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Kali liebt das Feiern. Besonders krachen lässt sie es auf einem Musikfestival, auf das sie jedes Jahr mit einigen Freunden und Freundinnen fährt. Nach einer extrem durchzechten Nacht stellt sie schnell fest, dass sie es nicht in ihr Zelt geschafft hat. Das ist für sie nicht neu, der Wald, in dem sie sich kurz darauf wiederfindet, allerdings schon. Ihrer aufkeimenden Verwirrung ist die erste Person, auf die sie trifft, wie frisches Holz fürs Lagerfeuer. Eine Gestalt mit spitzen Ohren, die sich als Fritzi die Fratze vorstellt und behauptet, eine Elfe zu sein. Ganz davon abgesehen, dass Kali sich sicher ist, dass es keine Elfen gibt, war diese Fritzi auch alles andere als elfengleich. Klein, unfassbar tollpatschig und für Kali auch nicht gerade hübsch. Aus Mangel an Alternativen und mit dem festen Glauben, in einem LARP gelandet zu sein, geht Kali mit Fritzi zusammen los, in der Hoffnung, zumindest mal andere Leute zu finden, die sie vielleicht zum Festival zurückführen konnten. Alsbald treffen sie auf ein sonderbares Konstrukt mitten im Wald, welches sie dann auch gleich aus Versehen kaputtmachen. Sehr zum Leidwesen des Erbauers. Ein gewisser Kehrblech, der mit seinem Äußeren irgendwie so gar nicht ins Bild passt. Weder in das Bild eines Rockfestivals noch eines Fantasy-LARPs. Jedenfalls ist der ziemlich wütend, obwohl er selbst nicht so richtig zu verstehen scheint, was er da eigentlich gebaut hatte und wofür es wichtig hätte sein können. Darüber, dass es für irgendwas wichtig gewesen wäre, ist er sich allerdings absolut sicher, weshalb er die beiden Zerstörerinnen seiner Arbeit auch nicht so einfach davonkommen lassen will. Er bringt Kali und Fritzi dann zu seinen Leuten, den Halunkischen Glorreichen. Eine berühmte Söldnertruppe, die stets für besondere Aufträge angefragt wird. Kali versteht überhaupt nichts mehr. Niemand möchte aus diesem Live-Action-Role-Play ausbrechen, sie weiß nicht, wo sie ist und vom Festival keine Spur, dazu auch noch ein unangenehmer Kater. Es dauert nicht mehr lang, bis sie erkennen muss, dass sie wohl in weitaus mehr gelandet ist als in einer Freizeitaktivität von Mittelalterfans und sie gar nicht so einfach auf das Festival zurückkehren können wird, da es womöglich einen Grund hat, warum sie als trans Frau dort gelandet ist …
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Der wilde Ritt auf
Kater Ratlos
DIE Chroniken von Goloriam
Band I
Tosja M. D. Kruppa
Impressum
Texte: © Copyright Tosja M. D. Kruppa
Ersterscheinung: April 2021
Neuerscheinung: August 2023
Cover & Umschlaggestaltung: © Vanessa Kimpel
Lektorat: Claudia Helena Dietrich, Ela Dietrich
Verlag:Tosja M. D. Kruppac/o autorenglück.deFranz-Mehring-Str. 1501237 Dresden
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Für sie.
Für die Gedanken.
Reiseführer
Vorwort
Prolog
Fritzi die Fratze
Scheiße im Wald
Im Schoß der Erkenntnis
Goloriam
Erwachen
Auf die Hurensöhne
Kohlemännchen
Gekommen, um zu bleiben
Der Zeitsprung
Unten durch
Eine Unze Gold für eine Kröte
In Erwartung auf ausgiebiges Erbrechen
Die ungeahnte Macht der Unwissenheit
Was von den Tagen übrig blieb
Steinbruchlandung
Ende der Radlosigkeit
Das Imperium der Klötze
Montage
Höhenflug
Die letzte Nacht
Der wilde Ritt auf Kater Ratlos
Ein neuer Anfang stürzt über die Welt hinein
Epilog
Karte 530
Nachwort531
Danksagungen533
Es ist schon erstaunlich, welch aberwitzige Geschichten das Leben zu schreiben vermag. Da muss man sich äußerst anstrengen, wenn man etwas zu Papier bringen möchte, von dem die Lesenden dann am Ende – oder vielleicht auch schon am Anfang, eventuell auch mal mittendrin – sagen würden: „Na, also so was, nein, also das hab ich so jetzt, also in dieser spezifischen Form noch nie, also zumindest nicht, dass ich mich erinnern könnte, so exakt genau so, so habe ich das noch nie gelesen.“
Oder so ähnlich.
Da sitzt man dann da und denkt sich: Mensch du, und ruft vielleicht seine Tante an, oder auch den Schwippschwager und sagt: „Du, Gerlinde“, – oder Berthold – „hier, ich kann dir sagen, ich hab da was gelesen neulich, und ich sag noch, so was hast du bestimmt schon mal gelesen, aber jetzt sag ich, nee, sag ich, ich sag noch, sag ich, hab ich gesagt, aber jetzt, ich kann dir sagen, so was hast du, genau wie ich vorher, noch nie gelesen. Zumindest nicht so.“
Das sind so Momente, da kann man sich dann auch schon mal fragen, ob der berühmte Satz „Das Leben schreibt die besten Geschichten“, überhaupt stimmt. Ist dem tatsächlich so? Alle guten Geschichten der Menschheit zusammengetragen, Fiktion oder Faktum, auf einen großen Haufen geschmissen und gehofft, dass es nicht regnet, weil da sonst ziemlich schnell ein traurig anzuschauender Matsche-Haufen draus werden würde, wären dann die besten zehntausend alle dem realen Leben entsprungen? Unter all den Millionen von Geschichten und Erzählungen, Ereignissen und Begebenheiten, die unsere Welt verbinden, versäumen und in Bezug stellen, nur die besten zehntausend angeschaut und das sind ALLES Geschichten, die WIRKLICH passiert sind?
Hat es der Mensch seit der Erfindung der Fantasie tatsächlich nicht ein einziges Mal fertiggebracht, eine Geschichte zu ersinnen, die so schön, so abenteuerlich und eben einfach so gut ist, dass man sagen würde, dass sie schon besser ist als zumindest einige der vielen, auf der Wirklichkeit beruhenden Geschichten? Vielleicht verstehe ich diesen Satz auch falsch, interpretiere zu viel hinein oder vielleicht auch viel zu wenig, möglicherweise interpretieren auch alle anderen viel zu wenig in diesen kleinen Satz und ich bin eigentlich gerade derjenige, der hier einer ganz großen Sache auf der Spur ist. Womöglich sollte ich mich zu einem Sabbatical aufmachen, um jeden Tag über diese Problematik zu sinnieren, bis ich dann eines Tages „Heureka“ brüllend aus meiner 5-Sterne-Hotel-Suite gerannt komme und nun endlich weiß, dass Star Wars doch eine bessere Geschichte ist, als die, wo Oma Trutchen mal beinahe die Butter beim Teigmachen vergessen hätte, weil sie gedanklich noch immer so sehr mit der neuen Frisur von ihrer Freundin Irmgard beschäftigt war.
„Wie kann man sich denn die Haare auch Rot färben, in so einem Alter und bei den Tränensäcken. Die hängt ja an der Flasche, seitdem der Udo tot ist. Aber die war ja eigentlich auch schon immer irgendwie, ne, also weißt, was ich mein.“
Diese Erkenntnis jedenfalls, könnte ich dann vielleicht haben. Oder umgekehrt, also die, dass die Geschichte der Oma doch besser ist.
Nach diesem euphorischen Rausch, der mir das Glitzern einer Galaxie in die Augen treiben könnte, würde dann vermutlich die weitere Erkenntnis folgen, dass mich die Kolonne von Hotelgästen, die sich gerade am O-Saft-Automaten drängen mag, nicht anstarrt, weil sie es nicht fassen kann, wie ein so junger Mensch, wie ich es bin, eine so tiefgreifende Einsicht erhalten haben konnte, indem er einfach einige Monate nichts getan und nur gesoffen hat. Nein. Sie würden mich anstarren, weil ich vergaß, dass das Grübeln ohne Kleidung einer meiner wichtigsten Sabbatical-Vorsätze gewesen war und ich deshalb komplett nackend durch die Flure rannte und nun vor den Gästen stehe, mit feuchten, wahnsinnigen Augen und einem irren Lächeln auf dem Gesicht und die Spitze meines Lörres hängt im O-Saft der kleinen Laura von der Familie vom Zimmer gegenüber, da ich zufällig direkt vor ihr zum Stehen gekommen war. Ja, deshalb würden sie mich anstarren. Sie könnten ja auch gar nichts von meinem Geistesblitz wissen, da ich außer „Heureka“ ja bisher gar nichts gebrüllt hatte. Auf die Panik in diesem Moment wäre es zurückzuführen, dass der Orangensaft, der verstört zu mir hinaufblickenden Laura plötzlich überläuft. Spätestens ab jetzt würde dann sowieso keiner mehr auf mich hören. Die einzige Hoffnung noch in die Geschichtsbücher aufgenommen zu werden, wäre dann, als der Mensch bekannt zu sein, auf den es zurückzuführen ist, dass man in Zukunft zu sagen pflegen könnte: „Der hat sich vor Panik in den O-Saft gepinkelt“. Ein zweifelhafter Ruhm. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, kein Sabbatical zu machen und auch nicht weiter darüber nachzudenken, wer jetzt nun die besten Geschichten schreibt, der Mensch oder das Schicksal/Universum/Gott/etcetera. Das alles hat auch nicht wirklich was mit dem Buch hier zu tun, ich muss Sie da enttäuschen. Wenn ich Sie jetzt in die Irre geleitet und Ihnen Hoffnungen gemacht habe, dies könnte eine philosophische Abhandlung sein, eine Dialektik über Geschichten aus aller Welt und welche nun die Besten sind, dann tut mir das sehr leid. Ich bin Ihnen auch nicht böse, wenn Sie jetzt keine Lust mehr haben, weiterzulesen. Sie sind noch da? Gut. Dann fangen wir doch einfach mal an…
Also noch nicht ganz. Ich muss Ihnen vorher noch eine Sache gestehen. Ein Freund erzählte mir einst, dass es ihn immer ärgere, wenn ein Buch mit einem Prolog oder einem Vorwort anfängt, da ein Buch doch eben einfach anfangen solle oder es ja sonst auch direkt ganz lassen könne. Nun, genau aus diesem Grund, und weil ich auch grundsätzlich ganz gerne mit der Geduld meiner Empfänger spiele, gibt es hier beides. Also erst mal dieses Vorwort hier und dann kommt gleich noch der Prolog, der eigentlich auch ein Vorwort ist, das sich aber als jemand Edleres ausgibt, und vielleicht, ganz vielleicht, wenn ich Lust habe, gehts dann los. Mal gucken…
Prolog
Dunkelheit. Männer, die sich lachend in den Armen liegen. Frauen, die jauchzend anstoßen und sich amüsieren. Dann wieder Dunkelheit. Rauschendes Zerrbild von einem Pissstrahl, der mehr schlecht als recht in einem Urinal landet. Der Blick wandert zur Seite, ein waberndes Bild einer verwirrten Unterhaltung mit einem verwirrten Kerl wird sichtbar. Schwarz. Nichts. Diesmal bleibt die Dunkelheit, nichts weiter. Triefendes Pech gluckert vor sich hin, gallertartige Masse zieht sich über jeden einzelnen Gedanken. Ein Eimer Teer ergießt sich über den menschlichen Verstand, alles verschluckend, unbarmherzig legt er sich über die Augen, drückt einen zu Boden, wie eine überwältigende Aufgabe einen niederringen kann, wenn die Knie doch ohnehin schon zittrig gewesen waren.
Über das Land, welches wir Verstand nennen, legt sich eine alles verzehrende Nacht. Eine rabenschwarze Nacht ist sie. Luna ist heute nicht aufgestanden, auch ihre Sternenkinder haben sich nicht auf den Weg gemacht, uns mit ihrem Antlitz zu beglücken. Brodelnde Zähigkeit, dröhnendes Vergessen. Man war auf dem Weg zu anderen Planeten, wollte Jupiter und Mars die Hand geben und ihnen sagen, dass man sie schon so lange in die Arme schließen, ihnen Liebe geben wollte. Man flog und flog und flog, bis man den Tag der Abreise schon zu vergessen drohte. Dann hatte man aus dem Fenster gesehen und festgestellt, dass alles eine Lüge war. Es gibt keinen Jupiter, es gibt keinen Mars, all die wonnigen Ideen von Flucht und der Suche nach was anderem, sind weg. Verschwunden wie Atem in kalter Luft, nachdem die Sonne schon längst untergegangen war. Die ganze galaktische Existenz bricht über einem zusammen, doch wartet beim Blick aus dem Fenster nicht das philosophische Nichts, sondern das Wissenschaftliche. Ein gigantisches schwarzes Loch, das sich grotesk über einen wölbt, als würde man durch eine Fischaugenlinse schauen. Es atmet, immer größer werden seine Lungen, grollend verschluckt es die Ideen, die da waren, die Hoffnungen, die Sehnsüchte, Jupiter, Mars und all die anderen, bis es nichts mehr übriglässt, so wie der gähnende Schlund eines Blauwals sich um den Krill stülpt, legt sich der unendliche Schatten über alles, was gewesen ist, oder hätte sein können.
Auch die Zeit selbst hat es nun dahingerafft. Was geblieben ist, ist die Abwesenheit. Abwesenheit von Farbe, Licht, Form und Muster. Niemand weiß nun, wie lange dieser Zustand war, ist oder sein wird. War er überhaupt, wird er noch sein, ist er bereits oder schon nicht mehr, oder wieder? Wie vermag man etwas zu beschreiben, was keine Zeit kennt, wenn wir selbst unser ganzes Leben doch auf eben diese ausgerichtet haben? Unmöglich, zu benennen.
Doch nichts ist für immer. Irgendwann verändert sich etwas. Nicht nach Minuten, Stunden, Jahren, Jahrtausenden, denn wo keine Zeit ist, kann keine Zeit gemessen werden, es passiert einfach. Ein winziger Punkt entsteht. Dieser Punkt ist hell, aber noch zu schwach, um es mit der Dunkelheit aufnehmen zu können, aber das stört ihn nicht. Unermüdlich versucht er, sich auszuweiten, gegen die dunkle Macht anzukämpfen, sich zu weiten, wie Sisyphos immer wieder den Stein hinauf rollte, so drückt der kleine Lichtpunkt stetig seine Grenzen dem größeren Gegenüber entgegen. Und tatsächlich. Der Punkt wird ein Stückchen größer, nur ein kleines bisschen. Er pulsiert. Wird mal noch ein wenig größer, aber auch wieder kleiner. Die ewige Schwärze lässt sich davon zunächst nicht beeindrucken, doch plötzlich geschieht etwas. Ein Schimmer ist zu sehen. Rotes Licht beginnt sich durch die Masse zu graben, wie Kerzenlicht durch einen dicken Schleier. Die Dunkelheit scheint nun nicht mehr allmächtig, scheint nicht mehr alles zu umfassen und auszufüllen, nein, sie wirkt verletzlich, als könnte sie zerrissen werden. Sie wehrt sich, gegen das Licht, gegen die Endlichkeit, doch ist das Licht mittlerweile zu stark geworden. Wie das grelle Strahlen eines Projektors, nachdem eine Filmrolle soeben ein letztes Mal abgespult wurde, bricht es nun endgültig hindurch, berstend und unaufhaltsam kracht der strahlende Glanz durch den Vorhang und ein neuer Anfang stürzt über die Welt hinein.
Kapitel I
Fritzi die Fratze
Kali war eigentlich schon eine ganze Weile lang wach. Gut, wach ist hier wahrscheinlich zu viel gesagt. Sie hatte zumindest nicht mehr richtig geschlafen, obwohl sie zunächst trotzdem nichts als Dunkelheit wahrnehmen konnte. Wie lange sie schon so dagelegen hatte, konnte sie nicht sagen. Irgendwann war sie einfach vom klassischen, dumpfen, zähen und unerschütterlichen Schlaf der Alkoholleichen in diesen halb wachen Zustand hineingestolpert, unfähig, die Augen zu öffnen, oder sich schon echte Gedanken über irgendwas zu machen. Sie lag einfach da, drehte sich mal von der einen auf die andere Seite und versuchte, die Welt um sich herum zu ignorieren, denn sie hatte eine gute Vorstellung davon, wie es ihr wohl gehen würde, sobald sie sich der Realität zu stellen versuchte. Aber so funktionierte es leider nicht. Sie konnte irgendwann nicht mehr liegen, denn ihre Beine taten weh, die Helligkeit des Tages drückte sich mittlerweile sehr unnachgiebig in leicht rötlichem Ton durch ihre Augenlider und außerdem war da noch ein anderes Gefühl, das sich sehr langsam und doch stetig in ihrem Körper breitgemacht und sich derweil von der Existenz eines bloßen Gefühls verabschiedet hatte. Ein wenig länger konnte sie noch damit leben, doch dann, ganz plötzlich war es soweit und noch weiter liegen zu bleiben ging nicht mehr. Aus dem Gefühl wurde eine Dringlichkeit, aus der Dringlichkeit wurde eine Not und diese kleine freche Not dachte noch immer nicht daran, am Ende ihrer Evolution angekommen zu sein. Nein, denn sie war hungrig und mächtig, unbesiegbar, und nicht willens, vor irgendetwas Halt zu machen. Auf gar keinen Fall, nicht mit dieser Not, sie wollte zu einer Tat werden, denn nur die Tat selbst kann das Höchste sein, was ein Gefühl zu erreichen in der Lage ist, und jetzt war es Zeit, der Moment war da. Kali musste pissen.
Ziemlich genervt von dem Vorgang der Entwicklungen, der da gerade in ihrem Körper stattgefunden hatte, schlug sie vorsichtig, aber bestimmt ihre verklebten, aufgequollenen, grünen Augen auf. Grün, die Farbe ihrer Augen, nicht nur die des Schleimes, der sich in ihnen gebildet hatte, während sie unter der rauen Decke Namens Alkohol geschlafen hatte. Einige Augenblicke länger, als es normalerweise dauern würde, musste sie ihren Augen Zeit geben, sich zu justieren. Plötzlich schlug ihr etwas Dumpfes auf den schwarzhaarigen Kopf. Mit dröhnender Unbeugsamkeit rollte ein tsunamiartiges Gewitter durch ihren Schädel, die Augenlider zuckten wieder fest zusammen, noch bevor ihre Schutzbedürftigen ihre Schärfeeinstellung bestätigen konnten. Schnell war Kali der Tatsache auf die Spur gekommen, dass ihr nicht von außen auf das Haupt gedroschen worden war, so, wie Gunnar es einmal bei ihr gemacht hatte, um sie „liebevoll“ zu wecken. Sie solle sich mal nicht so anstellen, war ja ein kameradschaftlicher, kleiner Boxer gewesen, er habe sie ja nicht aus dem Schlaf gerissen, in dem er ihr seinen „Penitator“ ins Gesicht geschwengelt habe.
Penner, dachte Kali.
Wie auch immer, so war es in dem Fall nicht. Dieser grollende Schmerz kam aus dem Inneren, von unterhalb ihrer Schädelknochen. Aus ihrem Bregen, dem Hirn, diesem Schwamm elektronischer Signalübertragungen. Ein Seufzer der Entnervung drückte sich seinen Weg durch ihre aufeinandergepressten Zahnreihen. Unter dem absoluten Genervt-Sein, das sich in den Haupttönen ihrer stimmhaften Luftausstoßung aufhielt, hätte man leise das Bewusstsein darüber hören können, dass einzig und allein sie selbst schuld an diesem jämmerlichen Zustand war. Nachdem sie sich einige Sekunden verzweifelt mit der Hand über die Stirn gerieben hatte, ließ sie ihren Arm neben sich fallen und versuchte es ein weiteres Mal mit dem Öffnen ihrer Augen. Dort über sich entdeckte sie wenigstens die vertraute, blaue Zeltstoffdecke.
Was ist eigentlich Zeltstoff?, fragte sie sich. Jedenfalls beruhigte sie der gewohnte Anblick auf die Zeltdecke, mit ihren schönen Maserungen, welche sich zart durch das dunkle, verwitterte Holz schlängelten. Sie zwinkerte einige Male und begann vorsichtig damit, sich innerlich mit ihrer Umgebung auseinanderzusetzen.
Ja, ist doch alles schicki-lacki. Nichts von dem, was ich dort gerade sehe, ist irgendwie falsch oder fehl am Platz. Alles tutti… Moment mal, HALT STOPP! Dunkle Holzdecke mit Maserungen? Kein blauer Zeltstoff? Tja, hab ich's wohl echt schon wieder nicht geschafft, zwei Nächte in Folge in meinem Zelt zu landen. Jetzt muss ich wie die letzten Jahre die ersten zwei Runden für alle holen. Bier … uff. Aber hilft ja auch nichts. Bier holen später. Später. Spät. Wie spät ist es wohl? Ich hör von draußen zumindest noch nichts. Bier holen später, später ist gedanklich bereits bearbeitet. Bier holen. Holen. Zum Bier holen braucht man Geld. Bitte, Universum, lass mein Portemonnaie noch da sein!
Langsam, auf das Schlimmste gefasst aber das Beste hoffend, tastete Kali ihren linken Oberschenkel nach oben, bis sie an ihrem Gürtel den Anfang einer kleinen Metallkette spürte, die sie daraufhin ebenfalls mit den Fingern verfolgte, wie zuvor ihren Schenkel. Wo immer sie auch gelandet war, man hatte sie zwar nicht zugedeckt, aber immerhin auch nicht ausgezogen. Die Kette endete nach einer kleinen, gravitationsbedingten Kurve in ihrer linken Hosentasche. Vorsichtig fühlten sich die Finger weiter, bis sie schnell auf eine große Beule stießen.
Puh, gut. Verloren hab ich es schon mal nicht. Mit dem Inhalt ist das natürlich noch mal eine andere Sache.
Sie zog ihren Geldbeutel an der Kette aus der Tasche, führte das schwarze Leder vor ihr Gesicht und nahm nun auch ihre Rechte zur Hilfe, um das Portemonnaie öffnen zu können, ohne es sich ungeschickt aufs Gesicht fallen zu lassen. Kurzes Warten, bis die Augen sich auf die neue Distanz eingestellt hatten.
Na gut, immerhin noch ein Fuffi drin. Oh, und jede Menge Koks!
Sie steckte das Portemonnaie wieder zurück.
Bier holen später. Später und holen sind abgefrühstückt. Bier. Bier. Körper sagt Nein. Flüssigkeit ist aber erst mal nicht schlecht. Mein Mund fühlt sich an, als hätte ich eine Fellkugel gegessen. Flüssigkeit. Stimmt, pissen muss ich auch. Pissen und trinken, und am besten nicht die Pisse trinken. Dann muss ich wohl jetzt mal aufstehen.
Kali schloss Kräfte sammelnd ihre Augen und drehte sich träge zur Seite, um sich von ihrer Isomatte zu erheben. Mit der erbärmlichen Ungeschicktheit einer wahrlich verkaterten Person fiel sie von ihrer Schlafstätte und schlug hart auf dem Boden auf.
Fuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuck.
Verwirrt, verärgert und ein wenig orientierungslos rappelte Kali sich auf. Natürlich konnte sie ja gar nicht auf ihrer Isomatte geschlafen haben, da der Ort hier ja auch definitiv nicht ihr Zelt war, oder gar überhaupt ein Zelt.
Wo zur Hölle bin ich heute Nacht gelandet? Wer hat denn auf einem Festival eine scheiß Pritsche dabei?
Nachdem sie sich langsam aufgerichtet hatte, langsam, damit ihr Kopf nicht zu sehr schmerzte, hatte sie wieder Kapazitäten für das Sich-Umschauen. Wieder dunkles Holz mit Maserung. Links, vor ihr, hinter ihr mit einem kleinen Fenster ohne Glas, durch das strahlendes Licht eindrang. Sehen konnte sie durch die viereckige Öffnung in der Wand aber nur Gebüsch. Rechts auch wieder Holz. Dort allerdings mit einer kleinen, röddeligen Holztür, die durch einige Risse ebenfalls Einiges an Licht durchließ. Der Boden bestand eher aus Dreck. Hellbraun, ohne Maserung. Kali runzelte die Stirn. Sie war schon sehr oft auf dem Festival gewesen. Das Festival fand seit jeher auf demselben Gelände statt. An einem Kanal in einem großen Stadtpark. Sie war jedes Mal mindestens an einem Morgen nicht in ihrem Zelt erwacht, kannte das Gelände daher auch sehr gut. Eine Holzhütte, wie die, in der sie sich zu diesem Zeitpunkt offensichtlich befand, hatte sie noch nie gesehen.
Was ist das auch überhaupt für eine kack Hütte? Hier ist nichts drin, außer der ollen Pritsche. Scheiß drauf. Ich geh' erst mal raus hier und dann finde ich schon irgendwie zu unserem Platz. Leila wartet bestimmt schon, die kann ja ohne mich immer nicht kacken.
Just als sie bereit war aus ihrer Herberge zu treten, fiel ihr ein, dass sie noch etwas anderes überprüfen wollte.
Fuck, wo ist mein Handy?
Hastig tastete sie die übrigen Hosentaschen ab. Nichts. Auf dem Boden irgendwo?
War ja klar, dachte sie frustriert, als sie ihr Smartphone nirgendwo entdecken konnte.
Irgendwas musste ich ja verlieren. Na gut, werde ich schon finden, erst mal raus hier.
Beherzt schritt Kali nun auf die Tür zu, stieß sie auf und … sie ging nach innen auf, Kali stieß komisch mit der Tür zusammen, begriff gleich ihren Fehler und zog die Tür zu sich, um sie damit dieses Mal tatsächlich zu öffnen.
Kaum war sie auch nur den ersten Schritt nach draußen getreten, flog ein gigantischer Vogel mit ohrenbetäubendem Gekreische direkt auf sie zu. In dem Versuch, sich vor der plötzlichen Attacke zu schützen, riss sie eine Hand vors Gesicht, doch es war zu spät. Wütend und ohne Rücksicht pickte das wahnsinnige Tier mit seinem spitzen Schnabel in ihre Augen, bevor sie irgendetwas dagegen tun konnte. Wie mit nadeldünnen Dolchen bohrte Ra, der ägyptische Sonnengott mit der Gestalt eines Vogels seine Strahlen in ihre nicht an das Licht gewöhnten Augen.
Man, ist das hell!
Mit ihrer freien Hand begann Kali wie wild an ihrem Kopf herumzutasten und tatsächlich hatte sie auch ihre Sonnenbrille noch, die sie sich schnell, aber unbeholfen auf die Nase setzte. Erst dann traute sie sich, erneut ihre Umgebung zu beäugen. Was sie dort vor sich erkannte, stieß sie nun endgültig in die Verwirrung. Saftiges Grün, von der im Vergleich zum Wetter am Vortag ungewöhnlich kräftigen Sonne in ein gar magisches Licht gehüllt. Büsche, Sträucher in verschiedensten Größen und Formen, Bäume, teils dick, anmutig und alt, teils noch klein und zart.
Wo is'n hier so ein Wald?!
Und was für ein Wald das war. Zweifelsohne der schönste, den Kali je gesehen hatte. Selbst durch ihre Sonnenbrille erkannte sie den goldenen Glanz, der diesen Wald zu umgeben und der nicht einzig und allein von der starken Sonne zu kommen schien. Da war noch etwas anderes und jetzt, da sie diese Ansammlung von vielerlei Pflanzen als existent wahrgenommen und erkannt hatte, erwachte der hiesige Lebensraum ganz plötzlich, als hätte er nur darauf gewartet, von Kali zur Kenntnis genommen zu werden. Ein seichter, warmer Wind wehte durch die Blätter, hier und dort waren wunderschöne Vogelstimmen zu hören, deren Besitzer vergnügt ihre Lieder zwitscherten. Nachdem Kali diese friedvolle Darbietung einige Sekunden in sich aufgesogen hatte, richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf das Unangenehme an dem Anblick, der sich ihr hier bot. Es gab nichts, keinen Hinweis, kein Zeichen, keinen einzigen, winzigen Indikator auf das Festival, auf dem sie sich letzte Nacht noch befunden hatte. Keine Zelte, kein Weg, keine Alkoholleichen, keine Geräusche, die auf Menschen schließen lassen konnten. Nicht einmal Müll oder Pfand lagen hier irgendwo auf dem Boden.
Das ist absurd.
Sie drehte sich um, damit sie einen Blick von außen auf die merkwürdige Hütte werfen konnte, in der sie offensichtlich gelandet war. Es handelte sich dabei wirklich nur um eine sehr unscheinbare, ziemlich alte und erstaunlich kleine Hütte. Das war ihr drinnen gar nicht so aufgefallen, aber diese Hütte war wirklich nicht mehr als das, noch nicht mal ein Häuschen, wenn überhaupt wäre hier Hüttchen noch ein passenderer Begriff. Ganz plötzlich wurde Kali erneut von einem ihrer Körperteile wahrhaftig angeschrien. Ihre Blase hatte sich nun lange genug zurückgehalten, war höflich für die Informationen der anderen Organe in der Reihe zurückgerutscht, hatte gewartet, zwischendurch mal auf die Uhr geschaut und sich gesagt, dass es auf keinen Fall dieses Jahr wieder den Namenstag von der Milz vergessen dürfe, hatte mit wenig Hoffnung in den Zellen die Leber angestupst, die daraufhin nur tief gegrummelt hatte. Sie hatte dann aufgesehen, nachdem die Kehle ihr einmal trocken auf die Schulter getippt und in Richtung des Anfangs der Schlange, welche die Organe und Sinne dort bildeten, genickt hatte, damit die Blase sehen konnte, dass sie nun wieder an der Reihe war. Ohne weiteres Trödeln schritt sie dann vorne an den Schalter mit dem Mikrofon, das nun wieder ihr gehören sollte.
EEEEEEEEEEEEEEY! Ich! Bin! Voll! Mit Pisse, hast du mich verstanden?! Pisse. Schönes Wort. Pisse. Pisse. Nimm es mal in den Mund. Pisse! Aber erst, nachdem du das, was dieses fantastische Wort beschreibt, endlich aus mir rausgelassen hast, verstanden!?
Ein Schmerz durchfuhr Kalis Lendengegend. Während ihr Körper sich zusammenzogund sie eine Hand auf ihren Unterleib legte, drehte Kali sich wieder um in Richtung Wald und steuerte ohne Umwege den nächsten Baum an. Dort angekommen öffnete sie ungeduldig zappelnd ihren Reißverschluss, griff hinein, wühlte hastig ein bisschen herum, bis sie mit einem inneren Halleluja ihren Penis gefunden hatte, zog Besagten durch den Schlitz und noch bevor er so richtig ausgerichtet war, preschte auch schon ein dicker, tiefgelber Strahl aus ihm heraus. „Aaaaaaaaaaah!“, ließ sie ihre Erleichterung hörbar werden. „Fuck, ich liebe dieses Gefühl.“ Ein Frösteln der Erleichterung durchfuhr ihren Körper, was den Strahl zum Tanzen brachte. So stand sie nun pissend vor dem Baum, deutlich länger, als sie jemals zugeben würde.
So ein Fassungsvermögen sollte keine gesunde Blase haben.
Aber das hatte sie sich schon häufig gedacht und bisher schien immer alles in Ordnung zu sein, also, was solls? Irgendwann geht aber auch einmal der mächtigste Strahl zu Ende und als sich Selbiger dem Selbigen neigte, hörte Kali von irgendwo über sich plötzlich ein leises Knacken. Während sie noch mit wildem Abschütteln beschäftigt war, blickte sie nach oben. Exakt in dieser Sekunde war ein ziemlich lautes Knacken zu vernehmen, gefolgt von einem grässlichen, quiekenden Schrei. Irgendetwas rauschte einige Meter von ihr entfernt aus einer Baumkrone herab und schlug mit einem dumpfen Rumms auf dem Waldboden auf.
„Wow!“ Kali erschrak, machte einen Satz zurück und drehte sich dabei in die Richtung des Aufpralls. Kurz stand sie so da und lauschte. Nichts Außergewöhnliches zu hören. Vorsichtig machte sie ein paar Schritte auf die Unglücksstelle zu, bis sie ein dünnes, schmerzverzerrtes Gewimmer wahrnehmen konnte. „Hallo? Alles heile?“, fragte Kali bedächtig.
Statt eine Antwort zu bekommen, fing es im Gestrüpp nun an zu rascheln, bis sich eine kleine, zierliche Person mit dem Rücken zu Kali aus dem Unterholz wühlte. Die unbekannte Gestalt trug ein grünes, schlecht verarbeitetes Gewand, wie einen farbigen Kartoffelsack. Der Kopf war bis auf ein paar traurige Büschel kahl, die Ohren … Die Ohren waren spitz. Sehr spitz und eines davon abgeknickt. Während die Gestalt sich ein wenig abklopfte, drehte sie sich zu Kali um. Diese verzog bei dem Anblick, der sich ihr nun bot, angewidert das Gesicht. Der auffällige Kerl war, in Kalis Augen, wirklich an Hässlichkeit kaum zu überbieten. Alles schief und krumm, asymmetrisch ohne Gleichen, von der Nase bis zum Mund, aus dem ein paar unschöne Zähne nahezu herausragten. Kali vermochte bei genauerer Betrachtung zudem nicht einmal mehr genau zu sagen, um welches Geschlecht es sich hier tatsächlich handelte.
„Ist gut.“ Die sonderbare Gestalt winkte gelassen ab. „Nichts kaputt. Ich bin es gewohnt. Hallo, ich heiße Fritzi die Fratze. Du?“
Kapitel II
Scheiße im Wald
„Ich heiße –“, Kali geriet ins Stocken und beendete vorzeitig ihren Satz.
Die Information über den Namen, die Kalis Ohren gerade an ihr Gehirn gesendet hatte, brauchte ein paar Momente länger, als es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre, denn der Weg aller Informationen war in jenem Moment beschwerlicher als normalerweise.
Irgendein Frechdachs hatte ihnen nach Hopfen riechende Steine in den Weg gelegt, da muss man erst einmal dran vorbeikommen. Als sie es dann zum Hirn geschafft hatten, war auch dort der Betrieb eine Ecke träger, als man es gewohnt war. Ziemlich lustlos hörte man dort zu und machte sich schleppend auf zur Informationsverarbeitung, aber auch dort wurde an jenem Morgen sehr viel gelassener gearbeitet. Als dieser Vorgang jedoch endlich abgeschlossen war, dauerte es nicht allzu lang, bis jemand in Kalis Kopf zu einem Telefon griff, um die Dienststelle der Erkenntnisse anzurufen.
Guten Tag, ich rufe hier an von der Informationsverarbeitung, bin ich da bei der Erkenntnis?
Hallo, ja, hier sind Sie richtig, was kann ich für Sie tun?
Fritzi die Fratze ist Quatsch, oder?
Jopp, das ist Blödsinn.
„Warte, wie heißt du?“, kam es schließlich aus Kali heraus.
„Fritzi die Fratze. Du?“, antwortete die Person in genau demselben Tonfall wie zuvor.
„Okay, dann hab ich dich beim ersten Mal wohl doch verstanden.“ Kali zog kritisch eine Augenbraue in die Höhe. „Aber das ist doch sicher ein Spitzname, wie heißt du richtig?“
„Spitzname? Ist das ein neuer Witz, den ihr euch für uns ausgedacht habt?“, die Worte von Fritzi deuteten darauf hin, dass sie ein wenig eingeschnappt sein musste, doch gab es in ihrer Mimik oder Betonung keine Anzeichen dafür.
Dieser Morgen wollte für Kali wahrlich nicht aufhören, immer merkwürdiger zu werden. „Sorry, ich versteh' echt nicht, was du meinst. Ist ja auch eigentlich völlig egal, du heißt Fritzi und ich –“
„Die Fratze!“, unterbrach Fritzi.
Kali wollte es von Neuem mit der Begrüßung versuchen. „Ja, meinetwegen, die Fratze. Ich heiße –“
„Fritzi die Fratze!“, beharrte ihr Gegenüber auf Vollständigkeit.
„Willst du nun wissen, wie ich heiße, oder nicht!?“, brüllte Kali ein wenig böser, als es ihre Absicht gewesen war, was ihr einen stechenden Schmerz die Schläfen entlang trieb. Fritzi die Fratze nickte eifrig. „Ich heiße Kali.“
„Aha. Und?“, bohrte ihr Gesprächspartner weiter.
„Ackerhans“, schloss Kali die Vorstellung ab.
Fritzi die Fratze wippte ein wenig ungeduldig auf und ab und nickte erneut, doch dieses Mal langsam. „Ja, und?“
Kali wusste nicht, was sie ihrem Namen noch hinzuzufügen hätte. „Nichts weiter, einen schicken Zweitnamen hab ich nicht“
Fritzi die Fratze schüttelte jetzt so eifrig mit dem Kopf, wie sie zuvor noch genickt hatte. „Das mein' ich nicht“, sagte sie mit einer gewissen Dringlichkeit in der Stimme. „Du musst dich richtig vorstellen!“
„Aber das habe ich doch gemacht. Hallo, Name erfragt, Name genannt, was willst du denn noch? Händeschütteln? Würd' ich dir gerade eher von abraten, ich war eben pissen und konnte hier meine Hände nicht waschen.“ Kali wischte sich die Hände an ihrem in engen Jeans steckendem Hintern ab.
Fritzi die Fratze schien nun doch etwas ungehalten zu werden. „Mhm, das hab ich gesehen. Du bist nicht von hier, oder?“
Kali dachte kurz nach, worauf ihr Gegenüber wohl hinauswollte. „Was genau meinst du mit hier? Das Festival oder die Gegend?“
Fritzi runzelte die Stirn. „Von einem Fest weiß ich nichts. Gegend.“
„Nein“, antwortete Kali knapp.
„Merkt man.“ Fritzi nickte. „Es ist üblich für einen von euch, bei der Begrüßung einer wie mir ins Gesicht zu schlagen. Jedenfalls hier so. Da, wo du herkommst, scheinbar nicht.“ Bevor Kali nachfragen konnte, wie genau in diesem Satz jetzt das einen von euch und einer wie mir zu definieren sei, fuhr die kleine Merkwürdigkeit auch schon fort. „Und es ist unüblich für jemanden wie dich einfach seinen Pulliraushängen zu lassen.“
Verwundert blickte Kali nach kurzem Stirnrunzeln ihre Arme an. War ihr bisher gar nicht aufgefallen, dass sie einen Pulli trug? Eigentlich hatte sie nur ein graues, enges Tanktop getragen, aber es wäre auch nicht das erste Mal gewesen, dass sie mit falschen Klamotten auf dem Festival aufwachte. Einmal war sie morgens zu ihrem Zeltplatz zurück geschlendert, nachdem sie ursprünglich gedacht hatte, genau dort genächtigt zu haben. Zur bereits erwachten Truppe hatte sie damals gesagt: „Moin Leute, da bin ich wieder! Nachdem ich aus meiner Schlafstätte schon draußen war, hab' ich erst gemerkt: Das ist überhaupt nicht mein Zelt!“ In dem Moment hatte sie zufällig an sich runter geschaut. „Oh. Und das sind auch überhaupt nicht meine Klamotten!“
Nun, so war es damals passiert. In unserem damals, um das es hier ja eigentlich gerade ging, erwies sich das allerdings als nicht zutreffend. Sie trug nach wie vor ihr graues Top, definitiv keinen Pulli. „Pulli? Ich habe doch gar keinen Pulli.“
„Doch, da“, sagte Fritzi die Fratze und deutete auf Kalis Schritt. Kali wollte zu einer Antwort ansetzen, da blickte sie an sich hinunter und bemerkte mit leichtem Entsetzen, dass sie durch die sehr erschreckende Unterbrechung ihrer Pinkelei schlichtweg vergessen hatte, ihren Penis wieder in sein dunkles Gefängnis einzusperren.
„Oh fuck, sorry!“, sagte sie, drehte sich weg und machte sich schnell daran, dieser Peinlichkeit ein Ende zu setzen.
„Schon in Ordnung.“ Fritzi lächelte schief. „Wirst du mich jetzt schlagen, wo der Pulli weg ist?“
Kali hatte alles verstaut, fuhr vorsichtshalber einmal ihren ganzen Körper mit den Augen ab, um sicher sein zu können, dass sonst nicht noch irgendwelche Stellen zu sehen waren, die es sonst nicht sein sollten, und blickte dann wieder auf Fritzi. „Ach ja, da war ja was. Pulli dazu zu sagen, find' ich auch geil. Sagt man das bei euch so?“
„Ja“, entgegnete Fritzi trocken und von einem kurzen Nicken begleitet.
„Okay, muss ich mir merken.“ Kali schmunzelte für einen Moment, bevor sie weitersprach. „Und wieso genau soll ich dich jetzt schlagen?“
Fritzi blickte ihr verwundert in die Augen. „So begrüßt man uns hier“, sagte sie schließlich.
„Uns, so was hast du eben schon mal gesagt.“ Kali schüttelte verständnislos den Kopf. „Was meinst du mit eine wie du und so?“
Nun war es an Fritzi, ihre Stirn zu runzeln. „Bist du blind? Oder liegt das an dem schwarzen Ding vor deinen Augen?“
„Nein, ich bin nicht blind.“ Kali zog genervt ihre Sonnenbrille ab. „Aber ohne die sehe ich dich wahrscheinlich noch schlechter als mit. Alter, die Sonne tut echt weh heute.“ Sie versuchte Fritzi jetzt einmal ohne Brille anzuschauen. Der Schmerz war nicht mehr so schlimm wie zuvor, allerdings war Ra immer noch ein wenig zickig, daher erkannte sie zwar nicht unbedingt weniger, aber auch nicht mehr. Fritzi war noch immer grün angezogen und für Kali unfassbar hässlich. „Was soll mir denn auffallen bei dir?“
„Na, guck doch.“ Fritzi die Fratze breitete, sich selbst präsentierend, ihre Arme aus. „Ich bin eine Elfe. Wenn Menschen auf Elfen treffen, schlagen sie ihnen zur Begrüßung ins Gesicht. So ist das halt. Weiß auch nicht, warum.“
Kali blickte mit versteinerter Miene auf ihr Gegenüber. Ganz langsam und bedächtig, wanderte ihr Arm, an dessen Ende die dazugehörige Hand die Sonnenbrille hielt, wieder nach oben, um die Brille wieder auf ihren vorherigen Platz zu befördern. „Ist das hier so ein LARP-Ding?“, fragte sie dann schließlich. Sie hatte schon einige Male von Ansammlungen von Nerds gehört, die sich irgendwo in abgelegenen Wäldern trafen, um sich zu verkleiden und ein sogenanntes Live-Action-Role-Play zu veranstalten.
Fritzi verneinte. „Nein, Lapding I und II liegen ziemlich weit östlich von hier“, damit untermauerte sie dann ihr Kopfschütteln von zuvor. „Aber nicht nur da schlagt ihr uns zum Hallo ins Gesicht, hier auch.“
Kali hatte sich kurzerhand entschlossen, das erneute Missverständnis ob der ausgetauschten Worte einfach zu übergehen. „Aha … Wo ist denn hier überhaupt? Ich war schon oft auf dem Festival, aber den Wald hab ich noch nie gesehen. Kannst du mir den Weg zurück zeigen?“
Fritzi schürzte die Lippen. „Das hier ist der Laubwedel. Zumindest heißt der Wald bei uns Elfen so. Wie der bei euch heißt, weiß ich nicht. Wo hier Feste gefeiert werden, weiß ich auch nicht.“
Kali verdrehte die Augen, was Fritzi aufgrund der Sonnenbrille zum Glück nicht sehen konnte. Wer weiß, wie das nun wieder bei Fritzi angekommen wäre. Kommunikation schien mit der selbst ernannten Elfe ein bisschen schwierig zu sein. „Kannst du mir dann wenigstens sagen, wo ich auf andere Leute treffe? Den Rest finde ich dann auch selbst.“
„Andere Leute?“ Fritzi riss interessiert die Augen auf. „Menschen?“
Kalis Antwort kam durch vor Entnervung zusammengepresste Zähne gezischt. „Ja, Menschen.“
„Hm. Ja. Komm mit“, antwortete Fritzi die Fratze, wandte sich zu ihrer Linken und stratzte ohne Weiteres einfach los. Nun ja, „einfach“ stimmt nicht. Es dauerte circa eineinhalb Schritte, bis sie sich im Gestrüpp verfing und in vollkommener Ungeschicktheit auf die Fratze stürzte. Kali machte bereits einige Schritte in ihre Richtung, um ihrer sonderbaren Reisebegleitung aufzuhelfen, doch dort angekommen, stand diese bereits wieder, nuschelte leise: „Ist gut, ist gut“, und machte sich nun wieder auf den Weg.
Kali war jetzt bereits einige Zeit hinter Fritzi hergetrottet. Kali glaubte mittlerweile, dass es sich bei Fritzi tatsächlich um eine Frau handelte, zu einem Gespräch war es allerdings bislang nicht mehr gekommen. Fritzi schien sich voll und ganz auf ihre Umgebung konzentrieren zu müssen, um nicht wieder hinzufallen, und Kali hatte auch nicht wirklich Lust, sich zu unterhalten. Sie war generell nicht so der Morgenmensch, schon gar nicht verkatert. Insbesondere fehlte ihr die Kraft, sich mit Fritzi zu unterhalten, da sie das letzte Gespräch nur noch mehr durcheinandergebracht hatte. Kali hatte aus diesem Grund die Zeit des Schweigens lieber dafür genutzt, sich mit dem Drumherum zu beschäftigen.
Es wollte ihr nicht in den Kopf, wie schön der Wald war. Verstärkt wurde dieser Umstand von ihrer Unfähigkeit, die eine Eigenschaft, welche den Wald zum für sie schönsten machte, genau zu benennen. Er war üppig und dicht gewachsen, saftig grün, wirkte überhaupt nicht bedrohlich und war in herrlich goldenes Licht getaucht. Das waren alles Dinge, die unter den richtigen Gegebenheiten auch auf viele andere Wälder zutreffen könnten. Irgendwas war hier jedoch anders. Dieser Wald hatte etwas, vielleicht sogar das Gewisse und das hatte nichts damit zu tun, dass er laut Fritzi Laubwedel hieß, obschon es hier überhaupt kein Laub zu geben schien.
Hallo. Wasser. Jetzt.
So lautete der Satz, den Kalis Kehle geäußert hatte, um sie wieder daran zu erinnern, dass hier noch jemand in der Schlange stand, um ihr Informationen zukommen zu lassen. Da waren schon wieder einige aufgetaucht, die ja so viel wichtigere Dinge mitzuteilen hatten, die ganz dringend vor mussten, geht auch schnell, sie würden die Kehle beizeiten auch auf ein Getränk einladen. Das fand die Kehle ein bisschen zynisch. Jetzt reichte es auch, keiner sollte mehr vorgelassen werden, jetzt war sie dran. Ihre Mission hatte nämlich eine noch größere Dringlichkeit erlangt, nachdem sich die Leber, welche bislang regungslos neben der Schlange gelegen hatte, schmatzend zu ihr umgedreht und krächzend darum gefleht hatte, dass sie sich bitte um Wasser kümmern solle. Die Leber war ein guter Freund von Kalis Kehle, deshalb wollte sie nun umso mehr ans Ende der Warteschlange kommen, um endlich auch mal was zu sagen.
Während Kali sich noch staunend fortbewegte, spürte sie plötzlich wieder, wie unglaublich durstig sie war. „Fritzi, du hast nicht zufällig was zu trinken dabei? Ich sterbe vor Durst.“
Fritzi blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich dann ganz langsam zu Kali um, die ebenfalls, vom ruckartigen Bewegungsstopp ihrer Wandergesellschaft leicht erschrocken, stehen geblieben war. Fritzis Augen waren starr, vor Panik weit aufgerissen.
Kali, die nun schon etwas besser auf Hindernisse im verbalen Austausch vorbereitet war, ergriff schnell das Wort, da sie fürchtete, Fritzis Augen würden sonst aus dem unschön anzusehenden Gesicht ploppen. „Ich sterbe nicht wirklich! Das sagt man so. Bei uns jedenfalls, bei uns sagt man das so. Ich bin aber wirklich verdammt durstig, hast du was?“
Fritzi sackte mit einem Seufzer der Erleichterung ein wenig in sich zusammen, verharrte einige Sekunden lang in dieser Position, und richtete sich wieder dann langsam wieder auf. „Nein, ich hab nichts. Aber wenn ich mich nicht verlaufen habe, kommen wir gleich an einem Bach vorbei“, sagte sie.
„Und wie oft verläufst du dich?“, fragte Kali leicht verunsichert.
Fritzi musste kurz überlegen. „Eigentlich nie“, antwortete sie schließlich schulterzuckend, und ging dann ohne zu zögern wieder drauf los.
Kali war sich zwar nicht sicher, ob sie Fritzi, die bisher nicht gerade sehr überzeugend gewirkt hatte bei so ziemlich allem, bei der Wegfindung vertrauen konnte, aber welche Wahl hatte sie. Kali gab sich der Situation hin, nuschelte ein leises „Okay“, und taperte dann ebenfalls weiter. Wieso man nun schneller an einem Bach war als am Zeltplatz des Festivals, oder einem der Getränkestände, wie sie überhaupt in diesen Wald gekommen war, wie sich auch nur irgendetwas von alldem erklären ließ, das waren alles Fragen, die Kali sich unbewusst stellte, doch hatte sie für den Augenblick weder die körperlichen noch die geistigen Kapazitäten, diesen Fragen viel Gehör zu schenken. Erst mal einfach was trinken und andere Leute finden, die sich nicht für Elfen halten, das hatte jetzt Priorität, der Rest würde sich dann schon irgendwie ergeben. Und tatsächlich, nur wenige Minuten später konnte Kali das Plätschern des von Fritzi angekündigten Baches vernehmen.
Alsbald dort angekommen, kniete sich Kali erschöpft hin und begann, mit ihren Händen Wasser daraus zu schöpfen. Kurz zuvor hatte sie noch überlegt, ob es überhaupt klug sei, aus irgendeinem daher geflossenen Bach mitten in einem unbekannten Wald Wasser zu trinken, doch ihre Not gepaart mit der Absurdität der Gesamtsituation hatten diese Bedenken schnell im Keim erstickt. Außerdem war das Wasser so wunderschön klar und sah einfach viel zu verlockend und frisch aus. Viele Male bildete sie nun eine Schüssel mit ihren Händen und sog das Wasser gierig in sich hinein. Fritzi stand derweil ziemlich desinteressiert in der Nähe herum und bohrte in der Nase. Ihre Fundstücke schmierte sie an ihr Gewand. Nach ein paar weiteren Schlucken des Energie-bringenden Nasses ertönte ein zufriedenes „Aaaaaaaaah!“, aus Kalis Richtung, was Fritzi dazu veranlasste, das Popeln schnell einzustellen und ein letztes Fundstück an ihre Kleidung zu schmieren. Das passierte allerdings nicht schnell genug, um von Kali unbemerkt zu bleiben. Ob ihr Kartoffelsack-Gelumpe deshalb grün ist?, fragte sie sich, lies den Vorgang aber nur unausgesprochen kommentiert, um ihr Gegenüber nicht zu beschämen.
„Weiter?“, fragte Fritzi.
„Weiter!“, antwortete Kali.
„Wie heißt du denn jetzt eigentlich wirklich?“, fragte Kali unvermittelt, nachdem sie selbst wieder einige Zeit mit Schweigen und Staunen, Fritzi hingegen mit Schweigen und sich auf das Gehen konzentrieren verbracht hatten. „Fritzi die Fratze ist doch nicht dein richtiger Name.“
„Doch. Kein Spitzname“, entgegnete sie trotzig. Kali seufzte und verstand, dass sie dieses Rollenspiel wohl mitmachen müsse, um irgendwelche Antworten zu bekommen.
„Nun denn, holde Elfe, so saget mir, die ich nicht aus diesen, Euren Gefilden stamme, wie Ihr zu einem solch wunderlichen Namen gelangtet“, sprach sie mit übertriebener, altbackener Höflichkeit.
„Da, wo du herkommst, gibts keine Elfen?“, kam die Gegenfrage.
Kali war leicht enttäuscht darüber, dass ihre Bemühungen, das Gespräch ein wenig auf LARP-Niveau zu bringen, oder wenigstens darauf, was Kali darunter verstand, völlig unkommentiert blieben und nicht weiter aufgegriffen wurden. „Nein, da, wo ich herkomme, gibt es keine Elfen.“
„Elfen vergeben ihre Namen nach der Geburt. Das Kind wird angeschaut und es werden zwei besondere Merkmale festgestellt. Mit den Merkmalen wird dann ein Name gebildet“, erklärte Fritzi mit einer auffallenden Selbstverständlichkeit in der Stimme.
Kali musterte ihre Begleitung. „Und, was sind deine Merkmale, wenn ich fragen darf?“
„Tja.“ Fritzi zuckte mit den Schultern. „Ich hab' nur eins. Ich bin hässlich. Daher die Fratze. Fritzi haben sie mir einfach so gegeben, und mich dann verstoßen. Deshalb bin ich hier und nicht bei den anderen.“
„Du wurdest verstoßen, weil du nur ein Merkmal hattest?“, Kali musste ein wenig lachen. „Wieso nicht einfach: Spitzohr die Fratze?“
„So geht das nicht. Spitze Ohren haben alle. Und es muss sich ähnlich anhören“, gab Fritzi zurück.
Kali verstand nur Bahnhof. „Was meinst du damit?“
„Na, also mein Vater heißt Glotzi die Glatze, weil er schon bei der Geburt so komisch geglotzt und eine Glatze hatte“, erläuterte Fritzi das elfische Namensgebungsverfahren.
Kali musste wieder lachen, diesmal ein wenig heftiger, was ihr einen bösen Blick von Fritzi einbrachte. „Tut mir leid!“, brachte sie mit etwas Mühe hervor. „Woher weißt du das denn alles, wenn du direkt nach der Geburt verstoßen wurdest?“
„Elfen erinnern sich an alles, sobald sie geboren sind. Wir verlernen das Sich-Erinnern dann und es kommt nach ein paar Jahren zurück. Ist auch bei allen so, wie mit den Ohren. Die Sprache hab ich später gelernt“, erklärte Fritzi ungewöhnlich reich an Worten.
„Und wo bist du dann aufgewachsen?“, hakte Kali nach.
„In einem Berg. Da hab ich auch die Sprachen gelernt.“ Wieder fand sich in Fritzis Stimme dieses Urvertrauen, dass alles, was sie sagte, für jeden anderen einen absolut eindeutigen Sinn haben musste.
„Ah ja“, Kali nickte freundlich, als hätten sie die Erläuterungen der Elfe komplett zufriedengestellt. Sie hätte zwar gerne noch weitere Fragen geäußert, doch wurde sie unterbrochen, denn einige Meter weiter vorne erblickte sie etwas, was nicht in das Bild des Waldes passte und ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es handelte sich um ein Konstrukt. Anders hätte Kali es nicht beschreiben können. Eine riesige Anhäufung von hölzernen Gelenken, Streben, Verbindungsstücken und Flaschenzügen mit dicken Seilen. Je näher sie der Konstruktion kamen, desto besser wurde erkennbar, wie hoch dieser krumme, asymmetrische Turm war. Bis in die dichten Kronen der älteren Bäume reichte er, um dort zu verschwinden. In unregelmäßigen Abständen von der Stelle, an der man die Sicht darauf verlor, wo der Turm noch hin ragen könnte, baumelten allerdings Seile aus den Kronen in Richtung Waldboden, an denen runde, metallene Gewichte hingen, ähnlich aussehend, wie Gewichte, die man auf eine Hantelstange schraubt. Kali war nun bis auf wenige Meter herangetreten und mit dem Blick bis ganz nach oben gefolgt. So stand sie nun da und stierte in die Höhe, Fritzi dabei nicht mehr beachtend. Erst, als ein Kali nicht ganz unbekannt vorkommender, quiekender Schrei, gefolgt von ächzenden Geräuschen, wie nur Holz sie verursachen können, zu hören waren, ließ sie ihre Augen schnell wieder an dem komischen Bau hinuntersausen. So konnte sie nun sehen, dass Fritzi bis ganz an den Turm herangetreten war, ihn angefasst und dabei wohl ein tragendes, doch dabei mehr oder minder loses Stück Holz entfernt hatte und es nun erschrocken in den Händen hielt. Mit ängstlicher Panik in den Augen schaute Fritzi abwechselnd auf das Holz und auf Kali, bis sich andere Geräusche unter das Ächzen des Holzes mischten. Seile rissen, Blätter wurden gepeitscht, es knackte, dröhnte, es bestand kein Zweifel. Der Turm stürzte ein.
„Lauf!“, schrie Kali und rannte los. Fritzi fackelte nicht lang, doch schlug sie nach wenigen Schritten der Länge nach hin. Bedauerlicherweise nach zu wenigen Schritten. Die ersten Gewichte trafen dumpf auf den Boden, hier und da fielen die ersten Holzbalken. Kali fluchte innerlich, rannte aber trotzdem einige Meter zurück, um Fritzi aufzuhelfen, an die Hand zu nehmen und in Sicherheit zu zergeln. Die Stücke wurden größer, fielen häufiger. Kali erkannte schnell, dass dem gigantischen Radius der hinunter rasenden Bauteile kein Entrinnen war, deshalb schmiss sie sich unter den Stamm eines alten, dicken Baumes, der schief gewachsen war und damit eine Art Dach bot, Fritzi zog sie neben sich. Eine schiere Ewigkeit hielt der ungewöhnliche Hagelsturm an, teilweise vibrierte der Boden bei Einschlägen von besonders großen Teilen. Doch irgendwann war der Schrecken vorbei, Kali und Fritzi hatten es unverletzt überstanden. Schwer atmend verharrten sie noch einige Sekunden dort unter ihrem Lebensretter, um wirklich sicher sein zu können, dass die Gefahr vorbei war. Als diese Sicherheit eingekehrt war, trauten sie sich schließlich zögerlich, einander anzuschauen. Der Schreck saß tief, doch kam langsam die Erkenntnis und damit auch die Freude, es überlebt zu haben.
Bevor einer von ihnen irgendetwas zu sagen vermochte, wurde die frische Stille erneut vertrieben, doch dieses Mal nicht von herabstürzenden Todbringern, sondern von einem lauten, wütenden, nahezu manischen Schrei.
„SCHEIßEEEEEEEEEEE!!!“ donnerte es. Die beiden zuckten zusammen, während dieser laute Fluch seinen Schall durch den zuvor noch so friedlichen Wald trug.
Kapitel III
Im Schoß der Erkenntnis
Einige Sekunden hatten Kali und Fritzi die Möglichkeit, sich, erfüllt von Angst und Verwunderung, in die Augen zu blicken, bevor erneut ein anderes Geräusch aus dem Wald zu hören war. Es waren Schritte. Schnelle, wütend in den Boden getriebene Schritte, die sich ihnen näherten.
„Dämliche Kackstelzen, denen erzähle ich was, die ganze schöne Arbeit umsonst. UMSONST SAG ICH! Scherbenhaufen, Mist, verdammter!“, kam es von hinten. Es war zweifelsohne die Stimme, welche zuvor in ohrenbetäubender Frustablasserei „Scheiße“ gebrüllt hatte.
Noch ehe Fritzi oder Kali irgendwas zu tun oder zu sagen Gelegenheit hatten, stapfte der Unbekannte bereits um die Ecke ihres baumischen Beschützers und baute sich vor ihnen auf.
Hätte Kali diese Person in einer anderen Situation zum ersten Mal gesehen, wie beispielsweise in der Menge vor der Bühne des Festivals, auf dem sie jetzt eigentlich hätte gewesen sein wollen, dann hätte sie die Gestalt wohl mit einigem Amüsement in den Mundwinkeln eine Weile lang beobachtet, um irgendwann nach innerlichen Fragen wie: „Warum“ und „Was schmeißt der sich wohl?“, zu dem Schluss zu kommen, dass es sich hierbei um einen sogenannten „Schrägen Vogel“ handeln musste.
Wäre die Musik dann gerade nicht allzu interessant und ihre Freunde nicht so sehr in Laberlaune gewesen, dann hätte sie womöglich noch ein wenig länger beobachtend dagestanden, und sich in ihrem Kopf eine kleine Spontan-Natur-Doku ausgedacht.
Hier sehen wir den schrägen Vogel in seiner natürlichen Umgebung. Der schräge Vogel beweist sich als außerordentlicher Überlebenskünstler, da er eine ganz besondere Vorgehensweise entwickelt hat, die ihn vor seinen natürlichen Fressfeinden schützt. So versucht er nicht, wie andere Vertreter seiner Gattung, durch Unauffälligkeit in der Menge unterzugehen und so vor den stets lauernden Augen seiner Fressfeinde unsichtbar zu sein, nein. Der schräge Vogel wählt eben genau den Weg der überbordenden Auffälligkeit und paart diese ganz geschickt mit einer irritierenden, doch vollkommen entwaffnenden Ungefährlichkeit. So mag er für viele zwar abschreckend wirken, doch niemals strahlt er etwas aus, was ihn als Bedrohung auffallen ließe.
So hätte die Situation durchaus ablaufen können. Kali hätte vielleicht irgendwann noch die Karin angestupst und in die Richtung des Stars in ihrem Kopfkino gezeigt, um den Spaß über diese Erscheinung mit jemandem zu teilen.
Mit Karin hätte sie das gut machen können, mit Eugen eher nicht so, der wäre gleich hingegangen und hätte den Typen gefragt, warum er eine Brille mit so enorm dicken Gläsern trägt, dass seine Augen so bekloppt riesig aussehen, ob er die wirklich braucht oder ob die einfach Quatsch ist. Dann hätte er mit Sicherheit auch noch gefragt, ob er auch mal den Zylinder aufsetzen darf und warum man so was auf einem Festival dabeihat. Eugen konnte schon manchmal sehr peinlich sein mit seiner ungehemmten Direktheit, die manchmal auch mit einer gewissen Intoleranz Hand in Hand ging.
Aber Kali war nicht auf dem Festival, Karin war nicht da, Eugen, Leila, Gunnar, Mahmut und all die anderen auch nicht. Sie war auch nicht entspannt und angeheitert, ebenso wenig war es die Situation an sich. So saß sie noch immer am Stamm des Baumes, der sie und Fritzi gerettet hatte, und starrte angsterfüllt auf diesen langhaarigen Kerl, der angespannt und innerlich kochend vor ihnen stand.
In rhythmischem Schnauben stieß der Zorn aus seinem Körper. Seine Lippen bebten. Langsam hob er beide Arme, die Hände daran mit krampfig gekrümmten Fingern. Über seinem behüteten Kopf angekommen, sausten sie wieder nach unten, um in Kalis Richtung zu zeigen. Dort verharrten sie einen kurzen Moment, bevor sie sich erneut auf den vor Ärger zittrigen Weg über sein Haupt machten, um wieder hinabzusausen und nach einer leichten Drehung seines Körpers nun auf Fritzi zu zeigen. Dieser Vorgang wiederholte sich einige Male, bevor er wieder Worte von sich gab.
„Ihr. Verdammten. ARSCHKÖPFE! Was fällt euch ein, meine schöne Arbeit, mit der ich verdammt viel Zeit verbracht haben muss und mit derer verbrachte Zeit ich euch genauer nennen würde, wenn ich denn wüsste, wie viel Zeit ich genau hier verbracht habe, um zu bauen, was ich gebaut habe, doch muss es verdammt lang gedauert haben, da mein Schaffen verdammt groß gewesen ist, einfach so, völlig unverhohlen, ohne mit der Wimper geworfen zu haben, in einem absoluten Bruchteil dessen, was es mit ganz großer Sicherheit gebraucht hat, es zu erschaffen, kaputtzumachen!? Seid ihr noch zu retten? Wisst ihr überhaupt, was ihr hier zerstört habt?“, schrie der Fremde sie zusammen.
Nachdem wenige Sekunden der Ruhe gezeigt hatten, dass der Typ anscheinend tatsächlich eine Antwort erwartete, fand Kali als erstes ihre Sprache wieder.
„Nein“, sagte sie mit leicht zittriger Stimme und fügte fragend hinzu: „Was haben wir denn kaputt gemacht?“
„Tja“, antwortete ihr Gegenüber. „Das weiß ich auch nicht. Aber dank eurem phimosen Einsatz werde ich das jetzt niemals erfahren. Und auch ihr nicht. Oder sonst irgendjemand, den das interessiert hätte und ich sage euch eins“, er zeigte jetzt mit ausgestrecktem Zeigefinger abwechselnd auf die beiden, „das hätte interessiert. Oh, wie das interessiert hätte. Ich weiß nicht, warum, oder wen, oder wann, oder wie sehr, aber –“, sein Finger schnellte gen Himmel und schwang nun vorwurfsvoll in der Luft, „es hätte interessiert! Prinzipiell.“
Kali merkte nun langsam, aber sicher, wie die Angst, der an diesem Morgen sehr beständigen Verwirrtheit wich. Erst jetzt, nachdem sich ihre Muskeln wieder ein wenig lockerten, spürte Kali, wie sehr ihr Körper unter Spannung gestanden hatte. „Es … es tut uns leid“, begann sie vorsichtig, aber mit etwas mehr Kraft in der Stimme. „Das war bestimmt keine Absicht.“
„Aha! Ihr seid also geständig?“, fragte der Architekt des zerstörten Etwas triumphierend.
„Wie?“ Kali kniff überrascht die Augen zusammen. „Du hast uns doch gesehen, wie hast du uns denn sonst hier gefunden?“
„Nein“, entgegnete der Mann schlicht.
„Was, nein?“ Sie hob die die Arme, als könnte sie damit mehr Klarheit aus dem Unbekannten herausziehen. „Du wusstest also nicht, dass wir das waren?“
„Nicht einen Schimmer.“ Der Mann schüttelte bestimmt sein lockiges Haupt. „Ich habe seelenruhig Pfeife gekaut, wollte mich aufmachen, herauszufinden, was ich da gebaut habe, habe den Krach gehört, bin losgerannt, hab euch zufällig hier sitzen sehen und euch dann angeschrien.“
Jetzt war es endlich an der Zeit, dass auch Fritzi mal wieder etwas zu sagen hatte. „Dann waren wir's nicht. War wer anders, sind da lang, da hinten.“
Ganz langsam, fast schon unheimlich und unerträglich langsam, wandte der Unbekannte sein Gesicht ab von Kali, um mit seinen durch die Brille übergroßen Augen Fritzi die Fratze zu fixieren. Dort nach einer schieren Ewigkeit angekommen, ging er entschiedenen Schrittes auf sie zu und klatschte ihr ohne Vorwarnung volles Orchester ins Gesicht.
„Ey, ey, ey! Entspann –“, setzte Kali an, doch das Ziel ihrer Beschwichtigungsversuche brachte sie mit einem ruckartig vor ihr Gesicht geführten Zeigefinger zum Schweigen, ohne seinen Blick von Fritzi abzuwenden.
Die Elfe grinste verständnisvoll und sagte fast fröhlich: „Ich heiße Fritzi die Fratze, du?“
Die Antwort fiel knapp aus. „Kehrblech.“ Sein Finger war noch immer vor Kalis Gesicht, doch formte sich die Hand nun zu einer Fläche, die Kali zum Reichen angeboten wurde. Seine Augen schauten dann wieder auf sie. „Und du?“
„Kali“, kam die etwas zögerliche Antwort samt ebenso geartetem Hand-zum-Schütteln-Akzeptieren.
„Da wir das nun geklärt haben“, sagte er, verweilte etwa drei Sekunden in seiner Position und ging dann, ohne Vorwarnung, einfach weg. Er verschwand, wie er gekommen war, hinter dem Baum.
Doch allerdings nur, um plötzlich auf der anderen Baumseite wiederaufzutauchen, was Kali einen ordentlichen Schrecken einjagte. Den Stamm mit feinen Fingern umklammernd, beugte sich Kehrblech ganz nah zu Kalis Gesicht hinunter. „Komm mal mit.“
„Okay“, antwortete Kali und nickte.
„Herrorvagend“, sprach Kehrblech und war sogleich wieder hinter dem Baum verschwunden.
„Was ist mit dir, kommst du auch mit?“, fragte Kali an Fritzi gerichtet und dabei tatsächlich mit der leisen Hoffnung, sie würde mit „Ja“ antworten, denn in diesem aberwitzigen Irrsinn, in dem sie gelandet zu sein schien, war sie für alles dankbar, was sie seit mehr als fünf Minuten kannte.
Fritzi schien einen Augenblick lang zu überlegen, sich dann der Tatsache gewahr zu werden, dass sie absolut nichts Besseres zu tun hatte, und antwortete mit: „Na ja, was solls.“
So erhoben sich beide und machten sich daran, der sonderbaren Gestalt namens Kehrblech hinterherzugehen.
Ungefähr zehn Minuten waren sie nun mit Kehrblech unterwegs.
Er hatte außer einigem Gemurmel nicht viel von sich gegeben. Einmal war er plötzlich stehen geblieben und hatte gen Himmel geschaut, der in diesem lichter werdenden Teil des Waldes langsam deutlicher zu erkennen war. Kehrblech stand für einen kurzen Moment so da, um dann plötzlich gellend in das Blaue über ihnen hinaufzuschreien. Danach war er hastig nach links in ein dichtes Gebüsch gesprungen, um mit einigen Blättern in der Frisur und zwei goldgelben Früchten in den Händen, die Kali nicht zu identifizieren vermochte, wieder hinauszuklettern, und dann begann, mit den eingesammelten Früchten zu jonglieren.
In der Zwischenzeit hatte Kalis Magen nun langsam das Ende der Organwarteschlange erreicht und wollte soeben über das viel genutzte Mikrofon mitteilen, dass er ziemlich unbeschäftigt war und etwas haben wollte, was er mit seinem säurehaltigen Inhalt schön verarbeiten wollte, um damit Geschenke für den Darm und andere Organe zu machen.
„Ich hab Hunger“, sagte Fritzi die Fratze, als ob das ein Problem sei, was sie nicht wirklich allzu sehr zu tangieren schien.
„Ja, ich könnte definitiv auch was vertragen“, stimmte Kali zu und kaum, dass sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, drehte Kehrblech sich ruckartig zu ihnen um, warf Kali elegant eine seiner Früchte zu und schleuderte die andere dann mit voller Wucht mitten in Fritzis Fratze hinein, die darauf ohne weitere körperliche Reaktion nach hinten kippte, als wenn sie ein Baum wäre, der soeben gefällt worden war.
„War das wirklich nötig?“, fragte Kali, während sie der Elfe mit ihrer freien Hand beim Aufstehen half.
„Nein“, kam Kehrblechs Antwort. „Aber dafür wirklich lustig“, fügte er hinzu, drehte sich wieder um und setzte seinen Weg fort.
Fritzi schwankte noch etwas benommen von der „lustigen“ Attacke.
Kali fand das für sie bestimmte Obst unweit auf dem Waldboden, hob es auf und reichte es ihr hin.
„Hier. Was ist das überhaupt? So eine Frucht habe ich noch nie gesehen“, stellte Kali fest, während sie die sonderbare Frucht genauer untersuchte.
„Gucciezheißen die bei uns. Weiß nicht, wie ihr die nennt. Sehen toll aus, schmecken aber blöd.“ Enttäuscht blickte Fritzi auf das ihr angebotene Essen.
„Undankbarkeit ist ein Gast, den man nicht gerne Willkommen heißt!“, kam es von Kehrblech weiter vorne. „Und die heißen Saftgoldbeeren. Esst, oder lasst es. Was anderes gibt es erst, wenn wir da sind. Vielleicht.“
Mit der Saftgoldbeere in der Hand machte Kali ein paar große, schnelle Schritte, um ein wenig zu Kehrblech aufschließen zu können, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Fritzi wieder stehen konnte, ohne, dass sie drohte, umzufallen.
Zumindest nicht mehr, als es bei ihr ohnehin schon der Fall sein mochte. Fallen gehörte in jedem Fall zu Fritzis Normalzustand, oder sollte man hier dann Normalzufall sagen?
So oder so, es war Kali aufgefallen. „Wohin gehen wir denn überhaupt? Ich bin eigentlich gerade auf einem Festival, muss hier in der Nähe sein, kannst du mich einfach dahin bringen?“
„Was für ein – iss deine Beere – Fenstikal? Gibts hier ein Femstival, im Wald?“
Ein wenig skeptisch biss Kali in die Frucht, ohne dabei stehen zu bleiben, da auch Kehrblech eifrig weiter voranschritt und sie ihn nicht verlieren wollte. Die für Kali neuartige Beere schmeckte absolut fantastisch. Süß und doch irgendwie herb, fruchtig aber dabei auch sonderbar fleischig und ein bisschen nach Alkohol. Kali fand sie großartig, so etwas hatte sie in ihrem Leben noch nicht gegessen. „Wow, sind die lecker!“
„Schön. Toll. Felmtibal, wo jetzt?“, fragte Kehrblech.
„Festival“, korrigierte sie. „Nein, nicht hier im Wald. Das muss aber hier in der Nähe sein, gestern war ich noch da. Ich war ziemlich voll und bin irgendwie hier im Nirgendwo gelandet.“
„Irgendwo“, korrigierte diesmal Kehrblech.
„Was?“ Kali verstand nicht.
„Der Wald heißt Irgendwo“, kam die Erläuterung.
Kali hatte noch immer keinen blassen Schimmer. „Ich dachte Laubwedel.“
„So heißt der bei den Elfen.“ Kehrblech ließ seinen Blick einmal über ihr Aussehen gleiten. „Du siehst komisch aus.“
Kali war ein wenig empört. Das musste ausgerechnet der Typ zu ihr sagen, der im Wald Zylinder, Hemd und Weste trug, die allesamt aussahen, als seien sie auf einem Mittelaltermarkt selbstgeschneidert worden und etwa drei Zentimeter dicke, runde Gläser vor seine Augen gesetzt hatte. „Wieso sehe ich denn komisch aus? Ich bin ja wohl als Einzige hier irgendwie normal angezogen.“
„Da schwuchteln sich die Geister“, antwortete Kehrblech.
Kali verzog das Gesicht. „Kannst du das Wort bitte sein lassen?“
„Welches? Da, schwuchteln, sich, die oder Geister?“, fragte er nach.
„Schwuchtel“, sagte Kali knapp.
Kehrblech zog interessiert eine Augenbraue nach oben. „Und was meinst du genau damit, ich soll es sein lassen? Ich lasse es ja wohl sein. Wunderschön ist es da, mitten in meinem Satz.“
Kali verdrehte die Augen und seufzte. „Meine Güte, ich mag das Wort einfach nicht, es ist verletzend.“
Kehrblech veränderte seinen Ausdruck nicht ein einziges Bisschen. „Ja, natürlich ist das Wort verletzend, geht manchmal heiß her zwischen den Geistern.“
Kali war jetzt ein wenig angepisst und das Gespräch hatte bereits eine Länge überschritten, die es in ihren Augen höchstens hätte haben dürfen. „Ich weiß nicht, was genau du damit meinst, oder was jetzt hier gerade das Problem ist, aber –“
Kehrblech riss einen Zeigefinger in die Höhe, womit er Kali unterbrach. „Wir verrennen uns hier.“ Er rieb sich jetzt mit seiner freien Hand das Kinn. „Mir scheint, dass dieses Wort auf deinem komischen Fellstibal eine andere Bedeutung hat. Oder auch dort, wo auch immer du sonst herkommst, was ziemlich weit weg sein muss, wenn man da so komische Klamotten trägt. Wie auch immer, hier sagt man es dann, wenn die Geister sich zanken.“
Kali verschränkte die Arme. „Sagt man es dann, ja?“, fragte sie mit ironischem Unglauben in der Stimme.