Der Wille zum Bösen - Dan Chaon - E-Book

Der Wille zum Bösen E-Book

Dan Chaon

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Beschreibung

Eine Familientragödie, ein Serienmörder, Identität, Erinnerung und die Suche nach der Wahrheit – diese Elemente verwebt der amerikanische Bestsellerautor Dan Chaon zu einem faszinierenden Thriller. Im Mittelpunkt steht der Psychologe Dustin, den die Frage quält, wer seine Eltern ermordet hat. Als er auf den genialen Ermittler Aqil trifft, der angeblich seit Jahrzehnten einem Serienmörder auf der Spur ist, geraten beide in einen Mahlstrom aus Verbrechen und Abgründen, der in die Tiefen der Vergangenheit führt ... zu der Frage nach dem Bösen im Menschen.

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Das Buch

Eine Familientragödie, ein Serienmörder, Identität, Erinnerung und die Suche nach der Wahrheit – diese Elemente verwebt der amerikanische Bestsellerautor Dan Chaon zu einem faszinierenden Thriller. Im Mittelpunkt steht der Psychologe Dustin, den seit Jahren die Frage quält, ob sein Adoptivbruder vor Jahren seine Eltern ermordet hat. Als er auf den genialen Ermittler Aqil trifft, der angeblich seit Jahrzehnten einem Killer auf der Spur ist, geraten beide in einen Mahlstrom aus Verbrechen und Abgründen, der in die Tiefen der Vergangenheit führt … und zu der Frage nach dem Bösen im Menschen.

Der Autor

Dan Chaon gilt in Amerika als einer der aufregendsten Spannungsautoren der Gegenwart. Seine Romane und Geschichten sind mehrfach preisgekrönt, 2006 wurde er mit dem Academy Award in Literature ausgezeichnet. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit lehrt Chaon Creative Writing. Über fünf Jahre lang arbeitete er an »Der Wille zum Bösen«, seinem vielleicht persönlichsten Werk, das als literarische Sensation gefeiert wird. Chaon lebt in Cleveland, Ohio.

Aus dem Amerikanischenvon Kristian Lutze

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Die Originalausgabe ILLWILL erschien 2017 bei Ballantine Books, New YorkVollständige deutsche Erstausgabe 06/2018

Copyright © 2017 by Dan Chaon

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Printed in Germany

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung: Studio Botschaft, München,

unter Verwendung eines Motivs von apfelweile /Adobe Stock

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-21942-0V001

www.heyne.de

Oft trifft man sein Schicksal auf Wegen, die man eingeschlagen hatte, um ihm zu entgehen.

JEANDELAFONTAINE

TEIL EINS

November 2011 – April 2012

1

Irgendwann in den ersten Novembertagen sank die Leiche eines jungen Mannes, der verschwunden war, auf den Grund des Flusses. Mit dem Gesicht nach unten stieß sie sanft auf das Schlammbett unter dem fließenden Gewässer und wurde wahrscheinlich noch mehrere Meilen weitergetrieben – die Stirn in milder Überraschung gerunzelt, die Arme seitlich ausgestreckt, die Beine steif. Die Unterwasserpflanzen strichen mit ihren Wedeln über den Federkopfschmuck, den der Junge trug, über seine Stirn, die Streifen der Kriegsbemalung und seine Lippen, über das Lederhemd mit Fransen, die Kette aus Wolfszähnen, den Lendenschurz und die Wildlederleggins bis zu den Füßen, die in Mokassins steckten. Die Mehrzahl der Fische und anderer Aasfresser schlief währenddessen. Die Leiche stieß gegen Steine und Äste, schrammte über den Kies, war jedoch weitgehend gut erhalten. Als die beiden College-Anfängerinnen das Gesicht des Jungen im April zwischen Schilf und Rohrkolben unter einer dünnen Eisschicht am Rand des alten Schlittschuhteichs entdeckten, hielten sie die Leiche zunächst für eine weggeworfene Schaufensterpuppe oder eine Halloween-Maske aus Plastik. Sie sammelten für ihr Biologieseminar Exemplare der Teichflora und -fauna und hatten eher Wissenschaft als Aberglauben im Sinn; eins der Mädchen berührte die Wange sogar mit dem Radiergummi ihres Bleistifts.

Während desselben Zeitraums, von November bis April, war auch Dustin Tillman auf seiner eigenen Bahn dahingetrieben. Er war einundvierzig Jahre alt, verheiratet, hatte zwei Söhne im Teenageralter, war Psychologe mit einer eigenen kleinen Praxis und hatte früher, wie er den Leuten manchmal erzählte, hin und wieder im Bereich der forensischen Psychologie gewildert. Sein Leben war eine Ansammlung des Üblichen, dachte er: zur Arbeit und wieder nach Hause fahren, Radio hören, die stetig wachsende Zahl auflaufender E-Mails beantworten, im Supermarkt einkaufen, ein paar Bücher lesen, die gut besprochen worden waren, den Jungs bei ihren Hausaufgaben helfen, Details, die – wie ihm zunehmend bewusst wurde – Maßeinheiten waren, mit denen er sein Leben einteilte.

Als seine Cousine Kate ihn in der Woche, nachdem man die Leiche gefunden hatte, anrief, spürte er bereits eine unbestimmte Angst. Er fühlte sich unwohl wegen seines anstehenden Geburtstags, was ihm selbst wie eine sehr bürgerliche und profane Sorge erschien. Hinzu kam, dass er mit dem Rauchen aufgehört hatte. Ohne Nikotin fühlte sich sein Gehirn trüb an, voller kreisender, unfokussierter Furcht, und die Welt wirkte irgendwie unfreundlicher – als glühte sie, so dachte er unwillkürlich, schwach vor bösem Willen.

2

Ein paar Tage nach der Entdeckung der Leiche also nahm Dustin das Telefon ab, und seine Cousine Kate aus Los Angeles war dran.

»Hör zu«, sagte sie. »Ich habe beunruhigende Nachrichten erhalten.«

Dustin fragte: »Kate?« Sie telefonierten regelmäßig alle paar Monate miteinander, aber meistens zu Geburtstagen oder an hohen Feiertagen.

»Es geht um Russell«, sagte sie.

»Um meinen Bruder Russell?« Er saß am Schreibtisch in seinem Büro, seinem »Studierzimmer«, wie er es gern nannte, im zweiten Stock des Hauses, unterbrach seine Arbeit am Computer und blickte zu dem Aschenbecher, der mit kleinen zuckerfreien Bonbons gefüllt war, in Zellophan gewickelte Pastillen. »Erzähl es mir nicht«, sagte er. »Er ist ausgebrochen.«

»Hör einfach zu«, sagte Kate.

Dustin hatte nicht mehr mit Russell, seinem älteren Adoptivbruder, gesprochen, seit Russell ins Gefängnis gekommen war. Er hatte ihm auch nicht geschrieben, ihn im Grunde völlig aus den Augen verloren und bestenfalls flüchtig an ihn gedacht. Etwa wenn er einen Film oder eine Serie sah, die im Gefängnis spielte, und dachte: Ich frage mich, was Russell gerade macht.

Dustin hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wie es im Gefängnis wäre. Dabei ging es um Dinge wie homosexuelle Vergewaltigungen und selbst gebastelte Messer aus Zahnbürsten und Löffeln. Manchmal stellte er sich Männer in der Gefängnisbibliothek vor, die juristische Bücher lasen, oder in der Kantine, wo sie ungenießbare Eintöpfe aßen, oder in ihren Zellen, wo sie vollständig bekleidet auf Doppelstockbetten aus Metall lagen und trübsinnig an die Decke starrten.

Diverse Bilder dieser Art waren Dustin im Laufe der Jahre in den Sinn gekommen.

Aber meistens stellte er sich Russell vor, wie er gewesen war, als sie zusammen aufwuchsen – Russell, sechs Jahre älter als er, der ihm einmal mit einer Luftpistole in den Rücken geschossen hatte, als Dustin weggelaufen war; Russell, der sich mit der scharfen Spitze des Zirkels ein Pentagramm in den Unterarm ritzte; Russell, der mit imitierten Kung-fu-Schlägen einen prächtigen Schneemann zerstörte, den Dustin gebaut hatte; Russell, der sich an Dustins Furcht vor der Dunkelheit ergötzte und wartete, bis sein kleiner Bruder allein in einem Zimmer war, sich dann anschlich, das Licht löschte und die Tür schloss, sodass Dustin, gefangen in der Dunkelheit, vor Angst schrie.

3

An dem Abend, bevor ihre Eltern ermordet wurden, saßen Dustin Tillman und seine Cousinen Kate und Wave am Küchentisch des Wohnmobils, das momentan in der Einfahrt des Hauses von Dustins Familie im Westen von Nebraska parkte. Es war Anfang Juni 1983.

Die beiden Familien planten, am nächsten Morgen zusammen zu verreisen.

Sie wollten durch Wyoming bis zum Yellowstone Park fahren und unterwegs auf verschiedenen Campingplätzen übernachten.

Aber an jenem Abend fühlte sich das Wohnmobil wie ihr eigenes, kleines Apartment an. Die drei spielten Karten. Im Transistorradio liefen Songs von einem Rock-’n’-Roll-Sender in Denver. Ein schwerer Junikäfer schlug klappernd mit den Flügeln gegen die Glühbirne an der Decke.

Die Mädchen waren erst siebzehn, doch sie tranken ein Light-Bier, das sie aus dem Kühlschrank des Wohnmobils genommen hatten. Sie hatten es auf zwei Gläser aufgeteilt. Es war ein warmer Abend, und die Mädchen trugen Bikini-Oberteile und abgeschnittene Shorts. Sie hatten sich mit einem Lockenstab die Haarspitzen gekräuselt, doch die Locken waren ein wenig schlaff geworden. Sie waren Zwillinge, nicht identisch, aber fast. Dustin war dreizehn, saß mit aufgefächerten Karten da, und die Mädchen sagten:

»Dust-Tin! Du bist dran!«

Und Kate kratzte gedankenlos an einem Insektenstich auf ihrem nackten Knöchel, und Dustin beobachtete verstohlen, wie ihr Fingernagel einen weißen Fleck auf der rötlich gebräunten Haut hinterließ, der Fingernagel, von dem ein wenig Lack abblätterte.

4

Im Rückblick konnte sich Dustin nicht an viel erinnern, was an jenem Morgen, als sie die Leiche unter dem Eis entdeckt hatten, bedeutsam gewesen wäre. Es war ein klarer, kalter und sonniger Tag, und als er aufwachte, fühlte er sich ziemlich glücklich – glücklich auf diese belanglose alltägliche Art, die sich nicht einmal als Glück erkennt, das Erwachen an einem Tag, von dem nichts als eine Folge mechanischer Handlungen zu erwarten sein sollte: duschen, Kaffee in eine Tasse gießen, den Schlüssel in der Zündung drehen und Straßen hinunterfahren, die so vertraut sind, dass man sich an manche Abzweige und Stopps gar nicht erinnert; obwohl der Verstand die Aktion, an der Ecke zu bremsen, am Lenkrad zu drehen und links auf den Highway zu biegen, bewusst gesteuert haben muss, gibt es überhaupt keine Erinnerung daran.

Du warst nicht einmal anwesend, oder?

Im Rückblick: ein anderer Tag, später Vormittag, Anfang des Jahrhunderts. Ein Interstate Highway im Mittleren Westen. Ein Band durch Ohio, das eine ganze Reihe fruchtbarer kleiner Ortschaften mit den großen Städten verband, obwohl das ehemalige Farmland zunehmend erschlossen wurde und statt Feldfrüchten nun Reihen identischer Häuser aus dem schlammigen Boden sprossen. In den Gärten dieser Neubausiedlungen standen Swimmingpools und Schaukelgestelle; in vielen gab es kleine Zierteiche, die zu diesem Zeitpunkt des Frühlings aussahen wie Parkplätze aus Wasser. Vielleicht würde es attraktiver wirken, wenn die Gärten gestaltet waren.

Es gab außerdem viele überfahrene Tiere. Die Highways zerschnitten die Landschaft mittlerweile in schmale Streifen, und oft erwischte es heimatlose Waldbewohner, wenn sie sich von einem Abschnitt zum nächsten bewegten – Waschbären, Beutelratten, Füchse, Wild; ihre Kadaver lagen auf der Böschung wie rastlose Schläfer und sahen mit ihren offenen Mündern und geschlossenen Augen beinahe friedlich aus.

Auch Menschen schienen häufiger auf den Straßen zu Tode zu kommen, und Dustin war aufgefallen, dass die Trauernden den Unfalltoten immer öfter kleine Schreine am Straßenrand errichteten, Kreuze aus Holzlatten, häufig mitten in einem Berg aus bunten Dingen: meistens Plastikblumen – pinkfarbene Rosen, gelbe Narzissen, weiße Lilien –, aber manchmal auch grüne Weihnachtskränze, Plastikpalmwedel oder Stoffbänder; oft Haufen von Stofftieren, Hasen, Teddybären und Enten; manchmal auch Kleidungsstücke wie Hemden oder Baseballkappen, die den Kreuzen etwas Vogelscheuchenhaftes gaben. Stoff für eine gute Abhandlung, dachte Dustin.

Kurz vor der Ausfahrt sah er die blau und rot flackernden Lichter der Polizeiwagen, die den milden Frühlingsregen sprenkelten. Ein paar orangefarbene Leitkegel waren aufgestellt worden, und ein Polizist in einem Regenmantel mit reflektierenden Streifen leitete mit einem neonfarben leuchtenden Plastikstab den Verkehr um.

Dustin bremste, drehte das Radio leiser und folgte der Umleitung, die der Polizist mit einem eleganten Winken vorgab. Am Rand der Brücke standen einige Cops, die, grimmig und feucht vom Nieselregen, Kaffee aus Styroporbechern tranken. Dustin beobachtete sie interessiert. Er sah sich gern Polizeifilme und -serien an, und er hatte es geliebt, wenn er manchmal als Experte vor Gericht auftreten durfte. Die Erinnerung versetzte ihm einen wehmütigen Stich.

Was immer hier los war, er vermutete, dass es sich um eine ziemlich ernste Sache handelte.

5

Es gab ein berühmtes Foto von Dustin, Kate und Wave – das Bild, das in den Zeitungen abgedruckt und für den Pulitzerpreis nominiert worden war, und obwohl es den Preis nicht gewann, war es eins jener Bilder, die man nicht wieder vergaß. Ein bemerkenswertes und denkwürdiges Tatortfoto.

Da sind die Kinder – die schönen Zwillinge und der dünne sommersprossige Junge zwischen ihnen –, Polizisten führen sie eilig aus dem Haus. Auf dem Foto weint Wave hemmungslos, ihr Mund ist verzerrt, vielleicht schreit sie auch, Kate blickt ängstlich zur Seite, als ob jemand sie angreifen wollte, Dustin starrt geradeaus, man sieht Blut auf seinem Hemd, ein Jackson Pollock aus Blut, und er stolpert verzweifelt und mit von Blitzlicht glasigen Augen vom Tatort weg, und hinter den Kindern und Polizisten liegt der Körper von Dustins Mom Colleen – man sieht ihre Leiche perfekt gerahmt im Hintergrund, ihre Gliedmaßen sind in einer offensichtlichen Pose des Todes, eines gewaltsamen Todes, ausgestreckt, unter ihr befindet sich eine große Blutlache.

Und man sieht den Abdruck aus Blut auf Dustins T-Shirt, wo er sie umarmt hatte, seine Mom, als er ihre Leiche unter der Lampe auf der Veranda vor dem Haus fand.

Die anderen Leichen – nicht auf dem Foto zu sehen – sind Dustins Vater Dave, mit einer Schusswunde in der Brust im Wohnzimmer, seine Tante Vicki, die tot unter dem Küchentisch liegt, wo sie sich vor dem Schützen verstecken wollte, und sein Onkel Lucky, dessen Körper beim Waschbecken vor den Unterschränken zusammengesackt ist, den Kopf nach hinten geworfen, als würde er rückwärtsfallen. Getötet mit einem Schuss in den Mund.

Diese Leichen waren nicht von der Art, die man in Zeitungen zeigen konnte, aber das Bild der drei Kinder war ausreichend, um ein lebhaftes Gefühl des Massakers zu vermitteln.

6

Als Dustin sein Büro erreichte, machte die Nachricht von der Entdeckung der Leiche im Eis bereits die Runde. Die meisten Leute nahmen an – richtigerweise, wie sich herausstellen sollte –, dass es sich um Peter Allingham handelte, College-Student im dritten Semester und Lacrosse-Spieler, der irgendwann in den frühen Morgenstunden des 1. November nach einem Abend voller Bar-Hopping und Halloween-Partys verschwunden war, bekleidet mit einem comichaften, rassisch wenig sensiblen Kostüm der amerikanischen Ureinwohner: Federschmuck, Wildleder et cetera. Von zahlreichen Menschen gesehen und dann weg – verschwunden auf dem Weg zur Toilette der Daily Tavern, von wo er nie zu seinen Freunden zurückkehrte.

Im Wartezimmer von Dustins Praxis saß Aqil Ozorowski, hatte Ohrhörer in den Ohren, blickte auf sein Smartphone und tippte emsig eine SMS. Seine dunklen Haarsträhnen hingen wie Jalousien links und rechts neben seinen Augen. Dustin stand mit seinem Aktenkoffer in der Tür und wartete darauf, bemerkt zu werden. Er war ein wenig perplex. Sie hatten keinen Termin, aber Aqil neigte dazu, einfach aufzutauchen.

Er war ein seltsamer Fall. Angeblich hatte er Dustin konsultiert, um mittels Hypnose mit dem Rauchen aufzuhören, doch seine Empfänglichkeit für Hypnotherapie war sehr gering. Stattdessen hatten sich ihre Sitzungen zu lockeren, vage intimen Gesprächen ohne klares Ziel entwickelt. Sie hatten über eine Verschwörungstheorie gesprochen, von der Aqil im Internet gelesen hatte, über Aqils Schlaflosigkeit und über seinen Groll gegen den Popstar Kayne West – nach den ersten Sitzungen war das Rauchen praktisch nicht mehr erwähnt worden. »Ich glaube einfach nicht, dass ich schon bereit bin«, sagte Aqil. »Aber ich glaube, Sie helfen mir Doktor. Sie sind ein guter Zuhörer.«

Dustin war sich ehrlich gesagt nicht sicher, ob das stimmte. Tatsächlich hatte er in den Monaten sehr wenig über Aqil erfahren. Aqil war etwa dreißig Jahre alt, und Dustin nahm aufgrund seines Namens an, er könne gemischtrassig sein, war sich jedoch nicht sicher. Aqil hatte dunkle braune Rehaugen, und sein langes glattes Haar war je nach Lichteinfall entweder schwarz oder kastanienbraun. Seine Hautfarbe deutete auf diverse Rassen hin. Er selbst sagte nichts zu seiner Herkunft, auch wenn Dustin ihm direkte Fragen stellte. »Ehrlich«, sagte Aqil, »der Kram interessiert mich eigentlich nicht. Diese Psychotypen wollen dir immer Geschichten über deine Kindheit und deine Vergangenheit erzählen, als ob das irgendetwas erklären würde. Das mache ich echt nicht.«

Das Einzige, was Dustin wusste, war, dass Aqil Polizist beim Cleveland Police Department und zurzeit krankgeschrieben war, obwohl auch dieser Umstand nie genau erklärt wurde. Irgendein psychisches Problem, nahm Dustin an. Posttraumatische Belastungsstörung?

Verfolgungswahn? Es gab keine medizinischen Unterlagen, die Dustin hätte einsehen können, und auch eine Google-Suche hatte nur wenige Ergebnisse zutage gefördert. Aqil war als Absolvent der Cleveland Police Academy aufgeführt. Es gab ein körniges Foto von ihm als Running Back seines Highschool-Football-Teams. Er hatte eine stillgelegte LinkedIn-Seite. Was immer er getan hatte, um aus psychischen Gründen krankgeschrieben zu werden, es war nicht in die Nachrichten gekommen.

Trotzdem brauchte Aqil offensichtlich irgendetwas. Endlich blickte er auf und sah Dustin grinsend an. Er zog sich eine der Plastikhörmuscheln aus dem Ohr, so als ob Dustins Wartezimmer sein Privatraum und er überrascht wäre, gestört zu werden.

»Hey«, sagte er.

»Hey«, sagte Dustin. »Ich wusste nicht, dass wir …«

Aqil blinzelte ein paarmal. »Haben Sie das von dem toten Jungen gehört?«, fragte er. Dustin machte das Licht an, stellte seinen Aktenkoffer auf einen Stuhl, und Aqil stand auf und streckte sich.

»… einen Termin hatten«, sagte Dustin.

»Wollen Sie meine Theorie hören?«, fragte Aqil.

7

»Es geht um Russell«, sagte sie.

»Um meinen Bruder Russell?«, fragte er, und sie sagte Hör einfach zu! und begann, ihm etwas aus einem Zeitungsartikel vorzulesen:

… fast neunundzwanzig Jahre nach seiner Verhaftung haben unabhängige DNA-Tests von drei verschiedenen Labors bestätigt, was Tillman schon lange behauptet: Er ist nicht die Person, die in jener Juninacht seine Mutter, seinen Vater, seine Tante und seinen Onkel getötet hat.

»Aus welcher Zeitung ist das?«, fragte Dustin. »Das ist unglaublich.«

Laut Mitarbeitern des Innocence Project, einer gemeinnützigen Organisation, die Fehlurteile untersucht, ist Tillman der jüngste Fall eines Verurteilten, dessen Unschuld durch DNA-Analyse bewiesen wurde. »Die Testergebnisse beweisen, was Russell vom Tag seiner Verhaftung an behauptet hat, nämlich dass er unschuldig ist«, erklärt Vanessa Zuckerbrot, eine Anwältin, die für das Innocence Project arbeitet.

»Ich verstehe nicht, warum man deswegen keinen Kontakt mit uns aufgenommen hat«, sagte Dustin. »Wann hat zuletzt jemand mit ihm gesprochen?«

»In all den Jahren habe ich mich daran festgehalten, dass ich es nicht war«, so Tillman in einem früheren Interview. »Ich glaube, es gibt eine Macht, die größer ist als ich und die mir in all den Jahren geholfen hat, mich nicht zu verlieren.«

8

Als er seine Frau kennenlernte, war er im zweiten Jahr auf dem College, und sechs Jahre waren seit den Morden und dem Prozess vergangen.

Es gab Tage, an denen er kaum daran dachte, an denen seine Gedanken leicht über die Oberfläche seines Bewusstseins streiften und im Wasser versanken – er hatte festgestellt, dass er seine Erinnerungen auf diese Weise visualisierte, sich vorstellte, wie bestimmte Bilder in dunklen grünen Teichen untergingen und bei ihrem Verschwinden ein paar blubbernde Blasen aufsteigen ließen. In jenen Jahren war er so umnebelt, kaum an die Erde gebunden, dachte er später …

Seine Frau war studentische Assistentin in seinem Seminar über amerikanische Geschichte von der Revolution bis zum Verfassungskonvent, und als er den Seminarraum verließ, ging sie einen Moment lang neben ihm und berührte ganz leicht seinen Arm.

»Was nimmst du?«, fragte sie. »Ativan?«

»… Häh?«, fragte er. Sie sahen einander an, und er vermutete, dass irgendetwas in seinem Gesicht sie veranlasst hatte, taxierend die Brauen hochzuziehen.

»Oh je«, sagte sie. »Ich denke, du setzt dich lieber einen Moment hin, oder?«

»Na ja«, sagte er. »Ich bin ein …«, aber sie fasste seinen Ellbogen und steuerte ihn zu einer Bank unter dem großen Porträt eines uralten Kurators.

»Setz dich«, sagte sie. »Ich hatte auch ein Problem mit Tranquilizern, also weiß ich ein wenig darüber, was du durchmachst.« Sie musterte ihn nachdenklich. »Keine Sorge. Ich bin nicht von der Drogenfahndung und auch keine religiöse Spinnerin oder so. Du kommst mir nur irgendwie bekannt vor.«

9

Aqil zog eine Landkarte aus der Tasche und entfaltete sie behutsam auf Dustins Schreibtisch. »Hören Sie zu«, sagte er. »Das ist nicht wieder so ein seltsamer Kaninchenbau, in dem ich verschwinde. Das hier ist real. Und Sie, Dr. Tillman – ich glaube, Sie werden es kapieren, mehr als sonst irgendjemand, dem ich es erzählen könnte. Das ist genau Ihr Ding.«

Dustin rutschte unsicher hin und her. »Wieso sagen Sie das? Inwiefern ist es genau mein Ding?«

»Geben Sie mir nur eine Minute«, sagte Aqil. »Lassen Sie es mich Ihnen darlegen.«

Er breitete die Landkarte auf dem Schreibtisch zwischen ihnen aus, und Dustin blickte auf die kleinen roten Sticker, die in einem geschwungenen Muster an Interstate Highways und Wasserstraßen entlanggeklebt waren – er musste daran denken, wie die Lichtverschmutzung, aus dem Weltall gesehen, die Umrisse der Ostküste und der Großen Seen enthüllte.

»Schauen Sie. Jeder dieser Punkte markiert einen scheinbaren Unfalltod, scheinbar«, sagte er und zeigte auf die nördliche Ecke des Staates. »Hier: JONATHONFRISBIE. Einundzwanzig Jahre alt, Student an der Ohio Northern University, verschwunden am 1.1.2001. Gefunden am 2.1.2001 im Maumee River; Todesursache: Ertrinken. Blutalkoholpegel: 2,3 Promille.

VINCENTISOLATO, neunzehn, Student an der Ohio Northern University, vermisst seit dem 20.2.2002, gefunden am 20.4.2002 im Maumee River, Todesursache: Ertrinken. MATTPOTTS, einundzwanzig, Student an der Ketting University. Vermisst seit dem 30.3.2003 in East Lansing, Michigan, gefunden am 2.4.2003 im Red Cedar River; Todesursache: Ertrinken.«

»Ich erkenne, worauf das hinausläuft«, sagte Dustin. »Aber …«

»Warten Sie einfach, warten Sie«, sagte Aqil.

10

Als Kate anrief und ihm das mit Russell erzählte, spürte er wieder jenen verbotenen Kitzel, jenes nicht mal besonders große Tabu, sich von seiner Cousine angezogen zu fühlen, was er als dreizehnjähriger Junge nie zugegeben hatte, obwohl die Mädchen es garantiert gewusst hatten.

Sie waren eine spezielle Sorte von Teenagern gewesen. Arbeiterklasse, denkt Dustin heute, aber damals hätten sie das Wort natürlich nie benutzt – Trailer-Trash, hätten die Leute vielleicht gesagt, Flittchen; es war zumindest klar, dass diese Mädchen Erfahrung hatten. Sie waren raffiniert, praktisch veranlagt. Schlauchtop, kurze Shorts, stark geschminkt. Nicht jungfräulich.

Und später, Jahre später, gab es diesen Moment, als er Kate in ihrer Wohnung in L. A. besucht hatte, und sie hatte so belustigt gewirkt – das war, als er bei einer Konferenz an der University of Southern California sprach –, und Kate hatte gesagt Erzähl mir von dem Leben als Therapeut. Wie ist das so? Sie war nie aufs College gegangen – sie hatte ihr Leben lang als Friseuse gearbeitet –, war an so was nicht interessiert, und er wusste, dass ihre Vorstellung von »Therapeuten« aus dem Fernsehen oder Filmen oder sonst woher stammte, ein zaudernder, geistesabwesender Snob in Tweed, und sie lächelte ihn mit einem durchtriebenen Seitenblick an und sagte Worüber redest du mit ihnen, waren einige von ihnen echt gefährlich verrückt? Ich kann mir einfach nicht vorstellen …

Und hier saß er nun, ein einundvierzigjähriger Mann in seinem »Studierzimmer«, wie prätentiös, am Schreibtisch vor dem Computer, checkte seine Mails, ging seine »Notizen« durch, und als er den Hörer abnahm, wollte er in dem Modus sein, welcher der Person zustand, die er gewesen wäre, wenn …

11

»JESSEHAMBERLIN«, sagte Aqil, »einundzwanzig, Student an der Michigan State University, vermisst seit dem 4.4.2004.

Wurde nie gefunden.

CLINTONCOMBIE, neunzehn, Student am Brownmeyer College, vermisst seit dem 5.5.2005. Gefunden am 16.5.2005 im Olentangy River. Todesursache: Ertrinken. Blutalkoholpegel: 3,4 Promille.

ZACHARYOROZCO, achtzehn, Erstsemestler an der Ohio University, vermisst seit dem 6.6.2006; da leuchten ein paar Lämpchen auf, was? Gefunden am 8.6.2006 im Hocking River; Todesursache: Ertrinken. Blutalkoholpegel 3,4 Promille.

JEFFWAMSLEY, einundzwanzig, Ohio Northern University, vermisst seit dem 7.7.2007, gefunden am 24.7.2007 im Maumee River. Das ist interessant – sein Vater sagt zu Reportern, dass, ich zitiere, ›Gerüchte die Runde machen, unter uns könnte ein Irrer leben, der Menschen ertränkt‹.

Und nun schauen Sie sich den an. JOSHUA McGIBONEY. Student der Mikrobiologie an der University of Dayton. Verschwunden am … Sie haben es erraten, Doktor, das sehe ich … am 8.8.2008, nachdem er eine Rugby-Party verlassen hatte. Seine Leiche wurde drei Tage später im Wolf Creek gefunden. Blutalkoholpegel: 4,0 Promille. Schwer vorstellbar, wie man sich so betrinken und dann noch selbst laufen kann …

Interessant, oder? Macht einen das nicht neugierig, Doktor?

LUKEGORRINGE, Student am Delta College aus Bay City, Michigan, vermisst gemeldet – beachten Sie: gemeldet – am 11.9.2009 in East Lansing, Michigan. Gefunden am 15.10.2009 im Red Cedar River.

VINCENORBY, ein weiterer Student des Brownmeyer College – vermisst seit dem 10.10.2010. Gefunden am 2.11.2011. Im Olentangy River.«

»Wie viele sind es?«, fragte Dustin. Er blickte auf den Ordner, den Aqil in der Hand hielt, ein Bündel Papier, und Aqil bedachte ihn mit einem trockenen Lächeln.

»Wie viele? Inklusive Peter Allingham, meinen Sie?«

12

Der Tag, an dem Kate ihn wegen Russell anrief, wegen der DNA-Beweise und Russells bevorstehender Entlassung aus dem Gefängnis, der Fund von Peter Allinghams Leiche im Teich in der Nähe des Campus ein paar Tage später: Es gab keine reale Verbindung zwischen den beiden Ereignissen, außer dass sie später in Dustins Bewusstsein aneinander hafteten.

»Also, ich bin bloß ein bisschen verwirrt, was den zeitlichen Ablauf der ganzen Geschichte betrifft«, sagte er zu Kate. »Die Daten. Zu welchem Zeitpunkt hat diese Gruppe – Innocence Project, richtig? –, zu welchem Zeitpunkt hat sie sich Russells Fall angenommen? Und ich verstehe nicht, warum man uns nicht kontaktiert hat. Sind sie nicht gesetzlich dazu verpflichtet, sich bei uns zu melden, da wir die Verwandten der Opfer sind und diejenigen waren, die ausgesagt haben?«

»Hör zu«, sagte Kate, »ich finde es genauso unheimlich wie du, Schätzchen. Glaub mir.«

»Aber das ergibt keinen Sinn«, sagte Dustin. »Das Ganze muss doch schon eine Weile im Gange sein, und die Tatsache, dass wir nichts davon erfahren, bis er vor der Haustür steht …«

»Ich weiß«, sagte Kate. »Ich stehe voll unter Schock. Ich weiß gar nicht mehr, was ich denken soll. Ein Bluttest und irgendwie ist dein ganzes Leben …«

13

… irgendwie beunruhigend, dachte er. Extrem, extrem beunruhigend.

Es war ein kühler Nachmittag, doch er war draußen und trug nur eine Wolljacke mit Fischgrätmuster, die so dermaßen nach Psychologe aussah, dass es ihm peinlich war, und er sah sich über die Schulter um.

Er stand im Garten neben dem Haus und hatte eine unangezündete Zigarette in der Hand, als er die Jungs von der Schule heimkehren und die Auffahrt hinaufkommen hörte; es war später, als er gedacht hatte, und er ging in die Hocke und vergrub die Zigarette in der Erde eines frisch gepflanzten Blauregens …

»Hey«, sagte Dustin, als die Jungs auftauchten. Aaron und Dennis und ihr Freund Rabbit, mit diesem linkischen, aber vage raubtierhaften Gang, den Jungs im Teenageralter entwickeln, und sie sahen ihn an.

»Hey Dad«, sagte Dennis lakonisch. »Was vergräbst du denn da?«

»Nichts«, sagte Dustin. »Ich hab nur diesen, ähm …« Er gestikulierte mit der Hand.

»Busch?«, fragte Dennis.

»Pflanze?«, sagte Aaron.

Sie hatten beschlossen, dass sie es zum Schreien komisch fanden, Dustins Sätze zu beenden, weil er schon seit Langem die Angewohnheit hatte, in Auslassungen zu versinken, in immer länger währendem Schweigen nach dem richtigen Wort zu tasten, ohne es zu finden.

»… Blau«, sagte er. »Blauregen.« Und die Jungs wechselten Blicke; grinsten.

14

Russell und Dustin – Rusty und Dusty, so hatten ihre Eltern sie manchmal genannt, als ob sie ein passendes Set wären.

Aber Russells Namen hatten sie natürlich nicht ausgesucht. Russell kam als Pflegekind zu ihnen. Sohn einer drogenabhängigen Mutter, Vater unbekannt. Er hatte mehrere Jahre bei einer anderen Pflegefamilie gelebt, doch dann hatte es einen Hausbrand gegeben, und er war wieder verwaist.

Dustins Vater war von dieser Tragödie tief gerührt gewesen.

Russell war vierzehn, als sie ihn adoptierten, Dustin acht, und Dustin konnte sich genau an den Tag erinnern. Es hatte eine Party gegeben, und nachdem die Party sich aufgelöst hatte, hatte er Rusty im Garten stehen und auf den Horizont starren sehen. Der Westen von Nebraska an der Grenze zu Colorado: von Telegrafenmasten gesäumte Felder; Ölpumpen, die sanft mit ihren schläfrigen Köpfen nickten. Am Rande des Horizonts erhob sich ein Kamm niedriger Hügel über der Ebene. Hinter den Kuppen waren knorrige vulkanische Klippen und Felsen auszumachen, vernarbt und zerklüftet. Wenn die Sonne im Sommer im richtigen Winkel stand, konnte man in den Schatten der Klippen und Felsen Gesichter oder die Figuren von Tieren erkennen.

Dustin setzte sich auf die Treppe hinter dem Haus und blickte gemeinsam mit Rusty in die Ferne.

Nach einer Weile wandte Rusty sich ihm zu. Sein Gesicht war ernst, vielleicht brüderlich.

»Was starrst du da an?«, fragte Rusty, und Dustin zuckte die Schultern.

»Komm her«, sagte Rusty und dann, als Dusty gehorchte, eine Weile nichts mehr.

Er betrachtete Dustins Gesicht. »Willst du etwas wissen?«

»Was?« Und Dustin atmete, während Rusty ihn weiter ansah.

»Meine echte Mom ist gestorben«, sagte er. »Man sagt, sie hätte sich erhängt, aber wahrscheinlich haben sie sie umgebracht.«

»Wer?«, fragte Dustin. »Wer hat sie umgebracht?«

Aber Rusty zuckte nur mit den Achseln. Dann zeigte er abrupt in den Himmel. »Siehst du das?«, fragte er. »Das ist der Abendstern.«

Er legte seine Hände fest auf Dustins Ohren und schwenkte dessen Kopf wie ein Teleskop. »Siehst du ihn jetzt? Er ist direkt … dort!«

Und er zog mit dem Finger eine Linie von Dustins Nase aus in den Himmel.

Dustin nickte. Er schloss die Augen. Er spürte die lehmartige Kühle der Handflächen seines Bruders an seinem Kopf. Der Klang seiner Hände war wie das Innere einer Muschel.

»Ich sehe ihn«, sagte Dustin leise.

15

Der Mädchenname seiner Frau war Jill Bell gewesen, und sie hatte diesen Namen gehasst. Sie sagte, er hätte die Leute immer glauben gemacht, dass sie ein netterer Mensch sei, als sie war, hatte ihre Lehrer vermuten lassen, dass sie ein friedliches und braves kleines Mädchen sein würde; wie der Name, sagte sie, einer Fee, einer Milchmagd oder einer Blume, über die die Leute im 19. Jahrhundert Lieder sangen: »When Springtime Jill Bells Are A-Bloomin’«, sagte sie und hatte sogar eine Melodie dafür, die wie etwas klang, das Stephen Foster komponiert haben könnte.

Jedenfalls gefiel ihr Jill Tillman lieber: Es klang forscher, zackiger, was ihr nur recht war. Am Telefon – wenn sie mit einem der Lehrer der Jungs sprach oder mit einem Handwerker, dessen Arbeit nicht ganz dem Standard entsprach, oder mit irgendeinem Beamten – legte sie einen schneidigen Schwung in ihre Worte. »Hier ist Jill Tillman«, sagte sie dann, und eine vollkommen angenehme Kühle breitete sich über die Silben. »Ich würde gern Ihren Vorgesetzten sprechen, bitte.«

Es war die Art Stimme, die sie durch die ersten Jahre ihrer Ehe gebracht hatte; er war Doktorand gewesen, sie studierte Jura, und sie hatten direkt nacheinander die Jungs bekommen. Es hätte eigentlich in einer Katastrophe enden müssen, doch sie war ein Mensch, der die Dinge gern ordnete, Listen und Zeitpläne erstellte, praktische kleine Abkürzungen und Erfindungen entdeckte.

Natürlich kannte sie Dustins Geschichte, war jedoch kein bisschen interessiert an der Psychologie des Ereignisses oder daran, näher darauf einzugehen, Details ans Tageslicht zu zerren und zu untersuchen.

Das liebte er mit am meisten an ihr.

16

Dustin ging den Flur hinunter zum Schlafzimmer, wo seine Frau in Jeans mit nackten Füßen auf dem Bett lag und ein Buch las. Es war etwa zehn Uhr abends.

Er stand in der Tür und betrachtete sie, und sie las friedlich weiter. Sie hatte die seltsame Angewohnheit, die Ecke einer Seite zwischen Daumen und Zeigefinger zu fassen und schon anzufangen, sie umzublättern, bevor sie sie ganz gelesen hatte, sodass sie ihren Hals recken musste, um die letzten paar Zeilen zu entziffern. Er verstand nicht, warum sie die Seite nicht einfach zu Ende las, bevor sie sie umblätterte.

Sie waren seit fast zwanzig Jahren verheiratet und hatten nicht ein einziges Mal ernsthaft über Scheidung gesprochen, obwohl es in ihrer Ehe lange Phasen des Schweigens gab, in denen sie mehr oder weniger nur noch wie WG-Partner lebten. Gesellig reserviert.

»Ich kann mich nur schwer konzentrieren, wenn du mich anstarrst«, sagte sie jetzt und blickte auf, als er hereinkam und sich neben sie aufs Bett legte.

»Was liest du?«, fragte er.

Sie zeigte ihm den Buchumschlag: Verzweiflungvon Vladimir Nabokov.

»Oh«, sagte er. »Klingt amüsant.«

»Es ist tatsächlich urkomisch«, sagte sie.

Er legte sein Kinn auf ihre Schulter und blickte auf die ersten Zeilen der Seite 73:

Sonnenschein, Meeresrauschen. Ein nettes gemütliches Leben.      Ich verstehe nicht, warum du so schlecht über

Er presste sein Gesicht in die weiche Ärmelfalte ihrer Bluse, direkt über ihrer Brust. Atmete ein, roch, und ihre Brust hob sich langsam, als sie ihre Hand auf seinen Hinterkopf legte.

»Ich muss dir etwas Merkwürdiges erzählen«, sagte er.

Er schloss die Augen und strich mit den Fingern leicht über ihr Haar.

»Ich habe auch etwas, das ich dir erzählen muss«, sagte sie.

»Du zuerst«, sagte er.

Er spürte, wie sie tief einatmete und die Luft anhielt.

»Nein, du zuerst«, sagte sie, und in ihrer Stimme lag eine gewisse Anspannung, beinahe so, als würde sie die Zähne zusammenbeißen. War sie wütend auf ihn? War er unaufmerksam gewesen?

»Wie war dein Arzttermin?«, fragte er, und als sie nicht antwortete, hob er den Kopf, um ihr ins Gesicht zu sehen.

17

Von: Aqil Ozorowski ([email protected])

Gesendet: Fr 8. April 2012 1.26 Uhr

An: [email protected]

Re: Verrückt

Lieber Dr. Tillman,

ich hoffe, ich bin heute nicht zu heftig rübergekommen, so als wollte ich Ihnen irgendwie mit Gewalt etwas aufdrücken. Ich weiß, dass ich manchmal den Eindruck mache, als wäre ich völlig neben der Spur, aber ich denke, unsere Beziehung ist mittlerweile so gut, dass Sie erkennen können, wann ich in einem Kaninchenloch verschwinde und wann ich ganz echt bin.

Und das hier ist echt.

Lassen Sie uns die seltsame Übereinstimmung der Daten zunächst hintanstellen. Es ist einfach zu viel, stimmt’s? Ich höre mich an wie einer dieser Verschwörungstheoretiker mit Aluhut! Also, lassen Sie es außer Betracht.

Bedenken Sie stattdessen für eine Minute nur die Fakten, die diese Todesfälle miteinander verbinden. Bei mir lassen vor allem die fehlenden Dinge die Alarmsirenen klingeln. Die Indizien, die die Ermittler nicht gefunden haben. Richtig? Die einzige Verbindung ist der extreme Alkoholkonsum aller Opfer, und da die Leiche immer in einem lokalen Gewässer gefunden wird, nimmt man jedes Mal an, dass die Todesursache Ertrinken ist und der Tod vermutlich in der Nacht eingetreten ist, in der das Opfer verschwand.

Wenn wir Polizisten uns die Sache anschauen, sagen wir also: ganz einfach. Ertrunken, ein Unglück. »Tod durch Unfall« schreiben wir in den Bericht. Fall abgeschlossen. Es ist traurig, aber weitere Ermittlungen sind nicht notwendig. Komasaufen ist eine Epidemie auf dem College, und bei einem solchen Grad der Alkoholisierung kommen Menschen zu Tode, richtig? Das ist schlicht eine Frage der Wahrscheinlichkeit.

Aber betrachten Sie dann die tatsächlichen Umstände. Der Alkoholpegel im Blut ist in zahlreichen dieser Fälle absurd hoch. Die Opfer müssten ihn sehr schnell konsumiert haben. Die meiste Zeit hielten sie sich in einer Menschenmenge auf, auf einer Party oder in einer Bar, und plötzlich hat sie seit einer Weile niemand mehr gesehen. Sie sind irgendwohin gegangen. Ich werde nicht das Wort »verschwunden« benutzen.

So betrunken, wie sie angeblich waren, haben sie es trotzdem irgendwie bis zu einem Flussufer geschafft, ohne dass ein einziger Zeuge sie gesehen hat.

Dann fallen sie »zufällig« ins Wasser. »Hilfe!«, rufen sie. »Hilfe! Helfen Sie mir!« Niemand hört sie. Ungehört und ungesehen.

Ist einer dieser Jugendlichen ein zu Unfällen neigender Alkoholiker mit psychischen Problemen? Eigentlich nicht. Die meisten sind Einser- oder Zweier-Studenten, viele von ihnen Sportler mit guter körperlicher Gesundheit, zahlreichen Freunden und stabilen Familienbeziehungen. Damit will ich nicht sagen, dass solche Kids nicht auch sterben. Doch bei Todesfällen dieser Art würde man vielleicht Alarmzeichen erkennen. Aber kein Einziger von ihnen wurde als Selbstmord eingestuft. Dafür gibt es keine Beweise.

Und wie kommt es, dass die Leichen zumeist nicht sofort gefunden werden? Stattdessen Tage, Wochen, Monate später und flussabwärts des »Unfalls«. Nie gibt es irgendwelche Anzeichen von FREMDEINWIRKUNG, aber auch keine Indizien für EINEN UNFALL. Was immer diesen Jugendlichen zugestoßen ist, es ist ohne Zeugen oder Beweise passiert. Jedes Mal.

Und das ist eine Tatsache, die mich glauben lässt, dass hinter diesen Todesfällen ein Vorsatz steckt. Beinahe so, als wären sie arrangiert worden.

Bin ich verrückt? Was immer ich meinem vom Gericht bestellten Psychologen erzähle, er kommt mir mit »sensitivem Beziehungswahn«. Er sucht nach Symptomen für eine Manie, Paranoia, irgendeine Diagnose, die er mir anheften kann.

Und vielleicht denken Sie das Gleiche. Aber Ihnen vertraue ich mehr, Doktor. Als ich Sie getroffen habe, wusste ich sofort, dass Sie eine verwandte Seele sind.

Werden Sie in dieser Sache mein zweites Paar Augen und Ohren sein? Ich gebe Ihnen alle Akten, die ich habe; ich lege Ihnen alles dar. Und wenn Sie dann anderer Meinung sind, erklären Sie es mir. Sagen Sie mir, dass ich einen Aspekt übertreibe, dass ich zu viel »hineinprojiziere«. Wenn Sie mir erklären, dass ich wahnhaft bin, werde ich Ihnen glauben.

Ich erinnere mich noch an Ihr kleines Sprichwort. »Manchmal ist ein toter Vogel nur ein toter Vogel.« Aber dies sind keine toten Vögel. Es sind tote junge Männer. Ich möchte bloß, dass jemand mit mir darüber nachdenkt.

Helfen Sie mir.

Ihr tief ergebener Patient

Aqil Ozorowski

18

»Er ist ungefähr so groß wie eine Pampelmuse«, erklärte Jill ihm. »Dr. Watanabe konnte buchstäblich auf meinen Bauch drücken und ihn spüren. Ich kann es nicht glauben. Ich laufe schon wie lange damit herum … Jahre? Wahrscheinlich Jahre. Und ich habe nichts bemerkt.«

»Dann ist es vielleicht auch nichts«, sagte er. Sie saßen einander im Schneidersitz auf dem Bett gegenüber, sahen sich an, hielten sich an den Händen, und er dachte, dass es aussehen musste, als ob sie Kinder wären, die einen Abzählreim vortrugen.

»Diese Dinger können auch vollkommen gutartig sein.«

In seiner Vorstellung war der Tumor wirklich eine Pampelmuse. Gelb mit einer dicken, narbigen Schale und voller rosafarbener Viertelmondkammern.

»Ich liebe dich«, sagte er.

»Ich weiß«, sagte sie.

Beide hoben den Kopf und lauschten. Vom Ende des Flurs konnten sie die Musik aus der Videospielkonsole ihrer Söhne hören. Die beiden Jungs saßen nebeneinander auf Aarons Doppelbett, ihre Daumen und Zeigefinger zuckten über ihre Controller, ihr Blick war starr, ihre Augen leuchteten.

»Sorgst du dafür, dass sie schlafen gehen?«, fragte Jill.

»Ja«, sagte er.

Er zog seine Hände aus ihrem Griff. Ihre Handflächen waren klebrig geworden.

»Ich möchte ihnen nichts erzählen, bis ich so weit bin«, sagte sie. »Okay?«

Ihm fiel auf, dass er ihr nichts von Kates Anruf und Rusty erzählt hatte. Und dann dachte er aus irgendeinem Grund wieder an den toten Jungen in seinem Halloween-Kostüm unter dem Eis.

Macht einen das nicht neugierig, Doktor?

»Okay«, sagte er.

19

Manchmal ist ein toter Vogel nur ein toter Vogel.

Das hatte Jill ihm damals erklärt, als sie zusammenkamen. Sie waren gemeinsam über die Hauptstraße der Stadt gelaufen und hatten sich an den Händen gehalten – es war das erste Mal, dass sie sich an den Händen hielten, und als ihre Finger sich verschränkten, hatte sie ihn angesehen, ihre Brauen hochgezogen und gegrinst.

Und dann fiel vor ihnen eine Wanderdrossel auf den Bürgersteig.

Offenbar war sie direkt vom Himmel gefallen. Womöglich hatte ein Raubvogel sie versehentlich losgelassen, entschieden sie später. Aber in dem Moment waren sie beide perplex. Sie standen da und starrten auf den leblosen Körper, und ihre Hände lösten sich voneinander.

»Scheiße«, sagte Jill. Und dann fasste sie seine Hand ohne ein weiteres Wort wieder und hielt sie fest.

»Hör zu«, sagte sie grimmig. »Es ist nichts. Manchmal ist ein toter Vogel nur ein toter Vogel.«

Das hatte er nie vergessen. Es war eine dieser kleinen privaten Redewendungen, die Eheleute aufgreifen und füreinander wiederholen; es war zum Mantra für ihn geworden, obwohl Jill keine Ahnung hatte, dass er es manchmal auch als Anekdote verwendete, die er seinen Patienten erzählte – eine dieser humorvollen, aber prägnanten persönlichen Geschichten, die man einbringt, um Vertrauen aufzubauen.

»Manchmal ist ein toter Vogel nur ein toter Vogel«, sagte er dann immer. »Als Jill das zu mir gesagt hat, habe ich gespürt, dass irgendwie … etwas in mir aufgeschlossen wurde.«

Und dann sah er den Patienten an. Nachdenklich. Einen Moment lang verwirrt.

»Mir wurde klar«, fuhr er dann fort, »mir wurde klar, dass ich die Wahl hatte. Ich konnte diesem Augenblick eine Bedeutung verleihen, oder ich konnte beschließen, ihn zu ignorieren. Es hing allein von der Geschichte ab, die ich mir selbst erzählen wollte.«

Und dann konnte er spüren, wie er aufrichtig lächelte, als würde er all das zum ersten Mal denken.

»Wir erzählen unsselbst immer eine Geschichte über uns selbst«, sagte er. Manchmal machte er noch eine Geste, die fast zu einer Berührung wurde, obwohl er eigentlich nur selten tatsächlich Körperkontakt herstellte.

»Aber wir können diese Geschichten kontrollieren«, sagte er. »Daran glaube ich! Ereignisse in unserem Leben haben eine Bedeutung, weil wir beschließen, sie ihnen zuzuschreiben.«

TEIL ZWEI

Sommer 1978

Rusty Bickers ging in der Dämmerung durch die Felder, Rusty Bickers mit einer Traurigkeit und Würde, die nur Dustin sehen konnte. Er träumte oft von Rusty Bickers, wie er am Küchentisch saß und vor dem Schlafengehen Cap’n-Crunch-Frühstücksflocken aß, den Kopf gesenkt, in Gedanken verloren; Rusty Bickers, stumm, aber wach unter den Decken auf seiner Pritsche, seine Hände bewegten sich langsam kreisend über seinen Körper, und er flüsterte, Pssst … pssst … still jetzt; Rusty Bickers, der morgens in der Küchentür stand und Dustins Familie beim Frühstücken zusah, das zottelige Haar im Gesicht, die langen Arme an hängenden Schultern baumelnd, Augen wie die eines Menschen, den man zu einem langen Marsch an einen Ort gezwungen hatte, wo er erschossen werden sollte.

Dustin hörte die helle Stimme seiner Mutter: »Es wird langsam Zeit, dass du aufstehst, Rusty!«

Dustin war acht Jahre alt, und Rusty war vierzehn, ein Waisen- und Pflegekind. Den ganzen Sommer über schlief Rusty in einem Faltbett in Dustins Zimmer, deshalb kannte Dustin ihn besser als irgendjemand sonst.

Rusty wuchs allmählich in den Körper eines Mannes. Er hatte lange fohlenartige Beine und zu große Füße; in seinen Achselhöhlen und am Unterleib wuchsen Haare. Er hatte seine eigenen Kassetten, die er sich über riesige Astronauten-Kopfhörer anhörte. Er hatte ein paar Bücher, Fotos von seiner toten Familie und Zeitungsausschnitte. Rusty machte manchmal ins Bett, und das war ein schreckliches Geheimnis, das nur Dustin und Dustins Mom kannten. Dustins Mom sagte, dass er es niemals jemandem erzählen sollte.

Irgendwann in der Nacht, wenn Rusty dachte, Dustin würde schlafen, schlüpfte er in Dustins Bett, weil er sein eigenes vollgepisst hatte. Er schmiegte seinen langen Körper an Dustins kleineren, und Dustin rührte sich nicht. Rusty legte einen Arm um Dustin, als ob Dustin ein Stofftier wäre. Dustin spürte, dass Rusty zitterte – er weinte, seine Tränen fielen stechend auf Dustins nackten Rücken. Rustys Arm spannte sich an und zog Dustin näher heran.

Rustys letzte Pflegefamilie – Mutter, Vater und zwei jüngere Brüder – waren bei einem Brand ums Leben gekommen. Manche Leute – Dustins ältere Cousinen Kate und Wave zum Beispiel –, manche flüsterten, sie hätten gehört, Rusty habe das Feuer selbst gelegt. Jedenfalls sei er seltsam, sagten sie. Psycho. Sie hielten sich von ihm fern.

Bevor Rusty gekommen war, um bei ihnen zu leben, hatte Dustins Vater einen schlimmen Unfall gehabt. Er hatte als Elektriker auf einer Baustelle gearbeitet, als das Dach eingestürzt war. Dustins Vater und sein bester Freund Billy Merritt waren drei Stockwerke tief gefallen. Billy Merritt war sofort gestorben. Dustins Vater hatte sich beide Beine gebrochen und seinen rechten Arm verloren. Sein Aufprall war gedämpft worden, weil er auf Billy Merritt gelandet war.

Jetzt hatte Dustins Vater eine Armprothese, mit der er immer besser klarkam. Sie sah aus wie zwei Haken, die sein Vater zusammenkneifen konnte. Dustins Vater lernte zum Beispiel, wie man damit eine Gabel packte und zum Mund führte. Irgendwann würde er auch die Seiten eines Buches umschlagen oder eine Stecknadel aufheben können.

Dustins Vater hatte wegen seiner Verletzung eine Abfindung erhalten, eine große Summe Geld. Als Allererstes wandte er sich an die Mitarbeiter der Jugendhilfe. Er wollte einen Pflegejungen aufnehmen, sagte er. Das war einer seiner Träume gewesen, etwas, was er schon immer hatte tun wollen. Dustins Vater war als Teenager in ein Heim für straffällige Jungen gesteckt worden. Nach einer Weile war er von dort weggelaufen und hatte sich der Armee angeschlossen. Aber er erinnerte sich noch lebhaft an diese furchtbare Zeit in seinem Leben.

Dustins Vater liebte Rusty Bickers. Rustys Geschichte war so traurig, dass Dustins Vater sich dadurch vielleicht besser fühlte. Er dachte, er könne Rusty irgendwie helfen. Er wollte ihm eine Umgebung voller Liebe und Glück bieten.

Es gab so viel Geld! Dustin hatte keine Ahnung, wie viel, aber es schien unerschöpflich. Sein Vater kaufte ein neues Auto und einen Billardtisch und eine große Stereoanlage; seine Mutter ließ sich die Zähne machen; sie begannen, einen Anbau für das Haus zu planen, mit einem Wohnzimmer und einem eigenen Zimmer für Rusty.

Wenn sie in die Stadt fuhren, zu dem großen Laden in der Mall, durften Dustin und Rusty sich ein Spielzeug aussuchen – was immer sie wollten. Während ihr Vater sich Werkzeuge und Elektrogeräte ansah, folgte Rusty Dustin durch die Spielzeugreihen: den pink glitzernden Gang mit den Mädchensachen; den geheimnisvollen Gang mit Spielen und Puzzles; den Gang mit Action-Figuren, Spielzeugpistolen und Matchbox-Autos; den Gang mit dem Babykram – Rasseln und pädagogisch wertvolle Geräte mit weichen Kanten, die aussahen wie Armaturenbretter, Dinge, die redeten oder zappelten, wenn man an einer Schnur zog. In dem Gang mit den Sportsachen, dem Gang mit den Luftpistolen und echten Pfeilen und Bögen blieb Rusty lange stehen. Er strich mit dem Daumen über die rasiermesserscharfen Spitzen der Pfeile.

»Keiner weiß, was er will, nicht wirklich«, sagte Rusty Bickers manchmal, wenn sie abends im Bett lagen. Dustin wusste nicht, ob Rusty sich das ausgedacht hatte oder ob er irgendeinen Film oder Song zitierte. Er sagte das, als sie über die Zukunft sprachen. Er überlegte, Drummer in einer Rockband zu werden, machte sich jedoch Sorgen, dass das hoffnungslos war, wenn man im Westen von Nebraska lebte. Er dachte, dass er vielleicht in New York oder L. A. leben sollte, aber er hatte Angst, dort würden die schwarzen Kids ständig versuchen, ihn zu verprügeln.

»Sie hassen die Weißen«, erklärte Rusty Dustin. »Sie wollen nichts anderes, als dich zu bekämpfen.«

Rusty hatte schon Schwarze getroffen. Er hat mit einigen schwarzen Jungen in einer Wohngruppe gelebt, und er hatte einen schwarzen Lehrer gehabt.

Dustin hatte noch nie einen Schwarzen gesehen, obwohl er es sich wünschte. Im Fernsehen gab es eine Zeichentrickserie, Fat Albert and the Cosby Kids, über eine Gruppe schwarze Kinder, die auf einem Schrottplatz wohnten. Es war Dustins Lieblingsserie, und er hätte schrecklich gern einen schwarzen Freund gehabt.

»Man kann keine schwarzen Freunde haben«, sagte Rusty. »Sie wollen einem bloß in den Arsch treten.« Das fand Dustin nicht richtig, hielt jedoch den Mund. Sie durften nicht Arsch sagen.

Rusty schien es gar nicht zu bemerken. Er überlegte, wohin er gern gehen würde, wenn er irgendwohin gehen könnte. Er schloss die Augen, lehnte sich zurück und spielte Schlagzeug in der Luft über seinem Kopf.

Es war ein Sommer der Partys. Es waren glückliche Zeiten, dachte Dustin. Freitag. Samstag. Ab sechs trafen die Leute ein, brachten Kühltaschen mit eisgekühltem Bier und Limo und redeten laut – Dustins Onkel und Tante und Cousinen, die alten Freunde seines Vaters von der Arbeit und deren Frauen und Kinder, die Highschool-Freundinnen seiner Mutter – dreißig, vierzig Leute manchmal. Sie grillten, und es gab Maiskolben, Schalen voller Kartoffelchips und in Honig geröstete Erdnüsse, in Scheiben geschnittenen Käse und Salami, eingelegte Eier und Jalapeños. Musik von Waylon Jennings, Willie Nelson, Crystal Gale. Ein paar Leute tanzten.

Ihr Haus lag etwa eine Meile außerhalb der Stadt. Die Kinder spielten im Garten und auf dem großen Stoppelfeld hinter dem Haus. Die Dämmerung dauerte scheinbar stundenlang, und wenn es schließlich dunkel war, saßen sie unter dem Licht auf der Veranda und fingen fett brummende Junikäfer und Motten, manchmal sogar eine Kröte, die in den Kreis aus Licht gehüpft war, angezogen von den Insekten.

Rusty schloss sich ihren Spielen nur selten an. Stattdessen bezog er eine Ecke des Gartens oder einen Stuhl im Haus und beobachtete sie still.

Wer wusste, was die Erwachsenen taten? Sie spielten Karten und tratschten. Es gab Lachsalven, Tante Vickis hohes Geisterbahn-Gackern, das sich über das allgemeine Gemurmel erhob; sie sangen laut zur Musik. Wenn er betrunken war, ging Dustins Vater herum und erschreckte die Ladys, indem er sie mit seinem Haken im Nacken berührte, sodass sie kreischten. Manchmal nahm er seinen Arm ab und tanzte damit. Manchmal weinte er um Billy Merritt.

Es wurde spät. Leere Bierdosen füllten die Mülleimer und reihten sich auf Küchentresen. Die kleineren Kinder schliefen in den Betten ein. Wenn er noch wach war, blickte Dustin manchmal aus dem Fenster nach draußen, wo die letzten verbliebenen Erwachsenen im Garten im Kreis standen, flüsterten, kicherten und eine kleine Zigarette von Hand zu Hand weiterreichten. Dustin war acht und sollte gar nicht wissen, was los war.

Aber Rusty erzählte es ihm. Anfangs wollte Dustin ihm nicht glauben. Dustin hatte beängstigende Dinge über Drogen gehört – dass böse Menschen manchmal LSD in Halloween-Süßigkeiten versteckten, damit die Kinder verrückt wurden; dass man, wenn man Angel Dust genommen hatte, versuchen würde, die erste Person zu töten, die man sah; dass Drogendealer manchmal auf Spielplätze kamen und versuchten, Kindern Pillen zu geben, und dass man, wenn das passierte, weglaufen und es so schnell wie möglich einem Erwachsenen erzählen sollte.

Rusty hatte schon Gras geraucht; außerdem hatte er versehentlich LSD geschluckt, was irgendjemand ihm in einem Schokoriegel verabreicht hatte.

Dustin war sich nicht sicher, ob er das glaubte, beides. Der Abgrund von Rustys Erfahrung, von seiner Verworfenheit, schien beinahe bodenlos.

Als Dustins Eltern irgendwann später nicht zu Hause waren, durchsuchten Dustin und Rusty ihre Kommode. Ganz unten in der Schublade mit den T-Shirts von Dustins Vater fanden sie Pornohefte; in der Schublade mit den Slips und BHs seiner Mutter fanden sie ein kleines Tütchen mit Marihuana, wie Rusty erklärte.

Rusty nahm ein wenig für sich, und Dustin fing beinahe an zu weinen.

»Erzähl es keinem«, sagte Rusty zu ihm. »Du wirst es doch keinem erzählen, oder? Du weißt, dass deine Mom und dein Dad Ärger mit der Polizei kriegen könnten, wenn sie erwischt werden.«

»Ich erzähl es keinem«, flüsterte Dustin.

Bis auf seinen Arm wirkte Dustins Vater wie ein normaler Vater. Manchmal fuhren Dustin und sein Vater und Rusty samstags nach dem Frühstück mit den Zehn-Kaliber-Gewehren von Dustins Vater in die Hügel. Dustins Vater stellte Bierdosen, Mayonnaise-Gläser und dergleichen auf einem Zaun auf, und sie schossen darauf. Dustins Vater konnte das Gewehr nicht mehr fest genug halten, um selber zu zielen, doch er brachte es Dustin und Rusty bei.

Als Rusty zum ersten Mal das Gewehr hielt, zitterten seine Hände. »Hast du jemals zuvor eine Waffe bedient, Sohn?«, fragte Dustins Vater, und Rusty schüttelte langsam den Kopf.

Dustins Vater zeigte Rusty, wie er die Hände halten musste, wie er den Knauf des Gewehrs an seine Schulter pressen musste. »Okay, okay«, sagte Dustins Vater. Er beugte sich vor, sein Kinn war direkt neben Rustys Ohr. »Kannst du durch das Fadenkreuz gucken? Auf den Punkt, wo die Linien sich treffen?«

Dustin beobachtete, wie sein Vater und Rusty mit gemeinsam angespannten Körpern sorgfältig zielten. Als das Mayonnaise-Glas zersplitterte, sprang Dustin auf. »Du hast getroffen!«, rief er, und Rusty drehte sich mit aufgerissenen Augen um. Sein Mund stand weit offen vor stillem Staunen.

Dustins Mutter wartete schon mit dem Mittagessen, als sie nach Hause kamen. Es gab Hamburger und Maiskolben.

Dustin kam sie vor wie eine typische Mutter. Ein bisschen übergewichtig, emsig und meistens fröhlich. Als Rusty zu ihnen kam, umarmte sie ihn anfangs manchmal, doch er blieb immer steif und verlegen. Nach einer Weile hörte sie mit den Umarmungen auf. Stattdessen legte sie einfach eine Hand auf seine Schulter oder auf seinen Arm. Wenn sie das tat, sah Rusty sie nicht an, doch er zog Schulter oder Arm auch nicht weg.

Dustin dachte daran, was er in der Schule über Pflanzen gelernt hatte. Sie tranken Sonnenlicht als Nahrung; sie atmeten, obwohl man es nicht sehen konnte. Daran dachte er, wenn er beobachtete, wie Rusty dasaß, mit der Hand von Dustins Mutter auf seiner Schulter. Sie massierte kurz seinen Nacken, bevor sie die Hand wegzog, und Dustin beobachtete, wie ein Schaudern über Rustys ausdruckslose Miene zog und sein Blick immer abwesender wurde.

Dustin sah Rusty am Rand des Gartens stehen, seine Umrisse waren so reglos, dass er ein Zaunpfahl hätte sein können. Dustin beobachtete still, wie Rusty anscheinend in die Ferne starrte. Meilenweit entfernt zogen die roten Heckleuchten der Sattelschlepper über den Interstate Highway, und Dustin wurde plötzlich bewusst, dass darin Menschen saßen, die zu fernen Orten fuhren und niemals wissen würden, dass er und Rusty sie beobachteten. Das versetzte ihm einen eigenartig kribbelnden Schmerz.

»Wohin starrst du?«, fragte Rusty schließlich, und es war erschreckend; als würde man aus einem Traum geweckt. Rusty wandte nicht den Kopf, um Dustin anzusehen. Seine Stimme kam aus dem Schatten. »Was willst du?«, fragte er.

»Nichts«, sagte Dustin.

»Komm her«, sagte Rusty, und Dustin ging unsicher und plötzlich schüchtern auf ihn zu. Er hatte Angst, dass Rusty ihm einen Streich spielen wollte. Seine älteren Cousinen Kate und Wave legten ihn manchmal herein, indem sie so leise sprachen.

Aber Rusty blickte nicht mal nach unten, als Dustin neben ihn trat. Er starrte nur weiter auf den Interstate Highway. »Gott«, sagte er. »Du bist so dumm, weißt du das, Dustin?«

»Ich bin nicht dumm«, sagte Dustin, und Rusty wandte ihm endlich das Gesicht zu. Grinste.

»Haha«, sagte er. »Du bist wie Rotkäppchen, das durch den Wald hopst.« Er legte den Kopf zur Seite und betrachtete Dustins Gesicht. »Weißt du, was passieren würde, wenn man einen Jungen wie dich in ein Kinderheim stecken würde?«

»Nein.« Und Dustin atmete, während Rusty ihn weiter ansah, ohne zu blinzeln.

»Die machen echt üble Sachen mit den kleinen Kindern. Und wenn man versucht zu schreien, stopfen sie einem dreckige Unterwäsche als Knebel in den Mund.« Er starrte Dustin traurig an, als würde er es sich gerade vorstellen.

Dann zeigte er in den Himmel. »Siehst du das?«, fragte er. »Da ist der Große Bär.« Rusty stand hinter Dustin, legte seine Hände auf Dustins Ohren und presste seine Fingerspitzen fest in seine Kopfhaut. Er neigte Dustins Kopf nach hinten.

»Siehst du ihn?«, murmelte Rusty, und Dustin nickte. Er ließ sich in Rustys Griff zurücksinken und stellte sich vor, sein Kopf wäre eine Kugel, die Rusty in der Hand hielt, und er würde im Weltall schweben und könnte Galaxien sehen. Doch er hielt seine Augen geschlossen.

»Ja«, sagte er. »Ich sehe ihn.«

Manchmal wirkten sie alle so glücklich. Da waren sie um den Fernseher versammelt, seine Mutter saß auf dem Schoß seines Vaters in dem großen Sessel, und sie lachten über irgendeinen Witz, und seine Mutter wurde rot. Da zelteten sie an einem See, rösteten Marshmallows auf angespitzten Stöcken über einem Lagerfeuer; Dustin kletterte in dem See auf die Schultern seines Vaters und richtete sich auf, pflanzte die Füße links und rechts neben den Hals seines Vaters und hob schwankend und balancierend die Hände zum Kopfsprung. Und dann sprang er ins Wasser, als wäre sein Vater ein Sprungbrett.

Abends wateten Dustin und Rusty mit Taschenlampen am Ufer entlang und fingen Flusskrebse. Rusty hatte keine Angst vor ihren Scheren. Mit einem harten Grinsen ließ er sie an seine Ohrläppchen geklammert baumeln, als wären sie Schmuck.

Dustin wusste nicht, was für ein Gefühl es war, das ihn in solchen Momenten erfüllte. Es hatte mit der Art zu tun, wie der Strahl der Taschenlampe eine glänzende Schale aus Licht im Wasser formte und wie unter dem Strahl alles klar und deutlich war – die treibenden Algenteile und winzigen Wassertierchen, die glatten Steine und die schlafenden, silbern und metallisch blau glänzenden Elritzen, die rückwärts kriechenden Flusskrebse mit ihren ängstlich erhobenen Scheren. Es war der Klang der Stimmen seiner Eltern, während sie am Lagerfeuer saßen, das widerhallende Beben in der Stimme seines Vaters, wenn er anfing zu singen. Rusty war eine Silhouette vor dem Hintergrund des schimmernden blauschwarzen Sees, und Dustin erkannte, dass der Himmel nicht einer Zimmerdecke ähnelte. Er war vielmehr wie Wasser, tiefes Wasser, Tiefe über Tiefe, unermesslich riesig. Und das war etwas, was Dustin schön fand. Und er liebte seine junge Mutter und seinen Vater und seine Tante und seinen Onkel, die ein Stück entfernt lachten, und seine Cousinen, die schon in ihrem Zelt träumten, und Rusty selbst, der still in der Dunkelheit stand. Er war erfüllt von einer Art ehrfürchtiger Zufriedenheit, die er für Glück hielt.

Später hörte Dustin im Zelt in seinem Schlafsack, wie seine Eltern redeten. Sie sprachen leise, doch wenn er sich anstrengte, konnte er sie verstehen.

»Ich weiß nicht«, sagte seine Mutter. »Wie lange dauert es, um über so etwas hinwegzukommen?«

»Mit ihm ist alles in Ordnung«, sagte Dustins Vater. »Er ist ein guter Junge. Man muss ihn nur in Ruhe lassen. Ich glaube nicht, dass er darüber sprechen will.«

»Oh«, sagte seine Mutter und atmete schwer. »Ich kann mir das gar nicht vorstellen, weißt du? Was, wenn ich euch alle auf diese Weise verlieren würde? Ich weiß nicht, wie ich weiterleben könnte. Ich würde mich umbringen, Dave. Das würde ich wirklich.«

»Nein, würdest du nicht«, sagte Dustins Vater. »Sag so was nicht.«

Und dann waren sie still. Dustin blickte zu Rustys Schlafplatz und sah, dass Rusty auch wach war. Die Zeltwände schimmerten im Licht des Feuers, und der Widerschein flackerte in Rustys offenen Augen. Sein Kiefer bewegte sich, während er lauschte.

In der Nacht wachte Dustin auf; er spürte, dass sich etwas an ihn presste, und als er die Augen aufschlug, leuchteten die dünnen Zeltwände im Mondlicht. Rustys Schlafsack war nahe an seinen gerollt, und er spürte die Bewegungen von Rustys Körper. In ihren Schlafsäcken waren sie wie seltsame übernatürliche Wesen – dicke Raupen, Kokons. Rusty wiegte seinen Körper gegen ihn und flüsterte, die Worte zu einem monotonen Rhythmus verschliffen, der anstieg und abfiel, bis Dustin die Worte fast verstehen konnte wie etwas, was vom Wind verweht wurde: »Gewartet … ich habe … wann bist du … oh, ich warte auf dich … und nie …«, und dann wurde das Wiegen heftiger, und er dachte, dass Rusty weinte. Aber Dustin wagte es nicht, die Augen zu öffnen. Er hielt ganz still, atmete langsam, wie ein Schlafender. Rusty stieß ein Geräusch aus, ein hohes, anhaltendes, unmelodisches Summen, in dem Dustin nach einem Moment das Wort Mom erkannte, das, unendlich dünn ausgedehnt, immer weiter ausfaserte. Und Dustin wusste, dass dies etwas war, worüber er niemals sprechen konnte, mit niemandem.

Aber selbst in diesem stillen und unheimlichen Augenblick lag eine Art von Glück: etwas Wundersames in Rustys geflüsterten Worten, im Drängen von Rustys Körper, ein beinahe enthülltes Geheimnis. Was war es? Was war es?

Rusty, der in der Woche nach ihrer Rückkehr von dem Campingausflug schweigsamer und mürrischer war denn je, konnte er nicht fragen. Manchmal verschwand er stundenlang und zog ein schweres Schweigen hinter sicher her, und wenn Dustin ihm begegnete – in einem Graben voller Giersch und Sonnenblumen auf dem Rücken liegend oder hinter einem Haufen Brennholz in der Garage hockend –, gab Rusty ihm mit einem hasserfüllten Blick zu verstehen, dass er sich ihm nicht nähern sollte.

Als Rusty zu ihnen gekommen war, hatte Dustin gefragt: »Soll ich Rusty jetzt meinen Bruder nennen?«

Sie saßen um den Abendbrottisch, und sowohl sein Vater als auch seine Mutter stutzten. »Na ja«, sagte Dustins Vater vorsichtig, »ich weiß, dass uns es bestimmt gefallen würde, wenn Rusty uns als seine Familie ansieht. Aber ich glaube, wie du ihn nennst, hat Rusty zu bestimmen.«

Dustin fühlte sich schlecht, als er sah, wie Rusty zusammensank, als ihn alle anblickten. Rusty erstarrte, und eine Reihe von unsicheren Ausdrücken huschte über sein Gesicht. Dann lächelte er. »Klar, Dustin«, sagte er. »Lass uns Brüder sein.« Und er zeigte Dustin einen besonderen High-Five-Gruß, bei dem man die Daumen gegeneinanderdrückte, nachdem man sich abgeklatscht hatte. Man drückte seinen Daumen gegen den des anderen, und beide flatterten mit den anderen vier Fingern. Es ergab die Umrisse eines Vogels, wahrscheinlich eines Adlers oder Falken.

Natürlich waren sie deshalb nicht wirklich Brüder. Dustin wusste, dass Rusty wahrscheinlich nur etwas Nettes gesagt hatte, um Dustins Eltern zu erfreuen, genauso wie er sie »Dad« und »Mom« nannte, damit sie glücklich waren. Aber das war okay. Etwas war passiert. Etwas Eigenartiges und Unerklärliches war durch ihre Daumen vermittelt worden, als sie sich berührt hatten.

An diesen Händedruck erinnerte Dustin sich wieder, während er Rusty beobachtete. Rusty hockte mit hängenden Schultern in der Nähe eines verlassenen Hauses nicht weit entfernt von ihrem. Dustin hatte ihn bis hierher verfolgt, jedoch Abstand gehalten. Durch ein Fernglas seines Vaters beobachtete er, wie Rusty eine leere Bierflasche aufhob und mit dem Schwung eines Baseball-Pitchers an einem Stein zerschmetterte. Die Fensterscheiben in dem alten Haus waren bereits zerbrochen, und eine Zeit lang schlug Rusty mit einem Stock gegen die leeren Rahmen. Er hob den Kopf und blickte sich argwöhnisch um. Er sah Dustin nicht, der sich zwischen ein paar hohen Unkräutern versteckt hatte, und nachdem Rusty nach einer Weile offenbar einigermaßen zufrieden war, ging er in die Hocke und rauchte ein wenig von dem Marihuana, das er aus der Kommode von Dustins Eltern genommen hatte.