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Sterneköchin Lea Himmelreich hat nach einem schweren Verkehrsunfall ihr Gedächtnis verloren. Gerüche führen sie langsam ins Leben zurück. Doch warum ist ihr Mann verschwunden, und was treibt ihre Schwester in den Wahnsinn? Als Leas Ehemann tot im Rheingauer Hinterwald gefunden wird, steht Kommissar Mayfeld vor dem schwierigsten Fall seines Lebens.
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Seitenzahl: 439
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Roland Stark, geboren 1956, ist Arzt und Psychotherapeut. Er ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt im Rheingau. Im Emons Verlag erschienen seine Kriminalromane »Tod bei Kilometer 512«, »Tod im Klostergarten«, »Tod in zwei Tonarten« und »Frau Holle ist tot«.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: © mauritius images/Alany Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln Lektorat: Dr.Marion Heister eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-632-4 Rheingau Krimi Originalausgabe
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Für Ingrid
Un dessein si funeste,
S’il n’est digne d’Atrée, est digne de Thyeste.
Edgar Allan Poe, Der entwendete Brief
Prolog
Ihr Lieben!
Wahrscheinlich wundert Ihr Euch, an diesem Tag einen Brief von mir zu erhalten. Ich habe lange mit mir gerungen, bis ich ihn niedergeschrieben habe. Leider hatte ich nie die Kraft, Euch von Angesicht zu Angesicht zu beichten, was ich getan habe.
Auch jetzt fällt es mir schwer, die richtigen Worte dafür zu finden, und ich weiß noch gar nicht, wie ich diese niederträchtige Tat meinem Schöpfer erklären soll, wenn ich vor ihn treten werde.
Lest die nächsten Seiten, und Ihr werdet verstehen, worum es geht. Ich weiß, dass das, was ich getan habe, unverzeihlich ist. Ich kann nur hoffen, dass Euer Zorn gegen mich nicht ewig währen wird und Ihr mir irgendwann vergeben könnt.
Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät, vielleicht wird wenigstens für Euch am Ende alles gut.
Freitag, 6.September
Es war ein Routinejob, den Kriminalhauptkommissar Mayfeld vor dem Wochenende erledigen wollte. Eine Vermisstenmeldung, der Vermisste war seit drei Tagen verschwunden. Vermutlich keine große Sache.
»Villa Haller« stand auf dem Messingschild, das an der geschwungenen Spitze des schmiedeeisernen Tors angebracht war, das auf das Anwesen in der Nikolausstraße führte. »Reinhardt und Christel Fassbinder, Markus Fassbinder, Gisela Fassbinder«, so waren die Klingelschilder der in die Mauer eingelassenen Sprech- und Schließanlage beschriftet.
Mayfeld klingelte, nannte seinen Namen, hielt seinen Ausweis in die Überwachungskamera. Der Lautsprecher knackte und rauschte, das Schloss summte, und das Tor öffnete sich.
Hinter der Einfriedung lagen ein parkähnlicher Garten und zwei im Stil des Historismus erbaute Häuser, ein großes und düsteres Gebäude, das an viktorianische Herrenhäuser erinnerte, und ein kleineres, mit Giebeln und Türmchen verziertes Fachwerkhaus. Mayfeld ging auf das größere Haus zu.
Eine Frau mittleren Alters öffnete die mächtige Eichenholztür. Sie trug die dunkle Uniform einer Hausangestellten und ein Namensschild, auf dem Mayfeld »Olga« lesen konnte.
»Bringen Sie mir meine Lea zurück?« Eine ältere Frau mit wirrem Haar und Kittelschürze schob sich an Olga vorbei und packte Mayfeld am Revers seines Sakkos. »Sie hat das doch nicht extra gemacht, extra gemacht? Ganz bestimmt nicht, oder?«
Olga richtete ein paar entschuldigende Worte an Mayfeld und zog die Frau von ihm weg. »Du musst ins Zimmer, Christel«, sagte sie in osteuropäisch eingefärbtem Dialekt.
»Ich muss gar nichts«, versetzte Christel. »Bloß scheißen und sterben muss man im Leben, sonst gar nichts. Ich will in den Weinkeller. In den Weinkeller mit den besonderen Flaschen.«
Olga bat Mayfeld herein. Er betrat eine große Eingangshalle, deren dunkelgraue Bodenfliesen den düsteren Eindruck des Hauses noch verstärkten. Sie dirigierte die Alte in Richtung der geschwungenen Treppe, die nach oben führte, und deutete auf eine Tür.
»Entschuldigen Sie bitte, ich muss mich um Christel kümmern. Da geht es zum Salon. Herr Dr. Fassbinder erwartet Sie.«
»Wo ist meine Lea? Es liegt ein Fluch auf der Familie, Fluch auf der Familie! Gehen Sie nicht weg, hören Sie mir zu«, zeterte die verwirrte Frau, als Mayfeld Olgas Aufforderung Folge leistete.
Er klopfte an die Tür und betrat den Salon. Der großzügige Raum war mit teuren alten Möbeln eingerichtet. Die hohen Fenster öffneten den Blick auf einen gepflegten Park, der bis nahe ans Rheinufer hinabreichte. Zwischen den Bäumen schimmerten die Lichtreflexe, die auf dem Wasser des Flusses tanzten.
Ein groß gewachsener silberhaariger Mann erhob sich aus einem der englischen Clubsessel, kam auf Mayfeld zu und streckte ihm die Hände in einer etwas zu pathetischen Geste entgegen.
»Reinhardt Fassbinder, vielen Dank, dass Sie gekommen sind!«, sagte er mit sonorer Stimme.
Mayfeld zeigte seinen Dienstausweis, dem Fassbinder nur flüchtig Beachtung schenkte, und setzte sich auf den ihm zugewiesenen Platz. Fassbinder klingelte mit einer kleinen Handglocke, wie sie Mayfeld früher an Weihnachten benutzt hatte, um das Christkind für die Kinder zu rufen. Diesmal kam nur Olga, gefolgt von Christel.
»Bringen Sie uns eine Karaffe Wasser«, befahl Fassbinder seiner Bediensteten. »Und bringen Sie meine Frau auf ihr Zimmer.« Eine Spur Ungehaltenheit schwang in seiner Stimme mit.
»Ich will in den Weinkeller«, protestierte Christel Fassbinder. »Haben Sie Lea gefunden?«, wandte sie sich an Mayfeld.
Olga schob Christel nach draußen.
»Meine Frau«, sagte Fassbinder. Es klang so, als ob ihm das peinlich wäre. »Sie hat seit drei Jahren Alzheimer.«
Das macht doch nichts, wollte Mayfeld sagen, aber im letzten Moment schluckte er diese Antwort hinunter. Er musterte Fassbinder. Seine Frau wirkte im Vergleich zu ihm alt.
»Sie haben Stefan Müller-Himmelreich bei der Eltviller Polizei als vermisst gemeldet. Erzählen Sie mir bitte mehr.«
Olga brachte eine Kristallkaraffe mit Wasser und zwei altertümliche geschliffene Gläser auf einem Silbertablett herein und zog sich wieder zurück. Fassbinder schenkte seinem Gast und sich ein.
»Wir haben uns am Dienstagabend mit meiner Tochter und ihrem Mann auf ein Glas Wein verabredet. Die beiden sind aber nicht gekommen. Wir sind daraufhin zu ihnen nach Hause gegangen und haben dort erfahren, dass Lea einen schweren Autounfall hatte. Ich habe versucht, Stefan auf seinem Handy oder in der Kanzlei in Wiesbaden zu erreichen, aber es ging nirgendwo jemand ran. In der Kanzlei ist er auch in den folgenden Tagen nicht mehr aufgetaucht, deswegen habe ich ihn gestern als vermisst gemeldet.«
Was für ein unglaublicher Zufall, der Mann verschwindet, und die Frau hat einen schweren Autounfall. Ärgerlich, dass davon im Protokoll der Vermisstenanzeige nichts zu lesen war.
»Wer ist ›wir‹?«
Fassbinder schien nicht zu verstehen.
»Sie sagten ›Wir haben uns mit meiner Tochter verabredet‹. Waren Sie mit Ihrer Frau unterwegs?«
»Natürlich nicht«, antwortete Fassbinder. »Mit ›wir‹ meinte ich meine Schwester und mich. Sie begleitet mich bisweilen, seit meine Frau erkrankt ist. Gisela wohnt im Nachbarhaus.«
»Wann und wo genau haben Sie sich mit den Himmelreichs verabredet? Wie haben Sie vom Unfall Ihrer Tochter erfahren?«
»Wir wollten uns um achtzehn Uhr im ›Anleger‹ treffen, das ist eine Gaststätte am Rheinufer. Es war eine spontane Verabredung, wir haben das erst mittags telefonisch ausgemacht. Als die beiden nicht kamen, sind wir wie gesagt zu ihnen nach Hause gegangen. Sie wohnen in der Rheingauer Straße, das ist vom ›Anleger‹ aus gerade um die Ecke. Dort hat uns das Au-pair-Mädchen aufgemacht. Kurz nachdem wir angekommen waren, hat ein Arzt aus den Horst-Schmidt-Kliniken angerufen und mitgeteilt, dass Lea nach einem Verkehrsunfall bei ihnen eingeliefert worden ist.«
Der Name der verunglückten Ehefrau kam Mayfeld bekannt vor. »Ist Ihre Tochter Lea Himmelreich, die Köchin?«
Fassbinder nickte.
Die Sterneköchin aus dem »Himmelreich« in Erbach. Julia war eine ihrer größten Verehrerinnen, im letzten Jahr hatte sie einen der berühmten Kochkurse bei ihr gemacht und war begeistert und voller neuer Ideen für den Gutsausschank zurückgekommen.
»Wie geht es Ihrer Tochter?«
»Sie liegt im Koma.« Fassbinders Stimme klang immer noch tief und wohltönend, doch ein bitterer Zug schien sich seines Mundes bemächtigt zu haben.
Die Tochter lag im Koma, die Frau litt an Alzheimer, der Mann konnte einem leidtun. »Wenn es ein Au-pair-Mädchen gibt, dann hat Ihre Tochter vermutlich ein Kind?«
»Hannah ist sechs Jahre alt. Gisela ist mit ihr unterwegs.«
»Wie heißt das Au-pair-Mädchen, und wo kann ich sie finden?«
»Sie heißt Chiara Tozzi. Ich habe ihr heute Nachmittag freigegeben.«
Mayfeld ließ sich ihre Handynummer geben. »Wann haben Sie Ihren Schwiegersohn zuletzt gesehen?«
Fassbinder überlegte eine Weile. Erstaunlich bei einer so naheliegenden Frage. »Das ist schon eine ganze Weile her. Ich denke, es war an Hannahs Geburtstag im Juni.« Das deutete nicht auf eine allzu enge Beziehung zwischen den beiden hin. »Normalerweise sehen wir uns häufiger«, ergänzte Fassbinder, so als ob er Mayfelds Gedanken gelesen hätte.
»War Ihr Schwiegersohn in der Vergangenheit öfter ein paar Tage weg?«
»Das ist immer wieder vorgekommen, Stefan musste manchmal für Kunden in die Schweiz, das konnte zwei oder drei Tage dauern. Aber da wusste sein Büro immer Bescheid.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Vielleicht sollte ich nicht in der Vergangenheitsform von ihm sprechen.«
»Ihr Schwiegersohn ist …?«
»… Anwalt und Steuerberater.«
»Wissen Sie, was er in der Schweiz gemacht hat?«
Fassbinder hob Arme und Schultern und schnitt ein Gesicht, das alles und nichts sagen konnte. War vermutlich eine blöde Frage gewesen.
»Hat er Feinde?«
»Als Anwalt? Bestimmt.«
»Welche, die Sie kennen?«
Fassbinder schüttelte den Kopf.
»Kennen Sie Freunde Ihres Schwiegersohns, Menschen, mit denen er regelmäßig verkehrt, denen er vertraut, die wissen könnten, wo er sich befindet?«
»Leider nein.«
»Ist er in irgendeinem Verein, einer Partei, einer Kirche?«
»Er war beruflich ziemlich engagiert. Er ging ins Fitnessstudio, aber fragen Sie mich nicht, in welches – tut mir leid. Er besuchte manchmal irgendwelche Psychoseminare, aber ich weiß nicht, wo. Ich fürchte, ich kann Ihnen wenig Konkretes sagen.«
Fassbinder schien seinen Schwiegersohn so gut wie nicht zu kennen. Kaum zu glauben, wie oberflächlich Beziehungen auch innerhalb des engsten Familienkreises sein konnten.
»Wie war die Beziehung zwischen Müller-Himmelreich und Ihrer Tochter?«
»Sie waren verheiratet …«
»Das ist mir bekannt.«
»… und ich glaube, die Ehe war ganz gut, aber da bin ich mir nicht sicher. Irgendwelche Probleme gibt es ja immer, das soll man nicht überbewerten.«
»Hatte er finanzielle Schwierigkeiten?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
Die Tür des Salons öffnete sich, eine sportlich wirkende ältere Frau und ein kleines blondes Mädchen betraten den Raum.
»Meine Schwester Gisela und meine Enkelin Hannah, Kommissar Mayfeld von der Wiesbadener Polizei«, stellte Fassbinder vor.
Hannah war ein hübsches Mädchen, blond, mit rundem Gesicht und adrett angezogen. Aber ihre Augen schauten ernst und traurig in die Welt.
»Wann kommt meine Mama wieder?«, fragte Hannah den Kommissar. Mayfeld blickte zu Fassbinder, der hob hilflos die Schultern.
»Hast du meinen Papa gefunden?«, fragte die Kleine weiter. Sie hatte die Geste ihres Opas genau registriert.
»Ich suche ihn«, antwortete Mayfeld. »Wann hast du deinen Papa das letzte Mal gesehen?«
Die Kleine musste nicht lange überlegen, die Frage war ihr offensichtlich schon öfter gestellt worden. »Nach dem Sport bei Frau Gruber. Sport ist doof, Reiten bei Tante Gisela ist viel cooler. Chiara hat mich mit dem Auto von der Schule abgeholt. Als wir zu Hause waren, ist Papa gekommen.«
»Und wann hast du Sport bei Frau Gruber?«
»Na, am Dienstag.«
Erwachsene konnten ziemlich dumme Fragen stellen. »War irgendwas Besonderes am Dienstag?«
Noch so eine dumme Frage. Aber Hannah beantwortete sie geduldig. Am Dienstagnachmittag war sie auf der Geburtstagsparty von Viktor gewesen. Der war sieben Jahre alt geworden, und die Party war ziemlich cool gewesen.
»Können Sie mir etwas über Stefan Müller-Himmelreich erzählen?«, wandte sich Mayfeld an Gisela Fassbinder.
Reinhardt Fassbinder schnappte sich Hannah und ging mit ihr in den Garten. »Wir schauen mal, was die Brombeeren machen«, schlug er vor.
»Sie hängen an den Büschen«, antwortete Hannah patzig. Sie hätte wohl lieber der Unterhaltung der Erwachsenen zugehört.
»Was wollen Sie wissen?« Gisela Fassbinder ähnelte ihrem Bruder. Sie war groß gewachsen, schlank, silberhaarig. Die lange, gerade Nase und die hohe Stirn gaben ihrem Gesicht ein aristokratisches Aussehen.
»Wann haben Sie Stefan Müller-Himmelreich zuletzt gesehen?«
Sie hatte ihn ebenfalls zuletzt an Hannahs Geburtstag gesehen. Sie hatte genauso wenig konkrete Vorstellungen über etwaige Feinde, auch sie wusste von seinen gelegentlichen Geschäftsreisen in die Schweiz. An einem Punkt war sie allerdings anderer Meinung als ihr Bruder.
»Ich glaube, dass die Beziehung zwischen Stefan und Lea zuletzt nicht mehr so gut war wie früher. Als mir Reinhardt sagte, dass die beiden sich mit uns treffen wollten, dachte ich spontan, dass es irgendeinen Streit gibt, den wir schlichten sollen. Diese Psychoseminare haben der Ehe nicht gutgetan.«
»Von denen hat Ihr Bruder auch gesprochen.«
»Ach ja, fällt dem so was auf?« Gisela Fassbinder lächelte spöttisch.
»Was für Seminare waren das?«
»Genauer kann ich Ihnen das leider nicht sagen.«
»Haben Sie konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Beziehung zwischen Lea und Stefan in eine Krise geraten ist?«
»Als Frau spürt man das. Reinhardt ist freitagabends oft im ›Himmelreich‹. Seit Christel krank ist, begleite ich ihn dorthin. Früher war Stefan gegen Ende des Abends fast immer anwesend, in letzter Zeit so gut wie nie mehr. Das ist auch der Grund, warum wir ihn kaum noch gesehen haben. Ich glaube, dass zwischen Lea und Stefan in den letzten Monaten etwas gründlich schiefgelaufen ist.«
»Ihr Bruder will von Spannungen nichts gemerkt haben.«
Jetzt musste Gisela Fassbinder lachen. »Natürlich nicht. Reinhardt ist ein hervorragender Geschäftsmann. Aber von so was hat er keine Ahnung. Er will so was nicht sehen. Dass er sich das mit den Seminaren gemerkt hat, grenzt an ein Wunder.«
Mehr konnte Gisela Fassbinder nicht sagen. Der Kommissar verabschiedete sich und verließ das Anwesen in der Nikolausstraße.
Mayfeld bestieg das E-Bike, das er sich während seiner Krankheit zugelegt hatte. Manchmal fuhr er damit zum Dienst nach Wiesbaden. Mit dem Elektrofahrrad hatte er mehr Bewegung und musste sich an weniger Verkehrsregeln halten. Zumindest sah er das so. Er fuhr in der Herbstsonne die Matheus-Müller-Straße zum Rhein hinunter. Am Sebastiansturm bog er in die Eltviller Rheinpromenade ein. Das Flussufer war von Einheimischen und Touristen bevölkert, die unter den Platanen flanierten, die historischen Gebäude fotografierten, die Enten fütterten oder am Weinstand einen Schoppen tranken.
Er fuhr am Martinstor und am Eltzer Hof vorbei. Am Ende der Uferpromenade lag die Kurfürstliche Burg mit ihrem mit Rosen bewachsenen Burggraben und dem mächtigen Wohnturm. Gegenüber, direkt am Wasser gebaut, befand sich im historischen Verkaufsraum der Rheinschifffahrtsgesellschaft das Lokal, in dem die Geschwister Fassbinder vergeblich auf die Himmelreichs gewartet hatten. Bis zur Burg Crass nahm Mayfeld den Treidelpfad, der direkt am Flussufer entlangführte, und dann das Freygässchen zur Rheingauer Straße. Die Himmelreichs wohnten in einem apricotfarben verputzten Haus mit blauen Schlagläden.
Er hatte Chiara Tozzi auf dem Handy erreicht und seinen Besuch angekündigt. »Kommen Sie hoch«, hörte er eine tiefe Stimme mit südländischem Akzent in der Gegensprechanlage. Die junge Frau, eine italienische Schönheit mit dunklem Teint, schwarzen Locken und ebenmäßigem Gesicht, kam ihm im Treppenhaus entgegen und führte ihn in ihre Wohnung unter dem Dach.
»Nicht schlecht, Frau Tozzi«, bemerkte Mayfeld, nachdem er auf der Dachloggia Platz genommen hatte. Der Blick von hier oben reichte von der Burg Crass über die Eltviller Aue bis zur Kurfürstlichen Burg.
Sie grinste. »Nenn mich Chiara. Ist ein Superjob bei den Himmelreichs. Die Leute sind voll nett, vor allem Lea, und die kleine Hannah ist supersüß. Die Arbeit ist total gechillt, und die Wohnung, na, du siehst ja selbst.« Dann wurde ihr Gesichtsausdruck ernst, als werde ihr gerade erst die Lage der Familie Himmelreich bewusst. »Wie geht es Lea?«
»Sie liegt im Koma.«
»Immer noch? Scheiße. Die arme cuoca. Die arme Hannah.«
»Ich bin hier, weil Stefan Müller-Himmelreich verschwunden ist. Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«
Chiara überlegte eine Weile. »Das war am Dienstagmittag. Ich habe Hannah um zwölf von der Schule abgeholt, er kam, kurz nachdem ich zurück war. Ist einfach so hereingeschneit. Kann man das so sagen: ›hereingeschneit‹?«
»Das sagt man, wenn jemand überraschend vorbeikommt. Warst du überrascht? War es ungewöhnlich, dass er zu dieser Zeit zu Hause vorbeischaute?«
»Certamente. Normalerweise ist er den ganzen Tag in seinem Büro in Wiesbaden. In letzter Zeit kam er immer spät nach Hause, manchmal gar nicht.«
»Hat er gesagt, warum er an diesem Tag nach Hause kam?«
»Das muss er doch nicht, oder? Ich bin das Au-pair. Er ist der Chef.«
»Ist dir etwas an ihm aufgefallen? Wie war er drauf?«
»Er war hektisch. Aber das ist er in letzter Zeit oft gewesen. Glaubst du, dass ihm was passiert ist?«
»Das wollen wir herausfinden. Es ist merkwürdig, dass der Ehemann in dem Moment verschwindet, in dem die Ehefrau einen schweren Verkehrsunfall hat, findest du nicht?«
»Du glaubst an ein Verbrechen?«
»Das kann man nicht ausschließen. Du warst möglicherweise eine der letzten Personen, die ihn vor seinem Verschwinden gesehen haben. Alles, an das du dich erinnerst, kann wichtig sein. Was hat er hier gemacht? Wie lange war er zu Hause?«
»Er ist um eins wieder gegangen« war alles, was Chiara auf die Frage antwortete. Das Au-pair-Mädchen war plötzlich sehr einsilbig geworden.
»Komm schon, Chiara, lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Was hat er gemacht, hat er mit dir geredet, wohin wollte er anschließend?«
»Er war in seinem Büro, ich war in der Küche.«
»Weiß du, wohin er danach wollte?«
Einen Moment flackerte Chiaras Blick, sie schien verunsichert. Dann schüttelte sie mit Bestimmtheit den Kopf.
»Wann hast du deine Chefin zuletzt gesehen?«
Chiara nahm sich viel Zeit zum Nachdenken.
»Am Dienstagmorgen, beim Frühstück.«
»Bestimmt?«
Chiara wich seinem Blick für einen Moment aus. Dann hatte sie sich wieder gefasst. »Sicuramente«, antwortete sie mit einem Anflug von Trotz in der Stimme.
Mayfeld hatte den Verdacht, dass Chiara aus irgendeinem Grund nicht die Wahrheit sagte, dass sie etwas verschwieg.
»War deine Chefin im ›Himmelreich‹?«
»Ich weiß nicht. Aber ich glaube nicht, dass sie im ristorante war. Das hat montags und dienstags geschlossen. Normalerweise unternimmt die Signora an diesen Tagen was mit Hannah, und ich habe frei. Aber diese Woche war alles anders. Hannah war am Dienstag auf einen Kindergeburtstag eingeladen, und Stefan und Lea waren am Montag auf einer Beerdigung. Vielleicht war die Stimmung in den letzten Tagen wegen der Beerdigung so schlecht.«
»Wann hast du vom Unfall deiner Chefin erfahren?«
»Am Dienstagabend. Jemand vom Krankenhaus hat angerufen, wollte Stefan sprechen. Das kannst du Signore Fassbinder fragen, der war gerade mit seiner Schwester da. Sie suchten die beiden, sie wollten sich an dem Abend treffen.«
»Wann war das?«
»Mit dem Anruf? Das war um sechs oder halb sieben.«
Chiaras Angaben stimmten mit denen von Fassbinder überein. Vielleicht war er zu misstrauisch gegenüber der jungen Frau.
»Und wie ging es an dem Tag weiter?«
»Sie haben Hannah und mich mit in die Nikolausstraße genommen. Dort sind wir zwei Tage geblieben. Heute haben sie mir freigegeben. Ich könnte auch eine Woche Urlaub nehmen. Aber wenn die Signora wieder gesund wird, dann braucht sie doch meine Hilfe, oder?«
»Bestimmt. Wenn dir noch etwas einfällt, ruf mich an.« Er gab ihr seine Karte. »Es ist für uns sehr wichtig, alles zu erfahren, was an diesem Dienstag passiert ist, wo dein Chef gewesen ist, mit wem er zusammen war.«
»Du glaubst, dass ihm etwas zugestoßen ist, stimmt’s?«
»Und behalte dein Handy angeschaltet, falls ich noch Fragen habe.«
Chiara blickte ihn an, als sei er gerade eben aus dem Mittelalter aufgetaucht. »Hab ich immer an, ich muss doch meine SMS checken.«
Mayfeld verabschiedete sich und verließ das Haus. Er stieg auf sein E-Bike und ignorierte das Schild und die Bitte der Stadt Eltville, als Radfahrer statt des Treidelpfades den Radweg neben Bundesstraße und Bahnlinie zu nehmen. Unten am Fluss war es schöner. Also fuhr er das Freygässchen hinunter zum Rhein und setzte seinen Heimweg entlang der Rheingauer Riviera fort. Die bösen Blicke des einen oder anderen Fußgängers ließen ihn daran zweifeln, dass das freitagnachmittags eine gute Idee war. Nach kurzer Zeit stieg er ab und schob sein Rad.
Der Fall war verzwickter, als er zunächst gedacht hatte. Auch wenn er wusste, dass das Leben zu einem erheblichen Teil aus einer Aneinanderreihung von Zufällen bestand, waren ihm diese in Kriminalfällen ausgesprochen suspekt. Er akzeptierte sie erst, wenn er alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hatte. Wenn es zwischen dem Verschwinden Stefan Müller-Himmelreichs und dem Unfall seiner Frau einen Zusammenhang gab, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass in beiden Fällen etwas faul war.
Mayfeld hatte vor, den Samstag im Rauenthaler Rothenberg zu verbringen. Es war Zeit für den letzten Laubschnitt im Weinberg. An diesem Plan musste er nichts ändern. Weitere Ermittlungen hatten Zeit bis nächste Woche, zumal ja immer noch die Möglichkeit bestand, dass Müller-Himmelreich im Laufe der nächsten Tage von einer unabgesprochenen Geschäftsreise oder einem spontanen Kurzurlaub mit einer Geliebten zurückkam. Aber Mayfeld wollte gewappnet sein. Er rief im Wiesbadener Polizeipräsidium an. Sein neuer Kollege Aslan Yilmaz hatte Bereitschaftsdienst. Er bat ihn, das Polizeiprotokoll vom Unfall Lea Himmelreichs am letzten Dienstag zu besorgen. Und alle verfügbaren Informationen über Lea und Stefan Himmelreich und die Familie Fassbinder zusammenzutragen.
Samstag, 7.September
Es roch nach Alkohol, beißend und süß. Das Böse war um sie herum. Das Böse und ein namenloses, seelenloses Summen und Brummen, das aus ihrem Schädel herausströmte. Daran und an den Schmerzen merkte sie, dass sie noch lebte.
Ich leide, also bin ich.
Ihr Kopf war ein riesiges, brummendes Monster, der verschrumpelte Körper lag halb abgestorben und reglos da, an Schläuchen und Kabeln angeschlossen, durch die etwas Fremdes in sie eindrang. Irgendwer machte sich an ihrem Mund zu schaffen, zog ihre Kiefer auseinander. Ein bekannter Geschmack, ein bekannter Geruch ließen das Brummen leiser werden.
Ein kleines Mädchen sitzt an einem Tisch, hält eine warme Tasse in den Händen und trinkt eine dampfende Flüssigkeit.
Kamillentee hatte sie nie gemocht.
Wer war das kleine Mädchen? Und wer war die Person, die keinen Kamillentee mochte? Ein kurzes, heftiges Erschrecken, Ratlosigkeit. Dann schlief sie ein.
Sie fällt in die Tiefe, ins Boden- und Haltlose, immer kälter und immer dunkler wird es. Schließlich findet sich das Mädchen in einem Kellerloch wieder, ein böser Schatten huscht durch die Tür, der Schattenmann. Die Wände beginnen zu bröckeln und stürzen über ihr zusammen. Die Last der Steine presst die letzte Luft aus ihren Lungen, der Mund füllt sich mit Staub, und sie erstickt japsend und würgend.
Etwas in ihr pochte wie wild. Also war sie doch nicht erstickt.
Sonntag, 8.September
In der Nacht hatte jemand nach dem Schlüssel für den Giftschrank gefragt. Man wollte sie vergiften. Am besten stellte sie sich tot, vielleicht ließen sie dann von ihr ab, vergaßen sie.
Sie sah das Mädchen und den Schattenmann vor ihrem inneren Auge, das Schlachthaus und die Kadaver, den roten Sportwagen und den Abgrund. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Als sie wieder wach wurde, hörte sie Stimmen, die sich beschäftigt etwas zuriefen, hörte ein monotones aufdringliches Piepsen und ein fernes Röcheln. Ihre Augen hielt sie lieber geschlossen. Immerhin war ihr eingefallen, dass sie welche hatte. Sie erwartete nichts Gutes. Sie spürte ihren Körper wieder. Jeder einzelne Knochen tat ihr weh, und sie konnte sich nicht bewegen.
Wenn sie einschlief, war es eine Erlösung. Bis die Bilder vom Schlachthaus und dem Abgrund wiederkamen.
Irgendwann begann sie sich zu fragen, wer sie war. Es fiel ihr keine Antwort ein. Es war besser, wenn sie das Bewusstsein wieder verlor.
Als sie später wieder aufwachte, hatte das Summen in ihrem Kopf aufgehört. Jetzt hörte sie ein rhythmisches Rauschen und Klopfen und ahnte, dass das ihr Herz war. Sie bemerkte, dass sie etwas klarer denken konnte, wusste aber nicht, ob das gut war oder schlecht.
Eine rosa Frauenstimme redete auf sie ein. Sie erzählte von dem schönen Namen, den ihre Mutter ihr gegeben habe. Hörte sie das wirklich, oder war das nur ein Traum? Sie lag regungslos da, wie Schneewittchen in seinem gläsernen Sarg. Die Stimme wurde leiser.
Ein Sarg versinkt in der schwarzen Erde. Ein gläserner Sarg. Ein hölzerner Sarg. Zwei kleine Mädchen schauen zu. Sie schaut zu. Noch ein Sarg wird in die Erde versenkt. Sie ist groß und schaut wieder zu. In der Hand hält sie einen Brief.
Eine zweite Frauenstimme sagte: »Hallo, Lea.« Die Stimme klang rau und braun. Ein Geruch drang in ihr Bewusstsein, ein Duft nach Vanille, Magnolie und Iris. »Wanted«. Angenehm, furchterregend. Sie würgte. Die braune Stimme gab Ruhe.
Die rosa Stimme erzählte von Lea, der Antilope, und Lea, der Löwin. Von ihrem Lieblingsvideo. Plötzlich wusste sie, was ein Video, aber immer noch nicht, wer sie selbst war.
Die Löwin hatte eine Antilope gerissen. In einer plötzlichen Anwandlung von Mitgefühl verschonte sie das Antilopenkitz, dessen Mutter sie gerade aufgefressen hatte. Sie beleckte das zitternde Tier und ließ es an seiner Seite schlafen. Das Kitz wich der mächtigen Raubkatze nicht mehr von der Seite.
Lea, das war wohl sie. Und die Mutter, die ihr diesen schönen Namen gegeben hatte, hatte Martha geheißen, sagte die rosa Stimme.
Martha? Irgendetwas war hier falsch. Sie gähnte.
Die rosa Stimme sprach weiter von dem Tierbaby und dem Raubtier. Die Stimme roch nach Sandelholz und Jasmin. »Beautiful«.
Das Bild hängt in einer herrschaftlichen Villa. Auf weißem Untergrund erkennt man einen bunten, geschwungenen Schriftzug: »Life is beautiful.« Sie geht näher an das Bild heran. Der Schriftzug besteht aus lauter Messern, die bis zum Schaft in die Leinwand hineingerammt worden waren.
Die Stimme wurde leiser und undeutlicher. Später kam eine Männerstimme in den Raum, in dem sie lag und in dem die beiden Frauenstimmen murmelten.
»Sie kann uns hören«, sagte die rosa Stimme.
»Sie hat sogar gegähnt«, sagte die braune.
»Gähnen, das ist ein ganz schlechtes Zeichen bei Bewusstlosen«, antwortete die Männerstimme, »ein primitiver Reflex. Die treten oft auf, wenn es zu Ende geht. Machen Sie sich lieber nicht zu viel Hoffnung.«
Jemand griff nach ihrem Fuß, ein stechender Schmerz, wie von einem Schlangenbiss, durchfuhr ihr Bein. Sie rührte sich nicht. »Sehen Sie«, sagte der Mann, »keine Reaktion.«
Life is beautiful.
* * *
Mayfeld und seine Frau Julia standen im Graben der Kurfürstlichen Burg. Nach dem heftigen Platzregen am Vormittag war die Luft klar und frisch, und die Farben des Burggartens erstrahlten im Sonnenschein. Julia bewunderte die üppige Blumenpracht, komponiert aus Rosen, Lavendel und Sonnenblumen, Mayfeld erzählte, was er in den letzten Monaten recherchiert hatte.
»Der älteste erhaltene Teil der Burg ist der Wohnturm.« Er deutete auf das mächtige Bauwerk, das sich hinter den Burgmauern erhob. »Der sich daran anschließende Palas wurde im Dreißigjährigen Krieg von den Schweden zerstört, der heute noch erhaltene Ostflügel wurde erst später gebaut. Im 14. und 15. Jahrhundert war die Eltviller Burg eine mächtige Festung und diente den Mainzer Erzbischöfen als Residenz.«
Sie schlenderten durch die Anlage, gingen durch den Wehrgang, besichtigten den Burghof, warfen einen Blick in die Kunstausstellung im Turm und in das Rosenkabinett der Rosenfreunde Eltville, wo sie die Sammlung von alten Postkarten rund um das Thema Rosen bestaunten.
»Wozu haben die Mainzer Bischöfe denn eine Burg in Eltville gebraucht?«, fragte Julia auf dem Weg zurück zum Rheinufer.
Sie betraten den »Anleger«, holten sich am Tresen zwei Cappuccino und ergatterten zwei freie Stühle auf der beplankten Terrasse direkt über dem Wasser.
»Das ist eine komplizierte Geschichte«, antwortete Mayfeld.
Eine komplizierte Geschichte hatte auch Mayfeld hinter sich. Nach dem Tod von Burkhard und dem Abschluss der Ermittlungen im Fall Holler war er zusammengebrochen. Nachdem er selbst nur knapp dem Tod entronnen war, hatten seine Feinde, zu denen Staatsanwalt Lackauf und einige hohe Beamte in der Polizeiverwaltung zählten, versucht, den in ihren Augen illoyalen und missliebigen Hauptkommissar endlich loszuwerden.
Man hatte versucht, ihm Widerstand gegen die Staatsgewalt anzulasten, weil er seiner in Stuttgart lebenden Mutter bei einer Demonstration gegen den Abriss des Hauptbahnhofs gegen schlagwütige Kollegen zu Hilfe geeilt war. Ein offener Brief während des Verfahrens an den Innenminister, in dem er gegen den Missbrauch der Polizei zur Durchsetzung umstrittener Projekte protestiert hatte, hatte nicht zur Deeskalation beigetragen. Dass man jedoch eine interne Ermittlung anstrengte, um ihm nachzuweisen, dass er den Tod seines Kollegen vorsätzlich herbeigeführt habe, hatte ihn aus der Bahn geworfen. Diese Niedertracht hatte seine Vorstellungskraft überstiegen. Alle Verfahren wurden letztlich ergebnislos eingestellt, doch sie hatten ihren Zweck, Mayfeld mürbezumachen, fast erreicht.
Aber nur fast. Er ließ sich krankschreiben. Ein halbes Jahr befasste er sich mit allem, was ihn interessierte, nur nicht mit Polizeiarbeit. Er hospitierte in Weingütern, begann wieder mit dem Klavierspielen und trat in den Rheingauer Verein für Heimatforschung ein. Vor Kurzem hatte er eine Prüfung als Eltviller Gästeführer abgelegt. Er beschäftigte sich intensiv mit der Geschichte des Rheingaus. Man musste sie gegen den Strich bürsten, damit nicht nur die Sicht der Herrscher und Sieger überliefert wurde, davon war er überzeugt.
Und er war zurückgekehrt, war wieder da. Vor einer Woche hatte er sich zum Dienst zurückgemeldet.
»Wo bist du, Robert? Wolltest du mir nicht etwas über die komplizierte Geschichte der Burg erzählen?« Julia winkte ihm zu und lächelte spöttisch.
Nun ja, manchmal verlor er sich in Gedanken. Aber meistens war er wieder da.
»Im Mittelalter wurde der Rheingau häufig mit Krieg überzogen, Eltville und andere Städte gingen mehrfach in Flammen auf. Und immer ging es um die Auseinandersetzung zwischen Kaiser, Adel und Kirche. Die Eliten kämpften um Einfluss, Macht und Pfründe, und das Fußvolk zahlte den Blutzoll.«
»Komplizierte Geschichte einfach gemacht«, feixte Julia.
»Von wegen. Hör einfach unbefangen zu.«
Mayfeld begann zu erzählen. Er erzählte von Kaiser Friedrich Barbarossa, dem Helden vieler romantisch verklärter Mythen, und seinem Krieg gegen Papst Alexander und dessen Anhänger.
»Dieser Papst hatte im Laufe seiner Amtszeit vier Gegenpäpste. Bei seiner ersten Wahl haben sich die beiden Papstkandidaten gegenseitig den Papstmantel von den Schultern gerissen und sich mit Waffen bedroht. Auf der einen Seite standen die Parteigänger des Kaisers, auf der anderen Seite dessen Gegner. Je nachdem, aus welchem Adelsgeschlecht die deutschen Erzbischöfe stammten, ergriffen sie Partei für die eine oder andere Seite. Und dann haben sie sich gegenseitig exkommuniziert, haben Krieg gegeneinander geführt und die Ländereien des jeweils anderen verwüstet und niedergebrannt. Der damalige Erzbischof von Mainz, Konrad von Wittelsbach, war zunächst ein Verbündeter des Kaisers, später hielt er zum Papst, obwohl er zunächst vom Gegenpapst eingesetzt wurde. Dafür ließ Kaiser Barbarossa Krieg gegen ihn führen.«
»Und was hat das alles mit der Eltviller Burg zu tun?«
»Wir sind noch bei der Vorgeschichte. Die Besitztümer des Mainzer Bischofs in Eltville wurden damals zerstört. Ein paar Jahre später haben sich Friedrich Barbarossa und Papst Alexander III. in Venedig wieder versöhnt, nachdem sie zuvor halb Oberitalien in Schutt und Asche gelegt hatten. Für Leute wie die wurde der Spruch ›Pack schlägt sich, Pack verträgt sich‹ nicht erfunden, aber er passt auf sie.«
»Mein Mann, der Rebell, der Feind der Herrschenden«, spöttelte Julia.
Mayfeld beschloss, das zu ignorieren. »Auf jeden Fall wurden aus Anlass des Friedensschlusses zwischen Papst und Kaiser alle Exkommunikationen aufgehoben, und Konrad von Wittelsbach, wegen dessen Bündnisses mit dem Papst das halbe Rheintal niedergebrannt worden war, durfte Nachfolger seines Nachfolgers auf dem Stuhl des Mainzer Erzbischofs werden, nachdem dieser Nachfolger auf einem anderen Kriegszug in Oberitalien am Sumpffieber gestorben war. Kannst du noch zuhören?«
»Na ja …«
»Die Bündnisse wechseln, die Begründungen für Kriege wechseln, die Motive Hass, Machtstreben und Habgier bleiben immer die gleichen.«
»Eine Kriminalgeschichte …«
»… mit vielen Fortsetzungen.«
»Erzählst du mir die ein andermal?« Julia wirkte erschöpft.
»Versprochen.« Mayfeld musste schmunzeln. Ob Julia das Versprechen als Drohung auffasste?
»Nächste Woche kann es anstrengend in der Klinik werden, ein Kollege ist in Urlaub, und eine Kollegin hat sich am Freitag krankgemeldet. Das riecht nach Überstunden. Ich werde kaum dazu kommen, in Kiedrich im Gutsausschank zu helfen.«
Der Gutsausschank von Julias Eltern sollte am Dienstag wieder öffnen. Die erste Zeit würde die Tageskarte dann wohl bescheiden und schlicht ausfallen, aber für die Klassiker Handkäs, Spundekäs, Wildsülze & Co. würden Julias Mutter und die Schwägerin schon sorgen.
»Kannst du mir trotzdem morgen im Weinberg helfen? Ich bin mit dem Laubschnitt gestern nicht ganz fertig geworden.«
Im letzten Jahr hatte ihm seine Tochter Lisa geholfen, aber die war in diesem Jahr im Rahmen eines Schüleraustauschs für einige Wochen in Frankreich.
Julia seufzte. »Na klar. Dann habe ich einen Grund, halbwegs pünktlich aus dem Laden zu gehen. Du sagst mir, was ich machen soll. Vielleicht tut das ja mal ganz gut: einfache körperliche Arbeit, nicht nachdenken, brav machen, was man gesagt bekommt.«
»Es tut nicht weh. Einen Nachmittag hältst du das aus.«
Julia gab ihm einen Knuff zwischen die Rippen. »Und wie ist es dir die erste Woche bei der Polizei ergangen?«
»Es gibt zwei neue Kollegen im Team, Nina Blum und Aslan Yilmaz. Die scheinen ganz in Ordnung zu sein. Ansonsten war nicht viel los, ein Vermisstenfall, der Mann von Lea Himmelreich ist spurlos verschwunden.«
»Die Köchin aus Erbach? Die Arme.«
»Kann man so sagen. Sie hatte einen Verkehrsunfall und liegt in eurer Klinik im Koma.«
Julia wurde blass, die Nachricht schien sie zu bekümmern.
»Wenn sie Glück hat und sich wieder erholt, bekommt sie es vielleicht mit mir zu tun. Gehen wir?« Julia stand auf und warf sich ihren bunt gemusterten Mantel über die Schultern.
»Kleinen Moment, ich hab noch was zu erledigen.« Mayfeld ging an die Theke des »Anlegers«. »Wer von Ihren Kollegen hat am vergangenen Dienstag hier gearbeitet?« Er zeigte der irritierten Bedienung seinen Dienstausweis.
»Boris.« Die junge Frau deutete auf einen hochgewachsenen Burschen, der ein Tablett mit leeren Gläsern balancierend von der Terrasse hereinkam. Mayfeld zeigte ihm ebenfalls seinen Dienstausweis und dann ein Bild von Stefan Müller-Himmelreich.
»Haben Sie den schon mal gesehen?«
Der Kellner schüttelte den Kopf. »Sollte ich?«
»Das ist Stefan Müller-Himmelreich. Sagt Ihnen der Name was?«
Boris überlegte einen Moment. »Nach dem hat am Dienstag eine Dame gefragt.«
»Aber gesehen haben Sie den Mann an diesem Tag nicht?«
»Weder an diesem Tag noch sonst jemals.«
Mayfeld fragte nach weiteren Kollegen, die am Dienstag im »Anleger« gearbeitet hatten.
»Yvonne war am Dienstag hier.« Boris deutete auf eine junge Frau, die gerade das Lokal betrat.
Auch Yvonne hatte Müller-Himmelreich noch nie gesehen. Auch sie erinnerte sich an die Dame, die nach ihm gefragt hatte.
»Sie hat gesagt, sie heiße Fassbinder, und wollte wissen, ob Herr Müller-Himmelreich oder Frau Himmelreich vielleicht eine Nachricht für sie hinterlassen hätten. Aber wir konnten ihr nicht weiterhelfen.«
Der Kommissar ging nach draußen, dort wartete Julia. Er hakte sich bei ihr ein, gemeinsam schlugen sie den Weg Richtung Walluf ein.
* * *
»Dauert es noch lang?«
»Wir sind gleich da.«
Chiara war mit Hannah auf dem Fahrrad unterwegs. Entlang des Treidelpfades dauerte es von Eltville bis zum Oestricher Kran eine Dreiviertelstunde, wenn man ein sechsjähriges Kind dabeihatte. Chiara musste raus, etwas tun, sie hielt es in der Rheingauer Straße nicht aus.
Am Tag des offenen Denkmals hatten alle möglichen alten Bauten geöffnet, meistens gab es eine Führung. Beim Weinverladekran von Oestrich war es nicht anders.
Der Kran ähnelte aus der Ferne einer zu breit und zu kurz geratenen Windmühle aus dunklem Holz, wie sie Chiara einmal in Holland gesehen hatte, bloß ohne Flügel, dafür mit einem Kranausleger. Im Inneren erzählte ein Mann den Besuchern, wann der Kran erbaut worden war und wie er funktionierte. Früher hatten im Rheingau die Erzbischöfe von Mainz das Sagen, sogar den Bau eines Krans mussten sie genehmigen, weil es nämlich mit so einem Kran etwas zu verdienen gab. So ungefähr verstand sie den Mann. Mit dem Kran wurden vor allem Weinfässer im Auftrag der Mönche von Kloster Eberbach verladen, denen die meisten und die wertvollsten Weinberge im Land gehörten. Die eigentliche Arbeit verrichteten die Kranknechte. Das waren Gefangene oder Tagelöhner, die in die riesigen Laufräder im Inneren des Kranhauses steigen und wie die Hamster losrennen mussten. Bremsen gab es nicht; wenn jemand stürzte und zwischen die Räder geriet, während eine Last verladen wurde, hatte er Pech gehabt, brach sich alle Knochen und starb.
Porca miseria, waren das Zeiten gewesen.
»Waren bei Mama die Bremsen kaputt?«, fragte Hannah, als sie wieder nach draußen gingen.
»Ich weiß es nicht, mein Schatz. Wir fragen deine Mama, wenn sie aus dem Krankenhaus zurückkommt.«
»Wann kommt sie wieder?«
Das wusste Chiara nicht. Was sie wusste, war, dass Lea am Dienstagmittag beim Verlassen des Hauses vor Wut geschäumt hatte. Es war gut, dass sie das dem Kommissar nicht erzählt hatte, die cuoca war mit dem Unfall gestraft genug.
»Und Papa, wann kommt der wieder?«
Das wusste Chiara ebenfalls nicht. Und es war ihr herzlich egal.
Montag, 9.September
Die Morgenbesprechung des Kommissariats für Tötungsdelikte und verschwundene Personen fand im Konferenzraum im dritten Stock des Polizeipräsidiums statt. Kriminaloberrat Oskar Brandt war auch dabei. Er war Mayfelds zuverlässigster Verbündeter in den höheren Rängen der Wiesbadener Polizei. Seit er von einem Herzinfarkt genesen und wieder zurück im Dienst war, hatten die Attacken und Nachstellungen gegen Mayfeld deutlich nachgelassen. Als höherer Beamter, der seine Karriere ohne Parteibuch gemacht hatte, wirkte Brandt wie aus der Zeit gefallen, ein Relikt der Vergangenheit. Einer, der es weit gebracht und dennoch sein Rückgrat behalten hatte. Trotz fehlender Nähe zur Politik hatte er beste Verbindungen zu den wichtigen Leuten und war in der Lage, seine Mitarbeiter zu schützen. Brandt konnte nur ein weiterer Herzinfarkt, die Beförderung zum Kriminaldirektor oder die Pensionierung von seinem Posten hinwegfegen.
»Willst du die Besprechung leiten?«, fragte Heike Winkler.
Die Kriminalhauptkommissarin hatte Mayfeld während seiner Abwesenheit vertreten. Nun, wo er halbtags zurück war, wollten sie sich die Leitung kollegial teilen. Das war zwar ein ungewöhnliches Arrangement, aber verwaltungstechnisch und beamtenrechtlich nicht unmöglich. Es war etwas, das nur einer wie Brandt durchsetzen konnte. Und es war etwas, das nur mit einer Kollegin wie Heike funktionierte. Wenn es jemanden gab, auf dessen Loyalität sich Mayfeld unbedingt verlassen, dem er blind vertrauen konnte, dann war es Heike. Außerdem war sie ein Arbeitstier. Sie hatte keine Karriereambitionen, sie stürzte sich in die Arbeit, um sich von einer Reihe unglücklicher Liebesbeziehungen abzulenken.
»Aslan haben wir ja schon letzte Woche begrüßt, jetzt heißen wir dich herzlich willkommen, Nina«, begann Brandt. Er stellte die Kollegin vor. Kriminalkommissarin Nina Blum hatte zuvor bei der Kripo Frankfurt bei der Sitte gearbeitet und kam als Ersatz für Hartmut Meyer, der nach einem zweiten Schlaganfall frühpensioniert worden war.
»Hi!« Nina grinste in die Runde. Mit ihrer Stupsnase, den blond gefärbten Haaren und dem rosa Lippenstift erinnerte sie ein bisschen an eine Barbiepuppe, an eine Barbie in Jeans und Westernstiefeln. »Ich dachte, ich lad euch zum Einstand heute Abend auf ein Bier bei ›Walter’s Futterkrippe‹ ein. Ich mag es deftig.«
»Gut, beginnen wir mit der Arbeit«, sagte Mayfeld. Ninas Einstand würde er versäumen, aber Currywurst und Bier waren eh nicht sein Fall. »Ein Wiesbadener Anwalt und Steuerberater wird vermisst, Stefan Müller-Himmelreich. Haben wir etwas über den, Aslan?«
Kriminalkommissar Aslan Yilmaz war ein echter Rheingauer Bub, in Rüdesheim geboren, in Geisenheim zur Schule gegangen. Seine Polizeiausbildung hatte er in Wiesbaden gemacht, zuletzt war er im Drogendezernat in Darmstadt tätig gewesen. Mit seinem stets offenen weißen Hemd, aus dem die schwarzen Brusthaare herauslugten, dem Goldkettchen und den mediterranen Gesichtszügen vermutete man schnell einen südländischen Macho in ihm. Aber das war allenfalls die halbe Wahrheit. Mayfeld hatte selten einen gebildeteren und kultivierteren Menschen kennengelernt.
»›The first thing we do, let’s kill all the lawyers‹«, begann Yilmaz seinen Bericht. »Scherz beiseite. Stefan Müller-Himmelreich hat seit zehn Jahren eine Anwalts- und Steuerberaterkanzlei in der Wiesbadener Adolfsallee. Gute, aber nicht allerbeste Lage. Er arbeitet dort allein und hat sich vor ein paar Jahren auf Steuerrecht spezialisiert. Gegen ihn liegt nichts vor, wenn man von ein paar Punkten in Flensburg wegen zu schnellen Fahrens absieht. Als vermisst gemeldet wurde er am Donnerstagabend von seinem Schwiegervater Dr. Reinhardt Fassbinder aus Eltville. Auch gegen Dr. Fassbinder findet man nichts in unseren Computern.«
»Ich nehme die Vermisstenanzeige ernst«, sagte Mayfeld. »Der Anwalt ist völlig überraschend nicht in seiner Kanzlei erschienen. Er hat deswegen zwei wichtige Terminsachen versäumt, und das sei ganz untypisch für ihn, sagt eine Mitarbeiterin. Hat die Handyortung etwas ergeben?«
Yilmaz schüttelte den Kopf. »Negativ. Das Handy ist abgeschaltet. Nach seinem Auto wird gesucht. Kriegen wir einen richterlichen Beschluss zur Überprüfung seiner Telefonverbindungen? Vermutlich nicht. Bleibt also nur der amerikanische Geheimdienst.«
»Wie bitte?« Brandt stutzte.
»Das war ein Scherz.«
»Die Verdachtsmomente für ein Verbrechen sind zu dünn für eine richterliche Anordnung«, schaltete sich Heike Winkler ein. »Aber war da nicht etwas mit seiner Frau?«
»Das war der zweite Grund, warum ich misstrauisch geworden bin. Am selben Tag, an dem Müller-Himmelreich verschwunden ist, hatte seine Frau einen schweren Autounfall.«
Nina Blum ließ sich mit einem Pfiff durch die Zähne vernehmen. »An dem Tag war ja ganz schön was los bei den Himmelreichs.«
»Stimmt, und ich wüsste gerne genauer, was«, pflichtete ihr Mayfeld bei. »Die Frau kann über ihren Mann nichts sagen, sie liegt im Koma, die Tochter ist mit sechs Jahren zu jung für eine Aussage, die Schwiegereltern des Verschwundenen scheinen ihn nicht besonders gut zu kennen und können nichts Interessantes über ihn berichten. Wir wissen von dem Mann bislang nur, dass er mit einer bekannten Köchin verheiratet ist, als Anwalt und Steuerberater tätig ist, gelegentlich in der Schweiz zu tun hat, in seiner Freizeit ins Fitnessstudio geht und ab und zu psychologische Seminare besucht.«
»Hinter diesen Informationen wird noch keine Person sichtbar«, meinte Winkler. »Was wissen wir über seine Familie?«
»Er ist Einzelkind, seine Eltern sind bereits verstorben«, berichtete Yilmaz. »Er ist mit Lea Himmelreich verheiratet und hat mit ihr eine Tochter. Lea Himmelreich ist Köchin, betreibt ein Lokal in Erbach und hat einen Michelin-Stern. Dem Schwiegervater des Vermissten, Dr. Fassbinder, gehört die FAKEKG, Fassbinder Kellereitechnik, in Geisenheim, die Rüdesheimer Sektkellerei und das Weingut Freund in Eltville. Fassbinder und seine Frau Christel haben vier Kinder, das älteste, Thomas, ist Geschäftsführer der FAKEKG, Lea ist die Köchin, und über die beiden anderen Kinder habe ich in der Kürze noch nichts herausgefunden.«
»Müller-Himmelreich bleibt ein unbeschriebenes Blatt«, sagte Mayfeld. »Ein Mann ohne Eigenschaften, ohne Freunde, ohne Feinde. Das Auffälligste an seinem Verschwinden ist der gleichzeitige Unfall seiner Frau. Haben wir das Polizeiprotokoll des Unfalls?«
Yilmaz reichte Mayfeld eine Aktenmappe über den Tisch. »Sie ist am letzten Dienstag um vierzehn Uhr dreißig zwischen Hausen und Kiedrich von der Straße abgekommen. Die Straße dort ist ziemlich kurvig, und Richtung Kiedrich geht es steil bergab. Trotzdem muss man wie eine Verrückte rasen, um mit derartiger Wucht die Leitplanke einzureißen und ins Tal zu stürzen. Dass Frau Himmelreich überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Unmittelbar nach dem Ereignis kam eine Ärztin an den Unfallort. Sie hat Erste Hilfe geleistet und den Notarztwagen gerufen.«
Mayfeld berichtete weiter über seine Befragungen vom Wochenende. Heikes Handy klingelte. Sie nahm das Gespräch an und machte sich eine kurze Notiz.
»Man hat Müller-Himmelreichs Auto gefunden. Es steht auf einem Parkplatz seitlich des Wiesbadener Hauptbahnhofs. Der Parkschein wurde am letzten Dienstag um siebzehn Uhr dreißig gelöst. Von innen können wir uns den Wagen natürlich nur mit richterlicher Genehmigung ansehen. Oder mit Genehmigung der Ehefrau. Nina kann in den Horst-Schmidt-Kliniken nachfragen, wie es Frau Himmelreich geht. Was ist eigentlich aus dem Wrack des Unfallautos geworden?«
»Dazu steht nichts im Protokoll«, musste Yilmaz einräumen.
»Man sollte es sicherstellen und untersuchen«, schlug Heike Winkler vor. »Darum kümmern sich Nina und ich.«
»Aslan und ich statten Müller-Himmelreichs Kanzlei einen Besuch ab«, ergänzte Mayfeld.
* * *
In der Nacht war sie immer wieder wach geworden. Sie hatte es aber nicht gewagt, sich bemerkbar zu machen, vielleicht hatten sie den Schlüssel für den Giftschrank ja wiedergefunden und würden sie endgültig vergiften. Oder der Mann mit den primitiven Reflexen würde sie wieder beißen.
Je wacher sie wurde, desto deutlicher spürte sie ihre Schmerzen. Der Rücken brannte und juckte. Eine Stelle fühlte sich an, als würde jemand ein Messer hineinstechen und es im Fleisch herumdrehen. Sie dachte an die Stimmen, die gestern mit ihr gesprochen hatten. Sie kannte die Stimmen und die Düfte, erinnerte sich aber nicht mehr an die Menschen und Namen, die dazugehören mussten. Sie wusste nicht, wer sie war, und kannte niemanden. Angst durchflutete ihren gemarterten Körper und den dröhnenden Kopf. Wie lange war sie bewusstlos gewesen? War es überhaupt gut, dass sie wieder aufwachte?
Immer wieder ging ihr die Geschichte von der Löwin und der Antilope durch den Kopf. Die Frauenstimme hatte sie Lea genannt und behauptet, eine gewisse Martha sei ihre Mutter. Und eine Löwin habe ein Antilopenkitz adoptiert. Von der Geschichte hatte sie schon einmal gehört. Warum erinnerte sie sich an so einen Quark, aber nicht daran, wer sie war und was mit ihr passiert war?
Quark. Plötzlich kam ihr ein Rezept in den Sinn. Mascarponecreme mit Quittengelee. Zitronenschale abreiben, mit Mascarpone, Sahne, Zucker und Zitronensaft vermischen und aufschlagen, Quittengelee erhitzen, Vanilleschoten auskratzen, Mark in das Gelee geben, abkühlen lassen und über die Quarkmasse geben. Das Rezept war von ihr. War Lea Köchin? Auf jeden Fall war das ein schöner Beruf.
Menschen betraten den Raum, hantierten an ihr herum, verließen den Raum wieder. Sie hielt still, schlief wieder ein, träumte.
Sie steht in einem Schlachthaus. An den gekachelten Wänden hängen Kadaver. Wildschweine, Rehe, Menschen. Kadaver und Leichen. Schwarze gesichtslose Männer hantieren mit Beilen und großen Messern, sie schneiden die toten Körper auseinander. Der Boden ist voller Blut. Das dürft ihr nicht, will sie rufen, aber ihr Mund ist verschlossen. Du bist gleich dran, ruft ihr ein Mann mit dumpfer Stimme zu. Sie will nicht geschlachtet und ausgenommen werden, will nicht sterben. Sie rennt aus dem Schlachthaus hinaus, hetzt durch den Wald, stolpert und fällt in die Tiefe.
Als sie später wieder aufwachte, schien niemand im Raum zu sein. Also konnte sie es wagen: Sie öffnete die Augen. Sie sah Gestänge, Flaschen und eine Leuchtröhre. Kein schöner Raum. Sie drehte den Kopf, zu ihrer Überraschung ging das, und blickte auf Schläuche, Kabel und piepsende Monitore. Sie war in einem Krankenhaus. Auf einer Intensivstation. Es kam ihr vor, als ob sie schon einmal hier gewesen wäre, vor langer Zeit. Aber woher wollte sie das wissen, wenn sie noch nicht einmal bei ihrem Namen ganz sicher war?
Wie war sie hierhergekommen? Was war mit ihr geschehen? Sie musste nachdenken. Das schien ein wenig besser zu funktionieren als zuletzt. Sie schloss die Augen, um sich zu konzentrieren.
»Guten Morgen, Frau Himmelreich! Können Sie mich hören, Frau Himmelreich?«
Eine zwitschernde Frauenstimme schwebte durch den Raum, begleitet von einer Brise guter Laune. Die Frau hatte gut zwitschern. Sie war schließlich nicht in ihrer Lage. Wahrscheinlich freute sie sich, weil sie den Schlüssel zum Giftschrank gefunden hatte. Lea hielt inne. Sie nahm sich vor, positiver zu denken, irgendwer hatte ihr vor einer Ewigkeit einreden wollen, dass das gut sei. Sie konnte es ja mal versuchen. Warum sollte ein gut gelaunter Vogel sie vergiften wollen? Der Vogel roch nach Kastanie und Honig. Keiner der edlen Düfte, wie sie sie gestern gerochen hatte, eher ein Duschgel aus der Drogerie.
Sie spürte ihre Nähe. Wie sie sich über sie beugte. Etwas kitzelte in ihrem Gesicht, vielleicht ein Haar.
»Iiih!« Sie riss die Augen auf und blickte in das Gesicht einer jungen Frau. »Iiih!«
Die Frau im blauen Kittel fuhr zurück und stieß ebenfalls einen Schrei aus, spritzig wie eine Zitrone. Lea presste die Augen wieder zu.
Dann lachte das Vögelchen. »Ja, Frau Himmelreich, das ist ja toll! Sie sind wieder wach! Können Sie mich verstehen, Frau Himmelreich?«
Nichts verstand sie. Was sollte daran toll sein, dass sie wach war und ihr der Rücken wehtat? Was hatte das mit dem Himmelreich zu tun? Das war wohl eher die Hölle. Jetzt bloß nichts Falsches sagen. Sonst überlegte es sich die junge Frau noch und ging zum Giftschrank.
»Sagen Sie doch was, Frau Himmelreich!«
Es dämmerte ihr; Frau Himmelreich, das war sie: Lea Himmelreich, die nicht nach Kastanie und Honig roch wie der zwitschernde Vogel, sondern nach altem Käse. Lea Himmelreich, der der Arsch wehtat. Kastanienschaumsüppchen und Parmesantaler, das war auch ein Rezept von ihr.
»Hallo, Frau Himmelreich! Machen Sie die Augen auf! Ich weiß genau, dass Sie mich hören können.«
Sie hatten sie entdeckt, es hatte keinen Zweck mehr, sich zu verstecken. Außerdem wollte sie ja positiv denken. Sie öffnete die Augen und schaute der lächelnden Schwester ins Gesicht.
»Toll! Wie schön, dass Sie die Augen aufgemacht haben. Sie haben so schöne Augen. Sie sind wieder da.«
Die Schwester strich ihr in einer zärtlichen Geste über das Gesicht. Lea weinte.
»Was haben Sie denn? Es wird alles gut, Frau Himmelreich, nicht weinen!« Sie streichelte ihre Wange. »Sagen Sie doch mal was, bitte!«
Das auch noch. Wahrscheinlich sollte es etwas Nettes, Freundliches, Positives sein.
»Kein Gift!«, röchelte sie und erschrak über ihre raue Stimme.
* * *
Die Kanzlei von Müller-Himmelreich befand sich im ersten Geschoss eines klassizistischen Gebäudes in der Adolfsallee. Die ehemalige Prachtstraße, die einst zum Flanieren eingeladen hatte, war in den letzten Jahrzehnten von einer Blechlawine aus Autos heimgesucht worden. Mayfeld stellte seinen Volvo im umfunktionierten Vorgarten der Stadtvilla ab, auf einem für Mitarbeiter und Besucher der Kanzlei reservierten Parkplatz.
»Warum hat Müller-Himmelreich sein Auto am Bahnhof abgestellt und nicht hier?«, fragte Mayfeld.
»Wenn er mit dem Zug verreisen wollte, sind es von hier aus höchstens drei Minuten mehr Laufweg«, ergänzte Yilmaz.
Das Treppenhaus machte einen gepflegten und gediegenen Eindruck, und dieser Eindruck setzte sich in den Räumen der Kanzlei fort. Schwere Eichenholztüren, Parkettfußboden, Stuckdecken. Alles gepflegt, aber nicht protzig. Eine unauffällig in einem Winkel an der Decke hängende Videokamera war eines der wenigen sichtbaren Zugeständnisse an die Moderne. Gepflegt und gediegen, so wirkte auch Mathilde Meyer, die sich als Kanzleivorsteherin vorstellte. Sie war Mitte fünfzig, trug eine Zuchtperlenkette über der rosa Seidenbluse und herrschte über drei weitere Mitarbeiterinnen, die sie »unsere Mädchen« nannte.
Frau Meyer führte Mayfeld und Yilmaz in ein Besprechungszimmer, das die gleiche Seriosität ausstrahlte wie die ganze Kanzlei samt Mitarbeiterinnen. Sie bot den beiden Beamten Kaffee an, den sie annahmen und den eines von »unseren Mädchen« kurze Zeit später hereinbrachte.
»Sie wollten uns Kaffee bringen lassen, keine Spülbrühe«, war Mayfeld versucht zu sagen, nachdem er gekostet hatte, schwieg aber.
»Es ist ganz und gar undenkbar, dass Herr Müller-Himmelreich aus freien Stücken in der Kanzlei abwesend ist«, sagte Frau Meyer gestelzt. »Wir haben jetzt schon mehrere Terminsachen versäumt, wie ich schon Ihren Kollegen am Telefon gesagt habe, ständig rufen verärgerte Mandanten an. Das ist nicht der Stil des Chefs.«
»Sie können ausschließen, dass er vergessen hat, Sie über eine Reise zu informieren?«, fragte Yilmaz.
Meyer musterte ihn wie einen dummen Jungen. »Ja, das kann ich, junger Mann. Außerdem hätte er dann auch die Terminsachen vergessen müssen. Und was soll das für eine Reise sein, die jetzt schon bald eine Woche dauert?«
»Aber Ihr Chef ist doch häufig unterwegs?«, hakte Mayfeld nach.
»Zu auswärtigen Gerichtsterminen oder anlässlich von Betriebsprüfungen.«
»Er fährt auch öfter in die Schweiz?«, wollte Yilmaz wissen.
»Auch das. Haben Sie etwas gegen die Eidgenossen? Hegen Sie gar Vorurteile gegen Menschen mit Geschäftsbeziehungen in die Schweiz? Das will ich doch nicht hoffen.« Die Miene von Frau Meyer war zu einer Maske von eingefrorener Höflichkeit und kaum verhohlener Missbilligung geronnen.
»Wann haben Sie Müller-Himmelreich das letzte Mal gesehen?«, fuhr Yilmaz in der Befragung fort.
»Hatte ich Ihnen das nicht schon am Telefon gesagt? Letzte Woche am Dienstagmorgen um zehn Uhr.«
»Welchen Eindruck machte er auf Sie?«, fragte Mayfeld sanft.
Auf ihn reagierte Frau Meyer etwas freundlicher. Sie dachte sogar nach, bevor sie antwortete. »Er war hektisch, ziemlich gereizt. Er hat eine ganze Kanne Kaffee getrunken.«
Bei der Qualität des Kaffees wäre er auch schlecht gelaunt gewesen, dachte Mayfeld. »Kam es in letzter Zeit öfter vor, dass er gereizt war? Ist Ihnen sonst etwas an ihm aufgefallen?«
»Ja, schon«, sagte die Kanzleivorsteherin zögerlich. »Er war in letzter Zeit oft missgelaunt und leicht reizbar. Am Freitag vorletzter Woche kam er ziemlich übel zugerichtet in die Kanzlei.«
»Wie bitte?«
»Sie haben mich schon recht verstanden. Er hatte ein blaues Auge und eine dicke Lippe. Er meinte, er sei nach einem feuchtfröhlichen Abend die Treppe hinuntergefallen. Mal abgesehen davon, dass der Chef nicht getrunken hat, sahen die Verletzungen nicht so aus, als ob man sie sich bei einem Treppensturz zuziehen könnte.«
»Haben Sie eine plausiblere Erklärung für die Verletzungen?«
Frau Meyer schüttelte den Kopf. Sie schien sich unsicher zu sein, ob sie mit ihren Mitteilungen nicht schon zu weit gegangen war.
»Als seine langjährige Kanzleivorsteherin sind Sie sicherlich so etwas wie eine Vertraute.« Mayfeld versuchte es mit Schmeicheleien. Er schien damit Erfolg zu haben. Das erste Mal während ihres Gesprächs lächelte Frau Meyer, ihr Gesichtsausdruck bekam etwas Huldvolles. »Hatte er Feinde? Besonders gute Freunde? Gibt es irgendetwas Besonderes in seinem Leben?«
Frau Meyer dachte nach. Sie wusste etwas, war aber offensichtlich unentschieden, ob sie es den Kommissaren mitteilen sollte. Vermutlich wog sie die Sorge um den verschwundenen Chef gegen das Risiko ab, dass er morgen wieder in der Kanzlei stand und ihr Vorwürfe machte, dass sie Dinge ausgeplaudert hatte, die niemanden etwas angingen. Die Angst vor Vorwürfen gewann die Oberhand. »Ich verstehe Ihre Frage nicht, Herr Kommissar. Sind wir nicht alle etwas Besonderes?«
Frau Meyer hatte sich entschlossen, nichts zu sagen, da konnte man nichts machen.