Tod in zwei Tonarten - Roland Stark - E-Book

Tod in zwei Tonarten E-Book

Roland Stark

4,9

Beschreibung

Während des "Rheingau Musik Festivals" wird die Leiche eines jungen Mannes neben der Seebühne von Schloss Vollrads entdeckt. Einige Tage zuvor ist in Walluf ein erfolgreicher Unternehmensberater verschwunden. Dessen Frau lässt ihr Leben Revue passieren - und hat einen schrecklichen Verdacht: Hat ihr Sohn, ein talentierter junger Pianist, etwas mit dem Mord an seinem Freund und dem Verschwinden seines Vaters zu tun? Kommissar Mayfeld nimmt die Ermittlungen auf. Sein verschrobener Vater, ein ehemaliger Musiker, führt ihn auf die richtige Fährte, und am Ende findet der Kommissar mehr Schuldige als Täter.

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Roland Stark, geboren 1956, ist Arzt und Psychotherapeut. Er ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt im Rheingau. Im Emons Verlag erschienen seine Kriminalromane »Tod bei Kilometer 512«, »Tod im Klostergarten«, »Tod in zwei Tonarten« und »Frau Holle ist tot«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-340-8 Rheingau Krimi Originalausgabe

»Es waren zwei Königskinder,

Die hatten einander so lieb;

Sie konnten zusammen nicht kommen,

Das Wasser war viel zu tief.«

Volksweise

»Das habe ich getan«, sagt mein Gedächtnis.

»Das kann ich nicht getan haben«,

sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich.

Endlich – gibt das Gedächtnis nach.

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse

Für Ingrid

Donnerstag, 24.Juli

Der Abendhimmel färbte sich rot. Bald würde es dunkel über Schloss Vollrads werden.

»I’m a cancer survivor!«, rief die alte Dame im Nadelstreifenanzug in die Menge. »I’m a cancer survivor thanks to God. Do you believe in Jesus? Do you believe in Jesus?«

»Yeah!«, tönte es zögerlich aus dem Publikum.

»Do you believe in Jesus?«, insistierte die schwarze Lady.

»Yeah!« Jetzt trauten sich ein paar mehr Zuhörer zu antworten.

»Yeah!«, röhrte die Alte voller Genugtuung. »And he walked upon the water. Do you believe he walked upon the water?«

»Yeah!«

Sie griff nach der E-Gitarre, die auf dem Ständer auf der Bühne stand und hängte sie sich um die Schultern. Sie gab der Band einen Wink. Drei alte schwarze Männer, zwei etwas jüngere Weiße und eine Indianerin traten ins Rampenlicht. Ein Scheinwerfer fiel auf das Schlagzeug und einen weiteren Musiker.

»Jesus walked the water, he’s all right with me!«, sang die Alte mit der schwarzen Stimme und griff in die Saiten. Die Band stimmte in den Wechselgesang mit ein. Sieben Musiker, drei Akkorde und eine beseelte Botschaft. »Jesus walked the water and you and I’ll be free!«

Die Band gab ihr Bestes. Das Schlagzeug trieb den Beat voran, die Bässe liefen trocken die Tonleitern rauf und runter, die Gitarren untermalten mit ihren Riffs den Gesang der »cancer survivor« und ihrer Kollegen. Eine Mundharmonika erzählte wehmütig von Schmerz und Hoffnung.

Das Konzert der »Last and Lost Blues Survivors« ging seinem Ende zu. Robert Mayfeld saß auf der Brüstung der Mauer, die den Garten der Orangerie von der Obstwiese des Schlosses trennte. Dort hatten die Veranstalter des Rheingau Musik Festivals Stühle für das Publikum aufgestellt, das gebannt dem Geschehen auf der Seebühne am Fuße des Schlossturms folgte. In den ersten Reihen saßen die Sponsoren des Konzerts, oft in dunkle Anzüge und Kostüme gekleidet, dahinter Zuhörer in eher legerer Kleidung. Alle machten einen gelösten Eindruck.

Robert Mayfeld ließ das Programm vor seinem inneren Ohr Revue passieren. »Georgia in my mind«, »I’ve got the blues«, »Route 66«. Und »If you go walking on my love you at least could take off your shoes.« Wenn du schon auf meiner Liebe herumtrampelst, könntest du zumindest deine Schuhe ausziehen.

»Yeah«, raunte Herbert Mayfeld seinem Sohn zu und gab ihm einen freundschaftlichen Knuff in die Rippen. »I’m a survivor, too, thanks to God.«

Es war die erste gemeinsame Unternehmung von Kommissar Mayfeld mit seinem Vater seit Jahren. »Lauter alte Knacker, die ihr Leben dem Blues verschrieben haben. Verrückte alte Amis«, hatte sein Vater ihm den Auftritt schmackhaft gemacht. »Verkrachte Existenzen, die in der Blüte ihres Alters neu entdeckt wurden und jetzt auf Welttournee gehen. Kann man was von lernen. Nämlich, dass es nie zu spät ist.«

Mayfeld verband mit seinem Vater eine sehr wechselhafte Geschichte voller Liebe und Enttäuschungen. Wenn er ehrlich zu sich war, waren es mehr Enttäuschungen gewesen. Aber im letzten Jahr hatte sich etwas verändert. Mayfeld hatte wieder Hoffnung gefasst. Beide schienen wieder Hoffnung gefasst zu haben, dass ihre gemeinsame Geschichte doch noch ein gutes Ende finden könnte.

»Wir besuchen ein paar Konzerte des Rheingau Musik Festivals«, hatte sein Vater vorgeschlagen. »Nicht nur Blues, die bringen natürlich auch jede Menge Klassik, zum Beispiel wunderbare Klavierkonzerte.«

Mayfelds Vater war in seinem früheren Leben ein begnadeter Pianist und Klavierlehrer gewesen, bis ihn das Schicksal aus der scheinbar vorgezeichneten Bahn geworfen hatte. Mayfeld hatte die Einladung angenommen.

Auf dem Teich rund um den Wohnturm des Schlosses hatte das Technische Hilfswerk Wiesbaden Pontons aus Aluminium und Stahl zu Wasser gelassen, die durch einen roten Kran, der von außerhalb der Schlossmauern auf das Gelände ragte, stabilisiert wurden. Und auf dieser improvisierten Bühne fegte eine klein gewachsene Achtzigjährige wie ein Wirbelwind herum, thanks to God. Begleitet von rockenden und groovenden Altersgenossen. Irgendetwas musste dran sein an der Geschichte von dem Mann, der über das Wasser gelaufen war.

Mayfelds Blick wanderte über das trübe Wasser, das von einigen Scheinwerfern am Rande des Teichs angestrahlt wurde. Die Band hatte ihre Hymne an die Hoffnung und den Glauben gerade ein letztes Mal zum Besten gegeben und nahm den enthusiastischen Beifall des Publikums entgegen.

Das Wasser bewegte sich. Luftblasen stiegen aus der Tiefe auf, konzentrische Wellen breiteten sich aus und versetzten die Wasserlinsen in eine schaukelnde, wiegende Bewegung. Etwa zwei Meter seitlich der Bühne erschien irgendetwas auf der Oberfläche des Teichs, das Mayfeld zunächst wie ein dunkler Fleck vorkam. Der Fleck wurde größer und irritierte den Kommissar. Er hatte Mühe, Genaueres zu erkennen. Vor allem wollte er nicht glauben, was sich da im Zwielicht andeutete. Er sprang von der Brüstung der Mauer nach unten auf die Wiese zu den anderen Zuhörern und lief nach vorne, direkt zum See.

Jetzt konnte er besser sehen. Ein dunkler Pullover trieb auf dem Teich. Aus dem Ärmel des Pullovers ragte eine Hand, aus dem Kragen des Pullovers ein Kopf.

Der Beifall hatte sich gelegt. Gerade wollten die Blues Survivors zu einer Zugabe ansetzen, als eine junge Frau in der ersten Reihe auf den Pullover deutete und aufschrie.

Jetzt sahen es auch andere Gäste des Konzertes: Auf dem Wasser neben der Seebühne von Schloss Vollrads trieb eine Leiche. Einige Sekunden herrschte gespenstige Stille. Dann brach ein Tumult los.

Freitag, 25.Juli

Die Sonne hatte den morgendlichen Dunst über dem Fluss vertrieben. Mayfeld genoss für einen Moment den Blick vom Rauenthaler Rothenberg über die Rebhänge hinab ins Rheintal. Der Hauptkommissar der Wiesbadener Kriminalpolizei wollte die letzten Urlaubstage in seinem Weinberg oberhalb von Eltville verbringen.

Seine Frau Julia hatte vor Jahren ein paar Morgen bester Weinberge geerbt, und sie hatten beschlossen, diese selbst zu bewirtschaften. Den Wein bauten sie im Weingut von Julias Eltern in Kiedrich aus. Der phylitthaltige Boden des Rothenbergs brachte einen besonders aromatischen Riesling hervor, und Mayfeld hatte sich vorgenommen, jedes Jahr einen herausragenden Wein zu erzeugen. Das Leben ist zu kurz für schlechten Wein, war seine Devise. Dieser Ehrgeiz kostete ihn seither jede Minute seiner Freizeit. Als Leiter des Kommissariats für Tötungsdelikte und vermisste Personen hatte er davon eh zu wenig, und so blieb für Unternehmungen wie den Konzertbesuch am Abend zuvor fast nie genügend Zeit.

»Man hat immer die Zeit, die man sich nimmt«, hatte ihn sein Vater belehrt, als er ihm die Konzertkarten schenkte. »Musik war früher mein Leben, und daran will ich wieder anknüpfen«, hatte er hinzugefügt. »Vielleicht kann ich einige der gesprungenen Saiten wieder neu aufziehen.«

Die schönsten Erinnerungen an seinen Vater stammten aus der Zeit, als dieser noch Klavier spielte, also vor dem Unfall von Mayfelds Schwester Vera. Herbert Mayfeld war ein brillanter Pianist und ein begeisternder Lehrer gewesen, bevor ihn der Tod seiner »kleinen Sonne« in immerwährende Trübnis und öde Verzweiflung gestürzt hatte, die nur von Phasen gereizter Getriebenheit unterbrochen wurden. Vor einem Jahr aber hatte sich eine erneute Wandlung in der Person seines Vaters vollzogen. Hinter dem Mann mit den zwei Gesichtern war wieder der alte Herbert Mayfeld hervorgetreten, und nur der missionarische Eifer, mit dem er seiner Umwelt die segensreichen Wirkungen der Musik und der religiösen Erweckung nahebringen wollte, erinnerte noch an die manischen Phasen der Vergangenheit.

Mayfeld wandte sich wieder seiner Arbeit zu. In den letzten Wochen war es warm gewesen, gleichzeitig hatten ausgiebige Regenfälle für ein üppiges Wachstum der Rebtriebe gesorgt. Die lugten jetzt überall vorwitzig über die Gertdrähte, die zwischen den Stickeln gespannt waren. Wo es möglich war, steckte er die Triebe wieder unter die Drähte, andere kürzte er.

Mayfeld dachte an die Leiche vom Vortag. Er hatte seine Kollegen vom Wiesbadener Polizeipräsidium informiert, Kriminalkommissarin Heike Winkler war eine halbe Stunde nach seinem Anruf vor Ort gewesen. »Lass dir bloß nicht die letzten Urlaubstage verderben«, hatte ihn die Kollegin ermahnt, aber er hatte darauf bestanden, dass sie ihn informierte, sobald ihre Ermittlungen etwas ergeben hätten. Jetzt, in der fast meditativen Stimmung, in die ihn die Arbeit im Weinberg versetzte, bedauerte er seinen dienstlichen Übereifer.

Eine Weile widmete er sich den Reben. Dann klingelte das Handy. Warum hatte er diesen Plagegeist bloß mit hier hoch genommen?

Es war Heike Winkler. »Du wolltest es ja nicht anders«, entschuldigte sie sich. »Die Identifizierung der Leiche ging recht flott. Ein Wallufer Kollege hat den Jungen erkannt. Es handelt sich bei dem Toten um den einundzwanzigjährigen Patrick Schönhell aus Walluf. Er starb vermutlich in der Nacht von Samstag auf Sonntag, am 20.Juli. Zumindest ist um zwei Uhr sieben seine Uhr stehen geblieben. Einen vorläufigen Obduktionsbericht gibt es auch schon. Schönhell ist ertrunken. Der Pathologe hat Wasser in seiner Lunge gefunden. Außerdem hatte er eine schwere Gehirnblutung, an der er kurze Zeit später wohl auch gestorben wäre. Die Leiche weist eine Verletzung am Hinterkopf auf, die von einem Schlag oder von einem Sturz herrührt.«

»Es könnte also auch ein Unfall oder Selbstmord sein?«

»Der Rechtsmediziner meinte, eine Verletzung durch einen Sturz sei die bei Weitem unwahrscheinlichere Variante.«

»Das heißt, sie ist nicht völlig auszuschließen«, stellte Mayfeld fest.

»Schönhell wohnte bei seinen Eltern«, fuhr Winkler mit ihrem Bericht fort. »Die Eltern sind verreist, wir haben sie telefonisch an ihrem Urlaubsort erreicht. Sie kommen mit dem nächsten Flug nach Hause, das kann allerdings Montag werden. Eine Nachbarin hat die Schlüssel zum Haus. Willst du dir die Wohnung des Toten ansehen?«

Natürlich wollte Mayfeld das. »Wenn du den Charakter eines Menschen kennenlernen willst, schau dir seine Wohnung an«, hatte ihm sein Lehrer Oskar Brandt beigebracht. Oft ergaben sich dort erste Hinweise auf die Motive für ein Verbrechen. Winkler nannte die genaue Adresse. In einer Stunde wollten sie sich in der Hauptstraße in Walluf treffen.

Das Haus der Schönhells lag von der Straße zurückgesetzt in einem großen Garten. Mayfeld fuhr mit seinem alten Volvo vor. Er war der Meinung, dass sich bei einem Wagen, mit dem man regelmäßig in die Weinberge fuhr, eine Autowäsche nicht lohnte. Er war direkt vom Rothenberg hierhergefahren, und so passte der undefinierbare Farbton seines Wagens gut zum staubigen Äußeren des Kommissars. Am Gartentor wartete Winkler auf ihn. Die junge Kollegin lachte ihn fröhlich an. Neben ihr stand eine Frau Ende fünfzig in lila Leggins und geblümter Kittelschürze, die verdrießlich in die Welt blickte und sich als »Frau Müller, die Nachbarin von Apotheker Dr.Schönhell« vorstellte.

»Frau Müller ist über das Schicksal von Patrick Schönhell informiert«, sagte Winkler ihrem Chef. Frau Müller hatte offensichtlich andere Vorstellungen von Kommissaren und ihren Autos und studierte Mayfelds Dienstausweis betont lange und gründlich.

»Dann kommen Sie mal mit«, sagte sie schließlich und ging den Polizisten voraus durch den ausgedehnten Vorgarten. Das hell verputzte und großzügige Haus der Schönhells strahlte gediegenen Wohlstand aus. Ein Eindruck, den der edle Parkettboden, die wertvollen Teppiche und Schränke im Eingangsbereich noch verstärkten.

»Der junge Herr Schönhell hat eine Einliegerwohnung unter dem Dach«, sagte Frau Müller und wies den beiden Beamten den Weg zur Treppe. Wie selbstverständlich ging sie ihnen voraus. Sie holte einen weiteren Schlüssel aus ihrer Kittelschürze. »Ich habe von allen Schlüsseln hier im Haus ein zweites Exemplar«, erklärte sie. »Ich schau immer nach dem Rechten. Und wenn die Schönhells weg sind, gieße ich die Blumen.«

Mayfeld und Winkler betraten die Wohnung des Toten.

»Machte Patrick Schönhell auf Sie manchmal einen niedergeschlagenen Eindruck?«, fragte Mayfeld.

Frau Müller schaute den Kommissar verdutzt an. »Der Patrick und deprimiert? Überhaupt nicht. Bevor der eine Depression bekommt, bekommen alle anderen in seiner Umgebung eine.«

Die Wohnung bestand aus einer kleinen, kaum benutzten Küche, einem Bad und einem großen Raum, der fast die ganze Fläche unter dem Dach einnahm. Ein riesiges Fenster, das bis zum Boden reichte, schloss den Dachgiebel an einer Seite ab. Von dort hatte man einen wunderschönen Blick auf den Rhein und einige benachbarte Gärten.

»Rechts, das ist der Garten der Wagners, noch ein Haus weiter rechts, da wohne ich, hier vorne der Weinberg gehört den Wagners, und da vorne links, das ist die Villa Gruber, da wohnen die Flieders.«

»Danke, Frau Müller!«

»Schauen Sie sich nur um!«, sagte Frau Müller, als wäre es ihre eigene Wohnung.

Der Raum war mit einem großen Wasserbett, einem Schreibtisch und Regalen in weißem Lack sowie zwei roten Ledersesseln möbliert. In den Regalen standen CDs diverser Popgruppen und ein paar Fantasybücher. Gegenüber dem Bett standen ein riesiger Flachbildfernseher und ein DVD-Player, in den Ecken des Zimmers die teuer wirkenden Komponenten einer Dolby-Surround-Anlage. An die Dachschrägen hatte Patrick Schönhell Filmplakate geheftet. »Haus der tausend Leichen«, »Hügel der blutigen Augen«, »Braindead«.

»Schlimm ist das mit den jungen Leuten«, behauptete Frau Müller. »Bei dem, was die sich täglich anschauen, ist es kein Wunder, dass sie immer gewalttätiger werden.«

Winkler klappte das Notebook auf, das auf dem Schreibtisch stand.

»Haben Sie einen Verdacht?«, fragte Mayfeld.

»Ich? Wieso?«, stotterte die Nachbarin.

»Sie sprachen von gewalttätigen jungen Leuten«, erinnerte Mayfeld Frau Müller. »Oder meinten Sie das nur ganz allgemein?«

Sie zog eine beleidigte Schnute. »Finden Sie solche Filme denn in Ordnung?«, wollte sie wissen.

Mayfeld zuckte mit den Schultern.

»Patrick Schönhell war nicht in bester Gesellschaft.« Frau Müller beharrte auf ihrer negativen Sicht der Jugend von heute. »Wären seine Eltern nicht so nette Menschen, hätte ich ihn in den letzten Wochen ein paarmal angezeigt. Seit zwei Wochen ist er aus dem Urlaub zurück und macht nichts als Lärm und Dreck. Von wegen deprimiert. Hat wahrscheinlich Orgien mit dieser Jenny Graf gefeiert.«

»Ist das seine Freundin?«, fragte Mayfeld.

»Was man heute so darunter versteht«, antwortete Frau Müller mit säuerlicher Miene.

»Haben Sie die Adresse von Frau Graf?«

»Im Paradiesgässchen Nummer neun, hier in Walluf.« Frau Müller war bestens informiert.

Winkler hatte das Passwort des Notebooks geknackt. »War ganz leicht: Splatter«, sagte sie grimmig lachend. »Auf dem Computer sind mehrere Ego-Shooter-Spiele installiert. Es gibt auch eine umfangreiche Adress- und Telefonliste. Die hilft uns bestimmt weiter.«

Mayfeld öffnete die Schubladen des rechten Containers, auf dem die Schreibtischplatte lag. In der obersten lag die Nachbildung einer automatischen Handfeuerwaffe, wie man sie für Paintball benutzte. Mayfeld war das Spiel, bei dem das Töten mit farbhaltigen Gummikugeln möglichst lebensecht simuliert wurde, ziemlich zuwider. Von stundenlangen und nervenaufreibenden Diskussionen mit seinem Sohn Tobias wusste er allerdings, wie schwer es war, Jugendlichen diesen Schrott auszureden. Daneben lag ein Nachtsichtgerät. In der mittleren Schublade fand er neben Schreibutensilien die Karten einiger Wiesbadener Kneipen und eine Karte mit den Öffnungszeiten der Spielbank. In der untersten Schublade lag eine Schatulle mit mehreren teuren Armbanduhren, IWC, Rolex, Lange und Söhne, Breitling, Nomos, Pattek Phillipe. Im zweiten Container des Schreibtisches lagen vor allem DVDs mit Horror- und Splatterfilmen.

»Wann haben Sie Patrick zuletzt gesehen?«, fragte Mayfeld die Nachbarin.

»Er ist am Samstagmittag mit Jenny Graf weggefahren, in seinem roten BMW. Der Vater hat ihm ja alles bezahlt. Ein Biest, dieses Mädchen, wenn Sie mich fragen. Überall stiftet sie Unruhe.«

Aber mehr als diese vagen Anschuldigungen war Frau Müller nicht zu entlocken. Die beiden Beamten schauten sich weiter um, fanden jedoch nichts mehr, was für sie von Interesse gewesen wäre.

Nachdem sie mit der Wohnung fertig waren, versuchte Winkler, Jenny Graf anzurufen. Sie war nicht zu Hause, Winkler erreichte nur einen Anrufbeantworter.

Die beiden Beamten gingen in ein kleines Café in der Nähe, das für seine hausgemachten Kuchen und seine Wohnzimmeratmosphäre bekannt war. Winkler verdrückte ein Stück Schwarzwälder und ein Stück Linzer Torte. Sie war schwanger oder hatte Liebeskummer, dachte Mayfeld.

»Wenn die alte Schreckschraube nicht so auf der sogenannten heutigen Jugend rumgehackt hätte, dann hätte ich es getan«, sagte Winkler und naschte an Mayfelds Aprikosenstreuselkuchen. »Ich hatte zuletzt auch so einen Typen, bloß fünf Jahre älter, der seine Freizeit mit Ballerspielen und Splatterfilmen verbracht hat. Ich hab ihm letzte Woche den Laufpass gegeben. Es war ein richtiger Befreiungsschlag.«

Winkler war seit Jahren mit wechselnden Partnern chronisch unglücklich verliebt. Sie hatte es schon mit älteren Männern versucht und jetzt offensichtlich mit einem jüngeren. Am Alter schien es nicht zu liegen. Wie sie es schaffte, trotz ihres Liebeskummers meistens guter Stimmung zu sein, das war Mayfeld ebenso ein Rätsel wie die Antwort auf die Frage, wie sie es schaffte, sich immer wieder den falschen Mann auszusuchen.

Vielleicht hat es jemand zu wörtlich genommen mit dem Befreiungsschlag, dachte Mayfeld und sicherte sich die letzten Krümel seines Kuchens.

* * *

In der Nacht von Freitag auf Samstag schlief Johannes Flieder unruhig. Mehrfach wachte er auf, mehrfach hatte er einen bizarren und beunruhigenden Traum.

Er fuhr mit einem roten Porsche Cayenne durch die engen Gassen von Walluf, die Reifen quietschten, einige verschreckte Fußgänger flüchteten in Hofeinfahrten. Als er in die Nähe des Rheinufers kam, sah er durch die regennasse Windschutzscheibe Patrick im Kegel des Scheinwerferlichtes. Er hielt direkt auf ihn zu. Es tat einen dumpfen Schlag, als der Wagen Patrick überfuhr. Johannes hörte das Geräusch splitternder Knochen und das Schmatzen zerquetschter Eingeweide. Am Straßenrand stand Jenny und winkte ihm begeistert zu.

Johannes verlor die Kontrolle über das Auto, der Cayenne raste auf das Rheinufer zu. Sein Vater, der neben ihm saß, schlug verzweifelt auf ihn ein. Schließlich durchbrach der Wagen das Geländer am Flussufer und stürzte in den Rhein. Das Auto versank im Zeitlupentempo in den grünen Fluten. Johannes löste den Sicherheitsgurt und kurbelte das Fenster herunter, Wasser drang schwallartig in das Innere des Fahrzeugs ein. In Panik zwängte er sich aus dem Fensterspalt und tauchte nach oben. Als er schon glaubte, ersticken zu müssen, erreichte er die Wasseroberfläche. Johannes wagte einen Blick in die Tiefe: Der Porsche lag auf dem Grund des Flusses. Er hatte seine Farbe geändert und glitzerte jetzt silbern. Johannes Vater hatte es nicht geschafft, sich aus seinem nassen Grab zu befreien. Mit offenem Mund, so als ob er immer noch verzweifelt nach Luft schnappen würde, starrte er seinen Sohn an. Johannes sah das Weiße der weit aufgerissenen Augen, die dem ertrunkenen Vater allmählich aus den Höhlen traten.

Am Ufer warteten seine Mutter und Onkel Eduard auf ihn. Sie hatten sich an den Händen gefasst, tanzten und sangen immer wieder »Mir träumte, ich wäre im Rhein ertrunken, mir träumte, ich wäre im Rhein ertrunken«.

Am nächsten Morgen wachte Johannes Flieder wie gerädert auf. Es war noch sehr früh, aber er wollte nicht mehr einschlafen. Er hatte Angst davor, diesen Traum noch einmal zu träumen.

Er hatte das Gefühl, dass etwas Verhängnisvolles passiert war, etwas, das nicht mehr rückgängig, nicht wiedergutgemacht werden konnte. Er versuchte sich zu erinnern. So vieles war in den letzten Wochen passiert, so vieles, das aus seinem Bewusstsein verschwunden war. Er hatte sich verändert in den letzten Monaten. Das Glück früherer Tage hatte sich verflüchtigt und war einer gereizten Getriebenheit gewichen, die er selbst kaum fassen konnte, für die er noch keinen rechten Grund gefunden hatte. Falls er etwas Schlimmes getan hatte, würde er die Verantwortung dafür übernehmen, auch wenn ihm bei diesem Gedanken schwindelig wurde.

Doch die Erinnerungen kamen nicht zurück. Zumindest nicht an diesem Tag.

Samstag, 26.Juli

Julia protestierte, als Mayfeld ihr beim Frühstück erzählte, dass er sich von Anfang an in die Ermittlungen in dem neuen Fall einschalten wollte. Aber sie kannte ihren Mann zu gut, als dass sie allzu viel Energie auf diesen Protest verschwendet hätte. »Ein Mord passiert vor meiner Haustür, und ich finde die Leiche auch noch selbst: Das ist mein Fall.« Mit diesen Worten beendete er die Diskussion und das Frühstück, gab seiner Frau einen Kuss und verließ die Wohnung in der Villa am Rhein.

Er stieg den mit Büschen bewachsenen Hang zum hinteren Ausgang des Gartens hinab. Von dort gelangte er direkt auf den Treidelpfad, von wo aus früher, vor der Motorisierung der Rheinschifffahrt, die Lastkähne flussaufwärts gezogen worden waren. Der Abschnitt zwischen Eltville und Walluf war einer der schönsten Spazierwege entlang des Rheins, den Mayfeld kannte. Ab und zu gaben die Mauern und Hecken am Hang den Blick auf die Villen der Rheingauer Riviera frei.

Nach einigen Minuten war er an der Rheinpromenade von Walluf angekommen. Von dort aus war es nur noch ein kurzer Weg zum Paradiesgässchen Nummer neun, einem frisch renovierten Fachwerkhaus mit blauen Balken und weißem Putz. Dort wartete Winkler bereits auf ihn.

»Ich habe angerufen, heute ist Jennifer Graf zu Hause«, sagte sie, als sie an der Haustür klingelte.

Schneewittchen, dachte Mayfeld, als Jennifer Graf die Tür öffnete. Die Haut weiß wie Schnee, die Haare schwarz wie Ebenholz und der Mund kirschrot. Lediglich der dunkle Lidschatten, den die junge Frau aufgelegt hatte, passte nicht ganz ins Bild. Ihr schlanker Körper wurde von einem knöchellangen schwarzen Kaftan verhüllt.

»Ich hab schon gehört, was mit Patrick passiert ist. Kommen Sie herein!«, sagte sie, nachdem ihr Mayfeld seinen Dienstausweis gezeigt hatte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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