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Commissario Luca Manaro hat es nicht leicht: Vor knapp einem Jahr hat er seine geliebte Frau bei einem tragischen Unfall verloren und auch das Verhältnis zu seiner Tochter Sara lässt seitdem zu wünschen übrig. So stürzt sich der grimmige, aber findige Italiener verbissen in die Arbeit. Immer an seiner Seite – der deutsche Ermittler Lasse Wolafka, der die Schwermut seines Partners mit Einfallsreichtum und guter Laune wettmacht. Als die beiden eines Nachts zu einem Mordfall hinzugezogen werden, stoßen sie auf ungewöhnliche Tatumstände. Im Zoo von Ravenna ist der Affenpfleger Luigi tot aufgefunden worden, neben ihm der verstümmelte Körper eines Affenbabys und eine ungewöhnliche Zeugin – die hochintelligente Schimpansendame Sissy. Der Kreis der Verdächtigen ist groß, denn nicht nur der Sohn des Ermordeten, sondern auch der undurchsichtige Psychiater Bernardo und die Tierärztin Ines, für die Luca mehr als nur Freundschaft empfindet, haben ein Tatmotiv. Dann geschieht ein weiterer Mord und für die beiden Polizisten beginnt ein Wettrennen gegen die Zeit. Gibt es einen zweiten Mörder oder hängen die Fälle zusammen?
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Seitenzahl: 454
Frauke Schuster
Ein neuer Fall für das deutsch-italienische Ermittlerduo Luca und Lasse
Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2015 bei hey! publishing, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
ISBN 978-3-95607-023-5
Von Frauke Schuster zuletzt bei hey! erschienen:
„Vergeltet, wie auch sie vergalten“
www.heypublishing.com
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Glossar
Quellen
Für Hans, der die Schimpansen filmte,
und für Kerstin und Shaobo.
Der massige Körper bewegte sich überraschend geschmeidig, die silbernen Haare auf dem unteren Rücken des Gorillas glänzten im Licht der Weglampe. Das Jungtier versuchte, auf einen Ast zu fliehen, doch der Silberrücken erwischte es am Arm und zog es zu sich heran. Für einen Moment glitt der Blick des Alttiers zum Fenster des angrenzenden Gebäudes, suchte das Paar brauner Augen hinter der Scheibe, las die Besorgnis darin.
Das Jungtier nutzte den Augenblick, um sich aus dem Griff des Silberrückens zu winden und in die hinterste Ecke des Geheges zu entwischen.
Langsam trat der Silberrücken vor die Gruppe, starrte in die Dunkelheit der Welt außerhalb seines Reviers. Von fern drangen die Rufe der nächtlichen Jäger herüber, der Hyänen vor allem, deren Bellen und Kreischen weithin zu vernehmen war. Der Gorilla jedoch wusste, dass die Aasfresser nicht zu ihm und seiner Familie vordringen konnten.
Sein Blick konzentrierte sich auf die zwei dunkel gekleideten menschlichen Gestalten, die er im schwachen Schein der Nachtbeleuchtung nur schemenhaft sehen konnte. Ihre Stimmen hingegen vernahm er deutlich und erkannte an der Tonlage Wut und unterdrückten Hass. Der Gorilla witterte Gefahr und blieb vor der Gruppe, denn es war seine Aufgabe, sie zu schützen.
Mittlerweile waren alle Tiere aufgewacht; still und reglos beobachteten sie die Menschen.
"Scheißkerl!", zischte der Größere und plötzlich blitzte ein Messer auf. Im nächsten Moment gingen die beiden Menschen aufeinander los. Der Silberrücken hörte den Schmerzensschrei des Kleineren, als die scharfe Klinge dessen Unterleib traf. Die Hände des Mannes tasteten nach der Wunde, seinem Mund entrang sich ein gurgelndes Stöhnen; er sackte zu Boden.
"Selber schuld!" Die Stimme des anderen, heiser vor Erregung. Und während sich die Menschenfinger fester um das Messer krampften, drückte sich im ersten Stock des Affenhauses eine Nase gegen die Fensterscheibe. Zwei braune Augen verfolgten starr das Geschehen, ehe sich schließlich eine Hand vor sie schob, als wolle sie ihnen ersparen, die grausame Szene weiter betrachten zu müssen.
Die Lippen des am Boden liegenden Mannes bewegten sich, als wolle er um Gnade flehen. Der kleine Gorilla steckte seinen Kopf unter einen Jutesack wie ein Kind, das glaubt, nicht gesehen zu werden, wenn es selbst nicht sieht.
Das Gesicht des stehenden Menschen war nicht zu erkennen, hinter einer Maske verborgen. Tief sog der Silberrücken die Luft ein, roch Schweiß und Furcht.
"Nicht … Per favore … Bitte nicht!", gurgelte der am Boden liegende Mann, beide Hände auf den Unterleib gepresst. Er war es, der die Angst ausdünstete. Angst und Tod, wie der Silberrücken begriff. Der Maskierte zögerte; eine Weile war nichts anderes zu hören als der mühsame Atem des Verletzten.
Vorsichtig näherte sich der Silberrücken, dem die Menschen den Namen Gonzo gegeben hatten, dem Gitter. Er tastete mit der Hand nach der Tür, die einen Spalt breit offen stand. Doch er ging nicht hinaus, ließ den Blick umherwandern, von links nach rechts, von rechts nach links. Die Gruppenälteste trat neben ihn und er schob sie nicht zurück. Das Jungtier lag unter dem Sack; lediglich seine kurzen schwarzen Beine waren zu sehen.
Der stehende Mensch betrachtete das blutige Messer. In einer schnellen Bewegung bückte er sich und –! Wieder bewegte sich im Gebäude nebenan die braune Hand zu den Augen.
Lautlos schlüpfte das Jungtier unter dem Sack hervor, rannte zu Gonzo. Der Silberrücken wollte es packen, aber das Kleine hopste zur Seite. Gonzo setzte ihm nach, das Jungtier fand Gefallen an dem Spiel, vergaß die Menschen draußen, vergaß die Angst, flitzte einmal um das Gehege und sauste, ehe Gonzo es erwischen konnte, durch die nach wie vor einen Spalt breit offen stehende Tür ins Freie. Gonzo stoppte. Die Tür klemmte, als er sie weiter aufzuschieben versuchte. Das Jungtier lief an dem Maskierten vorbei, erkannte die Gefahr zu spät, wollte einen Haken schlagen, aber da schoss eine kräftige Hand vor, erwischte es am Arm.
Zornig trampelte der Silberrücken auf den Boden, trommelte auf seiner Brust, Drohgesten, die den Menschen nicht beeindruckten. Der Maskierte hob das Messer.
Mit einem Schrei raste Gonzo endlich doch aus dem Gehege, auf den Menschen los, und spürte im nächsten Moment einen brennenden Schmerz im Gesicht.
Luca Manaro frühstückte in seiner Lieblingsbar, wo der Barista automatisch wusste, was er dem Gast hinzustellen hatte. Und dass der, wenn überhaupt, erst nach dem zweiten caffè ansprechbar wurde.
Von außen wirkte die Bar mit ihrem von der Wand bröckelnden Putz wie eine Dauerbaustelle. Aber der schmale Innenraum präsentierte sich gemütlich, mit Gemälden, die das Khartum des neunzehnten Jahrhunderts zeigten, einer reich mit Schnitzereien verzierten Theke und einer Reihe bunter Shishas an der Seitenwand.
Der Commissario hatte den Geheimtipp Caffè Omar keinem seiner Kollegen verraten, zog es vor, diesen Ort als persönliches Notfallrefugium für sich zu behalten. Und er hütete sich, dem Barista zu erzählen, dass er für die Polizei arbeitete.
"Schöner Tag heute." Omar wies mit dem Kopf zur Tür. "Gut, dass der Winter vorbei ist."
Luca hatte sich bisher nicht mit dem Tag anfreunden können. Vor allem, weil er nicht die geringste Ahnung hatte, was er seiner Tochter zum Geburtstag schenken könnte. Glücklicherweise ersparte ihm das Klingeln seines cellulares, sich einen Kommentar ausdenken zu müssen.
"Pronto? Massimo? Was gibt's?"
"Eine Leiche", meldete die vertraute Stimme des Ispettore knapp.
Das schmiedeeiserne Zootor schwang auf, kaum dass Luca seinen Dienstausweis zum Wagenfenster hinaushielt.
"Fahren Sie durch, Signor Commissario, fahren Sie durch!" Der junge Mann vor dem Kassenhaus der Savana Adriatica winkte so hektisch, dass er sich seine grüne Kappe vom Kopf stieß.
Das Affengehege. Luca kannte den Weg, hatte den Zoo gelegentlich mit den Kindern seiner Schwester besucht. Mit ausgiebigem Hupen trieb er zwei Tierparkarbeiter zur Seite, die ihn wütend anstarrten; der eine zeigte ihm den Stinkefinger.
Vor dem Absperrband ließ Luca den Alfa stehen. Ispettore Massimo Borghini half einem uniformierten Kollegen, die Schaulustigen – um diese frühe Stunde zum Glück nur Zooangestellte – zurückzuhalten. Bei der Gehegetür diskutierte Lasse Wolafka, Lucas deutscher Partner, der im Rahmen eines EU-Programms in Ravenna arbeitete, mit dem Arzt. Von den Gorillas, die üblicherweise das Gelände bevölkerten, keine Spur.
"Wo sind die Affen?", fragte der Commissario. Während die Zooarbeiter sich gegenseitig fast über das Absperrband schubsten, um einen Blick auf den Körper zu erhaschen, der reglos auf dem weißen Kies des Weges lag, verspürte Luca nur Widerwillen bei dem Gedanken, selbst hier dem Tod zu begegnen, den er in seinem Leben zu oft und in so mannigfaltiger Form gesehen hatte.
"Im Haus eingesperrt." Lasse kam näher, das dunkelblonde Haar feucht von dem zähen Nebel, der das Zoogelände und möglicherweise die gesamte Poebene in düsteres Einheitsgrau tauchte. "Scheint, als ob heute wir ihre Rolle übernehmen sollen."
Luca zog es vor, die Bemerkung zu überhören. Stattdessen versuchte er die Szenerie in sich aufzunehmen, möglichst viele Einzelheiten zu erfassen, um sie sich später nach Bedarf wieder ins Gedächtnis rufen zu können.
Der Tote lag drei bis vier Meter von der Tür des Affengeheges entfernt, neben einer grauen Plastikplane, die sich in der Mitte aufwölbte. Ein dürrer, kleiner Mann so zwischen fünfzig und sechzig, in dessen Gesicht das Leben und die UV-Strahlen der Sonne tiefe Stirnfalten gezeichnet hatten. Er trug eine Noname-Jeans, einen ausgewaschenen grauen Sweater und eine offen stehende Kunstlederjacke, die den Blick auf das eingetrocknete Blut auf Unterleib und Brust freigab.
"Wer ist der Mann?"
"Luigi Pico. Tierpfleger, zuständig für die Affen", wusste Lasse. "Revierleiter, also der Capo in seinem Bereich."
Luca ging in die Hocke, um die Wunden des Mannes genauer zu betrachten. Drei Stichwunden.
"Wann ist er gestorben?"
Genau würde er das erst bei der Obduktion feststellen können, schickte der Arzt, wie nicht anders erwartet, voraus. Allerdings ließ sich die Tatzeit seiner Meinung nach grob auf die Stunden zwischen Mitternacht und drei Uhr eingrenzen.
"Was ist unter der Plane?"
Wortlos schlug der Arzt das Plastik zurück. Luca starrte auf den kleinen schwarzen Affen, die grau-weißen Eingeweide, die aus einem langen Schlitz über den Bauch des Tieres quollen; Übelkeit wallte in ihm auf.
"Non so niente. Ich weiß nichts." Der hünenhafte Tierpfleger Hossam Boctor, der trotz der Kälte lediglich ein grünes Muskelshirt ohne Jacke trug, rollte mit den Augen, dass man das Weiße sah. Sein Italienisch wies einen arabischen Akzent auf. "Ich komm hierher und Luigi liegt am Boden. Ich krieg Schreck, weil er ist tot. Dann ich ruf um Hilfe und Signor Nettuno kommt." Hossam wedelte in Richtung des Zoodirektors, dessen Personalien Lasse gerade notierte.
"Arbeiteten Sie üblicherweise mit Signor Pico zusammen?", fragte Luca.
"Natürlich."
"Können Sie sich vorstellen, warum er mitten in der Nacht, außerhalb seiner Arbeitszeit, in den Zoo gegangen sein sollte?"
Hossam kratzte seinen schwarzen Vollbart; er schwitzte trotz des Aprilnebels, dessen feuchtkalte Schwaden seine Kollegen jenseits der Absperrung frösteln ließen.
"Vielleicht er denkt, einer der Affen ist krank? Kommt in Nacht um nachzusehen?" Der Tierpfleger wischte sich über die Stirn. "Kann ich gehen jetzt? Tür von Gehege steht offen, als ich komme. Ein Tier ist … verschwunden. Abgehauen. Heißt Gonzo. Ich muss suchen."
"Verschwunden? Ausgerechnet Gonzo? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?" Felipe Nettuno, der Zoodirektor, schon vorher blass, wurde kreidebleich. "Oh, cielo! Wir müssen alle alarmieren!" Ohne sich weiter um die Polizisten zu kümmern, hastete er davon, das cellulare am Ohr.
"Was für ein Affe geht euch ab?", fragte Lasse rasch den Tierpfleger, der Miene machte, sich ebenfalls zu verdrücken.
"Großer Gorilla. Hat oft schlechte Laune." Boctor fuchtelte mit den Armen, um Brusttrommeln anzudeuten. "Big Macho, will immer Boss sein. Wie Menschenmann."
"Ist das Vieh gefährlich?", brüllte Lasse dem schon davoneilenden Affenpfleger nach.
"Sì, sì. Viel stark, viel gefährlich! Wenn wütend, will töten!"
Luca überrann es eiskalt. Hätte er doch besser seine Beretta eingesteckt?
Fünf Minuten später wimmelte der Tierpark von Gruppen aus Männern und Frauen in der grünen Arbeitskluft der Zooangestellten, die die Savana Adriatica auf der Suche nach dem entsprungenen Gorilla durchkämmten. Um die beiden Commissari und das Spurensicherungsteam kümmerte sich niemand.
An eine Befragung des Personals war unter diesen Umständen vorerst nicht zu denken, so dass Luca und Lasse sich ins Tierparkrestaurant zurückzogen, wo sie über einer Tasse Cappuccio den Plan des Geländes studierten.
Der Park, etwa zwölf Kilometer südlich von Ravenna gelegen und zirka fünf Kilometer von der Adriaküste entfernt, wurde im Osten von der Pineta di Classe begrenzt, einem uralten Pinienwald. Die zwei offiziellen Eingänge befanden sich im Norden und Süden; zusätzlich führte an der Westseite ein nicht öffentliches Tor in den Wirtschaftsteil des Zoos, in dem Maschinen, Geräte und Futtervorräte lagerten. Auf Tiere aus Afrika und Asien spezialisiert kooperierte der Tierpark mit Wildreservaten vor allem im Sudan und in Indien. Erweiterungen waren geplant, angrenzende Grundstücke bereits zugekauft, was die Commissari als Hinweis werteten, dass die Savana Adriatica florierte.
Zwei Stunden später war der Gorilla Gonzo noch immer nicht gefunden. Hatte der Affe das Zoogelände verlassen und sich in den Naturpark Delta del Po geflüchtet, zu dem die nahe Pineta di Classe gehörte? Luca graute bei der Vorstellung, das Tier könne einen Wanderer oder Touristen anfallen. Selbst Suchhunde hätten in den weitläufigen Wasser- und Waldlandschaften kaum Chancen, das Tier rasch aufzufinden; doch er hatte ohnedies keine Hunde zur Verfügung, konnte lediglich die Carabinieri alarmieren.
Wenigstens gelang es den Commissari jetzt, einen Teil der Zooangestellten im Verwaltungsgebäude zu versammeln. Luca teilte die Leute zwischen sich und Lasse für die Befragung auf.
"Nachts ist der Tierpark Besuchern nicht zugänglich, außer in den beliebten Wildnis-Nächten, die wir ab und an veranstalten." Felipe Nettuno konnte nicht aufhören, sich die Stirn zu wischen. "Können Sie diese schreckliche Geschichte klein halten, Signor Wolafka? Unser Zoo soll demnächst wegen besonders artgerechter Tierhaltung zertifiziert werden und jeder Skandal kann die Jury beeinflussen."
"Der Tod Ihres Tierpflegers hat vermutlich wenig mit der Art, wie Sie die Tiere behandeln, zu tun. Oder?", fragte Lasse.
Der andere knetete die Hände, ließ die Fingerknöchel knacken. "Ach, Sie wissen, wie das läuft. Kein Mensch und kein Gremium entscheiden völlig objektiv. Ein bisschen Negativpresse über die Savana Adriatica und jedes Mitglied der Jury hat im Hinterkopf, dass bei uns was nicht stimmt. Und es spielt überhaupt keine Rolle, in welchem Bereich!"
"Haben Sie eine Idee, weshalb Luigi Pico nachts hierher gekommen sein sollte?" Luca musste sich anstrengen, die Frustration aus seiner Stimme herauszuhalten; bisher hatte niemand etwas Sinnvolles zu der Ermittlung beigesteuert.
Die junge Frau mit dem Igelhaarschnitt sah desinteressiert zum Fenster. "Der Luigi war öfter nachts im Zoo."
Luca beugte sich vor. "Und weshalb?"
"Wegen seiner Frau, nehm ich an."
"Wissen Sie Genaueres?"
"Man sagt, sie hat einen Liebhaber. Wahrscheinlich hat sich der Luigi zu seinen Viechern geflüchtet, wenn die Ehefrau zu ihrem Lover gegangen ist." Die Igelhaarige roch nach Tierdung, ihre Augen waren dick mit Kohl oder Ähnlichem umrandet und von den schwarzlackierten Fingernägeln bröckelte die Farbe. In ihrem rechten Ohrläppchen glänzten sechs schmale silberne Ringe und an ihrem Hals baumelte ein Anhänger, den Luca als Pentagramm identifizierte. Im Zoo betreue sie unter anderem die Flusspferde, erklärte die Frau, und dann wollte sie gehen, um sich wieder an der Suche nach dem verschwundenen Affen zu beteiligen.
Der Mann kauerte im Buschwerk am Rande des Büffelgeländes und wusste, er war unsichtbar. Nicht mal die Leute, die den Gorilla suchten, hatten ihn entdeckt. Zwischen den frischen jungen Blättern hindurch spähte er zum Verwaltungsgebäude, das mit seinen Natursteinmauern wie eine trutzige kleine Burg wirkte. Die Polizei war dort; ihre Wagen parkten am Weg.
Würde jetzt alles von vorn beginnen? Das Böse erneut den Himmel verfinstern? Der Mann biss sich auf die Lippen. Hatte Mascardit ihn bis hierher verfolgt? Mascardit, der Dunkle, dessen Launen die Menschen so völlig ausgeliefert waren! Die Hände des Mannes zitterten. Auch wenn ihn die Polizisten nicht bemerkten, den Augen des Dunklen würde er nirgends entkommen, nirgends und nie! Jetzt bewegte sich der Mann doch, wandte vorsichtig den Kopf und erstarrte aufs Neue, während sich sein Herz wie das eines Hasen mit Furcht anfüllte. Narrte ihn sein Blick, oder war da tatsächlich für einen Moment ein Gesicht aufgetaucht, weit über ihm, in der Krone einer Pinie? Ein grimmiges schwarzes Gesicht mit dicken Wülsten über den Augen? Im Hinterkopf des Mannes stiegen Schreie auf, jene verzweifelten Schreie aus der Vergangenheit, die Schreie einer trauernden Frau, als Mascardit das erste Mal furchtbar herabgekommen war. Und das Zittern in den Händen des Mannes griff nach und nach auf seinen ganzen Körper über, bis er bebte wie eine Papyrusstaude im Sudd. Hatten seine Opfergaben nicht ausgereicht? Oder hatte der Dunkle die Opfer verworfen?
Als die Commissari nach Ravenna zurückfuhren, lichtete sich der Nebel; die noch feuchten Pflastersteine in den Gassen der Altstadt glänzten unter ersten Sonnenstrahlen.
Im Erdgeschoss des zweistöckigen, orangebraunen Hauses waren sämtliche Läden geschlossen. Luca und Lasse stiegen in den ersten Stock hinauf, wo eine handgetöpferte Mosaiktafel mit Arabeskenmuster die Klingel der Picos kennzeichnete. Doch als Lasse läutete, blieb alles still.
"Vielleicht ist sie bei Verwandten?", überlegte Lasse. "Oder hat sich hingelegt?" Gerade als die Commissari sich zum Gehen wandten, öffnete sich die Nachbartür und eine ältere Frau mit Raubvogelgesicht, in grauem Rock mit dicker grauer Strickjacke, trat heraus.
"Die Hure ist zu Hause", sagte sie grußlos. "Die macht bloß nicht auf." Und schon stapfte sie in grauen, flachen Stiefeletten die Treppe hinab.
Lasse zog die Brauen hoch. Luca klingelte erneut, anhaltend. Und tatsächlich, die Tür öffnete sich in Zeitlupe.
"Elena Pico?"
Die Frau war klein, kaum ein Meter sechzig, aber mit üppigen Kurven und weißblond gefärbtem Haar mit braunem Ansatz.
"Wieder polizia?" Ihr Gesicht, zu stark geschminkt, wirkte maskenhaft starr. Sie ging den Commissari voran in ein mit Möbeln und Blumentöpfen überfülltes Wohnzimmer, wo sie eine grüne Plastikgießkanne nahm und ihren Pflanzen Wasser gab, mehr auf diese Aufgabe konzentriert als auf ihre Besucher.
"Was wollen Sie? Ist … ist es nicht schlimm genug, dass Luigi …?"
"Dürfen wir uns setzen?", fragte Luca.
Mit fahriger Hand wies sie auf die braunen Sessel. Auf dem Tisch standen eine leere Kaffeetasse und ein Strauß Frühlingsblumen, deren bunte Farben unangemessen fröhlich wirkten. Luca fiel die einzelne Tasse vor allem auf, weil er erwartet hatte, geschäftige Verwandte und Freundinnen der Witwe anzutreffen, die versuchten, die Frau mit einer Mischung aus Cappuccino, hausgemachtem Kuchen und tränenreichen Erinnerungen zu trösten. Doch hier klingelte nicht einmal ein Telefon. Das Zimmer strahlte die gleiche Einsamkeit aus wie Lucas zu leere Wohnung in der Via Bixio.
"Bitte sagen Sie mir … Wissen Sie schon, wer Luigi …?"
"Wir befinden uns in einem sehr frühen Stadium der Ermittlungen." Luca nahm ihr die Kanne aus der Hand, stellte sie ab und führte die Frau zu einem Sofa. "Setzen Sie sich, per favore. Und gestatten Sie uns, Ihnen unser Beileid auszusprechen."
Sie schien nicht zuzuhören, starrte zu Boden.
"Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen, Signora."
Keine Reaktion.
"Hat Ihr Mann gern im Zoo gearbeitet?"
Sie nickte wie in Trance. Während sein Chef mit ersten, bewusst harmlosen Fragen versuchte, der Frau ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, sah sich Lasse im Raum um. Besonders bemerkenswert fand er die Wand gegenüber den zwei hohen Fenstern, die fast vollständig mit gerahmten Fotografien zugehängt war. Ein Bild in der Mitte zeigte Elena und Luigi Pico im Hochzeitsstaat. Luigi, obwohl viel jünger als zum Zeitpunkt seines Todes, hatte sich vom Aussehen her wenig verändert, lediglich die tiefen Linien in seinem Gesicht fehlten auf dem Jugendfoto. Elena dagegen erkannte Lasse hauptsächlich, weil er wusste, dass sie es sein musste. Ihr Haar glänzte auf dem Bild schwarzbraun, vermutlich in der natürlichen Farbe, und ihre sonnengebräunte Haut stand in starkem Kontrast zum Weiß ihres Kleides.
Die anderen Fotos wurden sämtlich von ein und demselben Thema beherrscht: der Entwicklung eines mageren, kränklich wirkenden Jungen zum untersetzten, schüchtern lächelnden Mann. Das Kind als Baby, in himmelblaue Stricksachen gehüllt, der Kleine auf dem Fahrrad mit zahnlückigem Grinsen, auf dem Spielplatz, mit grünem Sandschäufelchen am Strand. Der Heranwachsende neben seinem Vater, vor dem Zoo. Schließlich der Mann, in linkischer Pose auf dem Bürgersteig vor einem kleinen Laden, dann am Meer, mit Angel und Fisch neben einem blauen Kahn. Und, und, und …
"Ihr Mann wurde ermordet, Signora", hörte Lasse seinen Chef sagen. "Hatte jemand Grund, ihn zu hassen? Ein Arbeitskollege, etwa? Oder sonst wer?"
"Hassen?" Elena presste die Hände im Schoß zusammen. "Niemand hatte etwas gegen ihn, wieso auch?"
"Und wie stand er zu Hossam Boctor?"
"Wie schon? Boctor ist langsam. Ein bisschen dumm. Andrerseits ziemlich schnell auf hundertachtzig. Manchmal hat Luigi sich geärgert, weil er ihm alles zehnmal erklären musste, aber sonst … Das ist kein Grund, jemanden umzubringen, Commissario!"
"Ich muss etwas ansprechen, das Ihnen eventuell unangenehm ist." Luca behielt sie genau im Auge. "Im Zoo gibt's Gerüchte. Über Ihre Ehe."
Sie wirkte keinesfalls überrascht, schüttelte halb missbilligend, halb resigniert den Kopf. "Commissario! Eine Frau mit blondgefärbten Haaren, die abends ohne ihren Mann spazieren geht, das gibt den Spießern immer Stoff zum Reden."
"Es ist also nicht wahr, dass Sie jemanden auf der Seite haben – hatten?", hakte Lasse ein.
"Natürlich nicht!" Schlagartig wurde sie zornig. "In diesen engen Straßen gedeihen Gerüchte tausendmal besser als Blumen. Wenn die Nachbarn glauben, sie wüssten was, erzählen sie's überall rum, und falls sie nichts wissen, erfinden sie was." Plötzlich wirkte sie erschöpft. "Ich muss in die Küche. Mein Sohn ist heut morgen nach Faenza gefahren, ich hab ihn vorhin angerufen und ihm gesagt … Er wird bald zurück sein."
"Die Fotos." Lasse gestikulierte zu der bildergeschmückten Wand. "Ist das Ihr Sohn, dort?"
Ihre Miene wurde weicher. "Das ist unser Daniele, ja."
"Bevor Sie kochen: Geben Sie uns noch zwei Minuten, bitte. Wo waren Sie gestern Nacht, zwischen Mitternacht und drei Uhr?" Sie hatte sich erhoben und Luca verstellte ihr den Weg zur Tür.
"Wo wohl? Zu Hause."
"Wussten Sie, dass Ihr Mann sich zu dieser Zeit im Zoo aufhielt?"
Ihr Zögern ging so schnell vorbei, dass es kaum zu bemerken war. "Ja. Er schaute manchmal nachts nach seinen Tieren. Wenn eins krank war, etwa."
"War vergangene Nacht ein Affe krank?"
"Dio mio! Ich hab nicht danach gefragt. Sehen Sie, er hat immer viel mehr über seine Affen erzählt, als ich überhaupt wissen wollte."
Wieder im Auto, sah Lasse seinen Chef an: "Kaufen Sie ihr das ab, diese Story von der braven, aber verleumdeten Ehefrau?"
Luca setzte seine verspiegelte Sonnenbrille auf, die Lasse insgeheim als Modell Mafia-Boss bezeichnete, und startete den Alfa.
Nachdem er Lasse losgeschickt hatte, die Spurensicherungsleute zur Arbeit anzutreiben, fuhr Luca zurück zum Zoo. Wann immer er mit den Kindern seiner Schwester hier durchgelaufen war, hatte er den Tieren nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt sondern statt dessen an seine Frau gedacht, die vor noch nicht einmal zwei Jahren bei einem Reitunfall ums Leben gekommen war.
Angela hatte als Tierfotografin gearbeitet und war häufig in die Savana Adriatica gefahren, um Zebras, Giraffen oder Elefanten für Kalender, Bildbände und Zeitschriften abzulichten, aber in der Regel allein. Zum Fotografieren brauche sie Ruhe, hatte sie betont, es mache sie nervös, wenn Luca hinter ihr stehe und darauf warte, dass sie endlich die richtige Einstellung gefunden habe. Deshalb kannte der Commissario die Zoobewohner in der Hauptsache aus Angelas Bildern.
An diesem Tag interessierte Luca besonders der Afrikateil. Vor der Elefantensavanne studierte er das Schild, das wissbegierigen Besuchern verriet, dass die hiesigen Elefanten aus dem Südsudan stammten. Offenbar handelte es sich um Tiere, die von Wilderern angeschossen und mit internationaler Hilfe in den italienischen Zoo gebracht worden waren, um die aufwändige Behandlung zu sichern. Als er sich den Tieren zuwandte, fiel Luca auf, dass die Elefanten einen ausgezeichneten Blick auf den Weg zu den Gorillas hatten. Waren die Tiere in der Mordnacht draußen gestanden? Vielleicht könnten sie, sofern sie der menschlichen Sprache mächtig wären, den Mörder des unglückseligen Affenwärters bis ins kleinste Detail beschreiben? Der Fall bereitete Luca schon jetzt Magenschmerzen. Ein Täter, der einen Menschen ermordete und quasi im Vorbeigehen ein Affenbaby abschlachtete, musste außergewöhlich gefühlsarm sein. Eiskalt, brutal und somit extrem gefährlich. Jemand, den es so rasch wie möglich zu fassen galt …
Bei den Flusspferden entdeckte Luca die igelhaarige Frau – wie hieß sie noch gleich? Richtig, Francesca Cotti.
"Kommen Sie voran mit Ihren Ermittlungen?", schrie sie und kletterte über die Absperrung, während ihr die Flusspferde, in ihrer Mitte ein Jungtier mit im Gegenlicht rosig schimmernden Ohren, interessiert nachsahen.
"Man kommt immer voran. Sogar, wenn's einem selbst nicht klar ist." Hier, im Freien, wirkte die Gothic-Aufmachung der Frau, die Mitte der zwanzig sein mochte, auf Luca noch skurriler.
Francesca nickte. "Das mit Pico ist Horror pur. Aber wenigstens wird sich die polizia jetzt intensiver um den Zoo kümmern. Oder?"
"Wie meinen Sie das?" Bei der Befragung hatte sie nichts davon erwähnt, dass sie die Polizei im Tierpark vermisste; daran hätte sich Luca erinnert.
Sie fuhr sich durch die Haare, die sich dadurch noch mehr absträubten. "In letzter Zeit sind'n paar Dinge hier passiert … Immer nachts …"
"Was für Dinge?"
Francesca drehte sich zu ihren Schützlingen. "Verrückte Dinge. Schlimm verrückt. Zum Beispiel, Luisa da drüben", sie wies auf eins der ausgewachsenen Flusspferde, das für Luca genauso aussah wie seine beiden Kollegen, "Luisa hatte eines Morgens 'ne Wunde am Maul, 'ne üble Wunde. Auf den ersten Blick hätt ich gesagt, eine Stichwunde, wie von einer Lanze oder so." Sie fischte einen Kaugummi aus der Tasche. "Nettuno –."
"Felipe Nettuno, Ihr Chef?"
"Ja. Der sagt, es gibt viele Möglichkeiten, wie sie sich so 'ne Verletzung selbst hätte beibringen können, aber ich glaub nicht dran."
"Sie haben von mehreren Vorkommnissen gesprochen."
"Sì." Sie kniff die Augen zusammen, blickte sich um. "Auch bei andern Tieren hat's seltsame Verletzungen gegeben. Zuletzt bei den Dorcas."
"Gazellen?"
"Immer war's so, dass man mit ein bisschen Fantasie auch von 'nem Unfall hätte ausgehen können. Komisch nur, dass diese Dinge immer nachts geschahen."
"Nach dem, was Sie mir erzählen, wäre es also möglich, dass im Affengehege gerade etwas … Unschönes versucht wurde, wobei Luigi Pico zufällig störte?"
Die Frau nickte heftig und ihre Ohrringe blitzten.
"Signor Nettuno sagte, im Zoo würde nachts ein Wachdienst patrouillieren."
"Pornos lesen, wohl eher. Und saufen", fiel ihm Francesca grob ins Wort. "Außerdem – zwei Mann pro Schicht für dieses Riesengelände?" Sie sandte dem Commissario einen schrägen Blick. "Da wir grade vom Bewachen reden: Wo bleiben Ihre Carabinieri? Wollen die warten, bis unser Gonzo jemanden massakriert?"
Ein Schubkarren mit frischem Gras tauchte im Gehege auf, geschoben von einem jungen Mann mit mürrischer Miene. Die Flusspferde, die sich nahe dem Wassergraben aufgehalten hatten, trabten langsam auf die Futterladung zu.
"Ernesto! Spinnst du? Hau ab da, Mensch! Hau ab!" Für eine Sekunde schien Francesca wie gelähmt, sprang dann ins Gehege zurück, begann zu rennen. Auch die Flusspferde wurden schneller; Luca konnte erkennen, wie die Muskeln der Kolosse unter der grauen Haut arbeiteten.
Der Mann zögerte. Das vorderste Flusspferd ging in Galopp über. Luca stockte fast der Atem, als er sah, wie schnell sich das zuvor so behäbig wirkende Tier bewegte. Nervös fasste er nach seinem Holster. Leer! Die Beretta lag im Büro.
Woher Francesca das Ding so rasch hatte, wusste Luca nicht; jedenfalls schwang sie plötzlich eine wuchtige Eisenstange, brüllte abwechselnd ihren Kollegen und die Tiere an, während der Commissario wie gebannt stehen blieb.
"Hau ab, Ernesto!" Inzwischen hatte der Mann die Gefahr kapiert, flüchtete durch ein niedriges Tor in den angrenzenden, leeren Geländeteil. Francesca schlug einen Haken, schleuderte die Stange mit einer Kraft, die Luca verblüffte, vor das jetzt sie verfolgende Tier, rettete sich ebenfalls durch das Tor und verriegelte es mit einem Knall.
Lautes Gebrüll des enttäuschten Angreifers ließ Luca zusammenfahren. Doch das Flusspferd beruhigte sich bald, drohte einmal pro forma mit weit aufgerissenem Maul und trottete zu dem lockenden Grashaufen zurück.
Die Tierpflegerin war weniger leicht zu besänftigen. Sie riss ihren Kollegen herum, verpasste ihm eine Ohrfeige, noch eine, versuchte ihn zu treten, schrie ihm ins Gesicht: "Volltrottel! Wie oft hab ich gesagt, dass niemand reinkann, wenn die Tiere draußen sind! Falls dir Arsch was passiert, bin ich den Job los!"
"Selber blöd! Du warst doch auch drinnen, obwohl's verboten ist!" Der junge Mann schlug zurück, erwischte die Frau an der Brust. Rasch lief Luca zu dem Nilpferd-freien Geländeteil, kletterte über den Zaun, rannte zu den Streithähnen, versuchte, Francesca wegzuzerren.
"Aufhören! Schluss jetzt! Sind Sie beide verrückt geworden?"
"Fick dich ins Knie, Bulle! Lass mich los!" Francesca Cotti rastete völlig aus, und Luca, der ihr nicht wehtun wollte, hatte Mühe, ihr die Arme an den Körper zu drücken und gleichzeitig den Tritten ihrer Stiefel auszuweichen.
Erst als ihre Gegenwehr erlahmte, wagte er sie loszulassen. Der junge Mann hatte sich ein paar Schritte zurückgezogen; Francesca spuckte in seine Richtung.
"Manchmal denk ich, Nettuno versammelt bei uns sämtliche Deppen und Faulenzer der Region!"
Als Luca über die Absperrung zurückstieg, traf ihn ein Stein in den Rücken. Augenblicklich drehte er sich um, doch den feindseligen Mienen im Gehege ließ sich nicht entnehmen, wer der Werfer gewesen war.
Die streitenden jungen Leute hinter sich lassend, schlenderte Luca weiter durch den Afrikateil. Warum hatte die Cotti ihm von den Tierverletzungen erzählt? Sie schien launisch, schwer einzuschätzen. Und falls sie die Geschichte von den nächtlichen Tierquälereien nicht einfach erfunden hatte: Konnte Luigis Tod damit in Zusammenhang stehen? War der Affenpfleger einem Tierschinder auf der Spur gewesen und hatte den Betreffenden zu stellen versucht? War er aus diesem Grund nachts in den Tierpark gefahren? Der grausame Tod des kleinen Gorillas würde für diese Hypothese sprechen.
Auf der andern Seite stand die Geschichte mit der möglicherweise untreuen Ehefrau. Die Hure ist zu Hause. Aber weshalb sollte Elena Pico ihrem Mann erst bis in die Savana Adriatica folgen und ihn dann dort töten? Und vor allem: Weshalb sollte sie den jungen Affen umbringen?
Vielleicht hatte sich alles ganz anders abgespielt, ein noch im Dunkeln liegendes Motiv die Tat ausgelöst? Lucas Gefühl nach, das sich auf eine Vielzahl von Kleinigkeiten gründete, wie zum Beispiel die fehlenden Spuren eines längeren Kampfes, hatte Luigi Pico seinem Mörder ins Gesicht gesehen ohne auf den Angriff gefasst gewesen zu sein. Hatte er den Täter gekannt?
Luca stützte sich auf den nächstgelegenen Zaun, sah zu den Löwen hinab. Laut Infotafel stammten auch sie aus dem Sudan. Das große Männchen ruhte auf einem Sonnenfleck im hintersten Eck des Geheges. Ein Stück weiter vorn drei ausgewachsene Weibchen mit zwei Jungtieren. Deutlich weniger verdöst als ihr Pascha-Mann, denn zwei der Löwinnen hoben wachsam die Köpfe, sahen aber nicht in Lucas Richtung, sondern auf etwas am Rande ihrer Miniatur-Savanne, das der Commissario zunächst für einen grauen Felsen hielt. Bis er näher heranging.
Den breiten Rücken des riesigen Gorillas zierten silbrige Haare. Für einen Moment fühlte sich Luca verwirrt. Was machte ein Affe zwischen den Löwen? Zwar teilten sich in modernen Zoos oft Tierarten, die von den Lebensgewohnheiten her zusammenpassten, ein Gehege, Zebras und Strauße etwa. Aber bestimmt nicht Raubtiere und Affen?
Dann durchzuckte es Luca wie ein Schlag: Der vermisste Gorilla! Gonzo. Wenn wütend, will töten. Rasch blickte der Commissario sich um. Wo waren die Zooleute? Ausgerechnet jetzt befand sich niemand in seiner Nähe. Luca griff nach seinem Handy, ließ es versehentlich fallen und als er sich wieder aufrichtete, das cellulare in der Hand, sah er sich dem Affen direkt gegenüber. Das Tier hockte auf der steinernen Einfriedungsmauer des Löwengeheges, ein riesiger Affe, der Kopf von glänzenden Fliegen umschwärmt. Dunkle Augen unter dicken Augenbrauenwülsten starrten Luca misstrauisch an, über die Wange des Tieres zog sich eine Verletzung, die aussah wie ein von getrocknetem Blut überkrusteter Messerschnitt.
Schritt um Schritt wich der Commissario zurück, während Gonzo von der Mauer sprang, dem Polizisten auf allen Vieren folgte und kurze, bellende Laute ausstieß. Luca merkte, dass er weiterhin das Handy in der Hand hielt, aber Nettunos Nummer war noch nicht abgespeichert. Was tun? Luca fragte sich, ob er um Hilfe rufen sollte. Oder würde der Gorilla dies als Drohung interpretieren, in Wut geraten? Womöglich würde Luca ihn unbeabsichtigt zum Angriff reizen? Aber irgendetwas musste er tun. Vorsichtig, weil ihm nichts Besseres einfiel, hob Luca doch das Handy ans Ohr, drückte die Kurzwahl der Questura.
"Ruft im Zoo an. Ich brauche –." Er kam nicht weiter. Ein röhrender Schrei, ein schwarzes Gesicht mit gebleckten Zähnen direkt vor ihm. Luca spürte, wie ihm das telefonino entrissen wurde, sah, wie Gonzo das Gerät zu Boden schleuderte, darauf herumtrampelte.
"Komm, komm! Calmati! Ich tu dir nichts, Gonzo", murmelte der Commissario, der hoffte, dass menschliche Worte ein Tier, das in menschlicher Obhut aufgewachsen war, friedlich stimmen könnten. Wieder ging er im Zeitlupentempo rückwärts, einen Kiesweg entlang, der, wie er aus den Augenwinkeln sah, zu einem kleinen Gebäude führte. Einer Besuchertoilette, vielleicht? Ob er sich durch die Tür ins Innere retten konnte?
Durfte er sich im Notfall auf ein Handgemenge einlassen? Könnte ein Mensch so einen Kampf überhaupt gewinnen? Wahrscheinlich nicht. Eigentlich bestand die einzige Option darin, den Gorilla so lange friedlich zu halten, bis ein Zooangestellter auftauchte, der Luca aus dieser misslichen Lage befreite. Verzweifelt hielt Luca nach der grünen Montur der Tierpfleger Ausschau, doch vergeblich.
Im nächsten Moment stolperte er über einen Draht am Wegrand, fiel in eine Gießwasserpfütze, hörte das Knurren des Gorillas, viel zu nah, rappelte sich mit nassen Kleidern hoch. Sein Herz raste, als er die riesigen Eckzähne des Affen sah, die so gar nicht zu einem Pflanzenfresser passen wollten. Moschusartiger Geruch stieg übelkeitserregend in Lucas Nase. Würde das Tier beißen? Luca fühlte sich ohnmächtig. Dies war ein Gegner aus einer anderen Spezies, wie mit ihm kommunizieren? Sämtliche Deeskalationsstrategien der Polizeiausbildung befassten sich mit menschlichen Aggressoren.
Luca konnte nicht auf den Weg zurück; der Gorilla trieb ihn jetzt in das Gestrüpp neben dem Gebäude. Aus der unmittelbaren Nähe erschien der Affe noch beeindruckender als zuvor. Luca schätzte, dass sein Gegner mindestens hundertachtzig Kilo auf die Waage brachte. Hundertachtzig Kilogramm geballte Kraft, konzentriert vor allem in einem breiten Torso, mächtigen, muskelbepackten Oberarmen und kraftvollen Schenkeln.
"Hier." Luca fummelte den Autoschlüssel aus der Tasche. "Willst du das haben? Zum Spielen?" Langsam bewegte er seinen Arm nach vorn, das Mäppchen auf der flachen Hand. Der Gorilla runzelte die Stirn. Ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Luca rann der Schweiß in die Augen. Das Dornengestrüpp, in dem er stand, war praktisch undurchdringlich, er hatte sich in eine Falle treiben lassen. Und der Gorilla blockierte die einzige Fluchtmöglichkeit. Unglücklicherweise interessierte sich der Affe nicht für die Schlüssel, stampfte mit dem Fuß, riss Zweige und Blätter ab. Und im selben Moment begann auf dem Weg das Handy zu klingeln.
Sowohl Luca als auch Gonzo erstarrten, und gleich darauf griff der Gorilla an. Ein ohrenbetäubender Wutschrei zerriss die Luft; der Polizist flog in die Büsche, als sei er ein Federgewicht. Das cellulare klingelte beharrlich. Lucas Muskeln spannten sich; der Commissario rüstete sich mental für den unvermeidlich erscheinenden, mörderischen Kampf. Und dann – ein menschliches Gesicht, weit hinter dem Gorilla, ein Gesicht über einem grünen Overall. Silberne Ringe blitzten unter dunklem Haar. "Rühren Sie sich nicht! Auf keinen Fall! Halten Sie still, Mann, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!" Die Stimme von Francesca Cotti, panisch. Dann flüsterte die Frau drängend in ein telefonino.
Ein zottiger Arm kam auf Luca zu, eine schwarze Hand fasste den Commissario am Hemd. Luca spürte die harten Finger des Affen, während der Gorilla ihn näher zu sich heranzog. Der Wildgeruch wurde unerträglich; einige der Fliegen, die um den Kopf des Affen surrten, begannen jetzt auch Luca zu belästigen und er wagte nicht, sie fortzuscheuchen.
Der Commissario hielt den Atem an. Wie töteten Gorillas? Fraßen sie wirklich lediglich Pflanzen oder gelegentlich auch Fleisch?
Immer mehr Leute versammelten sich auf dem Weg. Zu seiner Erleichterung erkannte Luca neben Francesca den bulligen Hossam Boctor.
"Hast sicher Hunger, Gonzo." Der Affenwärter klopfte auf einen Blecheimer, den er in Brusthöhe schwenkte.
Der Affe zögerte.
"Hier, hol dir was", lockte Boctor. Er wedelte mit einem Stück Brot. Der Gorilla lockerte seinen Griff, wandte den Kopf. Luca verharrte reglos.
"Komm essen, mein Alter." Boctor stellte den Eimer ab, nahm einen Apfel heraus. Für einen kurzen Moment noch starrte der Gorilla Luca in die Augen, dann ließ er den Commissario los und trabte auf allen Vieren zu Boctor hinüber.
Luca, völlig erschöpft, spürte, wie ihn jemand aus dem Gestrüpp zog. "Kauern Sie sich da hin", sagte Francesca leise. "Warten wir, bis Hossam unsern Gonzo in die Kiste gelockt hat." Tatsächlich tauchte ein paar Meter weiter eine vergitterte Box auf Rädern auf, zu deren offen stehender Klappe sich Hossam langsam hinüberbewegte.
"Wie gefährlich ist er wirklich, dieser Affe?" Luca fand, dass er wieder sprechen konnte.
Noch ehe die Cotti Zeit hatte, seine Frage zu beantworten, schoss der Gorilla los, in Richtung zweier Männer, die sofort die Flucht ergriffen, sich hinter die Kiste retteten. Luca erkannte Francescas Assistenten Ernesto aus dem Flusspferdgehege. Der andere Mann mochte etwas jünger sein und riss im Rennen einen Ast ab, vermutlich, um sich im Notfall damit zu wehren.
"Nun ja", sagte Francesca trocken, während sie zusah, wie Gonzo schließlich stehenblieb, zu Hossam zurückblickte. "Seinen Pflegern gegenüber ist Gonzo in der Regel nicht allzu gefährlich. Ein bisschen unberechenbar höchstens. Was Massara grade zu spüren kriegt." Mit dem Kopf wies sie zu ihrem Assistenten. "Gelegentlich kann er allerdings auch nachtragend sein. Und Fremden gegenüber – da sieht's immer schlecht aus." Sie betrachtete Lucas erdverschmierte Hose und lachte. "Haben Sie mit Gonzo gemeinsam ein Schlammbad genommen, oder was?"
Fünf Minuten später stieg Luca in einer Abstellkammer des Verwaltungsgebäudes in eine grüne Latzhose, die nach Mist roch und dem schlanken Commissario um drei Bauchnummern zu weit war. So fand ihn Lasse Wolafka.
"Hübsches Outfit, Capo." Der Jüngere griente. "Sind Sie dabei, den Job zu wechseln?"
"Wir treffen uns später in der Questura. Und heut Abend können Sie sich das Putzpersonal vornehmen. Ebenso die Wachleute." Luca überhörte Lasses Spott geflissentlich. "Ich muss kurz weg."
Er schmiss die Tüte mit seiner verschlammten Hose in den Kofferraum und lenkte den Alfa Richtung Meer. Jetzt, im April, würde der Strand menschenleer sein, gut zum Nachdenken. Und Luca wollte nachdenken. Denn vage im Hinterkopf wusste er, dass ihm während dieser verrückten Szene mit dem Affen etwas Wichtiges aufgefallen war. Aber was?
In Lido Adriano, dem nahegelegenen Badeort an der Küste, fühlte Luca sich jedoch kaum mehr fähig, aus dem Wagen zu steigen. Die Müdigkeit, die unvermutet aufwallte, erfüllte seinen Körper und Geist mit nie gekannter Schwere. Luca wollte nur eins: den Sitz zurückstellen, den Kopf nach hinten legen und schlafen, schlafen, schlafen. Zudem merkte er, wie es in seinen Schläfen unangenehm zu pochen begann. Er hätte besser nach Hause fahren sollen. Aber er wollte, nein, musste sich die gesamte Gorillaszene Schritt für Schritt durch den Kopf gehen lassen, jedes Detail rekapitulieren.
Mit Mühe zwang sich Luca, das Handschuhfach zu öffnen, um nach den Pfefferminzkaugummis zu suchen, die sein Kollege Massimo überall deponierte, selbst im Wagen des Chefs. Und dort, im hintersten Winkel, fassten seine tastenden Finger eine eingeschweißte Pille. Luca starrte die Tablette an. Hatte er sich nicht erst vor zwei Wochen einen Komplettentzug verordnet, sämtliche Speedpillen in den Abfall geworfen? Die hier musste seiner Razzia entgangen sein.
Die Erschöpfung, die überstandene Angst, der noch nicht abgeschlossene, selbstverordnete Entzug – Lucas Widerstandskraft zerbröckelte in Sekunden. Der Commissario riss die Verpackung auf, schob die Pille in den Mund, verließ den Wagen und wanderte den muschelübersäten, einsamen Strand entlang.
Schon wenige Minuten später quälten ihn die heftigsten Selbstvorwürfe und das, woran er eigentlich hatte denken wollen, verschwand aus seinem Gedächtnis wie von den Meereswellen davongetragen.
"Daniele Pico?" Zurück in der Questura hatte Luca Mühe, sich auf den stämmigen jungen Mann zu konzentrieren, der auf der Stuhlkante hockte und jegliche Getränke ablehnte. "Wie geht's Ihrer Mutter?"
"Sie ist komplett mit den Nerven runter." Daniele starrte auf seine Hände; der Commissario sah, dass die Fingernägel beigefarbene Schmutzränder aufwiesen.
"Ihre Mutter sagte, dass Sie bei Ihren Eltern wohnen?"
"Das Geschäft wirft nicht viel ab, vor allem im Winter. Und Wohnungen sind teuer." Daniele Pico klang, als wolle er sich dafür entschuldigen, dass er nicht reich sei.
"Sie betreiben einen Souvenirladen, richtig?" Luca warf einen Blick auf seine Notizen. "Mitten in der Altstadt, in der Via Armando Diaz?"
Nicken.
"Haben Sie gestern Abend mitbekommen, dass Ihr Vater noch mal fortging?"
"Ich war gestern Abend gar nicht zu Hause."
"Und wo waren Sie?"
"Am Meer. Angeln."
"Haben Sie viel gefangen?"
Der andere blickte auf den dunklen Boden hinab. "Nicht der Rede wert. Aber meine Mutter liebt frischen Fisch."
"Hat Sie jemand gesehen? Bei Ihrem Boot? Am Strand?"
Kopfschütteln.
"Und als Sie zurückkamen? Wie spät war es? Waren Ihre Eltern da zu Hause?"
Kurzes Schweigen. "Ich weiß nicht." Danieles blassbraune Augen sahen den Commissario fast kläglich an. "Ich hab nicht auf die Uhr geschaut, aber es war bestimmt nach Mitternacht. Ich bin gleich ins Bett und hab gedacht … meine Eltern würden schlafen." Die rundlichen Schultern sackten nach vorn. "Madonna! Ich geh nicht ins Schlafzimmer meines Vaters um nachzuschauen, ob er im Bett liegt."
Luca seufzte. Nach einer kurzen Pause sah er sein Gegenüber scharf an: "Ich nehme an, Sie wissen, dass es Gerüchte um die Ehe Ihrer Eltern gibt?"
"Böswilliger Klatsch!", brauste Daniele auf. "Meine Mutter ist wie ich, ab und an gern mal allein. Und da fährt sie halt einfach rum, so durch die Gegend. Die Nachbarn glauben dann –." Er brach ab.
"Wo genau fährt Ihre Mutter herum?"
"In der Stadt. Ravenna. Mit dem Fahrrad. Rumfahren, das empfindet sie als Entspannung. Ist gut für ihre Nerven, sagt sie."
Und Luca fragte sich, wodurch Elena Picos Nerven so strapaziert wurden, dass die Frau zur Beruhigung nachts spazieren fahren musste.
Die Putzfrauen im Verwaltungsgebäude des Zoos, zwei dunkelhäutige Migrantinnen, die kaum ein Wort Italienisch sprachen, hatten nichts gesehen, wollten nichts gesehen haben oder verstanden seine Fragen erst gar nicht, wie Lasse befürchtete. Auch ein Mann gehörte zum Reinigungspersonal, ebenfalls ein Farbiger, dessen Beitrag zur Unterhaltung sich auf ablehnende, wenig aussagekräftige Gesten beschränkte.
Frustriert schlenderte Lasse nach zwei fruchtlosen Stunden durch den nächtlichen Zoo in Richtung Ristorante. Insgeheim hoffte er, dass sich das dortige Putzpersonal bereits nach Hause begeben hatte, so dass er mit gutem Gewissen ebenfalls bald abziehen könnte. Bei seiner Freundin Arietta vorbeischauen, auf ein Glas Bardolino, das vielleicht zu mehr führen würde.
Leider erwartete ihn eine Enttäuschung: Die letzte Putzfrau war eben dabei, das Gebäude abzuschließen.
"Aspetti! Warten Sie!"
Sie fuhr herum, starrte ihn an, aus dunklen Augen unter einem blauen, rosengemusterten Kopftuch, und rannte. Hinein in die Finsternis, Richtung Affenhaus. Lasse spurtete ihr nach, nicht wirklich unglücklich über die erzwungene sportliche Einlage. Im Licht der Weglampe sah er, wie die Frau sich im Laufen ihrer braunen Slipper entledigte, die Flucht barfuß fortsetzte. Lasse war trotzdem schneller, erreichte sie, hielt sie am Kleid fest.
"Polizia! Verstehen Sie? Ich bin von der Polizei." Mit der freien Hand zerrte er seinen Ausweis hervor. Die Frau, sehr jung und sehr dunkel, zitterte unter seinem Griff wie ein verschreckter Vogel.
"Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Zum Tod von Luigi Pico." Möglicherweise würde die Frau ihn, geradeso wie ihre Kolleginnen vorhin, kaum verstehen, doch ihre panische Reaktion auf sein Erscheinen interessierte Lasse. Entschlossen führte er sie zurück, sammelte die ausgetretenen Schuhe auf, reichte sie ihr, einen nach dem andern. "Sollen wir uns auf eine der Bänke setzen?" Er wies auf die Terrasse der Gaststätte, aber die Frau schien unfähig, eine Antwort zu artikulieren, und so zog Lasse sie mit sich zu einem Tisch.
"Haben Sie Angst vor mir?"
Keine Reaktion. Sie sah ihn nur an. Sie konnte höchstens siebzehn, achtzehn sein, schätzte Lasse. Das Weiße in ihren Augen wirkte extrem hell gegen die schwarze Haut.
"Wie heißen Sie?"
"Randa." Ihre Stimme kam flüsternd, rau, während sie die Schuhe anzog. "Randa Matar."
"Waren Sie letzte Nacht auch so spät noch hier, Signora Matar?"
"Ich nicht verstehen." Lasse betrachtete ihr Gesicht, die Augen, die seinem Blick auswichen, und war sich absolut nicht sicher, ob sie die Wahrheit sprach.
"Letzte Nacht. Gestern. Wann sind Sie nach Hause gegangen?" Er ertappte sich dabei, dass er die Stimme hob, als hätte sie ein Hörproblem statt Sprachschwierigkeiten.
Ihr Blick irrte über das Gelände. Genervt wiederholte Lasse seine Frage. Die Frau schüttelte den Kopf, die Hände im Schoß zusammengepresst. "Ich nicht verstehen. Nicht viel das Italienische."
Lasse spürte, wie sich ihre Nervosität verstärkte. Auch er blickte hinaus in die Dunkelheit über den angrenzenden Gehegen. Bewegte sich da nicht etwas, weit hinten?
Idiot, schalt er sich gleich darauf, in diesem Zoo gibt's Hunderte von Tieren. Klar, dass sich da ständig irgendwas regt.
"Wo kommen Sie her? Welches Land?" Was verstand sie, was nicht? "Marokko oder …?"
"Nicht Marokko. Egitto."
"Sie kommen aus Ägypten?" Wie der Affenpfleger Hossam Boctor, fiel Lasse auf. Er notierte die Adresse des Mädchens und beschloss, die Befragung auf den nächsten Tag zu verschieben. Und gegebenenfalls einen Dolmetscher zuzuziehen. Hoffentlich begriff Randa Matar die Aufforderung, sich am folgenden Tag um ein Uhr im Zoorestaurant einzufinden. Zur Sicherheit schrieb er ihr die Uhrzeit auf, versuchte ihr seinen Wunsch pantomimisch zu verdeutlichen, eine Darbietung, die sie mit dem Blick eines Rehs, dem man die Urknalltheorie erklärt, begleitete.
"Ich gehen?" Sie zerrte ihre dünne Jacke enger um sich. "Jetzt gehen?"
Lasse sah der jungen Frau zu, wie sie davonhastete, sich immer wieder umblickte, als befürchte sie, er oder jemand anderer würde ihr folgen.
Wovor hatte sie Angst? Hielt sie sich illegal im Land auf oder arbeitete in einem nicht angemeldeten Beschäftigungsverhältnis, also in nero? Manchmal hatte Lasse das Gefühl, dass in Italien sowieso jeder Mensch mit Panik reagierte, sobald er es aus irgendeinem Grund mit der Polizei zu tun bekam. Als verberge jeder ein paar größere oder kleinere Leichen im Keller und empfand allein einen Polizeiausweis als das sprichwörtliche rote Tuch. Er wartete, bis die Ägypterin von der Finsternis verschluckt wurde und verspürte nicht die geringste Lust, sich als nächstes mit dem Sicherheitsdienst abzuplagen. Doch sein Chef hatte es ihm ausdrücklich aufgetragen.
Wo hatte die Security ihren Aufenthaltsraum? Es musste ein Zimmer geben, wo die Typen sich umziehen und ihre Getränke aufbewahren konnten, aber auf dem Faltprospekt für Zoobesucher war nichts Derartiges eingezeichnet.
Lasse überlegte. Vermutlich befand sich die Wachstube beim Verwaltungsgebäude oder in der Nähe eines der beiden Eingänge. Nachdem er vorhin genug Zeit bei der Verwaltung vergeudet hatte, entschied er sich für die zweite Möglichkeit. Nach einem weiteren Blick auf den Plan marschierte er los, einen breiten Kiesweg entlang Richtung Haupteingang.
Rechts neben ihm heiseres Bellen. Zwei phosphoreszierende Augen, die gleich wieder verschwanden. Eine Hyäne? In der Nacht wirkte die Savana gruselig mit den ungewohnten Tierlauten, den weitläufigen Gehegen, der Finsternis unter den riesigen Schirmen der Pinien, die an Sommertagen angenehmen Schatten spendeten, aber zwischen den spärlichen Wegleuchten jetzt alles in unheimliche Schwärze tauchten.
Lasse trat zu einem Zaun, blickte auf eine Steppenlandschaft. Er schmunzelte bei der Erinnerung an das, was ihm die Flusspferdpflegerin über Lucas Begegnung mit dem ausgerasteten Gorilla erzählt hatte. Kein Wunder, dass der Commissario so rasch abgehauen war. Der Angriff des Affen hatte den Italiener in seinem Stolz gekränkt und Lasse wusste, wie wichtig in seiner neuen Heimat die bella figura war, das Wahren des Gesichts. Ob das Leben der Tiere einfacher war als das der Menschen?
Allmählich erinnerte sich Lasse, dass er die Wachstube hatte suchen wollen und fand sie tatsächlich in der Nähe des Haupteingangs. Unterwegs war er auf einen Securitydienstler gestoßen, der ihm den Weg erklärte. Nein, der Mann hatte in der Tatnacht nichts Verdächtiges gesehen, ebensowenig wie sein Kollege, der in der Stube neben einem Heizöfchen Espresso schlürfte und auf einem Uralt-Gameboy virtuelle Raumschiffe abschoss, während ein Radio mit schlechtem Empfang schnulzige Lieder plärrte.
"Wollen Sie?" Der Wachmann wies auf seine Thermoskanne, aber Lasse lehnte ab.
"Die Leute von der Putztruppe. Haben die Schlüssel für beide Zootore?"
"Sì." Der Wachmann erklärte, dass jeder vom Personal oder Reinigungsdienst einen Generalschlüssel besaß, der überall passte, mit Ausnahme von bestimmten Spezialräumen und ein paar Büros.
"Wär's Ihnen aufgefallen, wenn letzte Nacht jemand zu ungewöhnlicher Stunde die Savana betreten oder verlassen hätte?"
"Natürlich! Ist schließlich mein Job."
Mit der Musik dicht beim Ohr, voll auf sein Elektronikspiel konzentriert … Lasse vermutete, dass der Wachposten nicht mal mitgekriegt hätte, wenn ein Elefant vorbeigetrampelt wäre. Und erst recht zweifelte er daran, dass der Mann jemanden bemerkt hätte, der sich durch die schmale Fußgängerpforte, die neben dem breiten Haupttor unauffällig in den Zaun eingesetzt war, hinaus ließ.
"Hier im Zoo sollen des Öfteren nachts Tiere verletzt worden sein. Ist Ihnen davon was bekannt?"
"Gerüchteweise, ja." Der Wachmann kratzte sich hinter dem Ohr. "Aber man darf nicht alles ernst nehmen, was die Tierpfleger erzählen." Er grinste. "Da sind Typen dabei, die schreien nach den Piedipiatti, wenn ein Nashorn einen Mückenstich abgekriegt hat, Sie verstehen?"
Lasse verstand vor allem eins: Nämlich, dass die Wachleute nicht wachsam waren. Und ihn schauderte bei der Vorstellung, was einem Mädel wie der schwarzen Putzfrau passieren konnte, sollte es nachts dem Mörder in die Hände laufen.
Luca fröstelte. Und war nicht sicher, ob er das Kältegefühl den morgendlichen Temperaturen – wieder Nebel, kein Wunder im Podelta, wo Land und Wasser nahtlos ineinander übergingen – oder dem Speedkater verdankte.
Im Gorillagehege waren die Tiere längst wieder eingezogen. Lasse und Luca näherten sich dem Gitter, von wachsamen Blicken aus dunklen Augenpaaren verfolgt.
"Dottoressa Halima?" Zuerst sahen die beiden Commissari nur die Beine und das wohlgeformte Gesäß der Frau, die sich zu einem Eimer bückte.
Langsam richtete sich die Zoo-Tierärztin, von deren Existenz Luca erst vor einer Stunde erfahren hatte, auf, drehte sich um und schüttelte den schwarzlockigen Pferdeschwanz zurecht. Aus gelbbraunen Augen in einem orientalisch geschnittenen Gesicht musterte sie die Polizisten.
"Würden Sie bitte rauskommen?" Luca hielt seinen Ausweis vor das Gitter. "Wir würden gern mit ihnen reden."
"Ich hab viel Arbeit."
"Wir auch", konterte Lasse. "Aber, nachdem Sie in Eile sind, können wir das Ganze gern kurz abhaken: Wo waren Sie vorletzte Nacht zwischen Mitternacht und drei Uhr?"
Sie schnappte nach Luft. "Ist das eine Frage nach meinem Alibi?"
"So könnte man es formulieren", sagte Luca. "Also?"
"Ihre Unverschämtheit bestärkt mich in meiner Meinung über die italienische Polizei." Trotzdem kletterte Ines Halima aus dem Gehege. "Und um Ihre Frage zu beantworten: Ich war zuhause und hab geschlafen. Allein."
"Wie sieht's mit Ihrem Motiv aus? Wie standen Sie zu Luigi Pico?" Wenn sie Konfrontationskurs fahren wollte, Luca konnte das auch.
"Kein Motiv. Gleich einsperren dürfen Sie mich somit nicht."
"Hören Sie!" Luca mühte sich um Sachlichkeit. "Ihnen scheint nicht klar zu sein, dass wir einen Mord aufklären wollen. Dass hier ein Mensch brutal ums Leben gekommen ist."
Die Frau schwieg eine Weile. "Tut mir leid", sagte sie dann. "Allora, fangen Sie an mit Ihren Fragen, und ich werde mich bemühen, sie so gut ich kann zu beantworten."
"Das hoffe ich." Luca blickte auf den Weg, auf dem die Leiche des Affenpflegers gelegen hatte. "Erzählen Sie uns, was Sie über Luigi Pico wissen. Was war er für ein Mensch? Wer waren seine Freunde?"
"Die besten Freunde waren für ihn unsere Primaten." Ines klopfte ein paar Strohhalme von ihrer Hose ab. "Ansonsten … Pico war ein Einzelgänger. Eigentlich haben wir immer nur über die Affen geredet, oder den Zoo. Nichts Privates."
"Hossam Boctor. Sein Kollege. Wie stand er zu Luigi?", fragte Lasse.
"Nun ja." Ines zögerte. "Sie waren Arbeitskollegen. Mehr nicht."
"Gab es Probleme zwischen den beiden?"
"Nichts … äh … Konkretes, das ich wüsste. Sie befanden sich nicht auf der gleichen Wellenlänge, aber Hossam hängt an seinen Tieren wie Pico."
Die beiden Commissari befragten die Ärztin mindestens eine Viertelstunde lang, doch ihre Antworten blieben vage.
"Zu schade, dass nicht mehr Leute wie Pico nachts in der Savana rumgeistern", murmelte Lasse endlich. "Dann gäb's vielleicht einen Zeugen. Oder wenigstens jemanden, der den Täter rumschleichen sah."
Ines Halima blickte zu Boden, dann wieder auf.
"Wollen Sie etwas sagen?", fragte Luca rasch. "Bitte bedenken Sie, dass jede Kleinigkeit zur Lösung des Falls beitragen kann."
Sie antwortete nicht sofort, aber schließlich nickte sie müde. "Es gibt möglicherweise einen Zeugen, das heißt, eine Zeugin, um genau zu sein. Zumindest … könnte sie eine Zeugin sein."
"Eine Zeugin? Sie meinen, eine Augenzeugin des Mordes? Warum erfahren wir das erst jetzt?", schimpfte Luca los. "Ist es eine Tierpflegerin?"
Die Ärztin seufzte. "Ich hab bisher nicht drüber gesprochen, weil Sie mir genauso wenig glauben werden wie die andern, Signor Nettuno inklusive."
"Inwiefern glauben?" Lasse kapierte nicht. "Sind Sie die Zeugin? Was haben Sie beobachtet? Weshalb sollten wir Ihnen nicht glauben?"
"Nicht mir." Ines Halima sah an dem Affenhaus neben dem Freigehege hinauf, zu einem Fenster im ersten Stock. "Ich rede nicht von mir. Sondern von Sissy."
"Wie, eine Bonobo? Was ist überhaupt eine Bonobo?" Lasse konnte nicht fassen, was die Ärztin behauptete.
"Eine Schimpansenart. Aus Zentralafrika. Sissy … ist hochintelligent. Ihr Vokabular entspricht etwa dem eines zwei- bis dreijährigen Kindes."
"Soll das heißen, sie kann sprechen? Richtig sprechen?"
"Auf ihre Art … Ja …"
"Und Sie meinen, dieser Affe könnte den Mord beobachtet haben?"
Ines Halima führte die beiden Männer ins Obergeschoss des Affenhauses. Über einen venezianischen Spiegel konnten die Polizisten in ein helles Zimmer mit bunten Kissen, Plüschtieren, einer zusammengeklappten Campingliege und einem Tisch blicken. Auf einem passend zurechtgesägten Baumstamm thronte ein Nest aus Decken; ein Eck des Raums wurde von einem Klettergerüst aus Seilen beherrscht. Zwei Affen hockten vor einem Teller am Boden, pickten Fruchtstücke auf.
"Sissy ist die größere. Wir haben ihr heut den kleinen Gorilla Mikey zugesellt, damit sie sich nicht so allein fühlt. Die beiden verstehen sich in der Regel sehr gut."
"Wie kommuniziert sie mit Ihnen?", wollte Luca wissen.
"Kommen Sie. Aber nur einer, bitte." Die Ärztin zögerte, wies endlich auf Luca. "Sie."
Luca folgte ihr in das Affenzimmer. Mikey klaubte weiter in den Leckerbissen herum. Sissy hingegen zog sich in die hinterste Ecke zurück.
"Wir haben sie vor einem Jahr von einem Ein-Mann-Wanderzirkus quasi geerbt. Will heißen, eine Tierschutzorga hat sie, als ihr Besitzer starb, aus einem zu engen Käfig gerettet und zu uns gebracht. Wir konnten gar nicht fassen, welchen Schatz dieser Mann besessen hatte." Die Ärztin ging zum Tisch, setzte sich auf einen Stuhl, bedeutete Luca, neben der Tür zu bleiben. "Wie geht es dir heute, Sissy?"
Die Schimpansin starrte Luca an. "Dieser Mann ist ein Freund, Sissy. Amico. Freund." Ines sprach sorgfältig akzentuiert. "Non avere paura. Hab keine Angst, meine Kleine."
Der Blick der braunen Augen glitt zu Luca. Abschätzend, wie der Commissario fand.
"Wie geht es dir, Sissy?" Geduldig wiederholte Ines die Frage. Langsam näherte sich die Schimpansin dem Tisch, ohne Luca aus den Augen zu lassen. Schließlich sprang sie auf einen leeren Stuhl, fasste in eine Pappschachtel, die etwas enthielt, das wie eine Menge Spielkarten aussah, in verschiedene Abteilungen eingeordnet.
Um das Tier nicht zu erschrecken, wagte Luca, keine Frage zu stellen, beobachtete lediglich. Beide. Die Ärztin, die er so etwa auf fünfunddreißig schätzte, und die Schimpansin, die gefunden hatte, wonach sie suchte: Eine Karte in der Hand beugte sie sich zu Ines vor, die ihr gegenübersaß.
Fast ohne es zu merken, trat Luca näher. Die Bonobo verfolgte jeden seiner Schritte, floh jedoch nicht.
"Bleiben Sie stehen! Sie ist seit Luigis Tod ziemlich durcheinander." Ines hob die Karte hoch, so dass Luca, der sich mittlerweile direkt hinter ihr befand, sie ebenfalls sehen konnte: Ein abstraktes Symbol in Schwarz-Weiß, darunter das Wort triste. "Traurig?", fragte Ines in geradezu mütterlichem Tonfall. Die Bonobo sah erst sie an, dann Luca, und der Commissario fühlte sich wie gelähmt von dem Schmerz, den er in den Augen des Tieres las.
Gleich darauf konzentrierte sich die Schimpansin wieder auf ihre Schachtel. Diesmal gab sie ihrer Betreuerin zwei Karten, und Luca spürte einen Kloß im Hals, auf den er nicht gefasst gewesen war. Die Worte unter den Symbolen lauteten: Baby und tot.
"Ja, Sissy. Der kleine Pepe ist tot. Wir sind alle traurig darüber."
Der junge Affe, das zweite Opfer. "Können Sie ihr eine Frage zu dem Mord stellen? Ob sie in der Nacht jemanden gesehen hat?" Luca hörte die Ungeduld in seiner Stimme und erwartete halb, dass die Tierärztin ihn aus dem Raum werfen würde. Aber Ines sandte ihm zwar einen verweisenden Blick, schien dann nachzudenken.
"Luigi", sagte sie und legte ihre Hand auf die der Bonobo. "Wo ist Luigi, Sissy?" Zu Luca gewandt, murmelte sie: "Sie versteht nicht jede Art Fragen. Ich muss alles auf eine bestimmte Weise formulieren."