Der Wille zur Macht (vollständige ausgabe / I - II) - Friedrich Nietzsche - E-Book

Der Wille zur Macht (vollständige ausgabe / I - II) E-Book

Friedrich Nietzsche

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Beschreibung

Im Frühjahre 1885, nach der Vollendung des vierten Theiles des Zarathustra, scheint mein Bruder bereits, den Aufzeichnungen nach, entschlossen gewesen zu sein, den Willen zur Macht als Lebensprincip zum Mittelpunkt seines theoretisch-philosophischen Hauptwerkes zu machen. Wir finden den Titel: »Der Wille zur Macht, eine Auslegung alles Geschehens«. Im Winter 1885/86 wollte er aber zunächst eine kleine Schrift darüber zusammenstellen, zu der wir eine ganze Reihe Aufzeichnungen haben. Er nennt sie: »Der Wille zur Macht. Versuch einer neuen Weltauslegung.« Es ist so begreiflich, daß er vor der ungeheueren Aufgabe schauderte, den Willen zur Macht in der Natur, Leben, Gesellschaft, als Wille zur Wahrheit, Religion, Kunst, Moral, bis in alle Consequenzen hinein darzustellen. Ach, wie oft wird er sich verzweifelt gesagt haben: »ein Einzelner! ach nur ein Einzelner! und dieser große Wald und Urwald!« So versucht er immer wieder, um sich die Aufgabe etwas leichter und übersichtlicher zu machen, das große Werk in kleinere, weniger umfangreiche Schriften zu zerlegen. Er plant z.B. im Frühjahr 1886 zehn neue Schriften zu verfassen und vielleicht als neue »Unzeitgemäße Betrachtungen« zu veröffentlichen.

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Der Wille zur Macht

Friedrich Nietzsche

Inhalt

Friedrich Nietzsche

Einleitung.

Vorrede.

Erstes Buch.

Zum Plan.

I. Nihilismus.

1. Nihilismus als Consequenz der bisherigen Werth-Interpretation des Daseins.

2. Fernere Ursachen des Nihilismus.

3. Die nihilistische Bewegung als Ausdruck der décadance

4. Die Krisis: Nihilismus und Wiederkunftsgedanke.

II. Zur Geschichte des europäischen Nihilismus.

a) Die moderne Verdüsterung.

b) Die letzten Jahrhunderte.

c) Anzeichen der Erstarkung.

Zweites Buch.

I. Kritik der Religion.

1. Zur Entstehung der Religionen

2. Zur Geschichte des Christenthums

3. Christliche Ideale.

II. Kritik der Moral.

1. Herkunft der moralischen Wertschätzungen.

2. Die Heerde.

3. Allgemein-Moralistisches.

4. Wie man die Tugend zur Herrschaft bringt.

5. Das moralische Ideal.

6. Schlußbetrachtung zur Kritik der Moral.

III. Kritik der Philosophie.

1. Allgemeine Betrachtungen.

2. Zur Kritik der griechischen Philosophie.

3. Wahrheit und Irrthum der Philosophen.

4. Schlußbetrachtung zur Kritik der Philosophie.

Drittes Buch.

I. Der Wille zur Macht als Erkenntniß.

II. Der Wille zur Macht in der Natur.

1. Die mechanistische Welt-Auslegung.

2. Der Wille zur Macht als Leben.

3. Theorie des Willens zur Macht und der Werthe.

Nachbericht.

Der Wille zur Macht II

Einleitung

Drittes Buch. (Fortsetzung)

III. Der Wille zur Macht als Gesellschaft und Individuum.

1. Gesellschaft und Staat.

2. Das Individuum.

IV. Der Wille zur Macht als Kunst.

Viertes Buch.

I. Rangordnung.

1. Die Lehre von der Rangordnung.

2. Die Starken und die Schwachen.

3. Der vornehme Mensch.

4. Die Herren der Erde.

5. Der große Mensch.

6. Der höchste Mensch als Gesetzgeber der Zukunft.

II. Dionysos.

III. Die ewige Wiederkunft.

Friedrich Nietzsche

1844-1900

Einleitung.

Schon im Frühjahr 1883, als ich mit meinem Bruder in Rom war, sagte er, daß, wenn einmal der Zarathustra fertig wäre, er sein theoretisch-philosophisches Hauptprosawerk schreiben wollte; und als ich im Herbst 1884 in Zürich auf dieses Gespräch zurückkam und ihn danach fragte, lächelte er geheimnißvoll und deutete an, daß der Aufenthalt im Engadin in dieser Beziehung sehr fruchtbar gewesen sei. Wir wissen schon aus der Einleitung zum achten Band, wie bedeutungsvoll dieser Sommer gerade für dieses Hauptprosawerk gewesen ist. Indessen darf man durchaus nicht annehmen, daß die Grundgedanken dieses Werkes erst damals entstanden wären, nein, sie sind bereits sämmtlich in poetischer Form im Zarathustra enthalten, was sich besonders darin zeigt, daß Pläne und Gedankengänge von Ende 1882, also aus der Zeit vor der Entstehung des ersten Theiles des Zarathustra, die größte Ähnlichkeit mit dem gedanklichen Inhalt des »Willens zur Macht« haben.

Aber es versteht sich von selbst, daß die Welt neuer Gedanken im Zarathustra nicht erschöpft werden konnte und nach einer theoretisch-philosophischen prosaischen Darstellung verlangte, dabei aber von Jahr zu Jahr wuchs und deutlicher wurde. Wir begegnen deshalb in den Plänen des Sommers 1884 immer den gleichen Problemen wie im Zarathustra und wie später im »Willen zur Macht«. Alle Niederschriften von dieser Zeit an sind Erklärungen und Darstellungen jener Hauptgedanken, sodaß man wohl vom »Willen zur Macht« dasselbe sagen kann, was mein Bruder an Jacob Burckhardt von »Jenseits von Gut und Böse« schreibt: »daß es dieselben Dinge sagt, wie der Zarathustra, aber anders, sehr anders«.

Daß sich der Autor mehrere Jahre Zeit lassen wollte (er spricht von sechs und auch von zehn Jahren), ehe er an die endgültige Ausarbeitung dieses ungeheuren Werkes dachte, und zunächst nur die köstlichen Bausteine zusammentrug und die umfassendsten Studien dazu machte, ist nur zu begreiflich. Im Übrigen ist aus den Plänen des Sommers 1884 zu ersehen, daß er damals noch nicht entschlossen war, welchem seiner Hauptgedanken: ob der ewigen Wiederkunft oder der Umwerthung aller bisherigen höchsten Werthe, ob der Rangordnung bis zu ihrem Gipfel, dem Übermenschen, oder dem Willen zur Macht, als Princip des Lebens, Wachsens und Herr-sein-wollens, er den Vorrang lassen wollte, in den Mittelpunkt dieses Werkes gestellt zu werden. Die Erkenntniß aber, daß das ungeheuer complicirte Gewebe des Lebens am besten im Willen zur Macht zusammenzufassen sei, scheint ihm von Jahr zu Jahr immer deutlicher geworden zu sein.

Hier ist wohl die Stelle, wo wir fragen dürfen, wann wohl dem Philosophen zuerst dieser Gedanke des Willens zur Macht als verkörperter Lebenswille erschienen sein mag? Solche Fragen sind außerordentlich schwer zu beantworten, da wir bei meinem Bruder den Keim zu seinen Hauptgedanken immer in sehr entfernter Zeit zu suchen haben. Wie bei einem gesunden, kraftvollen Baum dauerte es viele Jahre, ehe seine Gedanken ihre endgültige Gestalt gewannen und hervortraten, mit Ausnahme eines einzigen: der ewigen Wiederkunft, der ihm im Sommer 1881 zuerst auftauchte und ein Jahr später zur Darstellung kam. Vielleicht ist es mir gestattet, hier eine Erinnerung zu bringen, die einen Fingerzeig zur ersten Entstehung des Gedankens vom Willen zur Macht geben könnte. Im Herbst 1885, ehe ich mit meinem Mann nach Paraguay gieng, machten mein Bruder und ich wundervolle Spaziergänge in die Umgebung Naumburgs, um die Stätten unserer Kindheit noch einmal wiederzusehen. So giengen wir auch einmal über die Höhen zwischen Naumburg und Pforta, die eine herrliche, weite Aussicht bieten, und gerade an jenem Abend in besonders schöner Beleuchtung: der Himmel hatte eine gelbröthliche Färbung mit tiefschwarzen Wolken, was eine merkwürdige Farbenstimmung in der Natur hervorrief. Mein Bruder bemerkte plötzlich, wie sehr ihn diese Wolkenbildung an einen Abend jener Zeit (1870) erinnerte, da er als Krankenpfleger auf dem Kriegsschauplatz gewesen war (die neutrale Schweiz gestattete ihrem Universitätsprofessor nicht, als Soldat mitzuziehen). Nach seiner Ausbildung als Pfleger in Erlangen wurde er von dem dortigen Comité als Vertrauensperson und Führer einer Sanitätskolonne nach dem Kriegsschauplatz geschickt. Es wurden ihm größere Summen anvertraut und eine Fülle persönlicher Aufträge mitgegeben, sodaß er von Lazareth zu Lazareth, von Ambulanz zu Ambulanz, über Schlachtfelder hinweg seinen Weg suchen mußte, sich nur unterbrechend, um Verwundeten und Sterbenden Hilfe zu leisten und ihre letzten Grüße in Empfang zu nehmen. Was das mitfühlende Herz meines Bruders in jener Zeit gelitten hat, ist nicht zu beschreiben; noch monatelang hörte er das Stöhnen und den klagenden Jammerschrei der armen Verwundeten. Es war ihm in den ersten Jahren fast unmöglich, darüber zu sprechen, und als sich Rohde einmal in meiner Gegenwart darüber beklagte, daß er so wenig von des Freundes Erlebnissen als Krankenpfleger gehört habe, brach mein Bruder mit dem schmerzlichsten Ausdruck in jene Worte aus: » Davon kann man nicht sprechen, das ist unmöglich, man muß diese Erinnerungen zu verbannen suchen!« Auch an jenem Herbsttag, von welchem ich soeben sprach, erzählte er nur, wie er eines Abends nach solchen entsetzlichen Wanderungen »das Herz von Mitleid fast gebrochen« in eine kleine Stadt gekommen sei, durch welche eine Heerstraße führte. Als er um eine Steinmauer biegt und einige Schritte vorwärts geht, hört er plötzlich ein Brausen und Donnern, und ein wundervolles Reiterregiment, prachtvoll als Ausdruck des Muthes und Übermuthes eines Volkes, flog wie eine leuchtende Wetterwolke an ihm vorüber. Der Lärm und Donner wird stärker, und es folgt seine geliebte Feldartillerie im schnellsten Tempo – ach, wie es ihn schmerzt, sich nicht auf ein Pferd werfen zu können, sondern thatenlos an dieser Mauer stehen bleiben zu müssen! Zuletzt kam das Fußvolk im Laufschritt: die Augen blitzten, der gleichmäßige Tritt klang wie wuchtige Hammerschläge auf den harten Boden. Und als dieser ganze Zug an ihm vorüberstürmte, der Schlacht, vielleicht dem Tode entgegen, so wundervoll in seiner Lebenskraft, in seinem Kampfesmuth, so vollständig der Ausdruck einer Rasse, die siegen, herrschen oder untergehen will – »da fühlte ich wohl, meine Schwester,« fügte mein Bruder hinzu, »daß der stärkste und höchste Wille zum Leben nicht in einem elenden Ringen um's Dasein zum Ausdruck kommt, sondern als Wille zum Kampf, als Wille zur Macht und Übermacht!« »Aber,« fuhr er nach einer Weile fort, während er in den glühenden Abendhimmel hinausschaute, »ich fühlte auch, wie gut es ist, daß Wotan den Feldherren ein hartes Herz in den Busen legt, wie könnten sie sonst die ungeheure Verantwortung tragen, Tausende in den Tod zu schicken, um ihr Volk und damit sich selbst zur Herrschaft zu bringen.« – Viele, unendlich Viele haben damals Ähnliches erlebt, aber die Augen des Philosophen sehen anders, als andere Leute, und finden neue Erkenntnisse in Erlebnissen, die Andere zu entgegengesetzten Resultaten führen. Wenn mein Bruder später an diese Vorgänge zurückdachte, wie anders und vielgestaltig mag ihm da das von Schopenhauer so gepriesene Gefühl des Mitleids erschienen sein, im Vergleich mit jenem wundervollen Anblick des Lebens-, Kampfes- und Machtwillens. Hier sah er einen Zustand, bei welchem der Mensch seine stärksten Triebe, sein gutes Gewissen und seine Ideale als identisch fühlt, und er sah diesen Zustand nicht bloß in den Ausführenden jenes Machtwillens, sondern vor Allem auch in dem Zustande des Feldherrn selbst. Damals mag ihm das Problem zuerst aufgestiegen sein, wie furchtbar und verderblich das Mitleid als Schwäche in den höchsten und schwierigsten Augenblicken, welche Völkerschicksale entscheiden, wirken kann, und wie richtig es deshalb ist, daß dem großen Menschen, dem Feldherrn, das Recht zugestanden wird, Menschen zu opfern, um ihre höchsten Ziele zu erreichen. Wie ergreifend erscheint der Gedanke des Willens zur Macht zuerst in der poetischen Form des »Zarathustra«; beim Lesen des Kapitels »Von der Selbstüberwindung« steigt mir immer eine leise Erinnerung an die eben geschilderten Erlebnisse empor, besonders bei den nachfolgenden Worten:

»Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.

»Daß dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein will: dieser Lust allein mag es nicht entrathen.

»Und wie das Kleinere sich dem Größeren hingiebt, daß es Lust und Macht am Kleinsten habe: also giebt sich auch das Größte noch hin und setzt um der Macht willen – das Leben dran.

»Das ist die Hingebung des Größten, daß es Wagniß ist und Gefahr, und um den Tod ein Würfelspielen.« –

Im Frühjahre 1885, nach der Vollendung des vierten Theiles des Zarathustra, scheint mein Bruder bereits, den Aufzeichnungen nach, entschlossen gewesen zu sein, den Willen zur Macht als Lebensprincip zum Mittelpunkt seines theoretisch-philosophischen Hauptwerkes zu machen. Wir finden den Titel: »Der Wille zur Macht, eine Auslegung alles Geschehens«. Im Winter 1885/86 wollte er aber zunächst eine kleine Schrift darüber zusammenstellen, zu der wir eine ganze Reihe Aufzeichnungen haben. Er nennt sie: »Der Wille zur Macht. Versuch einer neuen Weltauslegung.« Es ist so begreiflich, daß er vor der ungeheueren Aufgabe schauderte, den Willen zur Macht in der Natur, Leben, Gesellschaft, als Wille zur Wahrheit, Religion, Kunst, Moral, bis in alle Consequenzen hinein darzustellen. Ach, wie oft wird er sich verzweifelt gesagt haben: »ein Einzelner! ach nur ein Einzelner! und dieser große Wald und Urwald!« So versucht er immer wieder, um sich die Aufgabe etwas leichter und übersichtlicher zu machen, das große Werk in kleinere, weniger umfangreiche Schriften zu zerlegen. Er plant z.B. im Frühjahr 1886 zehn neue Schriften zu verfassen und vielleicht als neue »Unzeitgemäße Betrachtungen« zu veröffentlichen.

Aber während seines Aufenthaltes in Leipzig, Mai-Juni 1886, während er mit dem Verleger wegen der Drucklegung des »Jenseits« verhandelte, kam er doch zu dem festen Entschluß, außer dem »Jenseits«, das eine Vorbereitung auf das große Werk sein sollte (in Wahrheit aber ein Stück davon ist), die nächsten Jahre ganz allein der Ausarbeitung und Drucklegung des »Willens zur Macht« zu widmen. Ich darf vielleicht mit Recht die Vermuthung aussprechen, daß dieser Aufenthalt Mai-Juni 1886 in Leipzig ihm die letzte Hoffnung geraubt hat, daß es ihm möglich sein würde, Mitarbeiter und Genossen zu diesem großen Werke zu finden. Diese Hoffnung auf mitarbeitende Freunde, die bei der Schwäche seiner Augen doppelt verführerisch war, und welche immer wieder auftauchte, trotz der großen Enttäuschungen, war von Jugend an der entzückende Traum seiner Seele gewesen – ein Traum, der sich niemals erfüllen sollte. Er schreibt:

»Die Probleme, vor welche ich gestellt bin, scheinen mir von so radikaler Wichtigkeit, daß ich mich beinahe jedes Jahr ein paar Mal zu der Einbildung verstieg, daß die geistigen Menschen, denen ich diese Probleme sichtbar machte, darüber ihre eigene Arbeit bei Seite legen müßten, um sich einstweilen ganz meinen Angelegenheiten zu widmen. Das, was dann jedes Mal statt dessen geschah, war in so komischer und unheimlicher Weise das Gegentheil dessen, was ich erwartet hatte, daß ich alter Menschenkenner mich meiner selber zu schämen lernte und ich immer von Neuem wieder in der Anfänger-Lehre umzulernen hatte, daß die Menschen ihre Gewohnheiten hunderttausend Mal wichtiger nehmen als selbst – ihren Vortheil...«

Alle tüchtigen Leute, ehemalige Freunde und Bekannte, fand er mit ihren eignen Arbeiten beschäftigt; selbst Peter Gast, der einzige helfende Freund, legte doch, nach meines Bruders eigenem Wunsch, den Hauptaccent seines Lebens und seiner Thätigkeit auf seine Musik. Andere Mitarbeiter, als die allertüchtigsten, konnte er nicht gebrauchen. So ergriff ihn die schmerzliche Gewißheit, daß er niemals einen Genossen für seine schwierigsten Arbeiten finden würde, daß er Alles, Alles allein thun und in absoluter Einsamkeit seinen schweren Weg gehen müßte.

Während der Correkturen des »Jenseits«, Sommer 1886, die er von Sils-Maria aus besorgte, benutzte er jede freie Stunde, den bereits vorhandenen Stoff zu dem in vier Bänden geplanten Hauptwerk zu sichten. Er stellte den ganzen Plan des ungeheuren Werkes zusammen, mit einem Gedankengange, der das ganze Werk umfaßt und im Wesentlichen mit kleinen Verschiebungen beibehalten worden ist. (Der Inhalt des dritten Buches ist später in das vierte übergegangen und ein ganz neues drittes Buch eingefügt worden.) Der Plan vom Sommer 1886 lautet folgendermaaßen:

»Der Wille zur Macht.

Versuch einer Umwerthung aller Werthe. In vier Büchern.

Erstes Buch: Die Gefahr der Gefahren (Darstellung des Nihilismus als der nothwendigen Consequenz der bisherigen Werthschätzungen). Ungeheure Gewalten sind entfesselt: aber sich widersprechend; die entfesselten Kräfte sich gegenseitig vernichtend. Im demokratischen Gemeinwesen, wo Jedermann Specialist ist, fehlt das Wozu? Für-Wen? der Stand, in dem alle die tausendfältige Verkümmerung aller Einzelnen (zu Funktionen) Sinn bekommt.

Zweites Buch: Kritik der Werthe (der Logik usw.). Überall die Disharmonie aufzuzeigen zwischen dem Ideal und seinen einzelnen Bedingungen (z.B. Redlichkeit bei Christen, welche fortwährend zur Lüge gezwungen sind).

Drittes Buch: Das Problem des Gesetzgebers (darin die Geschichte der Einsamkeit). Die entfesselten Kräfte neu zu binden, daß sie sich nicht gegenseitig vernichten; Augen aufmachen für die wirkliche Vermehrung an Kraft!

Viertes Buch: Der Hammer. Wie müssen Menschen beschaffen sein, die umgekehrt werthschätzen? – Menschen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln; ihre Mittel zu ihrer Aufgabe.

Sils-Maria. Sommer 1886.«

Es wäre ganz falsch, wenn man nun annehmen wollte, daß der Autor des »Willens zur Macht« in diesem Werke sein System hätte geben wollen. Wir wissen, wie sehr er allen Systemen mißtraute, und wie es ihm als ein trauriges Zeichen für einen Philosophen galt, wenn er seine Gedanken zu einem System erstarren läßt. »Ein Systematiker ist ein Philosoph«, ruft er aus, »der seinem Geist nicht länger mehr zugestehen will, daß er lebt, daß er wie ein Baum mächtig in die Breite und unersättlich um sich greift, der schlechterdings keine Ruhe kennt, bis er aus ihm etwas Lebloses, etwas Hölzernes, eine viereckige Dummheit, ein »System« herausgeschnitzt hat!«

Gewiß wollte er seine Philosophie, seine Weltanschauung in diesem großen Werke darstellen, aber sicherlich nicht als Dogma, sondern als vorläufige Regulative der Forschung.

Im Herbst 1886 wurde die Arbeit am »Willen zur Macht« für mehrere Monate unterbrochen, da mein Bruder für eine neue Ausgabe seiner bis dahin erschienenen Schriften Vorreden und das V. Buch zur »Fröhlichen Wissenschaft« schrieb, aber im Januar 1887 war Alles druckfertig abgeschickt; er kehrte wieder zur Arbeit an seinem Hauptwerke zurück. Der Februar 1887 brachte jenes furchtbare Erdbeben in Nizza, das er mit einer merkwürdigen Ruhe und Geistesgegenwart durchlebte. Er schreibt darüber an Gast am 24. Februar 1887: »Lieber Freund, vielleicht sind Sie durch die Nachrichten über unser Erdbeben beunruhigt: hier ein Wort, das Ihnen wenigstens sagen soll, wie es bei mir steht. Die Stadt ist voll zerrütteter Nervensysteme, die Panik in den Hôtels kaum glaublich. Diese Nacht, gegen 2-3 Uhr, habe ich eine Rundtour gemacht und einige mir befreundete Personen besucht, die im Freien, auf Bänken oder in Droschken, der Gefahr vorzubeugen glaubten. Mir selbst geht es gut; noch keinen Augenblick Schrecken – und sogar sehr viel Ironie!«

Nizza verödete vollständig nach diesem Ereigniß, mein Bruder ließ sich aber nicht abhalten, seine bestimmte Zeit dort zu bleiben, auch nach der Wiederholung eines Erdstoßes. Er war so wenig von diesen äußern Verhältnissen berührt gewesen, daß er unter all den Aufregungen, die das Erdbeben in Nizza hervorrief, ungestört sein großes Hauptwerk im Geiste zusammenzufassen gesucht hatte und zwar unter dem nachfolgenden Plan:

» Der Wille zur Macht.

Versuch einer Umwerthung aller Werthe.

Erstes Buch.

Der europäische Nihilismus.

Zweites Buch.

Kritik der bisherigen höchsten Werthe.

Drittes Buch.

Princip einer neuen Werthsetzung.

Viertes Buch.

Zucht und Züchtung.

Entworfen den 17. März 1887, Nizza.«

Dieser Plan, der mit dem aus dem Sommer 1886 in seiner Gesammtanordnung fast identisch ist, wurde bis Ende Winter 1888 festgehalten. Im Nachbericht wird noch ausführlich von späteren Plänen und den einzelnen Phasen der Entstehung des »Willens zur Macht« die Rede sein.

Wir waren aber genöthigt, den Plan vom 17. März 1887 zur Grundlage dieser Ausgabe zu nehmen, da er der einzige ist, der eine ziemlich deutliche Anweisung zur Zusammenstellung des Werkes giebt. Außerdem bietet er, durch die großen allgemeinen Gesichtspunkte der Eintheilung, den weitesten Spielraum das reiche Material, das zu andern Plänen vorhanden ist, sinngemäß einzuordnen. Der Plan hat sich gerade bei der neuen hier vorliegenden Ausgabe besonders günstig erwiesen, sodaß viele Kapitel einen fortlaufenden Gedankengang zeigen. Doch giebt es natürlich auch jetzt noch Lücken, sodaß der intelligente Leser selbst mit bauen muß, um eine Gesammtübersicht zu gewinnen.

Das vorliegende Werk bietet in seiner jetzigen Gestalt einen nicht unwichtigen Vortheil: es gewährt in viel höherem Grade als die erste Ausgabe einen Einblick in des Autors Geisteswerkstatt. Wir sehen gleichsam die Gedanken vor unsern Augen entstehen und können zugleich beobachten, wie unbefangen mein Bruder seine eigenen Gedanken prüft und sich nie zu verhehlen sucht, welche schlimmen oder unbeweisbaren Seiten diese Probleme haben könnten. Die Ausführlichkeit, mit der sie hier und da behandelt werden, würde der Autor in dem vollendeten Werk vielleicht vermieden haben (obgleich dies nicht sicher ist), für uns ist sie aber ein großer Vorzug, weil wir dadurch seine Gedanken so viel besser verstehen lernen. Wie viele Mißverständnisse die Kürze der Darstellung seiner Gedanken hervorrufen kann, dafür ist die »Götzendämmerung« ein beweisendes Beispiel. Der Autor bezeichnet die »Götzendämmerung« direkt als einen Auszug des »Willens zur Macht«; – aber wie ist dieses kleine Buch gerade seiner Kürze wegen falsch aufgefaßt worden! Die Leser schienen zu glauben, daß diese grundlegenden neuen Gedanken nur so flüchtig hingeworfen wären; Niemand schien zu ahnen, auf welch umfassenden Studien sie beruhten. Davon giebt hoffentlich diese neue Ausgabe des »Willens zur Macht« eine bessere Vorstellung.

Die Anzahl der Aphorismen ist in der neuen Ausgabe um ungefähr 570 Nummern vermehrt. Es giebt dabei allerdings Wiederholungen, die aber immer »anders nuancirt und in anderem Zusammenhang« ungemein zur Verdeutlichung eines Gedankens beitragen; manches Impromptu und manche sozusagen versuchsweise Aufstellung von Fragen und Problemen wird sich der verständnißvolle Leser richtig zu deuten wissen und selbst eine Lösung zu geben versuchen. »Bewundern aber wird er vor Allem, wie Peter Gast sagt, die Unerschöpflichkeit des Nietzsche'schen Geistes in der Behandlung seiner Themen: wie er sie immer von Neuem umkreist, ihnen immer unerwartetere Seiten abgewinnt und sie in Worte zu fassen weiß, die ihr Innerstes aussprechen.«

Das Riesenwerk, wie es dem Autor vorgeschwebt hat, ist unvollendet geblieben. Uns Herausgebern des Nietzsche-Archivs war es mit unsern schwachen Kräften vorbehalten, die köstlichen Bausteine nach den Angaben des Autors, wie sie noch vorhanden sind, gewissenhaft zusammenzustellen. Es ist nicht sogleich bei der ersten Ausgabe in übersichtlicher Weise gelungen, und es war schwer, wenn man an die Absichten des Autors dachte, dieses Werk damals in dieser unvollkommenen Form in die Welt zu schicken. Vielleicht ist diese neue, so bereicherte Ausgabe etwas besser gerathen: aber man stelle sich vor, daß seine eigene Meisterhand diesen ungeheuren Stoff mit all der logischen Folgerichtigkeit wie z.B. in der »Genealogie der Moral« ausgearbeitet und mit dem Glanze seines unerreichbaren Stiles verklärt hätte – welches Werk stünde jetzt vor uns! Und was unsere Trauer noch erhöht, ist, daß wir durch seine persönlichen Aufzeichnungen wissen, wie er sich die Ausführung seines philosophisch-theoretischen Hauptwerkes gedacht hat:

» Zur Einleitung: Die düstere Einsamkeit und Öde der Campagna romana. Die Geduld im Ungewissen. »Mein Werk soll enthalten ein Gesammturtheil über unser Jahrhundert, über die ganze Modernität, über die erreichte ›Civilisation‹.

»Jedes Buch als eine Eroberung, Griff – tempo lento –, bis zum Ende dramatisch geschürzt, zuletzt Katastrophe und plötzliche Erlösung.«

Nicht ohne tiefe Bewegung kann man die nachfolgende ausführliche Niederschrift lesen, in welcher der Autor sich selbst eine Richtschnur aufstellt, nach welcher er dies Hauptwerk zu gestalten gedenkt. Er kleidet die Vorschriften zunächst in die Form eines allgemeinen Aphorismus und schreibt darüber: »Das vollkommene Buch.« Aber je weiter er in der Aufzeichnung dieser Vorschriften kommt, desto mehr sieht man: es ist sein eigenes Buch, das er meint, und zwar sein Hauptwerk, das in umfassendster Weise seine Philosophie darstellen soll. Er schreibt im Herbst 1887:

» Das vollkommene Buch. Zu erwägen:

1. Die Form, der Stil. – Ein idealer Monolog. Alles Gelehrtenhafte aufgesaugt in der Tiefe. – Alle Accente der tiefen Leidenschaft, Sorge, auch der Schwächen, Milderungen; Sonnenstellen, – das kurze Glück, die sublime Heiterkeit. – Überwindung der Demonstration; absolut persönlich. Kein ›ich‹... – Eine Art mémoires; die abstraktesten Dinge am leibhaftesten und blutigsten. – Die ganze Geschichte wie persönlich erlebt und erlitten (– so allein wird's wahr). – Gleichsam ein Geistergespräch; eine Vorforderung, Herausforderung, Todtenbeschwörung. – Möglichst viel Sichtbares, Bestimmtes, Beispielsweises, aber Vorsicht vor Gegenwärtigem. – Vermeiden der Worte »vornehm« und überhaupt aller Worte, worin eine Selbst-in-Scenesetzung liegen könnte. – Nicht ›Beschreibung‹; alle Probleme in's Gefühl übersetzt, bis zur Passion. –

2. Sammlung ausdrücklicher Worte. Vorzug für militärische Worte. Ersatzworte für die philosophischen Termini: womöglich deutsch und zur Formel ausgeprägt. – Sämmtliche Zustände der geistigsten Menschen darstellen; sodaß ihre Reihe im ganzen Werke umfaßt ist (– Zustände des Legislators, des Versuchers, des zur Opferung Gezwungenen, Zögernden –, der großen Verantwortlichkeit, des Leidens an der Unerkennbarkeit, des Leidens am Scheinen-müssen, des Leidens am Wehethun-müssen, der Wollust am Zerstören –).

3. Das Werk auf eine Katastrophe hin bauen. – – –«

Ich füge noch einige Erläuterungen zu den hauptsächlich in den beiden ersten Büchern des »Willens zur Macht« behandelten Themen: Nihilismus, und Moral hinzu. Man weiß, wie irrthümlich die Stellung des Autors gerade zu diesen Materien verstanden worden ist. Vielleicht waren es besonders die Worte »Nihilismus«, »Immoralismus«, »Unmoralität« (»nihilistisch«, »unmoralisch«), die so falsch aufgefaßt wurden. Ich betone deshalb nochmals, daß Nihilismus und nihilistisch nichts mit einer politischen Partei zu thun hat, sondern als jener Zustand bezeichnet ist, der den Werth und Sinn des Lebens, sowie alle Ideale ablehnt. Ebensowenig haben die Worte Immoralismus, Unmoralität und unmoralisch das Geringste mit geschlechtlicher Unmäßigkeit und Verirrung zu thun, wie es gemeine, grobe und dumme Menschen aufgefaßt haben, weil diese Worte im gewöhnlichen Leben wohl in dieser Hinsicht gebraucht werden. Mein Bruder verstand unter Moral »ein System von Werthschätzungen, welches sich mit unsern Lebensbedingungen berührt.« Gegen dieses System unserer gegenwärtigen Werthschätzungen, die sich physiologisch und biologisch nicht rechtfertigen lassen und deshalb dem Sinn des Lebens widersprechen, wendet er sich mit den Worten »Immoralismus« und »Unmoralität«. Vielleicht wäre es besser gewesen, daß er dafür das Wort »Amoralismus« und »amoralisch« gebildet und gebraucht hätte, weil sicherlich viel Mißverständnisse dadurch vermieden worden wären. Im Übrigen möchte ich noch betonen, daß sich eine Kritik unserer gegenwärtigen Moralwerthe nur ein so hochstehender Philosoph wie Nietzsche gestatten darf, der in seiner ganzen Lebensführung so deutlich bewiesen hat, daß er nicht nur diese Werthe in vollkommenster Weise erfüllt, sondern darüber erhaben ist, und sich deshalb das Ziel noch höher stecken und noch strengere Anforderungen an sich stellen darf. Solche Ziele und Probleme sind nur für die Wenigsten: jedenfalls gehören dazu, wie er selbst schreibt: »reine Hände und nicht Schlammfinger.« –

Vor Allem muß ich immer wieder darauf aufmerksam machen, daß seine Philosophie auf Rangordnung gerichtet ist, nicht auf eine individualistische Moral, »der Sinn der Heerde soll in der Heerde herrschen, aber nicht über sie hinausgreifen«. Er sagt aber nicht nur, daß wir für das, was die Moral seit Jahrtausenden geleistet hat, voller Dankbarkeit sein sollen, sondern er fordert auch eine unbedingte Heilighaltung der bisherigen Moral. Wer sich darüber erheben will, muß die furchtbare Verantwortung dafür tragen und seine Berechtigung dazu durch ungewöhnliche Leistungen beweisen. Peter Gast schreibt darüber: » Nietzsche lehrt nur für Ausnahme-Menschen – und für die Vorfahren künftiger Ausnahme-Menschen. Mit dem Volke hat er Nichts zu thun; für's Volk haben tausend »Denker« nachgerade genug gedacht – und für die Seltenen fast keiner. Indirekt freilich, durch solche Ausnahme-Menschen hindurch, wird auch der Geist Nietzsche's in die Massen dringen und einst die Luft von all dem Verwöhnenden, Herunterbringenden, Lasterhaften unsrer Cultur säubern: Nietzsche ist eine sittliche Macht ersten Ranges! sittlicher als Alles, was sich heute sittlich nennt!«

Vielleicht hat man auch an den Worten »Heerde«, »Heerdenthier« und »Heerdenmoral« Anstoß genommen, er selbst fand Veranlassung, sich deshalb zu entschuldigen: »Ich habe eine Entdeckung gemacht, aber sie ist nicht erquicklich: sie geht wider unsern Stolz. Wie frei wir nämlich uns auch schätzen mögen, wir freien Geister – denn hier reden wir »unter uns« – es giebt auch in uns ein Gefühl, welches immer noch beleidigt wird, wenn Einer den Menschen zu den Thieren rechnet: deshalb ist es beinahe eine Schuld und bedarf der Entschuldigung, daß ich beständig in Bezug auf uns von ›Heerde‹ und von ›Heerden-Instinkten‹ reden muß«. Allerdings hält er es nicht für nöthig, eine Erklärung dafür zu geben, warum er diese Termini gewählt hat und so reichlich gebraucht; ich glaube nur deshalb, weil er selbst (wenn er es auch schalkhaft behauptet) keinen Anstoß an diesen Worten genommen hat, da wir in einem religiösen Kreis aufgewachsen sind und dort »Heerde« und »Hirt« ohne jede herabwürdigende Nebenbedeutung gebraucht wird.

Auch sonst werden seine Worte, die oft eine ganz neue Bedeutung haben, vielfach mißverstanden, z. B. »Bosheit« und »böse«. Bei beiden Worten hat man früher etwas wie »tückisch« und »schlecht« empfunden, während er darunter etwas Hartes, Strenges, aber auch Übermüthiges – jedenfalls aber eine Gesinnung der Höhe begreift. Deshalb schreibt er an Brandes: »Viele Worte haben sich bei mir mit andern Salzen inkrustirt und schmecken mir anders auf der Zunge als meinen Lesern.«

Über die persönliche Stellung meines Bruders zum Christenthum werde ich in der Einleitung zum X. Band, der den »Antichrist« enthält, noch einiges Aufklärende hinzufügen.

Leider waren wir durch die Raumverhältnisse genöthigt, den »Willen zur Macht« zu theilen, noch dazu etwas ungünstig, indem die kleinere Hälfte des dritten Buches in den X. Band kommen mußte. Aber die Bände IX und X gehören mit ihrem Inhalt so innig zu einander und müssen durchaus zusammen gelesen werden, sodaß es schließlich gleich ist, wo die Theilung stattfindet.

Weimar, August 1906.

Elisabeth Förster-Nietzsche.

Vorrede.

Große Dinge verlangen, daß man von ihnen schweigt oder groß redet: groß, das heißt cynisch und mit Unschuld.

2.

Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Nothwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische Cultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der an's Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.

3.

– Der hier das Wort nimmt, hat umgekehrt Nichts bisher gethan als sich zu besinnen: als ein Philosoph und Einsiedler aus Instinkt, der seinen Vortheil im Abseits, im Außerhalb, in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit fand; als ein Wage- und Versucher-Geist, der sich schon in jedes Labyrinth der Zukunft einmal verirrt hat; als ein Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europa's, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat.

4.

Denn man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels, mit dem dies Zukunfts-Evangelium benannt sein will. »Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe« – mit dieser Formel ist eine Gegenbewegung zum Ausdruck gebracht, in Absicht auf Princip und Aufgabe; eine Bewegung, welche in irgend einer Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird; welche ihn aber voraussetzt, logisch und psychologisch; welche schlechterdings nur auf ihn und aus ihm kommen kann. Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr notwendig? Weil unsre bisherigen Werthe selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehn; weil der Nihilismus die zu Ende gedachte Logik unsrer großen Werthe und Ideale ist, – weil wir den Nihilismus erst erleben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Werth dieser »Werthe« war... Wir haben, irgendwann, neue Werthe nöthig...

Erstes Buch.

Der europäische Nihilismus.

Zum Plan.

1. Der Nihilismus steht vor der Thür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste? – Ausgangspunkt: es ist ein Irrthum, auf »sociale Nothstände« oder »physiologische Entartungen« oder gar auf Corruption hinzuweisen als Ursache des Nihilismus. Es ist die honnetteste, mitfühlendste Zeit. Noth, seelische, leibliche, intellektuelle Noth ist an sich durchaus nicht vermögend, Nihilismus (d. h. die radikale Ablehnung von Werth, Sinn, Wünschbarkeit) hervorzubringen. Diese Nöthe erlauben immer noch ganz verschiedene Ausdeutungen. Sondern: in einer ganz bestimmten Ausdeutung, in der christlich-moralischen, steckt der Nihilismus.

2. Der Untergang des Christenthums – an seiner Moral (die unablösbar ist –), welche sich gegen den christlichen Gott wendet (der Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das Christenthum hoch entwickelt, bekommt Ekel vor der Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Geschichtsdeutung. Rückschlag von »Gott ist die Wahrheit« in den fanatischen Glauben »Alles ist falsch«. Buddhismus der That...)

3. Skepsis an der Moral ist das Entscheidende, Der Untergang der moralischen Weltauslegung, die keine Sanktion mehr hat, nachdem sie versucht hat, sich in eine Jenseitigkeit zu flüchten: endet in Nihilismus. »Alles hat keinen Sinn« (die Undurchführbarkeit einer Weltauslegung, der ungeheure Kraft gewidmet worden ist – erweckt das Mißtrauen, ob nicht alle Weltauslegungen falsch sind – ). Buddhistischer Zug, Sehnsucht in's Nichts. (Der indische Buddhismus hat nicht eine grundmoralische Entwicklung hinter sich, deshalb ist bei ihm im Nihilismus nur unüberwundene Moral: Dasein als Strafe, Dasein als Irrthum combinirt, der Irrthum also als Strafe – eine moralische Wertschätzung). Die philosophischen Versuche, den »moralischen Gott« zu überwinden (Hegel, Pantheismus). Überwindung der volksthümlichen Ideale: der Weise; der Heilige; der Dichter. Antagonismus von »wahr« und »schön« und »gut« –

4. Gegen die »Sinnlosigkeit« einerseits, gegen die moralischen Werthurtheile andrerseits: inwiefern alle Wissenschaft und Philosophie bisher unter moralischen Urtheilen stand? und ob man nicht die Feindschaft der Wissenschaft mit in den Kauf bekommt? Oder die Antiwissenschaftlichkeit? Kritik des Spinozismus. Die christlichen Werthurtheile überall in den socialistischen und positivistischen Systemen rückständig. Es fehlt eine Kritik der christlichen Moral.

5. Die nihilistischen Consequenzen der jetzigen Naturwissenschaft (nebst ihren Versuchen in's Jenseitige zu entschlüpfen). Aus ihrem Betriebe folgt endlich eine Selbstzersetzung, eine Wendung gegen sich, eine Antiwissenschaftlichkeit. Seit Copernikus rollt der Mensch aus dem Centrum in's x.

6. Die nihilistischen Konsequenzen der politischen und volkswirthschaftlichen Denkweise, wo alle »Principien « nachgerade zur Schauspielerei gehören: der Hauch von Mittelmäßigkeit, Erbärmlichkeit, Unaufrichtigkeit u.s.w. Der Nationalismus. Der Anarchismus u. s. w. Strafe. Es fehlt der erlösende Stand und Mensch, die Rechtfertiger –

7. Die nihilistischen Consequenzen der Historie und der » praktischen Historiker«, d. h. der Romantiker. Die Stellung der Kunst: absolute Unoriginalität ihrer Stellung in der modernen Welt. Ihre Verdüsterung. Goethe's angebliches Olympierthum.

8. Die Kunst und die Vorbereitung des Nihilismus: Romantik (Wagner's Nibelungen-Schluß).

I. Nihilismus.

1. Nihilismus als Consequenz der bisherigen Werth-Interpretation des Daseins.

2.

Was bedeutet Nihilismus? – Daß die obersten Werthe sich entwerthen. Es fehlt das Ziel. Es fehlt die Antwort auf das »Wozu?«

3.

Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werthe, die man anerkennt, handelt; hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen, das »göttlich«, das leibhafte Moral wäre.

Diese Einsicht ist eine Folge der großgezogenen »Wahrhaftigkeit«: somit selbst eine Folge des Glaubens an die Moral.

4.

Welche Vortheile bot die christliche Moral-Hypothese?

1) sie verlieh dem Menschen einen absoluten Werth, im Gegensatz zu seiner Kleinheit und Zufälligkeit im Strom des Werdens und Vergehens;

2) sie diente den Advokaten Gottes, insofern sie der Welt trotz Leid und Übel den Charakter der Vollkommenheit ließ, – eingerechnet jene »Freiheit« –: das Übel erschien voller Sinn;

3) sie setzte ein Wissen um absolute Werthe beim Menschen an und gab ihm somit gerade für das Wichtigste adäquate Erkenntniß;

4) sie verhütete, daß der Mensch sich als Mensch verachtete, daß er gegen das Leben Partei nahm, daß er am Erkennen verzweifelte: sie war ein Erhaltungsmittel.

In summa: Moral war das große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilismus.

5.

Aber unter den Kräften, die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit: diese wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Teleologie, ihre interessirte Betrachtung – und jetzt wirkt die Einsicht in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzuthun, gerade als Stimulans. Wir constatiren jetzt Bedürfnisse an uns, gepflanzt durch die lange Moral-Interpretation, welche uns jetzt als Bedürfnisse zum Unwahren erscheinen: andererseits sind es die, an denen der Werth zu hängen scheint, derentwegen wir zu leben aushalten. Dieser Antagonismus – Das, was wir erkennen, nicht zu schätzen und Das, was wir uns vorlügen möchten, nicht mehr schätzen zu dürfen – ergiebt einen Auflösungsproceß.

6.

Dies ist die Antinomie:

Sofern wir an die Moral glauben, verurtheilen wir das Dasein.

7.

Die obersten Werthe, in deren Dienst der Mensch leben sollte, namentlich wenn sie sehr schwer und kostspielig über ihn verfügten, – diese socialen Werthe hat man zum Zweck ihrer Ton-Verstärkung, wie als ob sie Commando's Gottes wären, als »Realität«, als »wahre« Welt, als Hoffnung und zukünftige Welt über dem Menschen aufgebaut. Jetzt, wo die mesquine Herkunft dieser Werthe klar wird, scheint uns das All damit entwerthet, »sinnlos« geworden, – aber das ist nur ein Zwischenzustand.

8.

Die nihilistische Consequenz (der Glaube an die Werthlosigkeit) als Folge der moralischen Wertschätzung: – das Egoistische ist uns verleidet (selbst nach der Einsicht in die Unmöglichkeit des Unegoistischen); – das Nothwendige ist uns verleidet (selbst nach Einsicht in die Unmöglichkeit eines liberum arbitrium und einer »intelligiblen Freiheit«). Wir sehen, daß wir die Sphäre, wohin wir unsere Werthe gelegt haben, nicht erreichen – damit hat die andere Sphäre, in der wir leben, noch keineswegs an Werth gewonnen: im Gegentheil, wir sind müde, weil wir den Hauptantrieb verloren haben. »Umsonst bisher!«

9.

Der Pessimismus als Vorform des Nihilismus.

10.

A. Der Pessimismus als Stärke – worin? in der Energie seiner Logik, als Anarchismus und Nihilismus, als Analytik.

B. Der Pessimismus als Niedergang – worin? als Verzärtlichung, als kosmopolitische Anfühlerei, als »tout comprendre« und Historismus.

– Die kritische Spannung: die Extreme kommen zum Vorschein und Übergewicht.

11.

Die Logik des Pessimismus bis zum letzten Nihilismus: was treibt da? – Begriff der Werthlosigkeit, Sinnlosigkeit: inwiefern moralische Werthungen hinter allen sonstigen hohen Werthen stecken.

– Resultat: die moralischen Werthurtheile sind Verurtheilungen, Verneinungen; Moral ist die Abkehr vom Willen zum Dasein...

12.

Hinfall der kosmologischen Werthe.

A.

Der Nihilismus als psychologischer Zustand wird eintreten müssen, erstens, wenn wir einen »Sinn« in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist: sodaß der Sucher endlich den Muth verliert. Nihilismus ist dann das Bewußtwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des »Umsonst«, die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber noch zu beruhigen – die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen... Jener Sinn könnte gewesen sein: die »Erfüllung« eines sittlichen höchsten Kanons in allem Geschehen, die sittliche Weltordnung; oder die Zunahme der Liebe und Harmonie im Verkehr der Wesen; oder die Annäherung an einen allgemeinen Glücks-Zustand; oder selbst das Losgehen auf einen allgemeinen Nichts-Zustand – ein Ziel ist immer noch ein Sinn. Das Gemeinsame aller dieser Vorstellungsarten ist, daß ein Etwas durch den Proceß selbst erreicht werden soll: – und nun begreift man, daß mit dem Werden Nichts erzielt, Nichts erreicht wird... Also die Enttäuschung über einen angeblichen Zweck des Werdens als Ursache des Nihilismus: sei es in Hinsicht auf einen ganz bestimmten Zweck, sei es, verallgemeinert, die Einsicht in das Unzureichende aller bisherigen Zweck-Hypothesen, die die ganze »Entwicklung« betreffen (– der Mensch nicht mehr Mitarbeiter, geschweige der Mittelpunkt des Werdens).

Der Nihilismus als psychologischer Zustand tritt zweitens ein, wenn man eine Ganzheit, eine Systematisirung, selbst eine Organisirung in allem Geschehen und unter allem Geschehen angesetzt hat: sodaß in der Gesammtvorstellung einer höchsten Herrschafts- und Verwaltungsform die nach Bewunderung und Verehrung durstige Seele schwelgt (– ist es die Seele eines Logikers, so genügt schon die absolute Folgerichtigkeit und Realdialektik, um mit Allem zu versöhnen...). Eine Art Einheit, irgend eine Form des »Monismus«: und in Folge dieses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhängigkeitsgefühl von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit... »Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des Einzelnen«... aber siehe da, es giebt kein solches Allgemeines! Im Grunde hat der Mensch den Glauben an seinen Werth verloren, wenn durch ihn nicht ein unendlich werthvolles Ganzes wirkt: d. h. er hat ein solches Ganzes concipirt, um an seinen Werth glauben zu können.

Der Nihilismus als psychologischer Zustand hat noch eine dritte und letzte Form. Diese zwei Einsichten gegeben, daß mit dem Werden Nichts erzielt werden soll und daß unter allem Werden keine große Einheit waltet, in der der Einzelne völlig untertauchen darf wie in einem Element höchsten Werthes: so bleibt als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung zu verurtheilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als wahre Welt. Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht hat, so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische Welt in sich schließt, – welche sich den Glauben an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem Standpunkt giebt man die Realität des Werdens als einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichweg zu Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten – aber erträgt diese Welt nicht, die man schon nicht leugnen will ...

– Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Werthlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff »Zweck«, noch mit dem Begriff »Einheit«, noch mit dem Begriff »Wahrheit« der Gesammtcharakter des Daseins interpretirt werben darf. Es wird Nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht »wahr«, ist falsch ..., man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden ... Kurz: die Kategorien »Zweck«, »Einheit«, »Sein«, mit denen wir der Welt einen Werth eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen – und nun sieht die Welt werthlos aus ...

B.

Gesetzt, wir haben erkannt, inwiefern mit diesen drei Kategorien die Welt nicht mehr ausgelegt werden darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns werthlos zu werden anfängt: so müssen wir fragen, woher unser Glaube an diese drei Kategorien stammt, – versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen den Glauben zu kündigen! Haben wir diese drei Kategorien entwerthet, so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, das All zu entwerthen.

– Resultat: Der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus, – wir haben den Werth der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingirte Welt beziehen.

– Schluß-Resultat: Alle Werthe, mit denen wir bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu machen gesucht haben und endlich ebendamit entwerthet haben, als sie sich als unanlegbar erwiesen – alle diese Werthe sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projicirt in das Wesen der Dinge. Es ist immer noch die hyperbolische Naivetät des Menschen: sich selbst als Sinn und Werthmaaß der Dinge anzusetzen.

13.

Der Nihilismus stellt einen pathologischen Zwischenzustand dar (– pathologisch ist die ungeheure Verallgemeinerung, der Schluß auf gar keinen Sinn –): sei es, daß die produktiven Kräfte noch nicht stark genug sind, – sei es, daß die décadence noch zögert und ihre Hülfsmittel noch nicht erfunden hat.

Voraussetzung dieser Hypothese: – Daß es keine Wahrheit giebt; daß es keine absolute Beschaffenheit der Dinge, kein »Ding an sich« giebt. – Dies ist selbst nur Nihilismus, und zwar der extremste. Er legt den Werth der Dinge gerade dahinein, daß diesen Werthen keine Realität entspricht und entsprach, sondern daß sie nur ein Symptom von Kraft auf Seiten der Werth-Ansetzer sind, eine Simplifikation zum Zweck des Lebens.

14.

Die Werthe und deren Veränderung stehen im Verhältniß zu dem Macht-Wachsthum des Werthsetzenden.

Das Maaß von Unglauben, von zugelassener »Freiheit des Geistes« als Ausdruck des Machtwachsthums.

»Nihilismus« als Ideal der höchsten Mächtigkeit des Geistes, des überreichsten Lebens, theils zerstörerisch, theils ironisch.

15.

Was ist ein Glaube? Wie entsteht er? Jeder Glaube ist ein Für-wahr-halten.

Die extremste Form des Nihilismus wäre die Einsicht: daß jeder Glaube, jedes Für-wahr-halten nothwendig falsch ist: weil es eine wahre Welt gar nicht giebt. Also: ein perspektivischer Schein, dessen Herkunft in uns liegt (insofern wir eine engere, verkürzte, vereinfachte Welt fortwährend nöthig haben).

– Daß es das Maaß der Kraft ist, wie sehr wir uns die Scheinbarkeit, die Nothwendigkeit der Lüge eingestehen können, ohne zu Grunde zu gehn.

Insofern könnte Nihilismus, als Leugnung einer wahrhaften Welt, eines Seins, eine göttliche Denkweise sein.

16.

Wenn wir »Enttäuschte« sind, so sind wir es nicht in Hinsicht auf das Leben: sondern, daß uns über die »Wünschbarkeiten« aller Art die Augen aufgegangen sind. Wir sehen mit einem spöttischen Ingrimm Dem zu, was »Ideal« heißt: wir verachten uns nur darum, nicht zu jeder Stunde jene absurde Regung niederhalten zu können, welche »Idealismus« heißt. Die Verwöhnung ist stärker, als der Ingrimm des Enttäuschten.

17.

Inwiefern der Schopenhauer'sche Nihilismus immer noch die Folge des gleichen Ideals ist, welches den christlichen Theismus geschaffen hat. – Der Grad von Sicherheit in Betreff der höchsten Wünschbarkeit, der höchsten Werthe, der höchsten Vollkommenheit war so groß, daß die Philosophen davon wie von einer absoluten Gewißheit a priori ausgiengen: »Gott« an der Spitze als gegebene Wahrheit. »Gott gleich zu werden«, »in Gott aufzugehn« – das waren Jahrtausende lang die naivsten und überzeugendsten Wünschbarkeiten (– aber eine Sache, die überzeugt, ist deshalb noch nicht wahr: sie ist bloß überzeugend. Anmerkung für Esel).

Man hat verlernt, jener Ansetzung von Idealen auch die Personen-Realität zuzugestehen; man ward atheistisch. Aber hat man eigentlich auf das Ideal verzichtet? – Die letzten Metaphysiker suchen im Grunde immer noch in ihm die wirkliche »Realität«, das »Ding an sich«, im Verhältniß zu dem alles Andere nur scheinbar ist. Ihr Dogma ist, daß, weil unsre Erscheinungswelt so ersichtlich nicht der Ausdruck jenes Ideals ist, sie eben nicht »wahr« ist – und im Grunde nicht einmal auf jene metaphysische Welt als Ursache zurückführt. Das Unbedingte, sofern es jene höchste Vollkommenheit ist, kann unmöglich den Grund für alles Bedingte abgeben. Schopenhauer, der es anders wollte, hatte nöthig, jenen metaphysischen Grund sich als Gegensatz zum Ideale zu denken, als »bösen, blinden Willen«: dergestalt konnte er dann »das Erscheinende« sein, das in der Welt der Erscheinung sich offenbart. Aber selbst damit gab er nicht jenes Absolutum von Ideal auf, – er schlich sich durch ...

(Kant schien die Hypothese der »intelligiblen Freiheit« nöthig, um das ens perfectum von der Verantwortlichkeit für das So-und-So-sein dieser Welt zu entlasten, kurz um das Böse und das Übel zu erklären: eine skandalöse Logik bei einem Philosophen ...)

18.

Das allgemeinste Zeichen der modernen Zeit: der Mensch hat in seinen eigenen Augen unglaublich an Würde eingebüßt. Lange als Mittelpunkt und Tragödien-Held des Daseins überhaupt; dann wenigstens bemüht, sich als verwandt mit der entscheidenden und an sich werthvollen Seite des Daseins zu beweisen – wie es alle Metaphysiker thun, die die Würde des Menschen festhalten wollen, mit ihrem Glauben, daß die moralischen Werthe cardinale Werthe sind. Wer Gott fahren ließ, hält umso strenger am Glauben an die Moral fest.

19.

Jede rein moralische Werthsetzung (wie z.B. die buddhistische) endet mit Nihilismus: dies für Europa zu erwarten! Man glaubt mit einem Moralismus ohne religiösen Hintergrund auszukommen: aber damit ist der Weg zum Nihilismus nothwendig. – In der Religion fehlt der Zwang, uns als werthsetzend zu betrachten.

20.

Die Frage des Nihilismus » wozu?« geht von der bisherigen Gewöhnung aus, vermöge deren das Ziel von Außen her gestellt, gegeben, gefordert schien – nämlich durch irgend eine übermenschliche Autorität. Nachdem man verlernt hat, an diese zu glauben, sucht man doch nach alter Gewöhnung nach einer anderen Autorität, welche unbedingt zu reden wüßte und Ziele und Aufgaben befehlen könnte. Die Autorität des Gewissens tritt jetzt in erste Linie (je mehr emancipirt von der Theologie, umso imperativischer wird die Moral) als Schadenersatz für eine persönliche Autorität. Oder die Autorität der Vernunft. Oder der sociale Instinkt (die Heerde). Oder die Historie mit einem immanenten Geist, welche ihr Ziel in sich hat und der man sich überlassen kann. Man möchte herumkommen um den Willen, um das Wollen eines Zieles, um das Risiko, sich selbst ein Ziel zu geben; man möchte die Verantwortung abwälzen (– man würde den Fatalismus acceptiren), Endlich: Glück, und, mit einiger Tartüfferie, das Glück der Meisten.

Man sagt sich

1 ein bestimmtes Ziel ist gar nicht nöthig,

2 ist gar nicht möglich vorherzusehn.

Gerade jetzt, wo der Wille in der höchsten Kraft nöthig wäre, ist er am schwächsten und kleinmüthigsten. Absolutes Mißtrauen gegen die organisatorische Kraft des Willens für's Ganze.

21.

Der vollkommene Nihilist. – Das Auge des Nihilisten idealisirt in's Häßliche, übt Untreue gegen seine Erinnerungen –: es läßt sie fallen, sich entblättern; es schützt sie nicht gegen leichenblasse Verfärbungen, wie sie die Schwäche über Fernes und Vergangenes gießt. Und was er gegen sich nicht übt, das übt er auch gegen die ganze Vergangenheit der Menschen nicht, – er läßt sie fallen.

22.

Nihilismus. Er ist zweideutig:

A. Nihilismus als Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes: der aktive Nihilismus.

B. Nihilismus als Niedergang und Rückgang der Macht des Geistes: der passive Nihilismus.

23.

Der Nihilismus ein normaler Zustand.

Er kann ein Zeichen von Stärke sein, die Kraft des Geistes kann so angewachsen sein, daß ihr die bisherigen Ziele (»Überzeugungen«, Glaubensartikel) unangemessen sind (–: ein Glaube nämlich drückt im Allgemeinen den Zwang von Existenzbedingungen aus, eine Unterwerfung unter die Autorität von Verhältnissen, unter denen ein Wesen gedeiht, wächst, Macht gewinnt...); andererseits ein Zeichen von nicht genügender Stärke, um produktiv sich nun auch wieder ein Ziel, ein Warum, einen Glauben zu setzen.

Sein Maximum von relativer Kraft erreicht er als gewaltthätige Kraft der Zerstörung: als aktiver Nihilismus.

Sein Gegensatz wäre der müde Nihilismus, der nicht mehr angreift: seine berühmteste Form der Buddhismus: als passivischer Nihilismus, als ein Zeichen von Schwäche: die Kraft des Geistes kann ermüdet, erschöpft sein, sodaß die bisherigen Ziele und Werthe unangemessen sind und keinen Glauben mehr finden –, daß die Synthesis der Werthe und Ziele (auf der jede starke Cultur beruht) sich löst, sodaß die einzelnen Werthe sich Krieg machen: Zersetzung –, daß Alles, was erquickt, heilt, beruhigt, betäubt, in den Vordergrund tritt, unter verschiedenen Verkleidungen, religiös, oder moralisch, oder politisch, oder ästhetisch u.s.w.

24.

Der Nihilismus ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über das »Umsonst!«, und nicht nur der Glaube, daß Alles werth ist zu Grunde zu gehen: man legt Hand an, man richtet zu Grunde ... Das ist, wenn man will, unlogisch: aber der Nihilist glaubt nicht an die Nöthigung, logisch zu sein ... Es ist der Zustand starker Geister und Willen: und solchen ist es nicht möglich, bei dem Nein »des Urtheils« stehen zu bleiben: – das Nein der That kommt aus ihrer Natur. Der Ver- Nichtsung durch das Urtheil secundirt die Ver-Nichtsung durch die Hand.

25.

Zur Genesis des Nihilisten. – Man hat nur spät den Muth zu Dem, was man eigentlich weiß. Daß ich von Grund aus bisher Nihilist gewesen bin, das habe ich mir erst seit Kurzem eingestanden: die Energie, der Radikalismus, mit dem ich als Nihilist vorwärts gieng, täuschte mich über diese Grundthatsache. Wenn man einem Ziele entgegengeht, so scheint es unmöglich, daß »die Ziellosigkeit an sich« unser Glaubensgrundsatz ist.

26.

Der Pessimismus der Thatkräftigen: das » Wozu?« nach einem furchtbaren Ringen, selbst Siegen. Daß irgend Etwas hundertmal wichtiger ist, als die Frage, ob wir uns wohl oder schlecht befinden: Grundinstinkt aller starken Naturen, – und folglich auch, ob sich die Anderen gut oder schlecht befinden. Kurz, daß wir ein Ziel haben, um dessentwillen man nicht zögert, Menschenopfer zu bringen, jede Gefahr zu laufen, jedes Schlimme und Schlimmste auf sich zu nehmen: die große Leidenschaft.

2. Fernere Ursachen des Nihilismus.

27.

Ursachen des Nihilismus: 1) es fehlt die höhere Species, d. h. die, deren unerschöpfliche Fruchtbarkeit und Macht den Glauben an den Menschen aufrecht erhält. (Man denke, was man Napoleon verdankt: fast alle höheren Hoffnungen dieses Jahrhunderts.)

2) die niedere Species (»Heerde«, »Masse«, »Gesellschaft«) verlernt die Bescheidenheit und bauscht ihre Bedürfnisse zu kosmischen und metaphysischen Werthen auf. Dadurch wird das ganze Dasein vulgarisirt: insofern nämlich die Masse herrscht, tyrannisirt sie die Ausnahmen, sodaß diese den Glauben an sich verlieren und Nihilisten werden.

Alle Versuche, höhere Typen auszudenken, manquirt (»Romantik«; der Künstler, der Philosoph; gegen Carlyle's Versuch, ihnen die höchsten Moralwerthe zuzulegen).

Widerstand gegen höhere Typen als Resultat.

Niedergang und Unsicherheit aller höheren Typen. Der Kampf gegen das Genie (»Volkspoesie« u. s. w.). Mitleid mit den Niederen und Leidenden als Maaßstab für die Höhe der Seele.

Es fehlt der Philosoph, der Ausdeuter der That, nicht nur der Umdichter.

28.

Der unvollständige Nihilismus, seine Formen: wir leben mitten drin.

Die Versuche, dem Nihilismus zu entgehn, ohne die bisherigen Werthe umzuwerthen: bringen das Gegentheil hervor, verschärfen das Problem.

29.

Die Arten der Selbstbetäubung. – Im Innersten: nicht wissen, wohinaus? Leere, Versuch, mit Rausch darüber hinwegzukommen: Rausch als Musik, Rausch als Grausamkeit im tragischen Genuß des Zugrundegehens des Edelsten, Rausch als blinde Schwärmerei für einzelne Menschen oder Zeiten (als Haß u.s.w.). – Versuch, besinnungslos zu arbeiten, als Werkzeug der Wissenschaft: das Auge offen machen für die vielen kleinen Genüsse, z.B. auch als Erkennender (Bescheidenheit gegen sich); die Bescheidung über sich zu generalisiren, zu einem Pathos; die Mystik, der wollüstige Genuß der ewigen Leere; die Kunst »um ihrer selber willen« (» le fait«), das »reine Erkennen« als Narkosen des Ekels an sich selber; irgend welche beständige Arbeit, irgend ein kleiner dummer Fanatismus; das Durcheinander aller Mittel, Krankheit durch allgemeine Unmäßigkeit (die Ausschweifung tödtet das Vergnügen).

1) Willensschwäche als Resultat.

2) Extremer Stolz und die Demüthigung kleinlicher Schwäche im Contrast gefühlt.

30.

Die Zeit kommt, wo wir dafür bezahlen müssen, zwei Jahrtausende lang Christen gewesen zu sein: wir verlieren das Schwergewicht, das uns leben ließ, – wir wissen eine Zeit lang nicht, wo aus, noch ein. Wir stürzen jählings in die entgegengesetzten Werthungen, mit dem Maaße von Energie, das eben eine solche extreme Überwerthung des Menschen im Menschen erzeugt hat.

Jetzt ist Alles durch und durch falsch, »Wort«, durcheinander, schwach oder überspannt:

a) man versucht eine Art von irdischer Lösung, aber im gleichen Sinne, in dem des schließlichen Triumphs von Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit (der Socialismus: »Gleichheit der Person«);

b) man versucht ebenfalls das Moral-Ideal festzuhalten (mit dem Vorrang des Unegoistischen, der Selbst-Verleugnung, der Willens-Verneinung);

c) man versucht selbst das »Jenseits« festzuhalten: sei es auch nur als antilogisches x: aber man deutet es sofort so aus, daß eine Art metaphysischer Trost alten Stils aus ihm gezogen werden kann;

d) man versucht die göttliche Leitung alten Stils, die belohnende, bestrafende, erziehende, zum Besseren führende Ordnung der Dinge aus dem Geschehen herauszulesen;

e) man glaubt nach wie vor an Gut und Böse: sodaß man den Sieg des Guten und die Vernichtung des Bösen als Aufgabe empfindet (– das ist englisch: typischer Fall der Flachkopf John Stuart Mill);

f) die Verachtung der »Natürlichkeit«, der Begierde, des ego: Versuch, selbst die höchste Geistigkeit und Kunst als Folge einer Entpersönlichung und als désintéressement zu verstehn;

g) man erlaubt der Kirche, sich immer noch in alle wesentlichen Erlebnisse und Hauptpunkte des Einzellebens einzudrängen, um ihnen Weihe, höheren Sinn zu geben: wir haben noch immer den »christlichen Staat«, die »christliche Ehe« –

31.

Es gab denkendere und zerdachtere Zeiten, als die unsere ist: Zeiten, wie z.B. jene, in der Buddha auftrat, wo das Volk selbst, nach Jahrhunderte alten Sekten-Streitigkeiten, sich endlich so tief in die Klüfte der philosophischen Lehrmeinungen verirrt fand, wie zeitweilig europäische Völker in Feinheiten des religiösen Dogma's. Man wird sich am wenigsten wohl durch die »Litteratur« und die Presse dazu verführen lassen, vom »Geiste« unsrer Zeit groß zu denken: die Millionen Spiritisten und ein Christenthum mit Turnübungen von jener schauerlichen Häßlichkeit, die alle englischen Erfindungen kennzeichnet, giebt bessere Gesichtspunkte.

Der europäische Pessimismus ist noch in seinen Anfängen – ein Zeugniß gegen sich selber –: er hat noch nicht jene ungeheure, sehnsüchtige Starrheit des Blicks, in welchem das Nichts sich spiegelt, wie er sie einmal in Indien hatte; es ist noch zu viel »Gemachtes« und nicht »Gewordenes« daran, zu viel Gelehrten- und Dichter-Pessimismus: ich meine, ein gutes Theil darin ist hinzu erdacht und hinzu erfunden, ist »geschaffen«, aber nicht » Ursache«.

32.

Kritik des bisherigen Pessimismus. – Abwehr der eudämonologischen Gesichtspunkte als letzte Reduktion auf die Frage: welchen Sinn hat es? Reduktion der Verdüsterung. –

Unser Pessimismus: die Welt ist nicht Das werth, was wir glaubten, – unser Glaube selber hat unsre Triebe nach Erkenntniß so gesteigert, daß wir dies heute sagen müssen. Zunächst gilt sie damit als weniger werth: sie wird so zunächst empfunden, – nur in diesem Sinne sind wir Pessimisten, nämlich mit dem Willen, uns rückhaltlos diese Umwerthung einzugestehen und uns nichts nach alter Weise vorzuleiern, vorzulügen.

Gerade damit finden wir das Pathos, welches uns treibt, neue Werthe zu suchen. In summa,: die Welt könnte viel mehr werth sein, als wir glaubten, – wir müssen hinter die Naivetät unsrer Ideale kommen, und daß wir vielleicht im Bewußtsein, ihr die höchste Interpretation zu geben, unserm menschlichen Dasein nicht einmal einen mäßig-billigen Werth gegeben haben.

Was ist vergöttert worden? – Die Werthinstinkte innerhalb der Gemeinde (Das, was deren Fortdauer ermöglichte).

Was ist verleumdet worden? – Das, was die höheren Menschen abtrennte von den niederen, die Klüfte-schaffenden Triebe.

33.

Ursachen für die Heraufkunft des Pessimismus:

1 daß die mächtigsten und zukunftsvollsten Triebe des Lebens bisher verleumdet sind, sodaß das Leben einen Fluch über sich hat;

2 daß die wachsende Tapferkeit und das kühnere Mißtrauen des Menschen die Unablösbarkeit dieser Instinkte vom Leben begreift und dem Leben sich entgegenwendet:

3 daß nur die Mittelmäßigsten, die jenen Konflikt gar nicht fühlen, gedeihen, die höhere Art mißräth und als Gebilde der Entartung gegen sich einnimmt, – daß, andererseits, das Mittelmäßige, sich als Ziel und Sinn gebend, indignirt (– daß Niemand ein Wozu? mehr beantworten kann –);

4 daß die Verkleinerung, die Schmerzfähigkeit, die Unruhe, die Hast, das Gewimmel beständig zunimmt, – daß die Vergegenwärtigung dieses ganzen Treibens, der sogenannten »Civilisation«, immer leichter wird, daß der Einzelne angesichts dieser ungeheuren Maschinerie verzagt und sich unterwirft.

34.

Der moderne Pessimismus ist ein Ausdruck von der Nutzlosigkeit der modernen Welt, – nicht der Welt und des Daseins.

35.

Das »Übergewicht von Leid über Lust« oder das Umgekehrte (der Hedonismus): diese beiden Lehren sind selbst schon Wegweiser zum Nihilismus ...

Denn hier wird in beiden Fällen kein anderer letzter Sinn gesetzt, als die Lust- oder Unlust-Erscheinung.

Aber so redet eine Art Mensch, die es nicht mehr wagt, einen Willen, eine Absicht, einen Sinn zu setzen: – für jede gesündere Art Mensch mißt sich der Werth des Lebens schlechterdings nicht am Maaße dieser Nebensachen. Und ein Übergewicht von Leid wäre möglich und trotzdem ein mächtiger Wille, ein Ja-sagen zum Leben, ein Nöthig-Haben dieses Übergewichts. »Das Leben lohnt sich nicht«; »Resignation«; »warum sind die Thränen?« – eine schwächliche und sentimentale Denkweise. » Un monstre gai vaut mieux qu'un sentimental ennuyeux.«

36.

Der philosophische Nihilist ist der Überzeugung, daß alles Geschehen sinnlos und umsonstig ist; und es sollte kein sinnloses und umsonstiges Sein geben. Aber woher dieses: Es sollte nicht? Wer woher nimmt man diesen »Sinn«, dieses Maaß? – Der Nihilist meint im Grunde, der Hinblick auf ein solches ödes, nutzloses Sein wirke auf einen Philosophen unbefriedigend, öde, verzweifelt. Eine solche Einsicht widerspricht unserer feineren Sensibilität als Philosophen. ES läuft auf die absurde Werthung hinaus: der Charakter des Daseins müßte dem Philosophen Vergnügen machen, wenn anders es zu Recht bestehen soll ...

Nun ist leicht zu begreifen, daß Vergnügen und Unlust innerhalb des Geschehens nur den Sinn von Mitteln haben können: es bliebe übrig zu fragen, ob wir den »Sinn«, »Zweck« überhaupt sehen könnten, ob nicht die Frage der Sinnlosigkeit oder ihres Gegentheils für uns unlösbar ist. –

37.

Entwicklung des Pessimismus zum Nihilismus. – Entnatürlichung der Werthe. Scholastik der Werthe. Die Werthe, losgelöst, idealistisch, statt das Thun zu beherrschen und zu führen, wenden sich verurtheilend gegen das Thun.

Gegensätze eingelegt an Stelle der natürlichen Grade und Ränge. Haß auf die Rangordnung. Die Gegensätze sind einem pöbelhaften Zeitalter gemäß, weil leichter faßlich.

Die verworfene Welt, angesichts einer künstlich erbauten »wahren, werthvollen«. – Endlich: man entdeckt, aus welchem Material man die »wahre Welt« gebaut hat: und nun hat man nur die verworfene übrig und rechnet jene höchste Enttäuschung mit ein auf das Conto ihrer Verwerflichkeit.

Damit ist der Nihilismus da: man hat die richtenden Werthe übrig behalten – und nichts weiter!

Hier entsteht das Problem der Stärke und der Schwäche:

1 die Schwachen zerbrechen daran;

2 die Stärkeren zerstören, was nicht zerbricht;

3 die Stärksten überwinden die richtenden Werthe.

Das zusammen macht das tragische Zeitalter aus.

3. Die nihilistische Bewegung als Ausdruck der décadance

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Man hat neuerdings mit einem zufälligen und in jedem Betracht unzutreffenden Wort viel Mißbrauch getrieben: man redet überall von » Pessimismus«, man kämpft um die Frage, auf die es Antworten geben müsse, wer Recht habe, der Pessimismus oder der Optimismus.

Man hat nicht begriffen, was doch mit Händen zu greifen: daß Pessimismus kein Problem, sondern ein Symptom ist, – daß der Name ersetzt werden müsse durch » Nihilismus«, – daß die Frage, ob Nichtsein besser ist als Sein, selbst schon eine Krankheit, ein Niedergangs-Unzeichen, eine Idiosynkrasie ist.

Die nihilistische Bewegung ist nur der Ausdruck einer physiologischen décadence.

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Zu begreifen: – Daß alle Art Verfall und Erkrankung fortwährend an den Gesammt-Werthurtheilen mitgearbeitet hat: daß in den herrschend gewordnen Werthurtheilen die décadence sogar zum Übergewicht gekommen ist: daß wir nicht nur gegen die Folgezustände alles gegenwärtigen Elends von Entartung zu kämpfen haben, sondern alle bisherige décadence rückständig, das heißt lebendig geblieben ist. Eine solche Gesammt-Abirrung der Menschheit von ihren Grundinstinkten, eine solche Gesammt-décadence des Werthurtheils ist das Fragezeichen par excellence, das eigentliche Räthsel, das das Thier »Mensch« dem Philosophen aufgiebt.

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Begriff » décadence«. – Der Abfall, verfall, Ausschuß ist Nichts, was an sich zu verurtheilen wäre: er ist eine notwendige Konsequenz des Lebens, des Wachsthums an Leben. Die Erscheinung der décadence ist so nothwendig, wie irgend ein Aufgang und Vorwärts des Lebens: man hat es nicht in der Hand, sie abzuschaffenen. Die Vernunft will umgekehrt, daß ihr ihr Recht wird.

Es ist eine Schmach für alle socialistischen Systematiker, daß sie meinen, es könnte Umstände geben, gesellschaftliche Combinationen, unter denen das Laster, die Krankheit, das Verbrechen, die Prostitution, die Noth nicht mehr wüchse... Aber das heißt das Leben verurtheilen ... Es steht einer Gesellschaft nicht frei, jung zu bleiben. Und noch in ihrer besten Kraft muß sie Unrath und Abfallsstoffe bilden. Je energischer und kühner sie vorgeht, umso reicher wird sie an Mißglückten, an Mißgebilden sein, umso näher dem Niedergang sein... Alter schafft man nicht durch Institutionen ab. Die Krankheit auch nicht. Das Laster auch nicht.

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Grundeinsicht über das Wesen der décadence: was man bisher als deren Ursachen angesehen hat, sind deren Folgen.

Damit verändert sich die ganze Perspektive der moralischen Probleme.