchte, mit einem nach italienischem Vorbild ausgerichteten Austrofaschismus den Einfluss des Nationalsozialismus zurückzudrängen. Doch er scheiterte und wurde im Juli 1934 bei einem Putschversuch ermordet. Sein Nachfolger Kurt Schuschnigg setzte den diktatorischen Kurs fort, konnte aber der Zersetzung von innen durch die heimischen illegalen Nationalsozialisten und dem Druck von außen durch Nazi-Deutschland nicht widerstehen. Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht, dem ein Aufstand der illegalen Nazis vorangegangen war, sowie der »Anschluss« beendeten die Eigenstaatlichkeit Österreichs im März 1938.13

Die wachsende Bedrohung durch den Nationalsozialismus war ein wichtiger Grund dafür, dass sich viele politisch aktive Jüdinnen und Juden dem Kommunismus zuwandten. Galt doch die Sowjetunion als einzige wirkliche antifaschistische Kraft, während manche der bürgerlichen Parteien bereit waren, Bündnisse mit der extremen Rechten einzugehen. Der Hitler-Stalin-Pakt (1939) sollte bei den KommunistInnen zu einer schweren Vertrauenskrise führen, die jedoch bald vom opferreichen Widerstand der Sowjetunion nach dem deutschen Überfall 1941 überstrahlt wurde. Der bedrängten UdSSR beizustehen war jedenfalls neben der ideologischen Überzeugung das stärkste Motiv für Broda, Deutsch, Friedmann, Smolka, Tudor-Hart sowie die Cambridge Five. So sagte der frühere sowjetische Geheimdienstoffizier Igor Prelin gemünzt auf Tudor-Hart aus: »Edith war nicht die einzige, die aus Idealismus und ohne Bezahlung gearbeitet hat. Praktisch das gesamte Netzwerk des sowjetischen Aufklärungsdienstes diente der Sowjetunion aus rein ideologischen Gründen. Alle Antifaschisten.«14

Was im Falle der Cambridge Five noch hinzukam: Sie begriffen sich nicht als Agenten im Dienst der Sowjetunion, sondern als Akteure im Kampf gegen den Faschismus und britischen Imperialismus im Ausland bzw. für Wandel im eigenen Land, wo einige von ihnen als Homosexuelle mit strengen Strafen bedroht wurden. Von den Zuständen in der stalinistischen Sowjetunion hatten die Cambridge Five keine Ahnung.15 Genauso wenig wie Tudor-Hart, die ebenfalls nie dort gewesen war. Auch Philby lernte die Lebensrealität in der UdSSR erst kennen, als er sich 1963 hinter den »Eisernen Vorhang« absetzte. Broda und Smolka kannten die Sowjetunion zumindest von touristischen und dienstlichen Aufenthalten. Nur Deutsch hatte als ziviler Angestellter des sowjetischen Geheimdiensts einen intimen Einblick. Er erlebte die schlimmsten Jahre der stalinistischen Säuberungen mit, ehe er 1942 angeblich bei einem Schiffsuntergang ums Leben kam.

Die Erfahrung der Emigration war noch ein weiteres Moment, dass alle der hier geschilderten Biografien miteinander verbindet. So wie viele österreichische Jüdinnen und Juden waren Broda, Deutsch, Friedmann, Tudor-Hart und Smolka bereits vor dem »Anschluss« aus Österreich emigriert. Ihr Ziel lautete Großbritannien. Ab 1933 und verstärkt nach dem Februar 1934 kamen im Zuge der politischen Verfolgungen durch den Austrofaschismus die ersten österreichischen Flüchtlinge nach Großbritannien. Dort fanden insgesamt 27.293 verfolgte österreichische JüdInnen Aufnahme. Dazu kamen noch die nicht-jüdischen, aus politischen und anderweitigen Gründen Verfolgten und jene Personen, die in dem von Nazi-Deutschland besetzten Österreich nicht mehr bleiben wollten. Ein Teil der jüdischen Flüchtlinge und der überwiegende Teil der politisch verfolgten ÖsterreicherInnen rief in Großbritannien mit dem Austrian Centre und dem Free Austrian Movement (FAM) die größte österreichische Exilbewegung überhaupt ins Leben.16

Am 15. und 16. März 1939 fand die Eröffnung des Austrian Centre in London, Westbourne Terrace 124, statt. Diese Einrichtung stand allen österreichischen Emigranten als Anlaufstelle zur Verfügung. In diesem Zentrum befanden sich eine Informations- und Beratungsstelle der Austrian Self-Aid, eine Agentur für Hausgehilfinnen, eine Arbeitsvermittlungsstelle und ab Dezember 1939 eine Herberge (Hostel). Später gab es eine Bibliothek, Bildungs- und Fortbildungskurse, Vorlesungen und Vorträge sowie gesellige Zusammenkünfte. Besonderer Beliebtheit erfreute sich die Kantine, welche zunächst über drei Speiseräume und eine Küche verfügte. Hinzu kamen noch die im August 1939 eröffneten Werkstätten. Im Juli 1939 hatte das Austrian Centre bereits 1500 Mitglieder, im März 1944 über 3500. Insgesamt gehörten im Laufe der Zeit bis Kriegsende etwa 7500 Geflüchtete dem Zentrum als eingeschriebene Mitglieder an.17 Heimkehrer aus den Reihen des Austrian Centre und des FAM sollten später keine entscheidende Rolle in der österreichischen Nachkriegspolitik spielen. Insofern bestand die Bedeutung des Austrian Centre hauptsächlich in der Arbeit für seine Mitglieder in der Emigration.18

Gedenktafel für das Austrian Centre am ehemaligen Sitz in der Westbourne Terrace 124

Das Austrian Centre war die erfolgreichste Organisation, die von Emigrantinnen und Emigranten gegründet wurde – in Bezug auf die Zahl der Mitglieder und die Einrichtungen sowie Dienstleistungen, mit denen es aufwartete. Anfänglich stand ihm ein Komitee vor, in dem ein breites Spektrum an politischen Einstellungen vertreten war.19 Mit der Zeit allerdings wurde der kommunistische Einfluss unübersehbar – ebenso wie Verbindungen zu anderen Emigrantengruppen.20 Die Einrichtung war dem britischen Inlandsgeheimdienst Secret Service (MI5) dementsprechend suspekt und galt als Fokus kommunistischer Aktivität. Allmählich übernahmen linksgerichtete Emigranten das Austrian Centre, was damit zu tun hatte, dass diese am aktivsten und politisch diszipliniert waren.21 Laut der Historikerin Charmain Brinson lässt es sich nicht leugnen, dass das Austrian Centre »in gewisser Weise« zur Tarnung kommunistischer Aktivitäten diente. So hielt man die Augen nach potenziellem Kaderpersonal für exklusivere Parteiorganisationen offen, wie den konspirativ agierenden Kommunistischen Jugendverband. Die in Großbritannien agierende Exil-KPÖ vertrat unter der Führung von Hans Winterberg allerdings einen moderaten Kurs. Ihre Ziele – die Formierung einer nationalen Front gegen Hitler und die Wiederherstellung eines freien Österreichs – wurden weitgehend akzeptiert.22

Der MI5 aber blieb skeptisch. 1941 hieß es in einem Bericht, dass die KPÖ ihren Einfluss ausgedehnt habe, »indem sie spezielle Sektionen geschaffen hat […] für das Austrian Centre, das Bloomsbury House, den Czech Trust und den Council of Austrians. Das Geschäft all dieser Sektionen ist es, darüber informiert zu sein, was in diesen verschiedenen Organisationen passiert und sicherzustellen, dass sie eine einheitliche Parteipolitik durchführen.«23 Die kultivierte, gebildete und gut gekleidete Eva Kolmer war Generalsekretärin des Austrian Centre und des Free Austrian Movement, des 1941 gegründeten Dachverbands für sämtliche in Großbritannien zuvor bestehende österreichische Exilorganisationen. Kolmer war innerhalb des britischen Establishments ausgezeichnet vernetzt. Der MI5 schaffte es nie, genügend Beweise gegen die überzeugte Kommunistin zu sammeln. Der MI5-Offizier William Robson-Scott nannte sie anerkennend »die große Eva« oder »die große Lady«.24

Der Geheimdienst gelangte aber auch an ein Dokument, das wahrscheinlich vom Austrian Refugee Commitee herausgegeben wurde. Es zeigte die Anstrengungen, die zumindest ein Teil der Flüchtlinge unternehmen würde, um das »gute Benehmen« ihrer Landsleute sicherzustellen. Unter dem Titel »Österreicher in England« wurde eine Reihe an Verhaltensregeln zusammengefasst: »Die Österreicher sind immer willkommene Besucher in fremden Ländern gewesen. Ihre Höflichkeit, Fähigkeiten etc. wurden stets geschätzt und diese Freundlichkeit ging während des Krieges nicht verloren. Heute allerdings ist diese Beziehung gefährdet. Welle auf Welle von Flüchtlingen suchen um Asyl an und es ist von größter Wichtigkeit, dass Österreichs Name über jeden Zweifel erhaben bleibt. Wir sollten darauf Acht geben, uns bei den zuständigen Behörden zu registrieren; darauf achten, uns mit der Kritik an der Politik, der Religion und den Gebräuchen des Landes, das uns Gastfreundschaft schenkt, zurückzuhalten. Wir müssen es versuchen und Englisch lernen. Wir müssen einander helfen, begreifen, dass wir miteinander verbunden sind durch unser gemeinsames Vaterland und durch unsere Opfer. Am wichtigsten ist, dass wir den besten Traditionen Österreichs treu bleiben und so die Sympathie unserer Gastgeber sicherstellen.«25

Der Sowjetkommunismus wurde in Großbritannien als eminente Bedrohung der nationalen Sicherheit wahrgenommen. Hatte doch auch der Revolutionsführer und Staatsgründer der UdSSR, Wladimir Lenin, seinerseits am 8. November 1917 das Vereinigte Königreich als den »größten Feind« bezeichnet.26 Von 1917 bis 1920 versuchte der MI6, das Seine zu einem Sturz der bolschewistischen Machthaber beizutragen.27 Als dies nichts fruchtete, nahm man 1924 diplomatische Beziehungen auf. Doch dieses Tauwetter währte nicht lange. Bereits 1924 sorgte ein gefälschter Brief des Komintern-Vorsitzenden Grigori Sinowjew an politische Verbündete am Rand der Labour Party für Aufregung.28 Am 12. Mai 1927 kam es zur Durchsuchung der sowjetischen Handelsagentur ARCOS und infolgedessen zur Ausweisung verdächtiger Geheimdienstmitarbeiter. Dies war auch der Anlass, die Beziehungen wieder abzubrechen.29 Schon 1926 befand der Permanent Under-Secretary of State, William Tyrell, das Vereinigte Königreich sei mit Russland »praktisch im Krieg«. Die Sowjetunion würde auf friedliche Unterwanderung setzen und andernorts Revolutionen anzetteln, um so der kommerziellen Prosperität des britischen Empires den Boden zu entziehen. Mehr als jedes andere Land griff die UdSSR mitten in Friedenszeiten britische Interessen an, was Ängste bezüglich eines Zusammenhangs zwischen internen und auswärtigen Bedrohungen nährte.30

Für die Abwehr der »roten Gefahr« war ab 1931 der MI5 federführend zuständig – unterstützt von Scotland Yard und der Special Branch, auf die der Geheimdienst für exekutive Maßnahmen zurückgreifen musste. Die Communist Party of Great Britain (CPGB) stand ab ihrer Gründung (1920) unter Überwachung. In der Zwischenkriegszeit sollte der MI5 für kein anderes Ziel so viele Ressourcen einsetzen wie für die »Überwachung und Durchleuchtung der CPGB«.31 Noch in den 1920er-Jahren wurden zu bekannten und verdächtigten Kommunistinnen und Kommunisten umfangreiche Dossiers angelegt.32 Gleichzeitig durchlief der MI5 eine tiefe Krise: Nach einer Hochphase während des Ersten Weltkrieges war der Personalstand bis 1920 um 80 Prozent gekürzt worden. 1937, als sich die Konfrontation mit Nazi-Deutschland abzeichnete, verfügte der MI5 nur mehr über 26 Offiziere. 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, waren es gerade einmal 36. Hinzu kam eine Führungskrise: Vernon Kell hatte den MI5 ab 1909 aufgebaut. Drei Jahrzehnte später amtierte er noch immer als Direktor und zeigte sich mit den neuen Herausforderungen überfordert. Als Kell 1940 vorschlug, insgesamt 50.000 Flüchtlinge kurzerhand zu internieren, war das letzte Vertrauen in ihn dahin und er wurde abgelöst.33

Infolge des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion und dem Anglo-SovietAgreement(1941) ließ die Anspannung in Bezug auf die kommunistische Emigrantenszene ohnedies nach. Roger Hollis, ab August 1941 zuständig für die Abwehr sowjetischer Spionage und später Generaldirektor des MI5, meinte, dass die Kommunisten zwar eine »weitergehende Gefahr« darstellen würden, aber keine wirkliche Bedrohung während der Kriegsanstrengungen seien. Sie hätten in keinem europäischen Land, das besetzt worden sei, eine subversive »fünfte Kolonne« gebildet. Jetzt – mitten im Zweiten Weltkrieg – sei nicht die passende Zeit, sich mit ihnen zu befassen.34 Die primäre Sorge bestand darin, die ausländischen Kommunistinnen und Kommunisten könnten sich mit der CPGB zusammentun, um soziale und politische Veränderungen in Großbritannien zu erzwingen, während das Land unter starkem Druck seitens Nazi-Deutschlands stand. Weniger beachtet wurde, dass für Spione wie Broda, Deutsch, Friedmann, Smolka und Tudor-Hart ab 1941 das Überleben der Sowjetunion im Vordergrund stand und die innere Situation in Großbritannien für sie keine Rolle spielte.

Die befürchtete Unterwanderung fand statt (auch wenn die überwiegende Mehrheit der EmigrantInnen nichts mit Spionage zu tun hatte). Aber sie zielte in erster Linie auf Informationen, die es der UdSSR ermöglichen sollten, den Krieg zu gewinnen und bei der Entwicklung von Atomwaffen rasch gleichzuziehen. Obgleich der MI5 die handelnden Personen umfangreich beobachtete und aufklärte, kam nie genügend Beweismaterial zusammen, um jemanden vor Gericht zu bringen. Deutsch wurde erst 1940 als Agentenführer identifiziert, als er schon seit drei Jahren nicht mehr im Land residierte. Der Verrat der Cambridge Five hatte aufgrund des Aufstiegs von Blunt, Burgess, Cairncross, Maclean und Philby in Schlüsselstellen von Ministerien, Verwaltung und Geheimdiensten eine ganz andere Dimension. Insofern handelt es sich auch um die Geschichte eines großen Versagens der Behörden.

Aufgrund der Ermittlungen existieren für Broda, Deutsch, Smolka und Tudor-Hart teils umfangreiche Konvolute, die mittlerweile auch für die Öffentlichkeit freigegeben sind. Nur zu Friedmann gibt es keine eigene de-klassifizierte Akte. Die Dokumente sind die Hauptinformationsquellen, welche für diese Publikation genutzt wurden. Sie stellen freilich keine objektive Wahrheit dar und müssen mit Vorbehalt gelesen werden. Allzu oft werden Gerüchte und Halbwahrheiten miteinander vermischt. Außerdem klingt aus dem Inhalt mitunter ein antisemitischer, xenophober und antikommunistischer Unterton, der dem Geist der Zeit entspricht.

Im Unterschied zur guten Quellenlage in Großbritannien ist die Situation in den österreichischen Archiven unbefriedigend. Hier dürften viele relevante Untersuchungsakten von der Gestapo in der Zeit nach dem »Anschluss« 1938 konfisziert und 1944 zerstört worden sein, um zu verhindern, dass sie in sowjetische Hände fallen.35 So wurden die Räumlichkeiten der Zentralen Evidenzstelle in der Wiener Polizeidirektion am 12. März 1938 von der SS besetzt. Die Gestapo und andere Dienststellen übernahmen das Aktenmaterial oder vernichteten es.36 Zumindest die Tätigkeit sowjetischer Geheimdienste in Wien in den 1920er- und 1930er-Jahren konnte bereits erforscht werden – auch durch den Rückgriff auf Unterlagen im Archiv der Komintern in Moskau.37 Eine nützliche Ergänzung, speziell zu Philby und zu der 1945 in die DDR übersiedelten Friedmann, bietet obendrein das zum deutschen Bundesarchiv gehörige Stasi-Unterlagen-Archiv.

Das lückenhafte und teils einseitige Bild in den Primärquellen lässt sich durch die umfangreiche Sekundär- und Memoirenliteratur ergänzen. So haben enge Angehörige von Broda, Friedmann und Tudor-Hart über sie publiziert.38 Zu Tudor-Hart gibt es auch den Dokumentarfilm »Auf Ediths Spuren« (2016) von ihrem Großneffen und Biografen Peter Stephan Jungk.

Dennoch gab es bis jetzt noch keine Publikation, die die Geschichte dieser ProtagonistInnen mit jener von Philby und der Cambridge Five verknüpft und quellengestützt erzählt. Zwecks Übersichtlichkeit werden sie einzeln und nacheinander in Porträtform vorgestellt – anhand der sich daraus ergebenen Überschneidungen wird deutlich, wie eng vernetzt sie agierten. Sie kannten einander aus Jugendtagen und auch Liebesbeziehungen spielten eine Rolle. Man kann von einem regelrechten Wiener Spionagezirkel sprechen – obgleich die einzelnen Mitglieder nie in einer organisierten Form oder gleichzeitig zusammengearbeitet haben.

Der wichtigste Konnex war vielmehr die absolute Hingabe an kommunistische Ideale, den Kampf für eine freiere, sozialere und gerechtere Gesellschaft und für das Überleben der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Im Dienste dieser Sache gingen Beziehungen zu Bruch, engste Angehörige wurden vernachlässigt, es wurde die eigene Freizeit und Gesundheit geopfert und man riskierte lange Haftstrafen oder gar den Tod. Über lange Perioden wurde den AgentInnen bis ins Intimste nachgespürt. Westliche Geheimdienste lasen die Post, verwanzten die Telefone und observierten die Protagonistinnen und Protagonisten über lange Perioden intensiv. Sie setzten sie unter Druck, sprachen im Falle von Tudor-Hart ein Berufsverbot aus und führten Informanten im engsten persönlichen Umfeld der Zielpersonen. Das Gleiche ereignete sich im Ostblock: Friedmann war auch in der DDR Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ausgesetzt. Philby und den Cambridge Five wurde in Moskau nie wirklich vertraut – ebenso wenig wie Deutsch, dessen genaues Schicksal Rätsel aufgibt. Und allen war gemeinsam, dass Moskau ihr Engagement letztlich nie würdigte oder anerkannte. Erst posthum verwandelte man Philby und Deutsch in sinnentleerte Heroen zur eigenen Imagepflege und instrumentalisierte sie in der ideologischen Auseinandersetzung mit dem Westen. Die Beiträge von Broda, Friedmann, Smolka und Tudor-Hart sind dagegen in Vergessenheit geraten. Nur für einen kurzen Abschnitt nach der Wende 1989 wurden gegen viel Geld allenfalls Bruchstücke aus sowjetischen Archiven bekannt, die heute wieder fest unter Verschluss sind.

Dass all dieser persönliche Einsatz letztlich im Dienste des massenmörderischen Stalinismus geschah, ist einerseits tragisch. Andererseits stellt sich natürlich die Frage, wie Broda, Deutsch, Friedmann, Smolka und Tudor-Hart so lange gläubige Kommunistinnen und Kommunisten bleiben konnten. Freilich gibt es auch hier Abstufungen: Deutsch lernte den Horror und die Paranoia der stalinistischen Säuberungen als einziger aus unmittelbarer Nähe kennen. Friedmann tauschte am Ende ihres Lebens das Exil in der DDR mit der Rückkehr nach Österreich. Smolka bekam den immer wieder aufgeflammten Antisemitismus im Ostblock zu spüren, als man ihn Anfang der 1950er-Jahre infolge der Schauprozesse in der Tschechoslowakei als »imperialistischen Agenten« denunzierte. Er brach infolge mit der KPÖ, die sich von ihm distanziert hatte.

Was anhand dieser Geschichte ebenfalls deutlich wird, ist die besondere und gewichtige Rolle von Frauen in der Spionage. Dennoch wird diese generell bis heute kaum erzählt, so Maik Baumgartner und Ann-Katrin Müller. Es gebe nur wenige Bücher oder Dokumentationen über Geheimagentinnen, »nur in Ausnahmefällen kennt man ihre Namen oder die Organisationen, denen sie zum Erfolg verholfen haben«. Diese Frauen seien »doppelt unsichtbar«.39 Auch wenn Friedmann und Tudor-Hart im Vergleich zu anderen Geheimagentinnen zumindest öfter in der Literatur erwähnt wurden, gelten sie doch bislang als Randfiguren, hauptsächlich im Rahmen der Biografie Philbys. Dabei kümmerten sich die beiden Frauen um den Alltag des Spionagegeschäfts und stellten als Relais das Funktionieren des Informationssammelns sicher, insbesondere durch ihre Kuriertätigkeit. Auch wenn Deutsch als Rekrutierer von Philby gilt, so wären die beiden nicht zusammenkommen, wenn nicht die »Talentsucherin« Tudor-Hart gewesen wäre. Broda brauchte letztlich den Anstoß durch Tudor-Hart, um mit dem sowjetischen Geheimdienst in Kontakt zu treten. Und auch auf der Gegenseite, beim MI5, waren mit Jane Archer und Evelyn McBarnet zwei Frauen federführend mit den Ermittlungen in Sachen Spionageabwehr betraut.

Schließlich verweben sich diese Biografien und Geschehnisse auch zu einer sehr speziellen Wiener Geschichte. Die österreichische Hauptstadt war Anfang des 20. Jahrhunderts ein einzigartiger multiethnischer Schmelztiegel, der einige der wichtigsten Ideen der Moderne hervorbrachte: Psychoanalyse, Jugendstil, Zwölfton-Musik, Zionismus, modernistische Architektur, die Wiener Schule des Liberalismus. Gleichzeitig war Wien auch jener Ort, an dem Antisemitismus durch Georg von Schönerer und Karl Lueger zu politischen Zwecken instrumentalisiert wurde. Grassierende rassistische sowie ethnonationalistische Ideologien wurden zum geistigen Nährboden für den jungen Adolf Hitler, der von 1907 bis 1913 in Wien lebte.40

Dieses Nebeneinander von so unterschiedlichen Ideen und Strömungen hatte großen Einfluss auf die Politisierung und die Verortung von Broda, Deutsch, Friedmann, Smolka und Tudor-Hart in den sozialen Konflikten ihrer Epoche. Überdies war das Wien dieser Zeit auch schon eine internationale Spionagedrehscheibe ersten Ranges, primär bedingt durch die zentrale geografische Lage und die laxe Handhabe der Behörden. Dass insbesondere die zaristischen und später die sowjetischen Dienste Wien als eine zentrale Basis nutzten, legte den Grundstein für den Wiener Spionagezirkel. Deutsch, Friedmann und Tudor-Hart fanden in dieser Stadt den Anschluss an die geheimdienstlichen Strukturen der UdSSR und der Komintern.

So schließt die vorliegende Publikation eine Lücke in der zeitgeschichtlichen Betrachtung und gibt abschließend noch einen Ausblick auf die weitere Entwicklung Wiens im Zusammenhang mit sowjetischer und zuletzt russischer Spionage. Daraus werden lang zurückreichende Kontinuitäten erkennbar – von der laxen Gesetzeslage bis hin zur relativ toleranten Haltung der Behörden.

Sitz des Geheimdienstes MI5 im Thames House am Nordufer der Themse

Die »Bolschewikenzentrale«: Wien als Zentrum sowjetischer Spionage

Österreich gilt bis heute als Spielwiese internationaler Geheim- und Nachrichtendienste. Bereits in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg verzeichnete man eine intensive Tätigkeit verschiedener Agenten aus aller Herren Länder. Wien löste damals Paris als Hauptstadt der Spionage ab. Diese richtete sich wie auch in den darauffolgenden Jahrzehnten überwiegend nicht gegen Österreich. Interessant war das Land wegen seiner zentralen geografischen Lage als Drehkreuz und Knotenpunkt für Spione, die sich zwischen der Tschechoslowakei, Ungarn, Deutschland und der Sowjetunion hin- und herbewegten.41

Rein politisch und wirtschaftlich war das hohe Spionageaufkommen jedenfalls nicht zu erklären: Österreich, noch bis 1933 eine Demokratie, war weder militärisch noch wirtschaftlich von Belang. Aber es gab eine Reihe von Faktoren, die Spionage begünstigten: Einer war das liberale Niederlassungsrecht.42 Außerdem stellte Spionage in den 1920er- und 1930er-Jahren nur dann ein Vergehen dar, wenn es um Aktivitäten ging, die gegen Österreich gerichtet waren. In solchen Fällen wurde wegen »Geheimbündelei« Anklage erhoben. Im Falle eines Schuldspruchs drohten Inländern eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr. Bei Ausländern bewegte sich der Strafrahmen zwischen einem Monat und bis zu einem halben Jahr.43

Überdies war die Spionageabwehr schwach ausgeprägt: Die seit 1920 bestehende Zentrale Evidenzstelle (ZEST) der Bundespolizeidirektion Wien war ein Informationszentrum und kein operatives Amt. Die Aufgabe der ZEST lautete: »Sammlung aller politisch hervortretenden Personen und Bewegungen ohne Rücksicht auf ihre Wertung als staatsfeindlich oder staatsfreundlich.«44 Zentrale Bedeutung hatte dabei die Überwachung der heimischen kommunistischen Bewegung: Parteitage und öffentliche Kundgebungen wurden erfasst – ebenso wie die Tätigkeit österreichischer kommunistischer Funktionäre.45 Die ZEST wurde aber dem Anspruch ihres Initiators – des Wiener Polizeipräsidenten Johannes Schober –, ein zentraler Nachrichtendienst zu werden, nicht gerecht. Dafür waren nie genug Finanzmittel vorhanden und andere Behörden widersetzten sich diesen Zentralisierungsbestrebungen. 1933 machte die Gründung eines staatspolizeilichen Evidenzbüros in der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit die ZEST praktisch obsolet.46

Im Österreich der Zwischenkriegszeit bestand auch kein ständiger militärischer Nachrichtendienst. Dieser war 1920 aufgelöst und 1924 sowie 1933 wieder ins Leben gerufen worden. Diese Struktur nahm aber keine Abwehrarbeit wahr, sondern beschränkte sich auf die Beobachtung der militärischen Lage im Grenzgebiet. Somit verfügten Kriminalbeamte des staatspolizeilichen Büros innerhalb der Wiener Polizeidirektion über die Oberhoheit im Hinblick auf die Spionageabwehr.47 Ab 1920 initiierte Schober einen Nachrichtenaustausch über kommunistische Aktivitäten mit mehreren Ländern. Diese »antikommunistische Interpol« hielt zahlreiche Konferenzen ab.48

Grundsätzlich aber waren die österreichischen Behörden laut dem Historiker Gerald Jagschitz bestrebt, »die internationale Agentenszene unbelästigt zu lassen und nur in jenen Fällen einzuschreiten, in welchen eine Verwicklung von österreichischen Staatsbürgern konstatiert wurde. So wurde etwa ein Österreicher verhaftet, der sich durch Bestechung von Beamten aus der Nachrichtengruppe des Landesbefehlshaberamtes (der späteren Heeresverwaltungsstelle Wien) streng vertrauliche militärische und politische Nachrichten beschaffte und sie sofort an die tschechoslowakische, polnische, englische, französische und rumänische Mission, zeitweise auch die ungarische Gesandtschaft weitergab. Diese Nachrichten betrafen nicht Österreich selbst, sondern jene Daten, die die Nachrichtenabteilung über fremde Staaten beschafft hatte.«49

Unter den vielen Akteuren, die in Wien operierten, stach einer besonders hervor. Schon Ende des 19. Jahrhunderts galt Wien als das bevorzugte Operationsgebiet der zaristischen Geheimdienste.50 Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg stiegen die Spionagefälle nochmals sprunghaft an. Speziell das Grenzgebiet Galizien entwickelte sich zum Hotspot. Die zaristischen Dienste Ochrana und der militärische Radweska hatten in der k. u.k-Armee zahlreiche Quellen. Der bekannteste Verratsfall war jener von Oberst Alfred Redl, der im Jahr 1913 platzte.51

Wien zog aber auch oppositionelle russische EmigrantInnen an. Diese bildeten eine der größten »Ausländerkolonien«. Ende 1911 hielten sich in Wien 5324 russische Staatsbürger auf, von denen laut Polizeidirektion lediglich 20 als politische Flüchtlinge galten.52 Im Neuen Wiener Journal wurde 1925 rückblickend zusammengefasst: »Es herrschte damals in Österreich die Gepflogenheit, politische ›Verbrecher‹ an Russland nicht auszuliefern. Da aber beinahe die gesamte russische Intelligenz, soweit sie im Ausland studiert hatte, zum politischen Verbrechertum zählte, wurde von dem stillschweigenden Asylrechte ausgiebiger Gebrauch gemacht.«53 Als die Spannungen zwischen Österreich und Russland zunahmen, wurde die »Russenkolonie« zum strategischen Asset. Den Auslieferungsansuchen zaristischer Gerichte wurde nur mehr stattgegeben, wenn es sich nicht um politische Delikte handelte.54

Einige der wichtigsten Kader der Bolschewiki ließen sich in Wien nieder: Alexander und Elena Trojanowski von 1911 bis 1914, Nikolai Bucharin von 1912 bis 1914, Stalin von Jänner bis Februar 1913 und Lenin im Dezember 1900, März 1901, Juni 1913 und für wenige Tage Ende August/Anfang September 1914. Am längsten wohnte die Führungsperson der russischen Sozialdemokratie, Leo Trotzki, in Wien, und zwar von Oktober 1907 bis August 1914.55 Auch die Prawda erschien ab 1909 von Wien aus.56 Mit der Übersiedlung Lenins von Paris nach Krakau 1912 wurde Wien überhaupt »zu einer der Schaltstellen im Verbindungsnetzwerk der Auslandsorganisation der Bolschewiki«, so der Historiker Paul Kustos. Das Ehepaar Trojanowski und deren Wohnung in der Schönbrunner Schlossstraße Nr. 30 war die erste Anlaufstelle für durch Wien kommende Kader.57 Sie alle hatten in Wien von den Behörden nichts zu fürchten. »Man betrachtete in Wien jeden Feind der Romanow als Freund«, so der Journalist Günther Haller. Laut einem Bericht in Der Tag von 1925 war zumindest ein Wachmann mit dem Namen Czermak dazu abgestellt gewesen, Trotzki immer wieder einmal aufzusuchen.58

Die Wohnung des Ehepaars Trojanowski in der Schönbrunner Schlossstraße Nr. 30 war eine wichtige Anlaufstelle für bolschewistische Kader. An den Aufenthalt Stalins erinnert eine Gedenktafel.

Die Russische Revolution von 1917 sollte das Spionageaufkommen auf eine andere Ebene heben. Schon im Jahr 1920 wurde die geheime Telegrafenagentur Rosta eingerichtet, die täglich Bulletins für linke Zeitungen herausgab. Indem er einen Beamten bestach, bekam der Verantwortliche Sandor Rado das Material »unmittelbar« vom Leiter von Radio Wien. Dieses fing zur internen Information der Bundesregierung täglich die aus Moskau »An jedermann, jedermann!« adressierten Telegramme auf, die das Nachrichtenmaterial der sowjetischen Republiken enthielten.59 Rado ging von 1920 an zwei Jahre lang täglich ins Außenministerium und holte die dort aufgefangenen sowjetischen Telegramme ab. Der Chef der Presseabteilung hatte die Pförtner angewiesen, ihm »jederzeit« Einlass zu gewähren, weil er »diplomatischer Beauftragter von Äthiopien« sei, einem Land, mit dem Österreich damals keine auswärtigen Beziehungen unterhielt. Diese Anordnung »bekräftigte« Rado »von Zeit zu Zeit mit ein paar Kronen«. Ein Teil des so erlangten Materials wurde in mehreren westlichen Sprachen ausgestrahlt. Täglich wurden Bulletins in Deutsch, Französisch und Englisch herausgegeben und an »linksorientierte« Zeitungen und Organisationen versandt.60 Das war damals »die einzige Nachrichtenquelle aus Moskau«, so Rado in seinen Erinnerungen. Außer den Radiotelegrammen bekam Rosta-Wien auch Zeitschriften und die Prawda und Iswestija, die über einen sehr langen Weg von Murmansk, über einen norwegischen Hafen und anschließend mit der Bahn nach Oslo und von dort weiter nach Österreich geliefert wurden: »Die sowjetischen Blätter wurden von uns fotokopiert und als Faksimile für die Bibliotheken vervielfältigt, weil diese Zeitungen schon damals einen außerordentlichen bibliophilen Wert darstellten. Selbst Lenins Reden wurden uns durch eine Schallplatte übermittelt. Wir mieteten einen großen Saal in Wien und ließen die Platte vor einem riesigen Publikum laufen.«61

Am 25. Februar 1924 nahmen Österreich und die Sowjetunion diplomatische Beziehungen auf. Dieser Schritt war vorwiegend wirtschaftlich motiviert. Bereits 1930 rangierte Österreich als sechstgrößter Importeur in die UdSSR. Man lieferte Sensen, Dreschmaschinen und Lastautos – im Gegenzug kamen Getreide, Eier, Erdöl und andere Rohstoffe. Insbesondere die österreichische Industrie machte sich einseitig abhängig: 1930 wurden 40 Prozent des Walzblechs in die Sowjetunion exportiert – ebenso wie die Hälfte aller Holz verarbeitenden Maschinen.62 Im Windschatten der politischen und wirtschaftlichen Verflechtung blühte das Spionage-Geschehen auf: Seit 1924 wurde die ehemalige zaristische Gesandtschaft in der Reisnerstraße als sowjetische Botschaft genutzt. Dort etablierte sich binnen kurzer Zeit ein »Spionagezentrum«, lautete 1925 der Befund der Wiener Polizeidirektion. Es sei auffällig, dass die Botschaft ebenso wie die »nicht extraterritoriale Handelsmission« der UdSSR jeweils 34 Angestellte beschäftige. Diese Personalstärke könne selbst »von drei Vertretungen der anderen Großmächte auch nicht im Entferntesten erreicht werden«.63 Am 22. April 1925 hieß es dann: »Hier werden«, auf »eigene Faust« von den »hypertrophisch dotierten« Sowjetvertretungen organisiert, »die Kurierposten nach Rom, Bukarest, Belgrad und Sofia umgepackt und an die Bestimmungsorte weitergeleitet. Wien passieren die Spione und Emissäre, um sich an die ihnen zugewiesenen Operationsstätten zu begeben«.64 Die These lautete, dass Wien als kultureller »Vorort« des Balkans und als Verbindungsraum zwischen Ost und West von großer geografischer Bedeutung sei.65 Verdächtig erschien auch, dass am Dach der sowjetischen Botschaft eine Funkantenne errichtet und diese mit einem Draht mit dem Turm der nahe gelegenen russisch-orthodoxen Kirche verbunden wurde.66

Die russische Botschaft befindet sich seit 1891 im Palais Nassau in der Reisnerstraße, Wien-Landstraße

Dass die zahlreichen sowjetischen Agenten zu verschiedenen Geheimdiensten zählten, die miteinander konkurrierten, komplizierte die Angelegenheit. Als erste Organisation war am 20. Dezember 1917 die Allrussische außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage, kurz Tscheka genannt, gegründet worden. Diese Geheimpolizei wurde infolge immer wieder umbenannt und neu organisiert: 1922 bildete sich die Vereinigte staatliche politische Verwaltung (OGPU). 1934 wurde ein eigenes Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKWD) geschaffen, das die OGPU mit der uniformierten Polizei zusammenführte. Der NKWD kontrollierte nun mit den Hauptabteilungen für Staatssicherheit, Miliz, Grenzschutz und Zwangsarbeitslagern nahezu alle sowjetischen Exekutivorgane.67 1941 trennte man die Geheimpolizei vom NKWD unter der Bezeichnung Volkskommissariat für Staatssicherheit (NKGB) wieder ab und stellte sie 1946 im Ministerium für Staatssicherheit (MGB) neu auf. 1953/54 entwickelte sich daraus das Komitee für Staatssicherheit (KGB), das 1995 in den Föderalen Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation (FSB) umgewandelt wurde. Die für die Auslandsspionage zuständige erste KGB-Hauptverwaltung wurde schon 1991 abgespalten und als Dienst der Außenaufklärung der Russischen Föderation (SWR) auf eigene Beine gestellt.

Für den Zeitraum und die Ereignisse, auf die sich diese Publikation fokussiert, ist die OGPU am relevantesten. Sie gliederte sich in eine Abteilung für Spionageabwehr, eine Abteilung, die sich mit der Disziplinierung von sowjetischen Funktionären und Parteimitgliedern befasste und in die Auslandsabteilung (INO), die für die Spionage in anderen Ländern zuständig war.68 Es galt, politische, wirtschaftliche und kommerzielle Informationen zu beschaffen, lokale kommunistische Parteien und Organisationen zu überwachen und »antisowjetische« Emigrantengruppen zu unterwandern.69

Neben der OGPU gab es noch einen weiteren Player, den 1921 entstandenen militärischen Geheimdienst Razvedupr,70 der ab 1925/26 als vierteAbteilung in der Direktion des Generalstabs der Roten Armee rangierte. Innerhalb der viertenAbteilung war die dritte Sektion für die Beschaffung von militärisch relevanter Information aus Ländern außerhalb der Sowjetunion zuständig. Dazu zählte auch jedes politische oder wirtschaftliche Nachrichtenmaterial, das womöglich Entscheidungen des Generalstabs oder des Politbüros in Bezug auf die Außenpolitik beeinflussen konnte. Somit war de facto »alles« relevant. Die sowjetischen Militärattachés waren nicht Teil der viertenAbteilung, erhielten aber dort eine spezielle Spionage-Ausbildung.71

1934 gelang es der OGPU allmählich, die Kontrolle über die vierte Abteilung zu erringen. 1935 war dieser Prozess abgeschlossen. INO-Chef Artur Artusow wurde gleichzeitig stellvertretender Leiter der vierten Abteilung, was bedeutete, dass die INO nun sowohl die militärische als auch die politische Spionage übersah. Artusow baute den Apparat entsprechend den Vorstellungen Stalins um. Dieser hatte laut dem Historiker Jonathan Haslam keinen Respekt vor Recherche und Analyse und hatte sich mit dem großen und teuren Apparat der vierten Abteilung, mit seiner großen Anzahl an ex-zaristischen Offizieren, schon länger unzufrieden gezeigt. 1932 wollte Stalin keinen weiteren Quartalsbericht über fremde Länder zum Lesen bekommen. Aufgrund dieser Vorgaben schaffte Artusow kurzerhand die Abteilungen für Recherche und Analyse ab, was freilich negative Folgen hatte.72

Ein weiteres Problem waren die vielen internationalen Amateure, die für die vierte Abteilung arbeiteten. Ab 1930 war in Wien der gebürtige Bulgare Ivan Vinaroy (»Mart«) als geheimdienstlicher Stützpunktleiter (Resident) tätig. Obgleich begabt, war er mit den kulturellen Gegebenheiten der Stadt nicht wirklich vertraut. Einmal traf er seine Agenten in einem koscheren Restaurant. Als die Runde dort ihre Hüte abnahm, erregte sie viel unnötige Aufmerksamkeit.73 Ein anderer Agentenführer in Wien, der Lette Konstantin Basov, wurde im Dezember 1931 gemeinsam mit vier Mitarbeitern von der Polizei festgenommen, nachdem sie sich in einem Café getroffen hatten. Der Termin hatte stattgefunden, obwohl Moskau bereits vermeldet hatte, dass Basov beschattet werde. Er wurde von seinem Assistenten bald aus der Haft herausgeholt, aber Basov hatte in der Zwischenzeit schon gestanden, der sowjetische Resident zu sein. Und er brach die Kardinalregel, indem er seine wahre Identität enthüllte: Yan Abeltyn. Diese Erkenntnisse setzten in Lettland 1933 eine Verhaftungswelle in Gang und führten zur Ausforschung des Kuriers Julius Trossin, der Verbindung zu Geheimdienststützpunkten (Residenturen) in Deutschland, Rumänien, Finnland, Estland, Großbritannien und den USA gehalten hatte. Seine Verhaftung enttarnte das gesamte Netzwerk.74

Neben der INO/OGPU und der vierten Abteilung gab es aber noch einen dritten Geheimdienst, der bei der Auslandsspionage mitmischte: Die 1919 gegründete Kommunistische Internationale (Komintern), ein von Lenin gegründeter internationaler Zusammenschluss kommunistischer Parteien. Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) beschloss am 14. April 1919 die Errichtung von Auslandsfilialen.75 Im Jahr darauf wurde die Abteilung für Internationale Verbindungen (OMS) errichtet. Diese unterhielt zu unterschiedlichen Zeiten Residenturen in Wien, Amsterdam, Stockholm, Vardø, Varna, Oslo, Stettin, Riga, Berlin, Paris, Prag, Brüssel, Shanghai, Istanbul sowie an mehreren Orten in Südfrankreich, Jugoslawien, Mexiko und Chile; darüber hinaus Stützpunkte in mehreren sowjetischen Grenz- und Hafenstädten.76 Die OMS verfügte somit über eigene Netzwerke, die von einem Geheimdienst nicht zu unterscheiden waren. Diese GenossInnen verschoben Waffen, führten ihre eigenen Quellen, sandten Kuriere aus, sammelten Gelder und nutzten zumindest bis 1927 die Abdeckung durch offizielle Handelsmissionen und Botschaften der Sowjetunion.77

Die Komintern verfügte außerdem über spezielle Organisationsstrukturen, die die politischen Aktivitäten und die Ausbildung kommunistischer Kader koordinierten und kontrollierten. Dazu zählte die 1926 in Moskau gegründete und bis 1938 existierende InternationaleLenin-Schule. Laut den Angaben eines Überläufers wurden Studentinnen und Studenten dort darin ausgebildet, Geheimtinte zu verwenden und Techniken zur Passfälschung anzuwenden: »Sie nahmen auch an einem Sabotagekurs teil, wo sie Wissen über Chemikalien und Sprengstoffe erwarben, darüber, wie man die Wasserversorgung kappt, Maschinen zerstört und Telefonleitungen unterbricht. Wenn sie diesen Kurs abgeschlossen haben, wird von den Studenten erwartet, dass sie das notwendige Wissen aufweisen, um als erstklassiger Intelligence- oder Sabotageagent selbstständig arbeiten zu können.«78

OGPU/INO, vierte Abteilung und OMS waren also die relevanten Akteure, die in Österreich ab Anfang der 1920er- bis Ende der 1930er-Jahre das Spionagegeschehen dominierten. Die drei Dienste besaßen mehrere Residenturen: Die »legale« (weil diplomatisch abgedeckte) Residentur der OGPU befand sich in der Botschaft in der Reisnerstraße und bestand aus zwei Offizieren. Die vierte Abteilung hatte keine Legal-Residentur, sondern mehrere »illegale« Residenturen. Das bedeutete, dass die dazugehörigen Agenten keine Diplomatenpässe zur Verfügung hatten und ihnen im Falle einer Festnahme somit Haft drohte. Manche dieser Geheimdienstmitarbeiter lebten überhaupt unter aufwendiger Tarnung als sogenannte »Illegale« im Ausland, ohne einen Rückschluss auf die Sowjetunion in ihrem Lebenslauf. In Wien agierte Anfang der 1930er-Jahre der leitende illegale Resident der vierten Abteilung, Ivan Vinarov. Von seinem Posten aus kontrollierte er Quellen in Polen, der Tschechoslowakei, Bulgarien, Jugoslawien, Griechenland und der Türkei. 1933 trat Fyodor Gaidarov an Vinarovs Stelle. In Baden bei Wien befand sich ab April 1931 eine eigene rezidentura svyazi zum Zwecke der Funkkommunikation zwischen Moskau und den Netzwerken der vierten Abteilung in ganz Zentraleuropa.79

Komintern und OMS hatten das größte Netzwerk in Wien inne. 1921 war ein eigener Arbeitsplan für den Wiener »OMS-Punkt« entwickelt worden, von dem aus »Österreich, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, Bulgarien, Griechenland und die Türkei zu betreuen« waren. In diesen Ländern sollte mit den dortigen kommunistischen Parteien als auch mit der Moskauer Zentrale »aufs Engste kooperiert werden«.80 Die meisten der mittel- und südosteuropäischen Sektionen der Komintern übersiedelten in den 1920er-Jahren überhaupt nach Wien, wo sie Auslandskomitees aufbauten.81 Alleine zwischen 1927 und 1930 gab es mindestens sieben solcher Vertretungen.82

Bei diesen Exilleitungen handelte es sich neben polnischen und italienischen Kleingruppen um die ungarischen Kommunisten, die sich nach dem Sturz der kurzlebigen Räterepublik 1919 ins grenznahe Wien zurückgezogen hatten. Des Weiteren veranstalteten die in ihren Heimatländern verbotenen rumänischen, jugoslawischen und bulgarischen KPs von 1922 bis 1926 in Wien Konferenzen, unterhielten Auslandsbüros und unterstützten die Initiativen der lokalen Niederlassung der Internationalen Roten Hilfe (IRH, im Russischen MOPR) der Komintern. Zudem befanden sich deutsche Spitzenfunktionäre in der Stadt – speziell in der Phase des Verbots der KPD 1923/24. Die probolschewistischen Fraktionen aus Südosteuropa bildeten eine eigene Kommunistische Balkanförderation (KBF) in Wien, nachdem Sofia als Standort unhaltbar geworden war. Damit geriet Wien ab Mitte der 1920er-Jahre zu einer regelrechten »Bolschewiken-Zentrale« und Propaganda-Drehscheibe der kommunistischen Internationale.83