Der Winter unseres Missvergnügens - John Steinbeck - E-Book
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Der Winter unseres Missvergnügens E-Book

John Steinbeck

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Beschreibung

Die ultimative Abrechnung mit dem menschenverachtenden US-Kapitalismus

John Steinbecks letzter Roman ist ein bis heute gültiges Lehrstück über Geld und Moral: Sein Protagonist Ethan Hawley, Hätschelkind der Finanzaristokratie von Long Island, muss sich um materielle Dinge nicht sorgen – bis ihn die Pleite seines Vaters plötzlich zwingt, auf eigenen Beinen zu stehen. Um Frau und Kinder ernähren zu können, tritt er eine schlechtbezahlte Stelle als Verkäufer in einem Lebensmittelladen an. Rasch erkennt jedoch er, dass redliches Tagwerk einen Mann nicht weiterbringt. Unter dem Einfluss seiner Frau und dem seines Bankberaters entledigt er sich aller Menschlichkeit und steigt zum skrupellosen Geschäftsmann auf, der ohne Rücksicht auf andere nur den eigenen Vorteil sucht.

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«Steinbeck entdeckte im profanen Alltag seiner Gegenwart die amerikanische Tragödie.« Ingo Schulze

John Steinbecks launiger Roman ist ein bis heute gültiges Lehrstück über Geld und Moral beziehungsweise über die real existierende Unvereinbarkeit von beidem. Dass man im Leben eben nicht beides haben kann, entdeckt Ethan Hawley, Spross reicher Eltern, erst, als er plötzlich gezwungen ist, auf eigenen Beinen zu stehen. Um Frau und Kinder ernähren zu können, tritt er eine schlechtbezahlte Stelle als Verkäufer an. Rasch erkennt er jedoch, dass redliches Tagwerk einen Mann nicht weiterbringt. So wandelt er sich zum Geschäftsmann. Dass er sich dafür vorübergehend aller Menschlichkeit entledigt und ohne Rücksicht auf andere nur den eigenen Vorteil verfolgt, macht ihn allerdings weniger zu einem Unmenschen als vielmehr zum Idealtypus des US-Kapitalismus.

John Steinbeck (1902–1968) schildert in seinen Büchern vor allem die Lebensverhältnisse von einfachen Arbeitern und Außenseitern. Zu seinen bekanntesten Werken zählen die Novelle Von Mäusen und Menschen sowie die Romane Früchte des Zorns und Jenseits von Eden. 1962 erhielt er den Nobelpreis für Literatur und gilt bis heute als einer der erfolgreichsten und beliebtesten Autoren der USA.

John Steinbeck

DER WINTER UNSERES MISSVERGNÜGENS

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Bernhard Robben

Nachwort von Ingo Schulze

MANESSE VERLAG

Für Beth, meine Schwester,deren Licht hell strahlt.

Leser, die danach trachten, hier beschriebene Gestalten und Orte der Fantasie näher zu bestimmen, täten besser daran, in ihrem Herzen oder in ihrer unmittelbaren Umgebung zu suchen, denn dieses Buch handelt größtenteils vom heutigen Amerika.

Erster Teil

1

Kaum wurde Mary Hawley vom schönen goldenen Aprilmorgen geweckt, drehte sie sich zu ihrem Gatten um, nur um zu sehen, wie er ihr mit seinen kleinen Fingern einen Froschmund zog.

«Du bist albern, Ethan», sagte sie. «Hör auf, herumzukaspern.»

«Ach, sag an, Miss Mäuschen, willst du mich heiraten?»

«Bist du schon albern aufgewacht?»

«Das Jahr beginnt mit diesem Tag, der Tag mit diesem Morgen.»

«Sieht ganz danach aus. Weißt du wenigstens, dass heute Karfreitag ist?»

Mit dumpfer Stimme verkündete er: «Die niederträchtigen Römer sammeln sich zum Marsch auf Golgatha.»

«Nun lästere nicht auch noch. Erlaubt Marullo dir heute, den Laden um elf zu schließen?»

«Liebste Gluckenblume, Marullo ist Katholik und obendrein Itaker. Der lässt sich heute bestimmt nicht blicken. Ich mache über Mittag zu, bis die Hinrichtung vorbei ist.»

«Das ist Pilgervätergerede und gar nicht nett.»

«Unsinn, Marienkäferchen. Das kommt von meiner mütterlichen Seite, ist also Piratengerede. Und wie du weißt, ist’s ja wirklich eine Hinrichtung gewesen.»

«Die waren gar keine Piraten. Walfänger waren sie, hast du selber gesagt, und du hast auch gesagt, sie hätten dafür Freibriefe oder so was vom Kontinentalkongress1 gehabt.»

«Die Besatzung der Schiffe, auf die sie feuerten, haben sie jedenfalls für Piraten gehalten. Und die römischen Kommissköpfe hielten es für eine Hinrichtung.»

«Jetzt bist du sauer. Albern mag ich dich lieber.»

«Ich bin doch albern. Weiß jeder.»

«Du machst mich immer ganz konfus, dabei kannst du wirklich stolz auf dich sein – Pilgerväter und Walfangkapitäne in ein und derselben Familie.»

«Wären sie’s?»

«Wie bitte?»

«Wären meine großartigen Vorfahren stolz, wenn sie wüssten, dass sie einen gottverdammten Verkäufer in einem gottverdammten Itakerladen in jener Stadt hervorgebracht haben, die einmal ihnen gehört hat?»

«Bist du doch gar nicht. Du bist fast so was wie der Geschäftsführer, führst die Bücher, bringst das Geld zur Bank und bestellst die Ware.»

«Klar doch, und ich fege aus, trage den Müll nach draußen, katzbuckle vor Marullo, und wär ich ein gottverdammter Kater, würde ich auch noch seine Mäuse fangen.»

Sie legte ihre Arme um ihn. «Komm, lass uns lieber albern sein», sagte sie. «Und bitte fluch nicht am Karfreitag. Ich liebe dich doch.»

«In Ordnung», sagte er nach einem Moment. «Das behaupten sie alle, aber glaub bloß nicht, deshalb dürftest du splitterfasernackt neben einem verheirateten Mann liegen.»

«Ich wollte dir von den Kindern erzählen.»

«Sind sie im Gefängnis?»

«Jetzt bist du wieder albern. Vielleicht wäre es besser, sie erzählen es dir selbst.»

«Verflixt, warum …»

«Margie Young-Hunt liest mir heute wieder die Karten.»

«Sie liest die Karten wie ein Buch? Wer ist denn diese Margie Young-Hunt? Was hat sie nur, dass so viele Verehrer …»

«Weißt du, wenn ich eifersüchtig wäre … Ich meine, es heißt ja, wenn ein Mann so tut, als würde er eine hübsche junge Frau nicht sehen …»

«Ach, die meinst du. Junge Frau? Die war schon zweimal verheiratet.»

«Der zweite Mann ist gestorben.»

«Ich hätte jetzt gern mein Frühstück. Glaubst du an diesen Kokolores?»

«Na ja, das mit meinem Bruder wusste Margie aus den Karten. Eine mir teure und nahestehende Person, hat sie gesagt.»

«Ich verpasse einer mir teuren und nahestehenden Person gleich einen Tritt in den Allerwertesten, wenn sie nicht bald den Tisch deckt …»

«Ich geh ja schon … Eier?»

«Na klar. Warum heißt es eigentlich Passionszeit? Wo bleibt denn da die Leidenschaft?»

«Ach, du», sagte sie, «immer musst du Witze machen.»

Der Kaffee war fertig, und die Eier lagen in einer Schüssel neben dem Toast, als Ethan Allen Hawley sich in die Essnische am Fenster schob.

«Ich fühle mich voller Energie», sagte er. «Warum heißt es eigentlich Passionszeit?»

«Frühjahr», tönte es vom Herd herüber.

«Frühjahrsleidenschaft?»

«Frühjahrsmüdigkeit. Sind die Kinder schon auf?»

«Träum weiter. Diese faulen kleinen Biester. Los, peitschen wir sie aus den Federn.»

«Du redest schrecklich dummes Zeug, wenn du so albern bist. Kommst du zwischen zwölf und drei nach Hause?»

«Nö.»

«Warum nicht?»

«Weiber. Schmuggle sie in den Laden. Vielleicht sogar diese Margie.»

«Bitte, Ethan, jetzt rede nicht so. Margie ist eine gute Freundin. Die würde dir ihr letztes Hemd schenken.»

«Ach ja? Woher hat sie denn das Hemd?»

«Das ist wieder Pilgervätergerede.»

«Ich möchte wetten, dass wir verwandt sind. Die hat Piratenblut in den Adern.»

«Ach, und jetzt bist du wieder albern. Hier ist die Liste.» Sie stopfte sie ihm in die Brusttasche. «Sieht nach viel aus, aber denk dran, es ist Ostern – und noch zwei Dutzend Eier, nicht vergessen. Du kommst zu spät.»

«Ich weiß. Marullo gehen bestimmt ein paar lumpige Kröten durch die Lappen. Warum zwei Dutzend?»

«Zum Färben. Allen und Mary Ellen haben extra drum gebeten. Und jetzt mach dich lieber auf den Weg.»

«Okay, mein Käferblümchen – aber kann ich vorher nicht noch eben nach oben laufen und Allen und Mary Ellen windelweich prügeln?»

«Du verwöhnst die beiden viel zu sehr, Eth. Das weißt du doch.»

«Na dann, leb wohl, meine Staatsfregatte2», sagte er, knallte die Fliegengittertür hinter sich zu und trat in den grüngoldenen Morgen hinaus.

Er warf einen Blick zurück auf das prächtige alte Haus, das Haus seines Vaters und Urgroßvaters, ein weiß gestrichenes Holzhaus mit einem Lünettenfenster über der Tür, barocken Türmchen und einem Witwengang3 auf dem Dach. Es lag tief eingebettet im grünen Garten inmitten hundert Jahre alter Fliederbüsche mit mannsdicken Stämmen und knospenden Blüten. Frische Triebe färbten die ineinander verschlungenen Kronen der Ulmen entlang der Elm Street gelb, und die Sonne lugte soeben über das Bankgebäude, spiegelte sich im silbrigen Gasometer und ließ aus dem alten Hafenbecken den Geruch nach Tang und Salzwasser aufsteigen.

So früh war in der Elm Street nur ein einziges lebendes Geschöpf zu sehen, Mr. Bakers roter Setter, genannt Red Baker, der Hund des Bankiers, der mit bedächtiger Würde die Straße abschritt und nur gelegentlich innehielt, um an den Stämmen der Ulmen zu erschnüffeln, wer bereits des Wegs gekommen war.

«Guten Morgen, der Herr. Ich heiße Ethan Allen Hawley. Ich sah Euch hier schon des Öfteren Eure Geschäfte erledigen.»

Red Baker blieb stehen und erwiderte den Gruß mit einem langsamen Wedeln der buschigen Rute.

Ethan sagte: «Gerade habe ich mir mein Haus angesehen. Früher wussten die Leute noch, wie man ein Haus baut.»

Red legte den Kopf schief, winkelte ein Hinterbein an und kratzte sich damit leger die Rippen.

«Und warum auch nicht? Sie hatten Geld. Das Walöl der sieben Meere und weißer Amber. Wisst Ihr, was weißer Amber ist?»

Red ließ ein winselndes Seufzen hören.

«Verstehe, Ihr wisst es nicht. Ein helles, lieblich nach Rosen duftendes Öl aus der Schädelhöhle des Pottwals. Lest ‹Moby Dick›, verehrter Hund. Einen besseren Rat kann ich Euch nicht geben.»

Der Setter hob ein Bein am schmiedeeisernen Zaunpfosten neben dem Rinnstein.

Während Ethan sich abwandte, um weiterzugehen, sagte er über die Schulter: «Und schreibt bitte eine Buchbesprechung. Könnte mein Sohn was von lernen. Der weiß nicht mal, wie man ‹Amber› buchstabiert – oder sonst irgendein Wort.»

Zwei Querstraßen hinter Ethan Allen Hawleys Haus stößt die Elm Street im rechten Winkel auf die High Street. Auf halbem Weg zur ersten Querstraße balgte sich eine Schar rüpeliger Hausspatzen auf dem grünenden Rasen vor dem Haus der Elgars. Ein Spiel war das nicht; sie hüpften, pickten und hackten so wild und lärmend aufeinander ein, dass sie Ethan nicht näher kommen hörten. Er blieb stehen, um sich die Schlacht anzusehen.

«Vögel in ihren kleinen Nestern vertragen sich», sagte er. «Und warum könnt ihr das nicht? Also das nenne ich einen Haufen Pferdemist. Nicht mal an diesem schönen Morgen könnt ihr Winzlinge euch vertragen, dabei seid ihr die kleinen Scheißerchen, zu denen der Heilige Franziskus nett gewesen ist. Zum Teufel mit euch!» Er stürmte auf sie zu, trat um sich, und die Spatzen stoben mit leisem Flügelflattern, aber lautem Gezwitscher davon, das wie kreischende Türangeln klang. «Eins noch», rief Ethan ihnen nach, «um die Mittagszeit wird sich die Sonne verdunkeln, eine Finsternis legt sich über die Erde, und ihr werdet euch ängstigen.» Er kehrte zum Bürgersteig zurück und setzte seinen Weg fort.

Das alte Haus der Familie Phillips kurz vor der zweiten Querstraße war mittlerweile eine Pension. Joey Morphy, Kassierer in der First National, trat vor die Tür. Er bohrte mit einem Zahnstocher im Gebiss, strich seine karierte Weste glatt und rief Ethan einen Gruß zu. «Wollte gerade bei Ihnen vorbeischauen, Mr. Hawley.»

«Warum heißt es eigentlich Passionszeit?»

«Geht aufs Lateinische zurück», erwiderte Joey. «Passius, passilius, passum4 – heißt so viel wie ‹lausig›.»

Joey hatte ein Gesicht wie ein Pferd, und er lächelte wie ein Pferd, zog die lange Oberlippe hoch und fletschte die großen, viereckigen Zähne. Joseph Patrick Murphy, auch Joey Morphy oder Joey-Boy genannt, kurz «Morph» – ein ziemlich beliebter Bursche, wenn man bedachte, dass er erst ein paar Jahre in New Baytown wohnte. Ein Witzbold, der seine Scherze wie ein Pokerspieler vorbrachte, ohne mit der Wimper zu zucken, die Scherze anderer Leute aber immer mit lautem Wiehern quittierte, selbst wenn er sie schon mal gehört hatte. Ein kluger Kerl, dieser Morph, wusste über alles Bescheid – und über jeden, von der Mafia bis zu Lord Mountbatten –, aber wenn er etwas davon verriet, dann hob er zum Satzende leicht die Stimme an, fast als würde er nur eine Frage stellen. Auf diese Weise klang er nicht wie ein Besserwisser, schloss seine Zuhörer mit ein und erlaubte ihnen, das soeben Gehörte als eigene Weisheit weiterzuverbreiten. Joey war ein faszinierender Vogel – ein Spieler, auch wenn niemand je erlebt hatte, dass er sich auf eine Wette einließ, ein guter Buchhalter und ausgezeichneter Kassierer. Mr. Baker, Präsident der First National, vertraute Joey so sehr, dass er ihm nahezu alle Arbeiten übertrug. Morph kannte Hinz und Kunz folglich in- und auswendig, redete aber keinen Menschen mit Vornamen an. Ethan blieb für ihn stets Mr. Hawley. Margie Young-Hunt war für Joey nur Mrs. Young-Hunt, auch wenn man hinter vorgehaltener Hand munkelte, die beiden hätten was miteinander. Er hatte keine Familie, war ungebunden, lebte allein in einer Zweizimmerwohnung mit Bad im alten Haus der Phillips’ und nahm sämtliche Mahlzeiten im «Foremaster Grill» ein. Seine Laufbahn im Bankgeschäft war Mr. Baker und der Versicherungsgesellschaft bekannt, ein makelloser Werdegang, doch konnte Joey-Boy Geschichten, die anderen passiert waren, so erzählen, als hätte er sie selbst erlebt; und falls das zutraf, war er wirklich ziemlich weit herumgekommen. Weil er aber diesen Ruhm nie für sich beanspruchte, mochten die Leute ihn erst recht. Seine Fingernägel hielt er sauber, er war meist gut und korrekt gekleidet, trug ausnahmslos ein sauberes Hemd, und die Schuhe waren immer blank geputzt.

Die beiden Männer schlenderten zusammen die Elm Street zur High hinunter.

«Was ich Sie schon immer fragen wollte: Sind Sie mit Admiral Hawley verwandt?»

«Meinen Sie vielleicht Admiral Halsey5?», fragte Ethan zurück. «Wir hatten eine Menge Kapitäne in der Familie, aber von einem Admiral habe ich noch nie gehört.»

«Man sagt, Ihr Großvater sei ein Walfangkapitän gewesen, das hat mich wohl auf den Admiral gebracht.»

«Eine Stadt wie diese hat ihre Mythen», erwiderte Ethan. «So erzählt man sich, meine Vorfahren väterlicherseits wären einstmals dem Piratenhandwerk nachgegangen, und die Familie mütterlicherseits sei mit der ‹Mayflower› ins Land gekommen.»

«Ethan Allen», sagte Joey. «Mein Gott, mit dem sind Sie auch verwandt?»

«Kann sein. Muss wohl», antwortete Ethan. «Was für ein Tag – haben Sie je einen schöneren erlebt? Weshalb wollten Sie mich eigentlich sprechen?»

«Ach so, ja. Ich nehme an, Sie schließen den Laden von zwölf bis drei? Könnten Sie mir für halb zwölf ein paar Sandwiches machen? Ich komm vorbei und hol sie ab. Und dazu eine Flasche Milch.»

«Die Bank bleibt geöffnet?»

«Die Bank schließt, aber ich arbeite weiter. Der kleine Joey bleibt drinnen hocken, angekettet an die Bücher. Vor langen Wochenenden kommt Gott und die Welt, um Schecks einzulösen.»

«Hab ich noch nie dran gedacht», erwiderte Ethan.

«Aber ja, Ostern, Memorial Day, Independence Day, Labor Day,6 also vor jedem verlängerten Wochenende. Wenn ich eine Bank überfallen wollte, ich tät’s kurz vor einem langen Wochenende. Dann liegt der Zaster abholbereit da.»

«Haben Sie schon mal einen Überfall erlebt?»

«Nein, aber ein Freund von mir schon zweimal.»

«Und was hat er so erzählt?»

«Hatte Schiss, sagt er. Hat jeden Befehl befolgt. Sich auf den Boden gelegt und denen alles überlassen. Sagte, das Geld sei besser versichert als er.»

«Ich bring Ihnen die Sandwiches, wenn ich den Laden schließe. Klopfe an die Hintertür. Was genau hätten Sie denn gern?»

«Machen Sie sich keine Umstände, Mr. Hawley. Ich brauche ja nur gerade über die Gasse zu huschen – ein Roggenbrot mit Schinken, eins mit Käse, beide mit Salat und Mayonnaise. Und für später vielleicht noch eine Flasche Milch, außerdem eine Cola.»

«Hab feine Salami da – beste Marullo-Qualität.»

«Nein, danke. Wie geht’s der Ein-Mann-Mafia denn so?»

«Ganz gut, glaube ich.»

«Tja, auch wenn einem Guineen nicht viel bedeuten, muss man doch bewundern, was für ein Vermögen dieser Kerl zusammenscheffeln konnte – dabei hat er bloß mit einem Handkarren angefangen. Schon ziemlich clever, der Mann. Und die Leute wissen gar nicht, wie viel er auf der hohen Kante liegen hat. Sollte ich vielleicht nicht sagen. Bin schließlich Bankangestellter.»

«Sie haben ja auch nichts gesagt.»

Sie waren zu der Stelle gekommen, an der die Elm die High Street kreuzte, blieben automatisch stehen und richteten den Blick auf den rosafarbenen Ziegel- und Verputzhaufen, ehemals das «Bay Hotel», das nun dem neuen Woolworth weichen musste. Ein gelb angestrichener Bulldozer und der große Kran mit der Abrissbirne warteten stumm wie Raubtiere im frühen Morgenlicht.

«Das wollte ich immer schon mal machen», sagte Joey. «Ich stell mir das ziemlich aufregend vor, so eine Stahlkugel zu schwingen und zuzusehen, wie die Mauern fallen.»

«Das hab ich in Frankreich oft genug gesehen», sagte Ethan.

«Stimmt, Ihr Name steht ja auf dem Denkmal unten am Meer.»

«Hat man die Gangster eigentlich geschnappt, die Ihren Freund überfallen haben?» Ethan war fest davon überzeugt, dass es sich bei diesem Freund um Joey selbst handelte. Jeder wäre davon überzeugt gewesen.

«Na klar. Haben sie gefangen wie Mäuse. Zum Glück sind Ganoven selten besonders helle. Wenn unsereins mal ein Buch darüber schreiben würde, wie man eine Bank ausraubt, würden die Cops keinen einzigen mehr fangen.»

Ethan lachte. «Und wie würden Sie’s anstellen?»

«Ich hab da so meine Quellen, Mr. Hawley. Und ich lese Zeitungen. Außerdem war ich ziemlich gut bekannt mit jemandem, der selbst lange Polizist gewesen ist. Zwei Dollar, und ich gebe Ihnen die Kurzfassung.»

«Lieber die Fassung für fünfundsiebzig Cent. Muss nämlich den Laden aufmachen.»

«Meine Damen und Herren», begann Joey, «ich will Ihnen heute Morgen … Ach was, hören Sie zu! Wie fängt man Gangster, die eine Bank überfallen haben? Regel Nummer eins: übers Vorstrafenregister – die meisten wurden früher schon mal geschnappt. Nummer zwei: Die Gang verkracht sich wegen der Beute, und irgendwer verliert die Nerven. Nummer drei: die Damenwelt. Sie können die Finger einfach nicht von den Frauen lassen, und das führt uns zu Nummer vier: Sie geben das Geld aus. Man achte nur darauf, wer plötzlich mit Geld um sich wirft, und schon hat man die Täter.»

«Und zu welcher Methode würden Sie nun raten, verehrter Herr Professor?»

«Ist doch sonnenklar: Man tue in allen Punkten genau das Gegenteil. Man raube niemals eine Bank aus, wenn man schon einmal verhaftet wurde oder bereits gesessen hat. Man ziehe niemanden ins Vertrauen, mache es allein und erzähle keiner Menschenseele davon. Finger weg von den Frauen! Und nichts ausgeben. Lieber das Geld verstecken, vielleicht sogar jahrelang. Sobald man einen Grund vorbringen kann, warum man plötzlich zu Geld gekommen ist, legt man es nach und nach in kleinen Beträgen an. Niemals bar damit bezahlen.»

«Und falls der Gangster beim Überfall erkannt wird?»

«Wer sollte ihn erkennen, wenn er sich vermummt und kein Wort redet? Haben Sie schon mal die Aussagen von Augenzeugen gelesen? Völliger Humbug. Mein Freund, der Polizist, sagt, wenn er selbst bei einer Gegenüberstellung mit in der Reihe steht, zeigen die Leute immer auf ihn. Sie schwören Stein und Bein, er hätte was auch immer angestellt. Und das macht fünfundsiebzig Cent.»

Ethan steckte eine Hand in die Tasche. «Ich fürchte, die muss ich Ihnen schuldig bleiben.»

«Sie können mich auch mit Sandwiches bezahlen», sagte Joey.

Die beiden überquerten die Straße und bogen in die Gasse ein, die dort rechtwinklig von der High Street abging. Auf seiner Seite der Gasse betrat Joey die First National Bank durch die Hintertür, während Ethan auf seiner Gassenseite die Tür zu Marullos «Obst und Delikatessen» aufschloss. «Schinken und Käse?», rief er.

«Auf Roggenbrot, mit Salat und Mayonnaise.»

Aus der schmalen Gasse drang nur wenig, durch staubige, vergitterte Fenster grau gefiltertes Licht in den Lagerraum. Ethan verharrte zwischen den bis zur Decke reichenden Regalen voller Kartons und Holzkisten mit Dosenobst, Gemüse, Fisch, Fleisch oder Käse und sog prüfend die Luft ein, um festzustellen, ob es nach Mäusen roch, nahm aber nur die vorherrschenden Gerüche von Mehl, getrockneten Erbsen und Bohnen wahr, das Papier-und-Tinte-Odeur der Cornflakes-Kartons, das schwere, fettige, säuerliche Aroma von Wurst und Käse, Schinken und Speck, den fauligen Gestank von Kohlblättern, alten Salatköpfen und Rübenenden aus den silbrig glänzenden Abfalltonnen neben der Hintertür. Da ihm kein ranzig-muffiger Mäusegeruch in die Nase drang, machte er die Tür zur Gasse wieder auf und brachte die Abfalltonnen nach draußen. Ein grauer Kater wollte ins Innere huschen, doch Ethan scheuchte ihn weg.

«Nein, du kommst mir nicht ins Haus», sagte er zum Kater. «Mäuse und Ratzen sind Futter für Katzen, aber du bist ein Wurststibitzer. Hinfort! Hörst du mich – hinfort!» Der Kater hockte da und leckte an seiner gekrümmten rosigen Pfote, beim zweiten «Hinfort!» indes verzog er sich mit hochgerecktem Schwanz und verschwand über den Bretterzaun hinter der Bank. «Muss ein Zauberwort sein», sagte Ethan laut, ging dann in den Lagerraum zurück und zog die Tür hinter sich zu.

Nun durch das staubige Lager zur Schwingtür in den Laden – als er jedoch an der Toilette vorbeikam, hörte er das leise Murmeln von fließendem Wasser. Er öffnete die Sperrholztür, knipste das Licht an, betätigte die Spülung, zog die breite Tür mit dem Drahtgitter vor dem verglasten Guckloch weit auf und schob mit dem Zeh einen Holzkeil fest unter die Tür.

Die vor dem großen Schaufenster herabgelassene Markise tauchte den Laden in grünes Zwielicht. Abermals Regale bis zur Decke, säuberlich gefüllt mit Lebensmitteln in glänzenden Dosen und schimmernden Gläsern, eine Bibliothek für den Magen. Auf einer Seite Tresen, Kasse, Tüten, Schnur und jene Pracht aus Edelstahl und weißem Emaille, die Kühltheke, deren Kompressor leise vor sich hin wisperte. Ethan legte einen Schalter um und überflutete Aufschnitt, Käse, Würstchen, Koteletts, Steaks und Fisch mit kaltem blauem Neonschein. Indirektes Kirchenlicht erfüllte den Laden, ein diffuses Licht wie in der Kathedrale von Chartres. Ethan hielt inne, um den Anblick zu genießen, die Orgelpfeifen der Dosentomaten, die Kirchtürme aus Senf- und Olivengläsern, die aberhundert ovalen Gräber der Sardinendosen.

«Unimum et unimorum», intonierte er mit nasaler Stimme. «Uni unimaus quod unibug in omnem unim,7 domine – Ahhahamen», sang er und meinte seine Frau zu hören, wie sie sagte: «Du bist wieder albern. Außerdem könntest du damit die Gefühle anderer Leute verletzen, so was tut man nicht.»

Ein Verkäufer in einem Lebensmittelladen – in Marullos Lebensmittelladen –, ein Mann mit einer Frau und zwei liebreizenden Kindern. Wann ist er allein? Wann darf er je allein sein? Kunden am Tag, Frau und Kinder am Abend. «Im Bad, da geht’s», sagte Ethan laut – und eben jetzt, in diesem Augenblick, ehe ich das Schleusentor öffne. Ach, die staubige, muffige, usselig-pusselige Zeit – die liederlich-liebliche Zeit. «Wessen Gefühle könnte ich jetzt schon verletzen, Zuckerfüßchen?», sagte er zu seiner Frau. «Ist ja kein Mensch hier, der irgendwas fühlt. Nur ich und mein unimum unimorum, bis … ja, bis ich die gottverdammte Tür öffne.»

Aus einer Thekenschublade neben der Kasse nahm er eine saubere Schürze, faltete sie auf, zog die Bänder straff, schlang sie sich zweimal um die schmalen Hüften und führte sie mit beiden Händen hinter den Rücken, um die Schleife zu binden.

Die Schürze war lang, sie reichte ihm fast bis zu den Knöcheln. Er hob die rechte, leicht gewölbte, nach oben geöffnete Hand und verkündete in feierlichem Ton: «Hört mich an, o ihr Dosenbirnen, ihr Eingemachtes und Eingelegtes: ‹Und als es Tag ward, sammelten sich die Ältesten des Volks, die Hohenpriester und Schriftgelehrten und führten ihn hinauf vor ihren Rat …›8 – ‹und als es Tag ward›. Die Mistkerle haben früh angefangen, nicht? Haben keine Zeit vergeudet. Wie geht’s weiter? ‹Und es war um die sechste Stunde› – damit ist wohl zwölf Uhr gemeint – ‹und es ward eine Finsternis über das ganze Land bis an die neunte Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein›.9 Wieso fällt mir das jetzt ein? Großer Gott, Er hat lange gebraucht, um zu sterben – entsetzlich lang.» Er ließ die Hand sinken und blickte verwundert auf die Regale, als erwartete er von ihnen eine Antwort. «Warum redest du nicht mit mir, Maria, mein Klößchen? Bist du nicht eine der Töchter Jerusalems? ‹Weinet nicht über mich›, hat Er gesagt. ‹Weinet über euch selbst und über eure Kinder … Denn so man das tut am grünen Holz, was will am dürren werden?›10 Bricht mir immer noch das Herz, diese Stelle. Tante Deborah hat mehr bewirkt, als sie ahnen konnte. Aber noch hat die sechste Stunde nicht begonnen – noch nicht.»

Er zog die grüne Jalousie vor dem Schaufenster hoch und rief: «Komm herein, Tag!» Dann schloss er die Ladentür auf. «Tritt ein, Welt.» Schwungvoll öffnete er die mit Eisenstäben verstärkten Türen und hakte sie ein. Sanft ergoss sich das Licht der Morgensonne über das Pflaster, ganz wie es sich gehörte, stieg im April die Sonne doch genau dort auf, wo die High Street in die Bucht auslief. Ethan ging zur Toilette zurück, um einen Besen zu holen und den Bürgersteig zu fegen.

Ein Tag, ein Tag, lang wie ein Leben, ist nicht eines, sondern vieles. Er ändert sich nicht allein mit dem zum Mittag zunehmenden, zum Abend wieder abnehmenden Licht, sondern auch hinsichtlich Beschaffenheit und Stimmung, in Ton und Bedeutung, verzerrt von den abertausend Facetten der Jahreszeit, von Hitze oder Kälte, von Windstille oder dem Wind aus mancherlei Richtung, geprägt von Gerüchen, Aromen und dem Gespinst von Eis oder Gras, Knospe, Blatt oder schwarz schraffierten, kahlen Ästen. Und wie der Tag sich ändert, so ändern sich auch jene, die ihn erleben, Käfer und Vögel, Katzen, Hunde, Schmetterlinge und Menschen.

Mit Ethan Allen Hawleys stillem, dämmrigem, beschaulichem Tag war es vorbei. Der Mann, der am Morgen im Takt eines Metronoms den Bürgersteig fegte, war nicht der Mann, der Konservendosen Predigten halten konnte, nicht der ‹unimum unimorum›-Mann, nicht einmal der albernde, kalbernde Mann. Er fegte Zigarettenstummel, Kaugummipapier, die Knospenkapseln der pollenverbreitenden Bäume, aber auch schlichten Staub zusammen, um diese Anhäufung des Verfalls dann in den Rinnstein zu kehren, wo sie auf die Männer der städtischen Müllabfuhr mit ihrem silberfarbenen Laster warten würde.

Von seinem Haus in der Maple Street spazierte Mr. Baker gemessenen, reputierlichen Schritts zur roten Ziegelsteinbasilika der First National Bank. Und wenn seine Schritte nicht alle die gleiche Länge hatten, dann vielleicht, weil er sich aus alter Gewohnheit Mühe gab, seiner Mutter nicht das Rückgrat zu brechen?11

«Guten Morgen, Mr. Baker», sagte Ethan und hörte mit dem Fegen auf, um die Hosenbeine des Bankiers nicht einzustauben.

«Morgen, Ethan. Ein schöner Morgen.»

«Sehr schön», erwiderte Ethan. «Der Frühling ist da, Mr. Baker. Das Murmeltier hatte wieder recht.»12

«Wohl wahr, wohl wahr.» Mr. Baker hielt kurz inne. «Ich wollte schon länger mal mit Ihnen reden, Ethan. Das Geld, das Ihre Frau aus dem Nachlass ihres Bruders bekommen hat – über fünftausend, nicht?»

«Sechsfünf, nach Abzug der Steuern», sagte Ethan.

«Tja, das liegt einfach so auf Ihrem Konto rum. Sollte aber investiert werden. Würde mich gern mal mit Ihnen darüber unterhalten. Geld muss arbeiten.»

«Was können sechstausendfünfhundert Dollar schon erarbeiten? Die sind höchstens für Notfälle.»

«Ich halte nicht viel von brachliegendem Geld, Ethan.»

«Na ja, es dient ja einem Zweck – ist eben da und wartet.»

Die Stimme des Bankiers wurde eisig. «Genau das verstehe ich nicht», wobei sein Ton besagte, dass er es sehr wohl verstand, aber dumm fand, und dieser Ton weckte in Ethan eine Verbitterung, die ihn zu einer Lüge drängte.

Der Besen zirkelte eine elegante Kurve gegen den Rinnstein. «Es ist nun mal so, Mr. Baker. Das Geld ist als vorläufige Sicherheit für Mary gedacht, falls mir etwas zustößt.»

«Dann sollten Sie einen Teil dazu nutzen, Ihr Leben zu versichern.»

«Es ist nur eine vorläufige Sicherheit. Bei dem Geld handelt es sich um den gesamten Nachlass von Marys Bruder, aber ihre Mutter lebt noch und lebt vielleicht noch viele Jahre.»

«Verstehe. Alte Leute können eine wahre Last sein.»

«Die sitzen manchmal auf ihrem Geld.» Ethan blickte Mr. Baker ins Gesicht, während er ihm seine Lüge auftischte, und sah über dem Hemdkragen des Bankiers einen Anflug von Farbe aufsteigen. «Wissen Sie, wenn ich Marys Geld investiere, könnte ich es verlieren, so wie ich mein eigenes Geld verloren habe und wie mein Vater sein Vermögen verloren hat.»

«Ist doch Schnee von gestern, Ethan … Schnee von gestern. Ich weiß ja, dass Sie ein gebranntes Kind sind. Aber die Zeiten ändern sich, und es bieten sich neue Chancen.»

«Ich hatte meine Chance, Mr. Baker, hatte mehr Chancen als Verstand. Vergessen Sie nicht, gleich nach dem Krieg hat mir dieser Laden noch gehört. Musste einen halben Straßenzug Baugrund verkaufen, um ihn mit Ware zu füllen – unser letztes Geschäftsvermögen.»

«Ich weiß, Ethan. Immerhin bin ich Ihr Bankier. Ich kenne Ihre Geschäftslage wie Ihr Arzt Ihren Puls.»

«Sicher kennen Sie die. Habe keine zwei Jahre gebraucht, um fast bankrottzugehen. Bis auf mein Haus musste ich alles verkaufen, um die Schulden abzahlen zu können.»

«Aber daran waren Sie doch nicht allein schuld. Frisch aus der Armee entlassen und ohne jede Berufserfahrung. Vergessen Sie auch nicht, dass Sie gleich zu Beginn in eine Wirtschaftskrise geraten sind, selbst wenn wir nur von Rezession geredet haben. Da sind sogar ein paar ziemlich versierte Geschäftsleute untergegangen.»

«Ich bin jedenfalls untergegangen. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde ein Hawley zum Verkäufer im Lebensmittelladen eines Spaghettifressers.»

«Aber das ist es ja, was ich nicht verstehe, Ethan. Jeder kann mal pleitegehen. Ich begreife nur nicht, warum Sie pleite bleiben wollen, ein Mann aus einer solchen Familie, mit Ihrer Herkunft und Bildung. Das lässt sich doch ändern, Ethan, falls Sie nicht allen Mumm verloren haben. Was hat Sie denn eigentlich zu Fall gebracht? Und warum bleiben Sie am Boden?»

Ethan setzte zu einer wütenden Antwort an – natürlich begreifen Sie das nicht, Sie mussten ja auch nie –, dann aber fegte er Kaugummipapier und Zigarettenstummel zu einer kleinen Pyramide zusammen und schob die Pyramide in die den Rinnstein. «Männer werden nicht zu Fall gebracht, oder besser gesagt, gegen Großes kann man ankämpfen. Was sie umbringt, ist der langsame Verschleiß, der sie ins Versagen abdrängt. Nach und nach bekommen sie Angst; und ich habe Angst. Die Long-Island-Elektrizitätswerke könnten mir das Licht abdrehen. Meine Frau braucht Kleider, meine Kinder Schuhe und ihr Vergnügen. Was ist, wenn ich ihnen keine Ausbildung bezahlen kann, nicht die monatlichen Rechnungen, den Arzt, die Zahnbehandlungen, die Mandeloperation? Und schlimmer noch, was ist, wenn ich mal krank werde und diesen verdammten Bürgersteig nicht mehr fegen kann? Natürlich begreifen Sie das nicht. Es geschieht ja so langsam. Lässt einen innerlich verrotten. Ich kann nicht weiter denken als bis zur nächsten Monatsrate für den Kühlschrank. Ich hasse meine Arbeit und habe trotzdem Angst, sie zu verlieren. Wie könnten Sie das begreifen?»

«Und was ist mit Marys Mutter?»

«Das habe ich Ihnen doch gesagt. Die sitzt drauf. Und wird wohl bis zu ihrem Tod drauf sitzen bleiben.»

«Das wusste ich nicht. Ich hab gedacht, Mary stamme aus einer armen Familie. Aber wenn man krank ist, das weiß ich, dann braucht man Medizin, vielleicht eine Operation oder auch einen Schock. Unsere Vorfahren waren wagemutige Leute. Das wissen Sie. Die ließen sich nicht von Kleinigkeiten den Wind aus den Segeln nehmen. Und jetzt ändern sich die Zeiten. Es bieten sich Gelegenheiten, von denen unsere Altvorderen nicht einmal geträumt haben. Und diese Gelegenheiten machen sich Ausländer zunutze. Ausländer übernehmen unser Land. Wachen Sie endlich auf, Ethan.»

«Und was ist mit dem Kühlschrank?»

«Verzichten Sie drauf, wenn’s nicht anders geht.»

«Und was ist mit Mary und den Kindern?»

«Vergessen Sie die mal für eine Weile. Denen werden Sie noch teurer sein, wenn Sie aus Ihrem Loch kriechen. Denn dass Sie sich Sorgen um sie machen, hilft Mary und den Kindern nicht weiter.»

«Und Marys Geld?»

«Schlimmstenfalls verlieren Sie es, aber lassen Sie es arbeiten. Und mit etwas Sorgfalt und einigen guten Ratschlägen werden Sie es schon behalten. Risiko ist schließlich nicht gleich Verlust. Unsere Vorfahren sind stets risikobewusste Menschen gewesen, und sie haben keineswegs verloren. Was ich Ihnen jetzt sage, Ethan, wird Sie vielleicht schockieren: Für den alten Käpt’n Hawley wären Sie eine Enttäuschung. Sie sind seinem Andenken verpflichtet. Ihm und meinem Daddy hat mal die ‹Belle-Adair› gehört, eines der letzten und prächtigsten Walfangschiffe. Reißen Sie sich zusammen, Ethan. Sie schulden der ‹Belle-Adair› ein bisschen Mumm. Und zum Teufel mit den Krediten.»

Mit der Besenspitze pfriemelte Ethan einen widerspenstigen Fetzen Zellophan aus der Rinnsteinspalte und erwiderte leise: «Die ‹Belle-Adair›ist verbrannt und abgesoffen.»

«Das weiß ich doch, aber hat uns das aufgehalten? Nein.»

«Das Schiff war versichert.»

«Selbstverständlich.»

«Tja, ich war’s nicht. Ich konnte nur mein Haus retten, sonst nichts.»

«Das müssen Sie endlich vergessen. Sie trauern Vergangenem nach, dabei sollten Sie lieber ein bisschen Mumm zusammenkratzen, etwas Wagemut. Und deshalb rate ich Ihnen, Marys Geld zu investieren. Ich versuche nur, Ihnen zu helfen, Ethan.»

«Danke, Mr. Baker.»

«Und jetzt ziehen Sie endlich diese Schürze aus. Das sind Sie Käpt’n Hawley schuldig. Der würde ja seinen Augen nicht trauen.»

«Wohl nicht.»

«Das ist die richtige Einstellung. Wir ziehen Ihnen diese Schürze schon noch aus.»

«Wenn bloß Mary und die Kinder nicht wären …»

«Ich rate Ihnen, denken Sie nicht länger an die Familie – zu deren eigenem Besten. Hier in New Baytown werden demnächst einige interessante Dinge passieren, und Sie könnten mit von der Partie sein.»

«Ich danke Ihnen, Mr. Baker.»

«Lassen Sie mich nur erst drüber nachdenken.»

«Mr. Morphy sagt, er werde arbeiten, wenn die Bank über Mittag schließt. Ich mache ihm ein paar Sandwiches. Soll ich Ihnen auch welche bringen?»

«Nein, danke. Ich überlasse Joey die Arbeit, er ist ein guter Mann. Außerdem gibt es da noch einige Grundstücke, die ich mir ansehen will. Beim Stadtsekretär13, meine ich. Von zwölf bis drei ist es da schön ruhig. Könnte auch was für Sie dabei sein. Wir sprechen uns bald wieder. Bis dann.»

Mit einem langen Schritt wich er einem Riss im Pflaster aus und ging an der Hintertür vorbei zum Haupteingang der First National Bank. Ethan lächelte seinem entschwindenden Rücken nach.

Rasch fegte er die letzten Meter, denn die Leute tröpfelten und strömten jetzt zur Arbeit. Am Ladeneingang stellte er die Auslagen mit frischem Obst auf. Dann vergewisserte er sich, dass gerade niemand vorbeikam, nahm drei übereinandergestapelte Dosen Hundefutter aus dem Regal und zog aus der Lücke den schäbigen kleinen Beutel mit dem Kleingeld hervor, stellte das Hundefutter zurück, drückte die Taste «Kein Verkauf» und klemmte die Zwanzig-, Zehn-, Fünf- und Eindollarscheine unter den jeweiligen Haltebügel in ihrem Fach. Und in die Eichenholzfächer der Kassenschublade verteilte er die Halb- und Vierteldollar- sowie die Zehn-, Fünf- und Eincentmünzen, ehe er die Lade wieder zustieß. Nur wenige Kunden ließen sich blicken, Kinder, die man losgeschickt hatte, einen Laib Brot zu holen, einen Karton Milch oder ein Pfund vergessenen Kaffee, kleine Mädchen mit schlafverwuscheltem Haar.

Margie Young-Hunt trat ein, keckbrüstig in einem lachsfarbenen Pullover. Der Tweedrock umschmiegte liebevoll ihre Schenkel und saß knapp überm stolzen Gesäß, doch was Ethan in ihren Augen sah, in den braunen, kurzsichtigen Augen, würde seine Frau nie sehen, da man es nicht sehen konnte, wenn Frauen in der Nähe waren. Dies hier war ein Raubtierweibchen, eine Jägerin, eine Artemis auf Hosenhatz. Einen «vagabundierenden Blick» hätte der alte Käpt’n Hawley das wohl genannt. Man merkte es auch ihrer Stimme an, diesem samtigen Schnurren, das sich in Gegenwart von Frauen zu einem sanften, hohen, vertraulichen Ton änderte.

«Morgen, Eth», sagte Margie. «Ein toller Tag für ein Picknick!»

«Morgen. Lassen Sie mich raten: Sie haben keinen Kaffee mehr?»

«Hätten Sie gesagt, ich habe kein Alka-Seltzer mehr, müsste ich Ihnen in Zukunft aus dem Weg gehen.»

«Lange Nacht?»

«So schlimm auch wieder nicht. Eine Geschichte mit einem Handlungsreisenden. Geschiedene Frauen haben nichts zu befürchten. Aktentasche voller Gratisproben. Ein typischer Klinkenputzer. Vielleicht kennen Sie ihn. Heißt Bigger oder Bogger und ist für B. B. D. & D. auf Achse. Ich komme nur auf ihn, weil er gesagt hat, dass er hier noch vorbeischauen will.»

«Wir kaufen meist bei Waylands.»

«Tja, falls Mr. Bugger14 sich heute Morgen besser fühlt als ich, ist er womöglich gerade dabei, neue Kunden an Land zu ziehen. Sagen Sie, könnten Sie mir vielleicht ein Glas Wasser geben? Dann nehm ich gleich jetzt ein paar von den Sprudeldingern.»

Ethan ging in den Lagerraum und kehrte mit einem Pappbecher voll Leitungswasser zurück. Sie warf drei der flachen Tabletten ein, ließ sie sprudeln und sagte: «Auf Ihr Wohl!», ehe sie das Wasser hinunterstürzte. «Und jetzt macht euch ans Werk, ihr kleinen Teufelchen.»

«Ich habe gehört, dass Sie Mary heute die Zukunft vorhersagen wollen?»

«Himmel! Hätte ich fast vergessen. Ich sollte das zu meinem Beruf machen. Könnte ein Vermögen damit verdienen.»

«Mary liebt so was. Können Sie das gut?»

«Gehört nicht viel dazu. Man lässt die Leute – will sagen, die Frauen – über sich reden, erzählt ihnen dasselbe noch mal, und schon glauben sie, man hätte das Zweite Gesicht.»

«Der hochgewachsene, gut aussehende Fremde?»

«Der auch, klar. Aber wenn ich wirklich die Zukunft vorhersehen könnte, würd ich mit den Kerlen nicht immer solche Bruchlandungen erleben. Mannomann! Ein paarmal hab ich wirklich gründlich danebengelegen.»

«Ist Ihr erster Mann nicht gestorben?»

«Nein, mein zweiter, Friede seiner Asche, diesem Sch… Ach, lassen wir das. Wie gesagt: Friede seiner Asche.»

Eilfertig grüßte Ethan die jetzt eintretende ältliche Mrs. Ezyzinski, ließ sich Zeit für die Übergabe eines Viertelpfunds Butter und brachte sogar ein, zwei gefällige Worte über das Wetter an, während Margie Young-Hunt entspannt lächelnd die goldenen Deckel der Pâté de foie gras-Gläser und die winzigen Schmuckdöschen mit Kaviar musterte, die weiter hinten auf der Theke gleich neben der Kasse standen.

«Also …», sagte Margie, nachdem die alte, auf Polnisch vor sich hin brabbelnde Dame nach draußen gewackelt war.

«Also was?»

«Ich habe nur gerade nachgedacht – würde ich die Männer so gut kennen wie die Frauen, könnte ich das wirklich zu meinem Beruf machen. Kommen Sie, bringen Sir mir alles über die Männer bei, ja, Ethan?»

«Sie wissen schon genug. Eher sogar zu viel.»

«Ach, jetzt seien Sie nicht so. Haben Sie denn kein bisschen Humor?»

«Wollen wir gleich anfangen?»

«Lieber am Abend.»

«Gut», sagte er. «Eine Gruppe. Mary, Sie und die beiden Kinder. Thema: Männer – ihre Schwächen, ihre Dummheit, und wie man sie manipulieren kann.»

Margie ignorierte seinen Ton. «Arbeiten Sie denn nie bis spätabends – die Monatsabrechnung am Ersten, so was in der Art?»

«Klar doch, aber ich nehme die Arbeit mit nach Hause.»

Sie hob die Arme über den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

«Warum?», fragte sie.

«Warum ist die Banane krumm?»

«Sehen Sie, es gibt jede Menge, was Sie mir beibringen könnten.»

Ethan sagte: «‹Und da sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm seine Kleider an und führten ihn hin, dass sie ihn kreuzigten. Und indem sie hinausgingen, fanden sie einen Menschen von Kyrene mit Namen Simon; den zwangen sie, dass er ihm sein Kreuz trug. Und da sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, was so viel heißt wie Schädelstätte …›»15

«Ach, um Gottes willen!»

«Ja … ja, das ist korrekt …»

«Wissen Sie eigentlich, was Sie für ein Dreckskerl sind?»

«Aber ja, o Tochter Zion16.»

Plötzlich lächelte sie. «Wissen Sie, was ich tun werde? Ich sage heute eine wahrhaft teuflische Zukunft voraus. Und Sie werden darin eine große Rolle spielen, denn alles, was Sie von nun an in die Hand nehmen, wird zu Gold – Sie sind ein wahrer Anführer!» Rasch ging sie zur Tür, drehte sich aber noch einmal um und grinste. «Ich wette, Sie trauen sich nicht, meine Vorhersage zu erfüllen, und ich wette, Sie trauen sich ebenso wenig, es nicht zu tun. Leben Sie wohl, Sie Heilsbringer!» – Wie befremdlich hochhackige Schuhe auf dem Pflaster klingen, wenn jemand verärgert ist.

Gegen zehn Uhr wurde alles anders. Die große Glastür der Bank faltete sich auf, und ein Strom von Leuten hob Geld ab und trug es in Marullos Laden, um jene Lebensmittel mitzunehmen, die das Osterfest gebot. Bis die sechste Stunde schlug, huschte Ethan so eifrig hin und her wie ein Wasserläufer.

Die Feuerglocke in der Kuppel auf dem Rathaus läutete zornig die sechste Stunde ein, und die Kunden gingen mit Tüten voller Bratenfleisch heim. Ethan holte die Obstauslage herein und schloss die Ladentür, um dann, einzig damit sich eine Dunkelheit über die Welt und über ihn senke, die schwere grüne Jalousie herabzulassen, sodass sich eine Dunkelheit auch über den Laden senkte. Nur das Neonlicht der Kühltheke schimmerte in gespenstischem Blau.

An der Theke schnitt er vier Scheiben Roggenbrot ab, bestrich sie großzügig mit Butter, öffnete die Schiebetür der Kühltheke und nahm zwei Scheiben Schmelzkäse sowie drei Scheiben Schinken heraus. «Kopfsalat und Käse», trällerte er. «Kopfsalat und Käse. Wer heiratet, dem vergehn die Späße.» Er bestrich die unteren Brotscheiben mit Mayonnaise aus dem Glas, legte die Deckhälften darauf und schnitt an den Rändern den überstehenden Salat und den Schinkenfettrand ab. Jetzt noch einen Karton Milch und Wachspapier zum Einwickeln. Er faltete gerade sorgsam die Papierenden, als an der Ladentür ein Schlüssel klapperte und Marullo hereinkam, breit wie ein Bär und mit derart mächtiger Brust, dass die Arme zu kurz wirkten und aussahen, als stünden sie ab. Den Hut hatte er sich in den Nacken geschoben, sodass die steifen eisengrauen Locken darunter vorlugten. Marullos Augen waren feucht, der Blick ebenso verschlagen wie verschlafen, und die Goldkronen seiner Schneidezähne schimmerten im Licht der Kühltheke. Die oberen zwei Knöpfe seiner Hose standen offen, weshalb die grobe graue Unterwäsche zu sehen war. Er hakte die kleinen dicken Daumen in den Hosenwulst unter seinem Bauch und blinzelte ins Halbdunkel.

«Morgen, Mr. Marullo. Oh, ist wohl schon Nachmittag.»

«Tag, Jungchen. Sie haben den Laden ja schnell dichtgemacht.»

«Die ganze Stadt macht dicht. Dachte, Sie wären in der Messe.»

«Gibt heute keine. Einziger Tag im Jahr ohne Messe.»

«Was Sie nicht sagen. Das hab ich nicht gewusst. Kann ich irgendwas für Sie tun?»

Die kurzen, dicken Arme streckten sich, dann wurden die Ellbogen hin und her geschwenkt. «Die Arme tun mir weh, Jungchen. Arthritis … Wird immer schlimmer.»

«Kann man nichts dagegen machen?»

«Ich mach ja schon alles: heiße Umschläge, Haifischöl, jede Menge Pillen – tun aber immer noch weh. Alles ordentlich aufgeräumt und der Laden dicht. Da können wir uns ja mal bisschen unterhalten, was, Jungchen?» Die Zähne blitzten.

«Stimmt was nicht?»

«Wie? Was stimmt nicht?»

«Na gut, können Sie bitte noch einen Augenblick warten? Ich bring nur schnell diese Sandwiches zur Bank. Mr. Morphy hatte drum gebeten.»

«Sind ’n prima Jungchen. Kunde ist König. Sehr gut.»

Ethan ging durch den Lagerraum, überquerte die Gasse, klopfte an die Hintertür der Bank und überreichte Joey Milch und Sandwiches.

«Danke, aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen.»

«Der Kunde ist König. Hat Marullo mir gerade erklärt.»

«Heben Sie ein paar Cokes für mich auf, ja? Mein Mund ist ganz trocken vor lauter Nullen.»

Als Ethan zurückkam, sah er, wie Marullo die Abfalleimer inspizierte.

«Worüber wollen Sie mit mir reden, Mr. Marullo?»

«Gucken Sie mal hier, Jungchen.» Er zog einige Blumenkohlblätter aus der Tonne. «Zu viel abgeschnitten.»

«Nur so viel, dass es ordentlich aussieht.»

«Blumenkohl ist nach Gewicht. Sie werfen Geld in die Abfalltonne. Ich kenn einen Griechen, schlauer Kopf, wo hat bestimmt zwanzig Restaurants oder so. Er sagt, das große Geheimnis ist, Abfalltonnen im Auge behalten. Wirfst du was weg, kannst du’s nicht mehr verkaufen. Ein wirklich kluger Kopf.»

«Ja, Mr. Marullo.» Ethan eilte ruhelos in den vorderen Ladenteil, und Marullo folgte ihm, wobei er unablässig die Ellbogen schwenkte.

«Und Sie sprenkeln Wasser übers Gemüse, genau wie ich gesagt habe?»

«Natürlich.»

Der Chef griff sich einen Salatkopf. «Fühlt sich trocken an.»

«Ach, zum Teufel, Marullo, ich will den Salat doch nicht ertränken – besteht sowieso schon zu einem Drittel nur noch aus Wasser.»

«Sehen sie knackig, hübsch und frisch von außen. Oder glauben Sie, ich weiß nicht, von was ich rede? Mit einem Karren hab ich angefangen. Einem einzigen. Natürlich ich weiß Bescheid. Müssen Sie lernen die Tricks, Jungchen, oder Sie gehen Bach runter. Jetzt zum Fleisch – Sie zahlen zu viel.»

«Na ja, wir machen Reklame für Eins-a-Rindfleisch.»

«A, b, c – wer weiß das? Steht doch da angeschrieben! Ist gut, dass wir beide mal in Ruhe miteinander reden. Bei uns ist zu viel totes Kapital. Wer nicht zahlt bis zum Fünfzehnten – kein Kredit mehr.»

«Aber das können wir nicht machen. Manche dieser Leute kaufen seit über zwanzig Jahren bei uns ein.»

«Hören Sie zu, Jungchen. In den großen Kaufhäusern nicht mal John D. Rockefeller kriegt was auf Pump, nicht für fünf Cent.»

«Mag sein, aber unsere Leute zahlen ihre Schulden, die meisten jedenfalls.»

«Was heißt ‹zahlen›? Schulden binden Geld. Die Kaufhäuser kriegen ihre Ware lastwagenweise angekarrt. Wir können das nicht. Sie müssen noch viel lernen, Jungchen. Sicher – sind bestimmt nette Leute. Aber Geld ist auch nett. Zu viele Wurststreifen in der Tonne.»

«Bloß Fettränder und Pellen.»

«Ist nur okay, wenn Sie vorm Abschneiden gewogen haben. Achten Sie immer auf Regel Nummer eins. Wenn Sie’s nicht tun, wer dann achtet auf Regel Nummer eins? Sie müssen noch viel lernen, Jungchen.» Die Goldkronen funkelten nicht mehr, denn wie eine Falle waren die Lippen fest geschlossen.

Ehe Ethan es sich versah, brandete eine Wut in ihm auf, die ihn selbst überraschte. «Ich bin kein Betrüger, Marullo!»

«Was für Betrug? Ist gutes Geschäftsgebaren, und gute Geschäfte sind die einzigen Geschäfte, wenn man länger im Geschäft bleiben will. Oder glauben Sie, Mr. Baker verteilt Gratisproben von seine Banknoten?»

Da platzte Ethan endgültig der Kragen. «Jetzt hören Sie mal zu», schrie er. «Seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts leben wir Hawleys hier. Das können Sie nicht wissen, weil Sie Ausländer sind. Seit all der Zeit verstehen wir uns mit unseren Nachbarn, und wir verhalten uns anständig. Wenn Sie jetzt glauben, Sie könnten aus Sizilien einfach so hier reinschneien und das ändern, dann irren Sie sich. Und wenn Sie meinen, Sie könnten meine Arbeit besser machen als ich, bitte sehr, tun Sie’s – gleich hier und jetzt. Und nennen Sie mich nicht noch mal Jungchen, oder ich verpasse Ihnen eins auf die Nase …»

Jetzt blitzten wieder all seine Zähne. «Gut, gut. Regen Sie sich nicht so auf. Ich will Ihnen doch nur Gefallen tun.»

«Nennen Sie mich nie wieder Jungchen. Meine Familie lebt seit zweihundert Jahren hier.» Selbst in seinen eigenen Ohren klang das kindisch, und die Wut verrauchte.

«Mag sein, mein Englisch ist nicht besonders. Für Sie Marullo ist Itakername, Name von Spaghettifresser, von Kanake. Aber mein genitori, mein Name, der ist, kann sein, zwei-, dreitausend Jahre alt. Marullus kam aus Rom, Valerius Maximus hat von ihm geschrieben. Was sind da schon zweihundert Jahre?»

«Von hier kommen Sie jedenfalls nicht.»

«Vor zweihundert Jahren von Ihrer Familie hat auch noch keiner hier gelebt.»

Jetzt verflog auch der letzte Rest seiner Wut, und Ethan sah etwas, was einen Menschen an der Beständigkeit der Realität außerhalb seiner selbst zweifeln lassen kann. Er sah, wie sich der Einwanderer, der Itaker, der Händler mit dem Obstkarren vor seinen Augen veränderte, sah die Wölbung der Stirn, die kräftige Adlernase, die tiefsitzenden, wilden, furchtlos blickenden Augen, sah den Kopf, gehalten von mächtigen Muskelsträngen, und sah einen Stolz, so groß und selbstgewiss, dass er sich als Demut ausgeben konnte. Die Entdeckung schockierte ihn dermaßen, dass er sich fragte: Wenn ich all das übersehen konnte, was habe ich sonst noch alles übersehen?

«Sie müssen sich mir gegenüber nicht einen Kanaken nennen», sagte er leise.

«Gutes Geschäft. Ich Ihnen bringe bei, wie man gutes Geschäft macht. Achtundsechzig Jahre bin ich. Meine Frau ist gestorben. Arthritis! Tut weh. Ich versuche, Ihnen zu zeigen, wie man Geschäft macht. Vielleicht Sie lernen nix. Die meisten Leute lernen nix. Gehen pleite.»

«Sie brauchen mir nicht immer von Neuem unter die Nase zu reiben, dass ich bankrottgegangen bin.»

«Nein. Sie verstehen falsch. Ich will Ihnen gutes Geschäft beibringen, damit Sie pleitegehen nie wieder.»

«Tja, Pech, ich habe nämlich kein Geschäft.»

«Sie sind noch jung.»

Ethan sagte: «Jetzt hören Sie mal zu, Marullo. Ich führe diesen Laden ja praktisch für Sie. Ich kümmere mich um die Buchhaltung, bringe das Geld zur Bank, mache die Bestellungen. Sorge dafür, dass uns die Kunden erhalten bleiben. Dass sie zu uns zurückkommen. Ist das etwa kein gutes Geschäft?»

«Klar – Sie haben was gelernt. Sind kein Jungchen mehr. Regen sich sogar auf, wenn ich Sie nenn Jungchen. Aber was soll ich sonst sagen? Ich sag Jungchen zu alle.»

«Versuchen Sie es doch mal mit meinem Namen.»

«Klingt nicht nett. Jungchen ist netter.»

«Aber nicht respektvoll.»

«Respektvoll ist nicht freundlich.»

Ethan lachte. «Wenn man Verkäufer in einem Itakerladen ist, braucht man Respekt – allein wegen der Frau, den Kindern. Verstehen Sie?»

«Ist Schwindel.»

«Natürlich. Erwiese man mir echten Respekt, bräuchte ich mir keine Gedanken darüber zu machen. Fast hätte ich vergessen, was mir mein alter Vater einmal kurz vor seinem Tod gesagt hat. Er sagte, die Höhe der Schwelle zur Beleidigung sei direkt proportional zur Höhe von Intelligenz und Sicherheit. Er sagte, das Wort ‹Hurensohn› könne nur für den eine Beleidigung sein, der sich, was seine Mutter angeht, nicht ganz sicher ist, wie aber wollte man Albert Einstein damit beleidigen? Der hat damals noch gelebt. Also, wenn Sie wollen, können Sie gern weiterhin Jungchen zu mir sagen.»

«Sehn Sie, Jungchen? Ist netter.»

«Na schön, aber was wollten Sie mir übers Geschäft beibringen, was ich noch nicht weiß?»

«Geschäft ist Geld. Geld ist nicht nett. Jungchen, vielleicht Sie sind zu nett – zu freundlich. Geld ist nicht freundlich. Geld will keine Freunde, will nur mehr Geld.»

«Das ist doch Unsinn, Marullo. Ich kenne jede Menge nette, freundliche, ehrenwerte Geschäftsleute.»

«Klar, Jungchen, solange sie nicht machen Geschäfte. Finden Sie schon noch raus. Nur, wenn Sie’s rausfinden, es ist zu spät. Sie führen den Laden auf nette Art, aber wenn’s Ihr Laden ist, gehen Sie vielleicht auf nette Art pleite. Ich geb Ihnen richtigen Unterricht, genau wie in der Schule. Ciao, Jungchen.» Marullo winkelte die Arme an, marschierte zur Ladentür hinaus und zog sie hinter sich ins Schloss. Ethan spürte die Dunkelheit der Welt.

Ein scharfes, metallisches Pochen an der Tür. Ethan schob den Vorhang beiseite und rief: «Wir haben bis drei geschlossen.»

«Lassen Sie mich rein. Ich möchte mit Ihnen reden.»

Der Fremde trat ein – ein schmächtiger, ewig junger Mann, der nie jung gewesen war, geschmackvoll gekleidet, das glänzende, schüttere Haar eng am Kopf, die Augen fröhlich, der Blick ruhelos.

«Tut mir leid, dass ich Sie jetzt noch behellige. Muss raus aus der Stadt. Wollte vorher aber noch allein mit Ihnen reden. Dachte schon, der Alte würde sich nie verziehen.»

«Marullo?»

«Ja. Stand drüben auf der andern Straßenseite.»

Ethan musterte die makellosen Hände und entdeckte am Mittelfinger der linken Hand einen Goldring mit einem großen Katzenaugenstein.

Der Fremde bemerkte seinen Blick. «Ist kein Überfall», sagte er. «Ich habe gestern Abend eine Freundin von Ihnen getroffen.»

«Ach ja?»

«Mrs. Young-Hunt. Margie Young-Hunt.»

«Und?»

Ethan konnte den ruhelos schnüffelnden Geist des Fremden nahezu spüren, die Suche nach einem Zugang, einer Gemeinsamkeit, an die er anknüpfen konnte.

«Nette Kleine. Hat mächtig von Ihnen geschwärmt. Und deshalb dachte ich mir – ich heiße übrigens Biggers und bin in dieser Gegend für B. B. D. & D. unterwegs.»

«Wir kaufen bei Waylands.»

«Weiß ich doch. Deshalb komme ich ja. Dachte, Sie möchten Ihren Lieferantenkreis vielleicht ein bisschen erweitern. Wir sind neu in diesem Bezirk, aber das Geschäft wächst rasant. Und um einen Fuß in die Tür zu bekommen, müssen wir ein paar Zugeständnisse machen. Könnte sich für Sie lohnen.»

«Darüber müssen Sie mit Mr. Marullo reden. Er hat bislang ausschließlich mit Waylands verhandelt.»

Der Fremde senkte nicht gerade die Stimme, aber sein Ton wurde verschwörerisch. «Die Bestellungen machen Sie?»

«Ja, das schon. Wissen Sie, Marullo leidet unter Arthritis, außerdem hat er noch andere Geschäftsinteressen.»

«Wir könnten die Preise ja ein bisschen drücken.»

«Ich fürchte, Marullo hat sie schon so weit gedrückt, wie es nur geht. Sie sollten lieber mit ihm reden.»

«Genau das will ich nicht. Ich wollte mit dem Mann reden, der die Bestellungen macht, und das sind Sie.»

«Ich bin nur der Verkäufer.»

«Aber Sie bestellen die Ware, Mr. Hawley. Fünf Prozent wären für Sie drin.»

«Marullo lässt sich bestimmt auf den Rabatt ein, falls die Qualität gleich bleibt.»

«Sie verstehen mich nicht. Mir geht’s nicht um Marullo. Diese fünf Prozent gibt es in bar – keine Schecks, nichts Schriftliches, keine Scherereien mit dem Finanzamt, nur saubere, schöne grüne Scheinchen aus meiner Hand in Ihre und von Ihrer Hand in Ihre Tasche.»

«Und warum können Sie diesen Rabatt nicht Marullo einräumen?»

«So lauten nun mal unsere Preisvereinbarungen.»

«Also gut. Was ist, wenn ich die fünf Prozent nehme und sie dann an Marullo weitergebe?»

«Ich fürchte, Sie kennen die Menschen nicht so gut wie ich. Geben Sie ihm die fünf Prozent, wird er sich fragen, wie viel Sie für sich behalten. Ist ganz natürlich.»

Ethan senkte die Stimme. «Sie wollen, dass ich den Mann hintergehe, für den ich arbeite?»

«Wer spricht denn von hintergehen? Er verliert nichts, und Sie verdienen sich was dazu. Und jeder hat schließlich das Recht, sich ein bisschen was dazuzuverdienen. Margie meinte, Sie seien ganz schön gewitzt.»

«Heute ist ein dunkler Tag», sagte Ethan.

«Nein, gar nicht. Sie haben bloß die Jalousie runtergelassen.» Der schnüffelnde Verstand witterte Gefahr – eine Maus, hin- und hergerissen zwischen Fallengeruch und Käseduft. «Wissen Sie was», sagte Biggers, «denken Sie einfach drüber nach. Und ich schau vorbei, wenn ich wieder in der Gegend bin. Ich komme alle zwei Wochen. Hier ist meine Karte.»

Ethans Hand rührte sich nicht. Biggers legte die Karte oben auf die Kühltheke. «Und hier noch ein kleines Andenken für neue Freunde.» Aus seinem Jackett zog er eine Brieftasche, ein edles, schönes Exemplar aus Robbenfell, und legte sie neben seine Karte aufs weiße Porzellan. «Hübsches kleines Ding. Ideal für Führerschein und Visitenkarten.»

Ethan gab keine Antwort.

«In ein paar Wochen schaue ich wieder vorbei», sagte Biggers. «Denken Sie drüber nach. Ich komme auf jeden Fall, hab schließlich ein Date mit Margie. Scharfe Braut.»

Als erneut keine Antwort kam, fuhr er fort: «Ich finde allein hinaus. Bis bald.» Doch dann trat er plötzlich auf Ethan zu. «Seien Sie kein Dummkopf. Jeder macht es», sagte er. «Wirklich jeder!» Und dann ging er rasch zur Tür und schloss sie leise hinter sich.

In der dämmrigen Stille konnte Ethan das tiefe Brummen des Transformators für das Neonlicht der Kühltheke hören. Langsam wandte er sich dem übereinandergestapelten und ordentlich aufgereihten Publikum auf den Regalen zu.

«Und ich habe euch für meine Freunde gehalten! Keine Hand habt ihr für mich gerührt, ihr Schönwetteraustern, Schönwettergurken, Schönwetterbackmischungen. Kein ‹unimus› mehr für euch. Frage mich, was der Heilige Franziskus gesagt hätte, wenn er von einem Hund gebissen worden wäre oder wenn ein Vogel auf ihn geschissen hätte. ‹Besten Dank, Herr Hund, grazie tanto, Signora Vogel›?» Er wandte den Kopf, als er am Hintereingang ein lautes Klopfen und Hämmern hörte, und durchquerte rasch den Lagerraum, während er vor sich hin brummte: «Mehr Kunden, als wenn der Laden geöffnet hätte.»

Joey Morphy taumelte herein, eine Hand an der Kehle. «Um Himmels willen», stöhnte er. «Helft mir – oder reicht mir zumindest eine Pepsi-Cola, mich dürstet. Warum nur ist es so dunkel hier drinnen? Lassen meine Augen mich gar im Stich?»

«Die Jalousie ist runtergezogen. Zur Abschreckung durstiger Bankleute.»

Ethan ging voran zur Kühltheke, fischte eine eiskalte Flasche heraus, öffnete sie und nahm gleich noch eine zweite. «Ich glaub, ich gönn mir auch eine.»

Joey-Boy lehnte sich an die beleuchtete Glasscheibe und trank die halbe Flasche aus, ehe er sie wieder absetzte. «Mann!», sagte er. «Irgendwer hat hier seinen Goldschatz liegen lassen.» Er griff nach der Brieftasche.

«Ein kleines Geschenk von diesem B. B. D. & D.-Handelsvertreter. Er will unbedingt mit uns ins Geschäft kommen.»

«Tja, er lässt sich jedenfalls nicht lumpen. Das ist gute Qualität. Sind sogar Ihre Initialen drauf, in Gold.»

«Ehrlich?»

«Wollen Sie sagen, Sie hätten das nicht gewusst?»

«Er ist erst vor einer Minute gegangen.»

Joey klappte die Brieftasche auf und fuhr mit dem Finger die Plastikstecktaschen entlang. «Tja, sieht aus, als müssten Sie jetzt einigen Vereinen beitreten», sagte er und öffnete die Rückseite. «Also, das nenn ich fürsorglich.» Mit Zeige- und Mittelfinger zog er einen neuen Zwanzigdollarschein heraus. «Ich wusste ja, dass die in der Gegend hier Fuß fassen wollen, habe aber nicht geahnt, dass sie so schwere Geschütze auffahren. Ist jedenfalls ein Andenken, an das man sich gern erinnert.»

«War der Schein schon drin?»

«Glauben Sie etwa, ich hätte den reingesteckt?»

«Joey, ich würde gern was mit Ihnen bereden. Dieser Kerl hat mir fünf Prozent auf alle Waren angeboten, die ich bei ihm bestelle.»

«Na prima! Endlich ein bisschen Wohlstand. Und er gibt sich nicht mit leeren Versprechen ab. Sie sollten ein paar Cokes springen lassen. Ein großer Tag für Sie.»

«Sie wollen doch nicht sagen, ich soll sein Angebot annehmen …»

«Warum denn nicht? Solange die es nicht auf die Preise aufschlagen, verliert doch keiner dabei.»

«Er meinte, ich soll Marullo nichts davon sagen, weil der sonst glaubt, ich würde noch mehr einstreichen.»

«Da hat er recht. Was ist denn los mit Ihnen, Hawley? Sind Sie nicht ganz bei Trost? Fürchte, das liegt am Licht. Sie sehen ja ganz grün aus. Sehe ich auch so grün aus? Sie denken doch nicht ernstlich daran, das Angebot abzulehnen?»

«Ich konnte mir nur mit Mühe verkneifen, ihm einen Tritt in den Hintern zu verpassen.»

«Ach, so ist das. Sie halten es mit den Ewiggestrigen.»

«Er sagte, alle täten es.»

«Aber nicht jeder bekommt die Chance. Sie gehören offenbar zu den Glücklichen.»

«Das ist doch unehrlich.»

«Ach ja? Und wem tut’s weh? Oder verstößt es gegen irgendein Gesetz?»

«Sie meinen, Sie würden das Angebot annehmen?»

«Annehmen? Ich würd mich dafür auf die Hinterfüße setzen und Männchen machen. In meinem Metier wurden längst sämtliche Schlupflöcher gestopft. Fast alles, was man in einer Bank machen könnte, verstößt gegen das Gesetz – es sei denn, man ist ihr Präsident. Ich verstehe Sie nicht. Warum zögern Sie? Wenn Sie Ihrem Alfio was wegnehmen würden, wär das nicht ganz sauber, aber so ist es ja nicht. Sie tun Ihrem neuen Partner einen Gefallen, und Sie tun sich selbst einen Gefallen – einen hübschen, knisternden grünen Gefallen. Seien Sie nicht dumm. Sie haben Frau und Kinder, an die sollten Sie denken. Und Kinder aufzuziehen wird auch nicht billiger.»

«Mir wäre es lieber, Sie würden jetzt gehen.»

Joey Morphy knallte die halb geleerte Flasche auf die Theke. «Mr. Hawley – nein, Mr. Ethan Allen Hawley», sagte er kühl, «wenn Sie glauben, ich wäre unehrlich oder würde Ihnen raten, etwas Unehrliches zu tun, dann können Sie mich mal kreuzweise.»

Joey stapfte in Richtung Lagerraum.

«So hab ich es doch nicht gemeint. Ehrlich nicht, Joey. Ich musste heute nur schon ein paar ziemliche Schocks verkraften, und außerdem ist dies ein schrecklicher Feiertag, wirklich ganz fürchterlich.»

Morphy hielt inne. «Wie meinen Sie das? Ach so, ja, ich weiß. Ich weiß Bescheid. Glauben Sie mir, ich weiß es.»

«Seit ich ein Kind war, nur wird es von Jahr zu Jahr schlimmer, weil … vielleicht weil ich besser verstehe, was sie bedeuten, diese einsamen Worte ‹lama asabthani›17.»

«Das weiß ich doch, Ethan, ich weiß es. Aber es ist ja schon fast vorbei – fast vorbei, Ethan. Vergessen Sie einfach, dass ich gerade aus dem Laden stürmen wollte, ja?»

Und dann dröhnte die eherne Feuerwehrglocke – ein einziger Schlag.

«Jetzt ist es vorbei», sagte Joey-Boy. «Alles vorbei – für ein Jahr vorbei.» Leise verschwand er durch den Lagerraum und zog behutsam die Tür hinter sich zu.

Ethan kurbelte die Markise hoch und öffnete den Laden wieder, doch das Geschäft lief schlecht – ein paar Kinder, die eine Flasche Milch oder einen Laib Brot holten, ein kleines Lammkotelett sowie eine Dose Erbsen für das warme Abendessen von Miss Borcher. Es waren kaum Leute auf der Straße. In der halben Stunde vor sechs Uhr, als Ethan sich daranmachte, den Laden zu schließen, ließ sich kein Mensch blicken. Dann sperrte er ab und begab sich auf den Heimweg, als ihm einfiel, dass er die Lebensmittel für Mary vergessen hatte – also ging er zurück, schloss wieder auf, packte alles in zwei große Tüten und schloss erneut ab. Er wollte den Weg entlang der Bucht nehmen, wollte den grauen Wellen zwischen den Stützpfeilern der Docks zusehen, das Meerwasser riechen und mit einer Möwe reden, die auf einem Anlegeplatz den Schnabel in den Wind hielt. Ihm fiel ein Gedicht ein, geschrieben vor langer Zeit von einer Frau, die beim Anblick des gleitenden Spiralflugs einer Möwe regelrecht in Ekstase geraten war. Es begann mit den Worten: «Ach, glücklicher Vogel – was begeistert dich so?»18 Die Dichterin hatte es nie herausgefunden, wollte es vielleicht auch gar nicht wissen.

Die schweren Taschen aber verleideten ihm diesen Spaziergang. Müde trottete Ethan die High Street entlang, bog in die Elm Street ein und schritt langsam auf das alte Haus der Familie Hawley zu.

2

Mary eilte vom Herd herbei, um ihm eine der beiden großen Tüten abzunehmen.

«Ich hab dir so viel zu erzählen. Kann es kaum erwarten.»

Er gab ihr einen Kuss, doch kaum spürte sie seine weichen Lippen, fragte sie: «Was ist los?»

«Bisschen müde.»

«Aber der Laden war doch drei Stunden geschlossen.»

«Viel zu tun.»

«Du bläst mir doch nicht Trübsal, oder?»

«War ein trübseliger Tag.»

«Ach was, wunderbar war er. Wart nur, bist du das Neueste hörst.»

«Wo sind die Kinder?»

«Oben vorm Radio. Sie haben dir auch was zu erzählen.»

«Gibt’s Ärger?»

«Warum sagst du so was?»

«Keine Ahnung.»

«Dir geht’s nicht gut.»

«Verdammt, nein, mir geht’s nicht gut.»

«Dabei ist so viel Schönes passiert – ich warte mit unserem Teil bis nach dem Essen. Du wirst staunen.»

Allen und Mary Ellen polterten die Treppe herunter und kamen in die Küche. «Er ist zu Hause», riefen sie.

«Paps, gibt’s Peeks bei dir im Laden?»

«Du meinst dieses Müsli? Aber sicher, Allen.»

«Könntest du das nicht mal mitbringen? Die Packung mit der Mickymausmaske, die man ausschneiden kann?»

«Bist du nicht schon ein bisschen zu alt für eine Mäusemaske?»

Ellen sagte: «Wenn man den Kartondeckel und zehn Cent einschickt, kriegt man dafür so ein Bauchrednerdings und eine Anleitung. Haben wir gerade im Radio gehört.»

Mary sagte: «Erzählt eurem Vater, was ihr vorhabt.»

«Also, wir machen beim landesweiten ‹Ich liebe Amerika›-Aufsatzwettbewerb mit. Der erste Preis ist eine Reise nach Washington zum Präsidenten – mit Eltern –, und es gibt noch jede Menge andere Preise.»

«Wie schön», sagte Ethan. «Und was müsst ihr dafür tun?»

«Für die Hearst-Zeitungen19