Toskanisches Schattenspiel - Frauke Schuster - E-Book

Toskanisches Schattenspiel E-Book

Frauke Schuster

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Beschreibung

Darius Thanner hat sich seinen Lebenstraum erfüllt: Auf dem toskanischen Landgut 'Il Paradiso' züchtet er rassige Pferde und genießt das Leben mit einer temperamentvollen Erotiktänzerin. Doch als sein psychisch gestörter, mutistischer Neffe Ken bei ihm einzieht, droht sich das Idyll schlagartig in eine Hölle zu verwandeln. Im Morgengrauen findet er eine Leiche in seinem Paradies. Da die italienische Polizei bestenfalls halbherzig ermittelt, versucht Thanner selbst Licht in die dunklen Geschehnisse zu bringen und erkennt fast schon zu spät, welche Abgründe hinter den gediegenen Fassaden des toskanischen Gartens Eden lauern.

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Kurzbeschreibung:

Darius Thanner hat sich seinen Lebenstraum erfüllt: Auf dem toskanischen Landgut 'Il Paradiso' züchtet er rassige Pferde und genießt das Leben mit einer temperamentvollen Erotiktänzerin. Doch als sein psychisch gestörter, mutistischer Neffe Ken bei ihm einzieht, droht sich das Idyll schlagartig in eine Hölle zu verwandeln. Im Morgengrauen findet er eine Leiche in seinem Paradies. Da die italienische Polizei bestenfalls halbherzig ermittelt, versucht Thanner selbst Licht in die dunklen Geschehnisse zu bringen und erkennt fast schon zu spät, welche Abgründe hinter den gediegenen Fassaden des toskanischen Gartens Eden lauern.

Frauke Schuster

Toskanisches Schattenspiel

Toskana-Krimi

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2017 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2018 by Frauke Schuster 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Lianne Kolf Literaturagentur

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-078-5

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Frauke Schuster

Für Hans, der den einsamen Strand bei Populonia entdeckte, und für Kerstin, die mich lehrte, was man auf vier Hufen alles falsch machen kann …

Der Pferdehof Il Paradiso

Mich trifft, obschon den Unvermögendsten, Am meisten der Verdacht des grausen Mordes, Weil Zeit und Ort sich gegen mich erklärt …

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Glossar

1. Kapitel

»Das ist verrückt, vollkommen verrückt!«

Darius Thanner sah, wie der Heimleiter den silbergrauen Kopf schüttelte, fassungslos angesichts der Sturheit und des Unverständnisses dieses von Wer-weiß-wo angereisten Onkels seines Schützlings.

Ich weiß, dass es verrückt ist, dachte Darius, aber ist es nicht allein meine Entscheidung, wie verrückt ich sein will?

»Kann ich den Jungen jetzt sehen?« Bewusst modulierte er den Ton seiner Stimme so, dass der Satz eindeutig nach Forderung statt Bitte klang, und die Erleichterung, mit der Direktor Reimer den Themenwechsel registrierte, war derart offensichtlich, dass Darius ein Grinsen nur mit Mühe unterdrücken konnte.

»Kommen Sie!«

Er folgte Reimer durch einen klinisch sauberen Gang, dessen Wände mit jener Art von Gemälden geschmückt waren, bei denen es Darius’ Meinung nach völlig egal ist, wie herum man sie aufhängt; ein Farbklecks bleibt ein Farbklecks, ein Strich ein Strich, aus welcher Perspektive auch immer! Im nächsten Korridor Kinderzeichnungen, windschiefe Männchen mit eiförmigen Köpfen, aufgetriebenen Leibern und riesigen, gierigen Mündern, als ob sie den Betrachter verschlingen wollten. Ein lilafarbener Zug ohne Gleis, aus dessen Fenstern dümmlich bunte Gesichter grinsten. Ein grünes Haus, daneben winkend der Eigentümer, größer als das Dach, mit Haaren wie Marsmännchen-Antennen: Die Aliens sind unter uns … Darius wandte den Blick ab.

»Würden Sie hier warten?«

Der Raum glänzte makellos sauber, Meister Proper hoch zwei, wie die Gänge. Eine helle Sitzgruppe, ein Tisch, auf dessen staublos gläserner Platte sich ein verchromter Aschenbecher fürchtete, Asche aufzunehmen. Ein Regal mit ordentlich auf Kante gestapelten Zeitschriften und pädagogisch vermutlich höchstwertigen Kinderbüchern. Darius setzte sich nicht. Die gesamte Atmosphäre, diese Aura klinischer Sterilität, bedrückte ihn; wäre das Gebäude eine Frau gewesen, hätte er es frigide genannt. Die Sehnsucht nach seinem staubigen Paradiso, seinen fröhlich Sofas besabbernden Hunden, seiner Freiheit wurde schier unerträglich, während er durch die schmucklosen, massiven Eisenstäbe des Fensters nach draußen sah, in das, was wohl ein Garten sein sollte: Rasen im Bürstenhaarschnitt, breite, gekieste Wege, alle fünf Meter ein Papierkorb aus Lochmetall. Buchen und Birken mit gestutzten Ästen, Vögeln gleich, die nicht fliegen durften. Verregnete Blumen, die müde, aber vergebliche Anstrengungen unternahmen, Farbe in die unnatürliche Natur zu bringen.

In Darius’ Kopf stieg plötzlich eine Melodie auf, die Melodie eines seiner Lieblingslieder: Don’t fence me in … Eingesperrt sein, seiner Freiheit beraubt – das schlimmste Horrorszenario, das er sich je hatte ausmalen können …

Von irgendwoher erklang Lachen, doch es war kein frohes Gelächter, bösartig eher, in einer Art hinterhältigem Gekicher endend, gefolgt von erregtem Stimmengemurmel. Darius’ Instinkt, jene in langen Jahren der Arbeit mit Pferden und Hunden erworbene Sensibilität, warnte ihn, dass es das Beste sei, augenblicklich die Flucht zu ergreifen, jenes zu Tode desinfizierte, krankhaft verriegelte Haus zu verlassen – und er musste sich zwingen, diesen Wunsch niederzukämpfen, seine Füße fest auf dem scheußlich dunklen Linoleum stehen zu lassen. Um sich abzulenken, lehnte er sich an das mikrobenfrei chromblitzende Regal, zog das Foto aus der Brieftasche, das Foto, dessentwegen er hierher gekommen war. Das Foto einer zu früh gealterten Frau mit verhärmtem Gesicht und tief liegenden, grauen Augen. Nur an den Augen hatte er seine Schwester wiedererkannt, Regine, deren Tod so überraschend gekommen war. Brustkrebs, zu spät entdeckt …

Die Tür öffnete sich lautlos. Darius spürte, wie sich alle seine Muskeln spannten.

»Das ist dein Onkel, Ken.« Darius hörte nicht, was Heimleiter Reimer weiter von sich gab, auch nicht, wie der Pfleger, Wärter oder wie man sonst ihn nennen mochte, erklärte, er werde vor der Tür warten, für den Fall der Fälle.

Darius sah nur den Jungen, einen hoch aufgeschossenen, mageren Vierzehnjährigen mit gesenktem Kopf und mürrisch verschlossener Miene unter störrischen, dunklen Locken. Regines Sohn. Regines Vermächtnis …

»Hallo, Ken.« Mit Sicherheit keine geistreiche Begrüßung, aber es war alles, was Darius einfiel, ehe er sich nach einer unangenehmen Minute gegenseitigen Anschweigens an die Lindt-Pralinen erinnerte, die er viel zu teuer an der Autobahnraststätte erstanden hatte. »Das hab ich dir mitgebracht.« Er wollte dem Jungen die Schachtel geben, doch zu seiner Überraschung wich Ken zurück, verschränkte die blassen, knochigen Hände hinter dem Rücken. Nur für einen kurzen Moment hatte er den Kopf gehoben, Thanner angeblickt; doch der Bruchteil einer Sekunde reichte, diesen seine Augen sehen zu lassen, Augen, so tiefliegend und düster sturmgrau wie die von Regine – und zugleich Augen, erfüllt von etwas, das er nicht deuten konnte, vielleicht nicht deuten wollte – Hass?

»Magst du keine Schokolade?«

Der Junge antwortete nicht, starrte weiter stumm auf den pflegeleichten Boden.

»Ken, ich bin gekommen, um dich – äh – besser kennen zu lernen und dich eventuell mitzunehmen, zu mir, dahin, wo ich lebe.« Geflissentlich ignorierte Darius Reimers missbilligendes Kopfschütteln. »Natürlich bloß, wenn du das willst, Junge.«

»Er wird dich nirgendwohin mitnehmen!« Krumm musste an der Tür gehorcht haben, wusste jedes Wort. »Reimer wird es nie zulassen! Hörst du, er wird nie erlauben, dass du weggehst, nie! Egal, was dieser Darius Thanner oder sonst wer sagt!«

Ken sah das mörderische Funkeln in den wässrig-blauen Augen des Pflegers, die zwei steilen Zornesfalten auf der verhassten Stirn, und er verfluchte Thanner, verfluchte das Auftauchen dieses wildfremden Typs, um dessen Besuch er nie gebeten hatte, und das ihn nur in Schwierigkeiten bringen würde!

»Nirgendwohin wird er dich mitnehmen! Niemand wird dich von hier wegholen, niemand!«

Der Junge hörte die Worte, vernichtende, gehässige Worte, die er nicht hören wollte und doch immer wieder anhören musste, und er wusste, dass der Pfleger Recht hatte. Krumm behielt immer Recht, sorgte dafür, dass er stets Recht behielt, regierte den Flügel des Hauses, der seiner Oberaufsicht unterstand, mit eisernen Fäusten, Schlägen und Tritten.

Unwillkürlich wich Ken einen Schritt zur Seite.

»Du weißt, was ich will!«, drängte Krumm und griff nach seinem Arm, wobei sich seine Fingernägel wie Raubtierklauen schmerzhaft in Kens Muskeln bohrten. Mit einem kräftigen Ruck zog er den Jungen wieder näher zu sich heran. »Du hast es auch andern gegeben, warum nicht mir? Du hättest es leichter.«

Ken hatte Mühe, den Brechreiz zu unterdrücken. Heute Nacht hatte Krumm Dienst und Krumm würde ihn für diesen Besuch zahlen lassen …

Darius hatte es nicht im Hotel Orion gehalten. Zwei Stunden lang streifte er durch die regennassen, nächtlichen Straßen Regensburgs, bis er sich plötzlich in dieser verräucherten Kneipe in der Ostengasse wiederfand, zwischen einem mittelmäßigen Jazz-Ensemble und einer Bar mit derart schlechter Beleuchtung, dass er die Bierpfütze am Tresen erst bemerkte, als sein Ellbogen darin badete.

»Whisky. Gleich einen Doppelten.« Es fiel schwer, in Ruhe nachzudenken, während ihn die Augen verfolgten, die grauen Augen seiner toten Schwester, erfüllt von grenzenlosem Hass. Aber warum Hass, warum? Regine war es gewesen, die jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen hatte, damals, vor dreizehn Jahren! Warum also Hass?

Normalerweise verdrängte er sämtliche Gedanken an die Vergangenheit, an jene Zeit, als Regine von zu Hause fortlief, um als Bedienung zu jobben, in einer Bar wie dieser, aber die Erinnerung kam heute dennoch, ungebeten, ganz von selbst.

Der Zorn des Vaters, als so ein Wirtschaft-Studierender Idiot seiner Schwester das Kind anhängte und sie sitzen ließ. Seine eigene Flucht nach Italien, für die sich sein Kunststudium so herrlich als Vorwand benutzen ließ, jenes Studium, das sein Vater als unproduktive Zeitverschwendung abkanzelte.

Und wieder Regine, die jenen widerlichen Mann heiratete, der sich als noch üblerer Tyrann als ihr Vater entpuppte. Er selbst, Darius, hatte den Typen ein einziges Mal bei der tristen, verhuschten Hochzeit getroffen, aber diese eine Begegnung hatte ihm für den Rest seines Lebens gereicht …

Und nun Regines Junge. Ken. In einem Heim für Geistesgestörte und andere Irre …

Der Whisky wärmte angenehm. Darius zog sein Handy heraus, erinnerte sich rechtzeitig, dass er die 0039 vorwählen musste, drückte die Tasten. Das Netz war da, der Akku ausnahmsweise voll, aber Lydia, seine Lydia, Erotik-Engel seiner viel zu kurzen Nächte, meldete sich nicht. War sie immer noch sauer, dass er sie nicht auf diese Idiotenparty in Vada begleitet hatte, stattdessen nach Deutschland gefahren war, um einen Neffen zu besuchen, den er überhaupt nicht kannte? Einen schwer erziehbaren Vierzehnjährigen, der den Großteil seines bisherigen Lebens in einer Anstalt verbracht hatte?

Ken … Krankhafte Hyperaktivität, mangelnde Impulskontrolle. Aggressivität nach außen und gegen sich selbst. Mutismus: psychisch bedingte Stummheit, möglicherweise verursacht durch den Selbstmord des von dem Jungen bevorzugten Pflegers Randolf.

Der Whisky ließ all die mysteriösen Stories, die medizinischen Details, mit denen Heimleiter Reimer ihn zu erschlagen versucht hatte, schneller in seinem Kopf kreisen als zuvor. In einem Punkt hatte dieser mit Sicherheit Recht, auch wenn er es diesem arroganten Weißkittel-Gruftie mit dem Wohlstandsbauch unter der Halbglatze nie eingestehen würde: Er hatte nicht die mindeste Ahnung, auf was er sich einzulassen im Begriff war!

Ken lehnte am Fenster. Der Regen hatte aufgehört, Wind die Wolken vertrieben. Jetzt war die Nacht klar, sternenreich, die Straße ruhig. Sein Zimmergenosse Georg, im Bett an der gegenüberliegenden Wand, knirschte im Schlaf mit den Zähnen. Die weiße Scheibe des Mondes ließ das Gitter noch schwärzer, noch unbarmherziger erscheinen, das Gitter, das kalt, grausam, auf ewig trennend zwischen ihm, Ken, und der Freiheit und den Sternen stand.

Wie in jeder wolkenlosen Nacht suchte er sich einen Stern aus, einen Stern, zu dem er reisen, zu dem er fliehen wollte. Einen Stern, auf dem keine Menschen wohnten. Einen Stern, wie den vom kleinen Prinzen, von dem Randolf erzählt hatte, mit einer Rose und einem Schaf und vielleicht einem Fernseher, denn eigentlich wusste Ken nicht so recht, was er mit einem Schaf anfangen sollte …

Verdammt, jemand musste die Tür geölt haben, er hatte ihn nicht kommen gehört! Krumm. Hocherfreut darüber, dass er ihm wieder einmal Gelegenheit bot, ihn zu strafen.

»Zwei Uhr vorbei! Heißt es nicht Bettruhe um zehn?« Krumms Stimme troff von hämischer Freude und schon packte er ihn grob an den Armen, zerrte ihn aus dem Zimmer, sorgsam bedacht, Georg nicht zu wecken, er brauchte keine Zeugen, nicht einmal, wenn es Idioten waren …

»Ken hat gestern Abend Herrn Krumm angegriffen, einen der Pfleger. Wir mussten den Jungen vorübergehend – ruhigstellen. Es tut mir Leid.«

Darius hatte nicht den Eindruck, dass es Reimer wirklich bedauerte, es war lediglich eine jener bedeutungslosen Floskeln, mit denen der Heimleiter und Arzt lästige Besucher wie ihn abzuspeisen pflegte. »Ken kann einen vollen Monat ruhig und friedlich sein und dann von einer Sekunde zur anderen völlig ausflippen. Sehen Sie jetzt ein, dass es besser ist, wenn Sie ihn hier lassen, hier, wo man mit ihm und seinen – äh – Eigenheiten vertraut ist?«

»Auch woanders gibt es Heime.«

»Ja, natürlich. Aber sind Sie sicher, dass diese mit unserem konkurrieren können? Hier bekommt Ihr Neffe nicht nur ein sauberes Bett und gesunde Mahlzeiten, wir bieten zudem die Gruppen- und Beschäftigungstherapie, die Sitzungen mit dem Psychologen, den Unterricht in unserer hauseigenen Sonderschule, diverse sportliche Aktivitäten für die Freizeit … Begreifen Sie nicht oder wollen Sie nicht begreifen, dass Ken mit seiner unvorhersagbaren Aggressivität eine Bedrohung darstellt, für sich selbst sowie für andere? Deshalb hatte ihn seine Mutter ja zu uns gebracht, damals, als«, der Direktor blätterte wichtigtuerisch in einem umfangreichen Aktenordner, »damals, als er mit sechs Jahren in einem Streit um einen Tretroller ein anderes Kind derart verprügelt und getreten hatte, dass das bedauernswerte Opfer im Krankenhaus genäht werden musste. Wenn Sie Ken mitnehmen, wird es früher oder später zu einer Katastrophe kommen, das garantiere ich Ihnen hundertprozentig! Schauen Sie, das letzte Gutachten …«

Reimer redete weiter, redete sich in Begeisterung hinein, pries das Heim, Haus Manketta, nach dem freigiebigsten Sponsor benannt, in allerhöchsten Tönen, doch Darius hörte nicht mehr zu. Die Selbstgefälligkeit des Mannes missfiel ihm von Tag zu Tag mehr – und verstärkte seinen Eigensinn …

Er rief auf dem Paradiso an. »Hannes, alles okay bei euch?« Er wusste, dass er sich auf Hannes blind verlassen konnte, sich keine Sorgen um die Ranch in der Toskana zu machen brauchte, aber er konnte Lydia immer noch nicht erreichen, und hier, in dieser regentriefenden Stadt, schien Italien so unwirklich, so fern …

»Alles okay, Boss! Perla hat ein dickes Bein, aber nichts Schlimmes.«

»Ruf den Tierarzt, wenn’s nicht besser wird.«

»Wir machen Umschläge. Mit essigsaurer Tonerde. Die Mädchen haben das übernommen. – Ach ja, und ein gewisser Haflinger scheint dich zu vermissen, er ist noch unleidlicher als sonst! Gestern hat er den Elektrozaun niedergerissen und wir bekamen einen Anruf, dass sich zwei unserer Pferde auf der Straße rumtreiben.«

Als Darius auflegte, überwältigte ihn das Heimweh dermaßen, dass er am liebsten seine wenigen Sachen ins Auto geworfen und die nächste Autobahn in Richtung Süden genommen hätte. Zurück in sein geliebtes italienisches Paradies, zu seinen Hunden und Pferden. Zu Hannes, dem Pferdewirt und Freund. Und vor allem: zurück zu Lydia, deren warmen, liebeshungrigen Körper er in den kalten deutschen Nächten heftiger vermisste denn je. Wo zum Teufel steckte das Weib?! Warum, verdammt, ging sie nicht ans Telefon?

Ken wusste nicht, wie lange er im Bett dahingedämmert hatte, ausgeschaltet von den beschissenen Psychopharmaka, die der Arzt ihm gespritzt hatte. Hartmann war es, der ihn abholte, glücklicherweise nicht Krumm. Hartmann allein ließ ihn meist in Ruhe, wenn er sich ausreichend ängstlich stellte, schnell genug tat, was der verhasste Aufpasstrottel befahl.

Im Besuchszimmer warteten Direktor Reimer, dessen dickes Gesicht dunkelrot angelaufen war, und – jener mysteriöse Fremde, der angebliche Onkel. Ken schluckte, musste seine Angst nicht mehr spielen. Zu deutlich hatte Krumm ihn gestern Abend davor gewarnt, diesem Darius Thanner auch nur den leisesten Hinweis zu geben, was hier wirklich ablief. Er blieb an der Tür stehen, starrte an dem Besucher vorbei, mit möglichst unbeteiligter Miene.

»Ich habe mich entschlossen«, Thanner sprach langsam, wie sie alle mit ihm sprachen, weil sie ihn für einen Volldeppen hielten, einen Oberstübchen-Geschädigten, der einem normalen Gespräch nicht folgen konnte. »Ich habe mich definitiv entschlossen, dich mitzunehmen, Ken. Dahin, wo ich wohne. In die Toskana. Weißt du, wo das ist?«

Die Toskana. Italien. Der schiefe Turm. Ken wusste es sehr wohl. Der Fernseher im Aufenthaltsraum lief unaufhörlich, ob jemand hinguckte oder nicht, da bekam man mehr mit, als sie alle ahnten. Was er nicht wusste, war, was Thanner vorhatte. Warum wollte er einen Trottel wie ihn überhaupt irgendwohin mitschleifen? Sofort lauerte das Misstrauen in seinem Hinterkopf. Wollte Thanner – dasselbe wie Krumm? Oder brachte er ihn bloß in ein billigeres Heim? Die Frau, die sich seine Mutter geschimpft hatte, hatte oft genug über die hohen Kosten von Haus Manketta lamentiert, so, als mache sie ihn, Ken, für Reimers überteuerte Rechnungen verantwortlich. Und dieses Arschloch erst, das er nach den Wünschen der Frau Papa hätte nennen sollen … Überhaupt, was würde Reimer sagen?

»Packen Sie seine Sachen, Hartmann!«, schnappte Reimer. »Er fährt in einer Stunde!«

Ken starrte ihn an, schaffte es ausnahmsweise nicht, seine Überraschung zu verbergen. Reimer hatte zugestimmt? Für wie lange? Wie lange würde er dem Heim entkommen? Zwei Tage? Eine Woche? Sein Verstand weigerte sich, die Möglichkeit, diesem Haus und seinen Scheiß-Gittern für immer zu entfliehen, überhaupt in Betracht zu ziehen.

Hartmann zerrte ihn hinaus, zurück in sein Zimmer, wo es nach Urin stank, weil Kens Zimmergefährte Georg ins Bett gepinkelt hatte. Kens Tasche war zu klein; Hartmann stopfte alles, was er nicht hineinbekam – Wäsche, Zahnbürste, Kens stolzesten Besitz, den Gameboy – durcheinander in eine XXL-Plastiktüte.

»Der spinnt komplett, dieser Darius Thanner!«, knurrte er dabei. »Wirst sehen, der schickt dich schneller zurück, als du deine erste Pizza dort runtergewürgt hast! Der hat ja keine Ahnung!« Er warf die Tüte auf Kens Bett, schrie Georg an, das Laken abzuziehen, und verschwand.

Mit zitternden Fingern holte Ken die Blätter aus dem Versteck unter dem losen untersten Einlegeboden des Schranks, verbarg sie rasch in der Plastiktüte, zwischen den eselsohrigen Schulheften, wo sie nicht auffallen würden. Georg heulte und trampelte auf dem Bettlaken herum.

»Ich hau ab«, sagte Ken, halb zu Georg, der ohnedies nicht zuhörte, halb zu sich selbst. »Ich schwör’s dir: Sobald ich dort bin, hau ich ab!«

Und dann stand plötzlich Krumm im Zimmer, ein finster dreinblickender Krumm, der Georg anbrüllte, still zu sein, und natürlich verstummte Georg sofort, denn sogar sein winziges Gehirn kapierte, dass man sich mit Krumm nicht anlegte, nicht, wenn man in diesem Scheiß-Betrieb überleben wollte.

»Italien!« Krumm spie das Wort förmlich vor Ken auf den Boden. Mit einem Mal packte er den Jungen am Hemd, riss ihn so dicht zu sich heran, dass Ken jedes einzelne Fältchen in dem verlebten Gesicht in voller Tiefe sehen konnte. »Glaub bloß nicht, dass du dort dem Thanner was vorjammern kannst!«

Er ließ das Hemd los, griff unvermutet in Kens Haare, zerrte den Jungen zum Fenster, stieß ihn hart gegen die Wand. »Der Thanner bringt dich zurück, früher oder später, und wenn du ihm dann auch nur ein verdammtes Wort gegen mich gesagt hast, weißt du, was dir dann blüht?!«

Der Junge schluckte, wagte nicht, sich zu rühren, obgleich sich das Fensterbrett unangenehm in seinen Rücken bohrte.

»Weißt du, was ich mit dir mache, du kleiner Wichser?« Er hatte Ken losgelassen, doch der Junge verharrte reglos, paralysiert vor Furcht. Langsam, unendlich langsam, hob Krumm die Hand. »Sag ihm ein Wort, du Scheißkerl«, flüsterte der Pfleger, und im nächsten Moment schrie er, dass Ken zusammenfuhr: »Sag ihm ein Wort und ich schlag dich tot!«

Seine Faust flog in Kens Magengrube und der Junge klappte zusammen, rutschte an der Wand hinunter. Krumm riss ihn hoch, rammte ihm brutal das Knie in den Unterleib und Ken fiel zu Boden, während Georg an seiner statt zu wimmern begann und mit dem Oberkörper schaukelte, wie er es immer tat, wenn ihn etwas ängstigte.

»Vergiss nicht, Scheißkerl! Ein Wort und es wird für immer dein letztes sein!«

Eine dreiviertel Stunde später stieß Hartmann den Jungen in Thanners dunkelgrünen Range Rover, dessen ungewöhnliche Dachdekoration, das riesenhafte Skelett eines Pferdeschädels, teils grinsende, teils schockierte Blicke der Passanten auf sich lenkte. Vom penetranten Stallgeruch im Innern des Wagens wurde Ken dermaßen schlecht, dass er noch vor der Autobahnauffahrt zu erbrechen begann. Und die Übelkeit hielt an, bis der Rover endlich, endlich die Grenze nach Italien überquerte.

2. Kapitel

»Wir sind da.« Darius’ Stimme verriet Erleichterung und Freude. Er liebte diesen ersten, herrlichen Blick auf sein toskanisches Paradiso, auf das helle, aprikosenfarbig-freundliche Wohnhaus mit dem einladend breiten Aufgang aus weißem Carrara-Marmor, den weißen Fensterumrandungen, dem auf weißen Säulen ruhenden, Schatten spendenden Vordach. Selbst die weißlackierten, zierlich geschmiedeten Fenstergitter, die Raffaela aus Angst vor Einbrechern an der Frontseite hatte anbringen lassen, störten ihn kaum mehr, seit die Geranien in ihren Kästen davor so üppig blühten. Und dann der Vorhof mit den schirmförmigen Pinien und den riesigen Blütenwolken von weißem und rotem Oleander! Rechts der Stall aus dem malerischen ockerfarbenen Naturstein Italiens, links das frisch renovierte Gästehaus, wie das Wohnhaus im toskanischen Stil gehalten, der Eingang von Marmorsäulen flankiert, beinahe wie die berühmte Villa Mansi bei Lucca und ebenfalls mit einer Überfülle Geranien geschmückt. Klar, die aufwändige Renovierung und die Anlage des geschwungenen Pools hinter dem Haus hatten astronomische Summen Lire verschlungen, viel mehr als die Brandversicherung gezahlt hatte, aber er würde alles tun, sich eine ertragreiche Saison zu sichern, damit die Gelder fleißig zurückströmen, seine leere Kasse erneut füllen konnten … Und das Paradiso, sein Paradies, würde gedeihen wie der Garten Eden!

Bewusst langsam ließ er den Wagen die letzten Meter der zypressengesäumten, gekiesten Auffahrt hinaufrollen. Im Schatten der beiden größten Pinien dösten wie fast immer zwei oder drei Pferde, und irgendwo – da schossen sie schon herbei, hatten das Geräusch des Motors erkannt: Romeo wild bellend vor ausgelassener Freude, Julia, die bedächtigere, das verdrückte Boxergesicht zu einem Begrüßungsgrinsen breitgezogen.

»Hallo, ihr beiden!« Unter dem Ansturm der drahtigen Tiere wäre Darius, als er aus dem Wagen stieg, fast gestolpert, kraulte ein herabhängendes Spitzohr hier, klopfte ein Stück rehfarbenes Fell dort, spürte die vertraute Wärme der feuchten, dicken Zungen an der Hand.

Erst, als der Aufruhr der Hunde einer der Hitze des Tages angepassten, ruhigeren Freude gewichen war, bemerkte Darius, dass Ken noch immer im Auto hockte, stumm und allzu offensichtlich verschreckt.

»Sie tun nichts.« Lachend griff Darius nach den Halsbändern. »Steig aus, oder willst du im Wagen übernachten?«

Die Hunde drängten auf den Fremden zu, hechelnd; Ken, eben aus dem Range Rover geklettert, wich zurück, eine Spur zu hastig, und Romeo begann erneut zu bellen.

»Still! Und Platz!« Den Ton verstanden sie, gehorchten sofort. Ken blieb trotzdem neben der Autotür, jederzeit bereit, in die Sicherheit des Wageninnern zurückzuflüchten.

»Sie tun wirklich nichts!« Darius wurde ungeduldig, begriff nicht, wie sich der Junge vor den beiden gutmütigen Boxern fürchten konnte, die schwanzwedelnd am Boden lagen, auf das erlösende Wort aus ihres Herrn Mund wartend. »Nimm deinen Krempel und lauf ins Haus.«

Noch bevor sie die Eingangstreppe erreichten, kam ihnen ein schlanker Mann so um die Mitte der vierzig in perfekt geschnittener, sandfarbener Reithose, schwarzen Stiefeln und weißem Hemd entgegen, hob die Hand in Augenhöhe, und Darius schlug scherzend dagegen. »Alles friedlich im Paradies?«

»Wie sonst?« Klare, graue Augen richteten sich prüfend auf Ken. »Das ist der Junge?«

Darius nickte. »Ken, das ist Joost Amber. Ein hochkarätiger Professor für Physik und – wenn ich auch nicht genau weiß, wie ich zu der Ehre komme – mein Freund. Er verbringt jeden Sommer hier, um sich wenigstens einmal im Jahr von seinen Quarks und Quasaren zu erholen.«

Der Professor grinste. »Ich wollte gerade ausreiten«, er warf einen Blick auf Ken, der keinerlei Miene zeigte, auf die Vorstellung einzugehen, »da hab ich deinen Wagen gesehen.«

»Wen nimmst du?«

»Concho. Hannes meint, er brauche Bewegung.«

»Reitest du allein?«

»Sabina hat gefragt, ob sie mitkommen kann, nachdem du sie ja nicht allein losziehen lässt.«

»Um Himmels willen«, murmelte Darius. »Ich würde mir den Zorn ihres Vaters für alle Ewigkeiten auf meine geplagten Schultern laden! Nimm sie ruhig mit, aber sie soll nicht Vionella reiten, sie hat eine schlechte Phase, zumindest hat Hannes am Telefon so was angedeutet.«

»Ich wusste gar nicht, dass der Haflinger auch gute haben kann.« Joost grinste erneut, schlug mit der Reitgerte leicht gegen den Stiefel. Ken warf einen besorgten Blick auf die Hunde, aber sie hatten sich in den Schatten der Pinien zurückgezogen, wo sie gemütlich an irgendwelchen scheußlichen Knochen kauten.

Darius konnte nicht schlafen. Lydia, seine Göttin, launenhaft wie Götter zu sein beliebten, hüllte sich weiterhin in beleidigtes Schweigen; außer der übertrieben fröhlichen Stimme ihres Anrufbeantworters – Hinterlassen Sie Ihren Namen und Ihre Nummer und wenn mir danach zumute sein sollte, rufe ich zurück! – hatte er nichts von ihr gehört oder gesehen.

Unter normalen Umständen hätte er den Wagen genommen, wäre ohne Vorankündigung bei ihr eingefallen und hätte jeglichen echten oder vorgetäuschten Widerstand zwischen ihrer silberglänzenden Satinbettwäsche fortgeliebt. Aber heute … Es war Kens erste Nacht auf der Ranch und obwohl Darius den Schlüssel des Zimmers zweimal umgedreht hatte und Raffaelas schmiedeeiserne Gitter die Fenster des Jungen verbarrikadierten, hegte Darius die nebelhafte Befürchtung, dass irgendetwas passieren könne, die von Dr. Klugscheiß-Reimer mit solchem Enthusiasmus prophezeite Katastrophe. Hätte er Romeo und Julia im Hof lassen sollen, wie gewöhnlich? Doch die Hunde hatten ihn den gesamten Abend auf Schritt und Tritt verfolgt, bis er ihnen schließlich das seltene Privileg gestattete, auf dem Teppich vor seinem Bett zu nächtigen, wo er am nächsten Morgen mit nackten Füßen in ihre Speichelsabberpfützen treten würde.

Die Tür schwang so leise auf, dass Ken, im Halbschlaf, es beinahe nicht gemerkt hätte. Eine Gestalt schob sich in den Raum, die Silhouette bedrohlich dunkel im fahlen Licht der Nacht. Zeit und Ort verwirrten sich: Krumm sah nach, ob er irgendeinen irrationalen Grund fand, ihn zu schlagen …

Die Angst als eiskalten Block im Magen, die Augen bis auf einen winzigen Spalt unter den Lidern geschlossen und die Fäuste zum Angriff geballt, musste Ken sich zwingen, nicht die Luft anzuhalten, sondern weiterzuatmen, so langsam und gleichmäßig, wie es von einem Schläfer erwartet wurde.

Darius blieb vor dem Bett stehen, blickte auf den wirren Haarschopf des Jungen hinab, lange Zeit. Welche verrückte Laune hatte ihn geritten, als er den Jungen mit sich nahm? Doch aus der Laune erwuchs Verantwortung und er war nicht sicher, ob und wie lange er sie zu tragen gewillt war … Allein die Fahrt über die Alpen und die Nacht im Motel an der Seite dieses sich jeglicher Kommunikation verweigernden Teenagers hatten seine Nerven derart zermürbt, wie er es sich nie hätte vorstellen können. Sehr leise, um den Jungen nicht zu wecken, verließ er das Zimmer und kehrte ins Bett zurück.

Ken lag stocksteif, reglos, weiterhin sorgsam den Atem regulierend. Was hatte Darius Thanner gewollt? Irgendwelche Perversitäten? Er verspürte einen sauren Geschmack im Mund, es würgte ihn, er setzte sich auf, legte sich die Decke um die Schultern, die Tür keinen Augenblick aus den Augen lassend. Würde Thanner zurückkommen? Die nagende Furcht wollte nicht weichen. Und dann, plötzlich, begriff er, warum: Die Tür war nicht mehr abgeschlossen! Absichtlich, weil Thanner noch etwas vorhatte, wiederkommen würde? Oder war der Typ schusselig, hatte es einfach vergessen?

Kens Mund schien wie ausgedörrt, sein Herz raste, als er barfuß zur Tür schlich, zu horchen versuchte, während das Blut überlaut in seinen Ohren rauschte und die Angst ihm fast die Besinnung raubte. Doch draußen im Gang schien alles still. Totenstill. Trügerisch still?

Was war mit den geifernden Kötern? Hatte Thanner nicht gesagt, sie würden diese Nacht ausnahmsweise in seinem Zimmer schlafen? Ausnahmsweise! Das bedeutete: Wenn er fort wollte, musste er es sofort tun, heute! Ken schluckte. Er befand sich in einem fremden Land, in dem eine unverständliche Sprache gesprochen wurde, wo sollte er hin? Egal, einfach weg!

Er hatte nichts ausgepackt, außer Pyjama und Zahnbürste, nahm seine Tasche mit Händen, die einem Roboter zu gehören schienen, schlich die Treppe hinunter, jeden Moment bereit zu erstarren in der Furcht, jemandem zu begegnen, bemerkt zu werden.

Und endlich stand er draußen, roch den Duft der Pinien, die Schwere der toskanischen Nacht. Über seinem Kopf funkelten Sterne, kristallklar, tröstlich-vertraut, denn es waren die gleichen, die er vom Fenster des Heims aus angefleht hatte, ihm zu helfen, wenn Krumms Name auf dem Dienstplan stand …

Und wieder wählte er einen Stern für sich, einen, der besonders hell strahlte, und ganz automatisch setzten sich seine Beine in Bewegung, folgten dem Stern, seinem Stern, auf dem, wie Randolf versprochen hatte, die Rose wartete und vielleicht das Schaf …

»Still, verdammt! Lass mich schlafen!« Darius registrierte Romeos kurzes Bellen kaum, erschlagen von der Anspannung der nervig-langen Fahrt mit dem beharrlich schweigenden Jungen, wollte endlich seine Ruhe, nicht mehr nachdenken, sich nicht mehr fragen, wie es am Morgen weitergehen solle.

Romeo knurrte. Verdammtes Vieh, dachte Darius, warum hab ich dich nicht im Hof gelassen? Entschlossen, fast trotzig, hielt er die Augen geschlossen, hörte dennoch, wie der Hund aufsprang, zur Tür lief, witterte. Auch Julia erhob sich, die ewige Zweite, folgte dem Gefährten.

Verzweifelt versuchte Darius, das erregte Hecheln zu überhören; je fester er beschloss, die Viecher zu ignorieren, desto wacher wurde er. Was konnte die Hunde beunruhigt haben? Einbrecher? Wenn ein fremder Mordbube durchs Haus schliche, würden sie sich die Seele aus den krummbeinigen Leibern bellen! Vielleicht irgendetwas in den Ställen? Bloß nicht wieder ein Feuer wie letzten Sommer, als dieser Trottel Signor Valcello seine Kippe ausgerechnet in das staubtrockene Gras neben dem Gästehaus geschmissen hatte! Beinahe wäre der Stall durch den Funkenflug mit abgebrannt! Der Gedanke an die Pferde brachte Darius endgültig auf die Beine. Ein geflüsterter Befehl an die Hunde, Julia schlich ins Zimmer zurück; Romeo folgte seinem Herrn in den Gang hinaus.

Darius’ erster Blick galt dem Himmel. Kein Feuerschein, kein Rauchgeruch. Wenigstens etwas. Aber Romeo blieb unruhig, rannte zu Kens Zimmer, schnüffelte an der Tür.

»Der ragazzo bleibt hier. Zumindest für eine Weile.« Darius gähnte. »Sag bloß nicht, ihr habt mich geweckt, weil der Junge sich im Bett umgedreht hat, sonst schmeiß ich euch sofort in den Hof raus!«

Er fasste nach der Tür, besann sich, dass er den Schlüssel brauchte, in genau dem Moment, als sie sich mühelos öffnen ließ. Verdammt! Er musste vorhin vergessen haben abzuschließen! Und das Bett war leer!

Die Nacht dehnte sich weit und angenehm lau, zumindest für jemanden, der gerade einem zu kühlen, verregneten bayrischen Frühjahr entkommen war. Ken hatte nicht die geringste Ahnung, wohin ihn sein Stern führte, wohin er lief. Doch trotz Angst und Aufregung war das Gefühl der Freiheit süßer als die Nacht, großartiger als die Sterne. Er marschierte über Hügel, roch das Aroma würziger Kräuter, deren Namen er nicht kannte, fühlte sich eigenartig geborgen unter diesem samtigen Himmel, genoss das Gefühl der Steine des kleinen Feldwegs unter den Sohlen seiner Turnschuhe. Ein Gefühl einer anderen Welt, des Lebens außerhalb von Mauern. Krumm und Reimer verblassten zu grauen Spektren, zu fern und zu schwach, um ihn hier zu malträtieren; zum ersten Mal seit Jahren fiel jegliche Furcht von ihm ab, schmolz unter der Kuppel des italienischen Himmels dahin.

Und dann, urplötzlich, das Bellen! Trügerische Sicherheit, falsch wie die Menschen, mit denen er in seinem bisherigen Leben zu tun gehabt hatte! Im Nu war die Panik zurück, würgte ihn beinahe. Der Hund irgendeines Bauern? Ein streunender Köter? Ken hatte sich sein Leben lang vor Hunden gefürchtet, seit er einmal, bei einem der wenigen Ausflüge, an denen er hatte teilnehmen dürfen, gesehen hatte, wie sein Zimmergenosse Georg von einem stinkenden, speicheltriefenden Riesenköter ins Bein gebissen wurde …

Der Hund bellte wieder, der Laut schien näher als zuvor. War das verdammte Vieh auf seiner Spur?! Warum hatte er kein Messer mitgenommen, warum war er so kopflos geflohen? Mit wilden Augen sah Ken um sich: Gab es nirgends einen Stock, irgendetwas, mit dem er sich im Notfall verteidigen konnte?

Erneut das Bellen, schon ganz nahe! Aber woher? Die Nacht schützte ihn nicht mehr, die Dunkelheit verwandelte sich in Bedrohung; war da nicht eine Bewegung hinter den Zypressen, huschte dort nicht ein Schatten über das Feld?

In panischer Angst griff Ken den nächstbesten Stein, hörte das Hecheln, ein seltsames Trommeln, ließ die Tasche fallen, stürzte in Panik los, wandte sich um, sah einen riesenhaften Schatten hinter sich aufwachsen, den Feldweg entlang kommen. Ohrenbetäubendes Bellen ließ ihn schneller rennen, fast bis zum Bersten der Lungen, dann spürte er einen Schlag im Rücken, stürzte ins Feld, drehte sich um – und sein Herzschlag setzte aus!

Fletschende gelbe Hundezähne nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Heißer, übelriechender Atem, der beinahe einen Brechreiz auslöste. Der Junge wagte nicht, sich zu bewegen, als der kräftige Hund plötzlich die Vorderläufe auf seine Brust stellte, ihn anknurrte, ein grollendes Knurren, von irgendwoher tief aus dem massigen Körper, warnend, böse. Ken begann zu zittern, spürte schmerzhaft einen Stein, der sich ihm in die Hüfte bohrte, fragte sich, wo der andere Stein, den er als Waffe benutzen wollte, hingekommen war; hatte er ihn beim Sturz verloren? Tränen stiegen ihm in die Augen, als er daran dachte, dass die eben gewonnene Freiheit nun wieder verloren war; die Angst und der plötzliche Drang, auf die Toilette zu gehen, wurden übermächtig, löschten schließlich jede andere Empfindung aus.

Nur aus den Augenwinkeln gewahrte der Junge, wie sich der riesige Schatten zur Silhouette eines Pferdes materialisierte, und auf dem Pferd – saß Darius Thanner. Der Mann sprang ab, mit der Gewandtheit des geübten Reiters, doch er rief den Hund nicht zurück, blieb neben dem Pferd stehen. Ken sah das Licht des Feuerzeugs aufblitzen, als er sich eine Zigarette anzündete, roch den Duft des Tabaks, den eine leichte Brise mit dem üblen Atem des Hundes vermischte.

Warum pfiff der seinen Köter nicht zurück, verdammt?! Kens Lippen waren trocken; vage dachte er, dass er den anderen darum bitten müsse – aber er konnte nicht sprechen, brachte wie immer keinen Ton heraus, konnte nur heulen. Lautlos, reglos, um die Bestie nicht zu reizen, die erneut zu knurren begann, die Lefzen zurückzog, um die gelblichen Reißzähne weiter zu entblößen, grässliche, gebogene Zähne, stark genug, um Knochen zu zermalmen, so nah, dass Ken nicht wagte, die Augen zu schließen. Ruf den Hund zurück, bitte, egal, was du vorhast, aber ruf den Scheiß-Hund zurück! Er hatte das Gefühl, das Wasser höchstens noch Sekunden halten zu können, er würde sich in die Hose pinkeln wie sonst Georg, hier vor Thanners Augen … Hilflos tasteten seine Finger umher, nach einem neuen Stein, aber ehe er das grausliche Vieh erschlagen könnte, würde es ihn in Stücke reißen, so sicher wie nur was …

Darius zog heftig an der Zigarette, sah das Ende aufleuchten wie ein Signal, Messgerät seiner Erregung. Romeo hielt den Jungen in Schach, gut so! Darius wagte nicht gleich, den Hund zurückzurufen, aus Angst, sich dann zu vergessen, den Jungen an Ort und Stelle durchzuprügeln. Er war nicht einfach wütend, er raste innerlich vor Wut, seiner persönlichen Explosionsgrenze gefährlich nahe. Da hatte er sich die Mühe gemacht, den Jungen aus dem Heim zu holen, seinetwegen sogar Lydia versetzt, ihn mit hierher geschleppt, auf den Pferdehof, alles in der besten Absicht – und der undankbare Kerl nutzte die erste Gelegenheit, um wegzurennen! In einer Nacht, in der er weder seine Freundin hatte aufsuchen noch schlafen können!

Wieder inhalierte er kräftig, spürte, wie das Nikotin seine Nerven allmählich beruhigte, eine Überreaktion verhinderte.

»Romeo, zurück!« Seine Stimme klang hart und scharf, doch zumindest hatte er sich wieder unter Kontrolle. Der Junge rappelte sich auf, stolperte ins Feld, am Reißverschluss seiner Hose zerrend. Darius rauchte schweigend weiter, Saschas Zügel lose in der Hand.

Erst als der Junge sich wieder umdrehte, den Kopf eingezogen, ließ Darius die Riemen fallen; der Tekkiner-Hengst war darauf dressiert, bei hängendem Zügel stehen zu bleiben, wo immer er stand.

»Warum wolltest du abhauen? Ich hab dir nichts getan, verdammt!«

Der Junge stand nur da, das blasse Gesicht gespenstisch fahl im Licht der Nacht, die Arme hängend, den Kopf gesenkt.

»Warum, verdammt? Ich hab dich von dort weggeholt!«

Ken rührte sich nicht, doch Darius hatte das Gefühl, dass er nicht mehr weinte. »Verdammter Idiot! Ich rede mit …!«

Er kam nicht weiter; der Junge sprang ihn an wie ein mordgieriges Raubtier die Beute, gerade noch rechtzeitig sah Darius den Stein in seiner Rechten, riss den eigenen Arm hoch, reflexartig, stürzte unter der Wucht des Angriffs zu Boden, hörte den Atem des Jungen, laut und keuchend, als er sich wehrte, zurückschlug, härter, als der Junge überhaupt zuschlagen konnte, hörte Romeos aufgeregtes Bellen, Saschas Schnauben, als der Hengst zurückwich, die Hufe nur Zentimeter von Kens Körper entfernt.

Ein Schmerzensschrei; der Junge ließ von ihm ab, rollte zur Seite, nach dem einzigen Schrei wieder stumm, und als Darius sich aufrappelte, sah er den muskulösen Boxer am Bein des Jungen hängen, in die Hose verbissen.

»Romeo, aus!« Der Hund gehorchte sofort, ebenso gut geschult wie das Pferd, aber Kens Hose hing in Fetzen, der Junge heulte vor Schmerz.

»Zeig her!« Darius hatte die Stablampe aus der Satteltasche geholt, leuchtete auf die Wunde. Sie war nicht schwer; Romeo hatte den sechsten Sinn gehabt, relativ vorsichtig zugepackt, doch Ken schien gelähmt vor Furcht, bewegte sich nicht, als Darius ein Taschentuch um das blutende Bein wickelte.

»Das hast du davon! Hast du ernsthaft geglaubt, der Hund guckt zu, wenn du auf mich losgehst wie ein durchgeknallter Düsenjet?!« Darius schimpfte, weniger aus Wut auf Ken als vielmehr, um sich abzuregen. »Mach das nicht noch mal, sonst kannst du gleich die nächste Tracht Prügel beziehen, ist das klar?!«

Er stand auf, zerrte Ken unsanft mit auf die Füße. »Los, steig auf den Gaul!«

Der Junge wich zurück, blankes Entsetzen in den Augen, zog die Nase hoch, wischte sich mit dem Ärmel darüber.

»Willst du laufen? Mit dem Bein? In den Sattel mit dir! Sascha ist völlig ruhig und ich geh nebenher!«

»Was hat er am Fuß?« Joost Amber blickte Ken nach, als der, das halb gegessene Brot auf dem sonnenfarbigen Tischtuch lassend, mit mürrischer Miene aus dem Frühstücksraum hinkte. Da aufgrund der eben erst abgeschlossenen Renovierung außer den beiden jungen deutschen Mädchen und Professor Amber nur Pferdewirt Hannes, der Koch Ignazio und dessen Frau Maria im Gästehaus wohnten, kam Darius zum Essen schon gewohnheitsmäßig ebenfalls in die Pension hinüber. Bettina und Sabina – typische Teenager – hatten sich an diesem Morgen noch nicht gerührt und Joost fand, dass auch Darius reichlich übernächtigt wirkte. Hatte er sich in der Nacht mit seiner Lydia getroffen?

»Romeo hat ihn gebissen. Er wollte abhauen.« Darius schüttete seinen caffè macchiato hinunter und schenkte gleich den zweiten Becher ein. »Verdammt, Joost, sag mir, was ich mit dem Jungen anfangen soll!«

»Wär’s nicht besser gewesen, du hättest dir das früher überlegt? Bevor du ihn über die Alpen gekarrt hast, bloß weil dich sein Psychodoktor nicht halb so nett angelächelt hat wie deine Göttin Lydia?«

»Natürlich wär’s gescheiter gewesen! Aber was hilft mir das jetzt?!«

Angesichts der offenen Verzweiflung des Freundes verspürte Joost eine Regung von Mitleid. »Schick ihn mit Hannes in den Stall. Für den Sommer fehlt dir doch sowieso ein zweiter Pferdepfleger, oder? Und wer arbeitet, hat weniger Zeit für dumme Gedanken! Übrigens«, der Physiker langte nach einem neuen Brötchen, »hast du ihn wenigstens zum Arzt geschafft? Tetanusspritze und all den Kram?«

»Wozu? Seine Impfungen sind bestimmt in Ordnung, dafür hat das überperfekte Heim gesorgt.«

Joost zog die Brauen hoch, widersprach jedoch nicht. »Und dann musst du ihm Unterricht geben – oder geben lassen, damit er schnellstmöglich Italienisch lernt.«

»Er spricht ja nicht.«

»Aber er sollte es wenigstens verstehen. Oder willst du den Sommer über alle Anweisungen zweisprachig brüllen? Außerdem wird er spätestens im Herbst zur Schule gehen müssen. Weißt du überhaupt, dass es in Italien keine Sonderschulen gibt?«

Darius seufzte. Joost verbarg ein Schmunzeln; er kannte den Freund lange genug, um zu wissen, dass der impulsive Darius an all die praktischen Konsequenzen seines so spontanen Entschlusses keine Sekunde verschwendet hatte und erst jetzt zu begreifen begann, auf was er sich eigentlich eingelassen hatte.

Eine Stunde später stand Ken im Stall, in alten Stiefeln von Darius, eine Mistgabel in der Hand, als gehöre weder sie noch der Arm zu ihm.

»Ausmisten wird deine geistigen Kapazitäten hoffentlich nicht überfordern, oder?«, knurrte Hannes, der nicht verwinden konnte, dass Darius ihm, ohne erst zu fragen, den Idiotenjungen aufgedrängt hatte, der von Pferden vermutlich weniger verstand als Romeo vom Internet. »Da ist der Schubkarren, dort der Misthaufen!«

Vorsichtig spähte Ken in die erste Box. Leer, stellte er mit ungeheurer Erleichterung fest.

»Was erwartest du da drin zu finden? Dynamit? Fang endlich an, oder willst du bis zum jüngsten Tag hier rumstehen?!«

Sport hatte es im Heim zwar gegeben, Fußball vor allem, aber Ken hatte sich selten beteiligt, weil die andern ihn nicht leiden mochten, genauso wenig wie er sie. Und wenn er sich mal hatte überreden lassen, war er spätestens nach zehn Minuten mit der roten Karte rausgeflogen, weil er mit irgendwem eine Prügelei angefangen hatte oder irgendwer mit ihm … Nach einer Stunde Stallarbeit begannen ihm – untrainiert, wie er war – die Arme zu zittern, wenn er die verdammte Mistgabel bloß ansah. Lud er den Karren nicht voll genug, schimpfte Hannes ihn einen Schwächling und Drückeberger, und wenn er so viel aufpackte, wie der Pferdewirt es verlangte, verlor er ein Drittel unterwegs und Hannes schickte ihn unerbittlich zurück, alles aufzusammeln. Und immer lauerte irgendwo der widerliche Hund, die scheußliche Bestie mit dem abartigen Namen Romeo, die ihm auf Schritt und Tritt folgte, schlimmer als jeder Gefängniswärter, sodass er beständig über die Schulter spähte und dabei versehentlich zweimal die Karre an der falschen Stelle auskippte. Der zweite Köter, Julia, hatte sich beim Stalltor niedergelegt und obwohl sie still und reglos verharrte wie eine ägyptische Sphinx, fühlte er sich vom Blick ihrer gelblich-trüben Augen verfolgt, sodass jedes Mal, wenn er an dem Tier vorbeimusste, sein verletztes Bein zuckte, und ihm der Angstschweiß in die Augen rann.

»Immer noch nicht fertig?! Mach voran, du Deppenarsch, und fahr gefälligst das Brett rauf, anstatt das Zeug immer neben den Haufen zu kippen!«

Hannes steckte sich eine Zigarette an, hockte sich auf einen Strohballen und sah dem Jungen zu, der schwitzend und übernervös den vollen Karren in Zeitlupe so vorsichtig über die an den Misthaufen gelegte Planke manövrierte, als transportiere er rohe Eier, anstatt einfach mit Schwung hinaufzufahren. Sollte er sich ruhig schinden! Je eher der Kerl mit seinen mindestens zwei linken Pfoten die Arbeit hinschmiss, um so eher war Hannes ihn los!

Richtig!, dachte Hannes mit plötzlicher Erleichterung. Das ist die Lösung, die mir den Idioten am schnellsten vom Hals schafft! Ich muss lediglich dafür sorgen, dass der Junge von sich aus die Schnauze so voll bekommt, dass er in Streik tritt, dann kann Darius mir nichts vorwerfen! Und nichts war leichter, als dem andern das Leben im Stall zur wunderbar effektiven Hölle umzugestalten!

»Wenn du hier fertig bist, bring ich dir bei, wie man Pferde putzt!« Er schaffte es, die Worte fast wie eine in Aussicht gestellte Belohnung klingen zu lassen, und grinste in sich hinein, hatte längst gemerkt, wie Ken sich vor allem, was auf Pfoten oder Hufen einhertrapste, zu Tode fürchtete. Und wenn er an den Ponyhengst Pepe dachte … Pepe glaubte beim Putzen immer, einen kleinen Rangordnungskampf ausfechten zu müssen, aber er durfte nicht gleich mit Pepe anfangen, für den Fall, dass Darius vorbeischaute. Nein, besser war es, ihm heute vielleicht Vionella zu geben, die beim Putzen wie eine Eins stand, so verrückt sie sich auch in der Bahn benehmen mochte, und Pepe für morgen aufzusparen …

»Wie läuft’s, arbeitet er?« Darius Thanners hohe Silhouette verdunkelte die Stalltür; im Gegenlicht schimmerte sein grau werdendes Haar silbern, sein Gesicht lag im Schatten.

Hannes zuckte die Achseln. »Was einer wie er für Arbeit hält, nehm’ ich an.«

Ken hörte die Verachtung aus der Stimme des anderen, sie schien an den Stallwänden abzuprallen, sich zu verhundertfachen, von allen Seiten auf ihn einzuprasseln wie die Graupelschauer vom letzten Winter, eiskalt und unerbittlich hart.

Er sah Darius näherkommen, konnte die Miene des Mannes nicht erkennen, brauchte es auch nicht, spürte, wie ihm das Blut mit zweihundert Sachen in den Kopf schoss beim Gedanken an die nächste Beleidigung, pfefferte die Bürste, mit der er Neves Trog bearbeitet hatte, so heftig an die Wand, dass Pepe in der Box nebenan stieg und Vionella donnernd gegen die Rückwand ausschlug.

Ken kümmerte sich nicht darum, rannte hinaus, mit dem Fuß den Putzeimer umkickend, dass Kardätsche und Hufkratzer durch die Stallgasse flogen, hatte jedoch Romeo vergessen, der gelangweilt im Hof lag, vor sich hin dösend und dabei ständig auf eine Gelegenheit lauernd, mit lautem Gebell loszurasen.

In einer Wolke aus Staub sauste er jetzt auf den Jungen los, ein gelb-braunes Muskelpaket geballter Kraft. Ken blieb stehen wie erstarrt; der Hund tanzte um ihn herum, bellend, jaulend, springend, und dann gesellte sich Julia zu ihm, in zweiter Reihe, dumpf grollend, und Ken drückte sich an die Stallwand, wäre nur zu froh gewesen, wenn sie sich hinter ihm durch Zauberei aufgetan und ihn wieder eingelassen hätte, zurück zu den Menschen, vor denen er eben so leichtsinnig geflohen war.

»Aus!« Darius’ Stimme von der Stalltür her, träge, fast gleichgültig. Ken wusste nicht, wen er mehr hasste, den widerwärtigen Köter, den verdammten Pferdewirt mit seinem langen, fast skelettartigen, höhnischen Grinsen oder Thanner selbst mit seinem sonnengebräunten Playboygesicht und seiner grässlichen Ruhe und Überlegenheit.

»Geh rein, nimm die Bürste und mach deinen Job zu Ende!«

Ken bewegte sich im Zeitlupentempo seitwärts, nicht gewillt, den knurrenden Bestien eine einzige Sekunde den Rücken zuzuwenden. Hannes grinste stärker, schüttelte den Kopf. »Der wird nie was taugen mit den Pferden, Boss!«

»Dann lass ihn morgen Sättel putzen, die haben’s weiß Gott nötig!« Thanners Stimme verriet, dass es mit seiner Laune auf dem Nullpunkt stand. »Und räum das verdammte Gift vom Fensterbrett, ehe die Hunde oder irgendwelche Kinder damit zu spielen anfangen!«

»Ich wollt’s gerade in der Futterkammer ausstreuen. Ratten und Mäuse fressen uns ja den ganzen Hafer zusammen.« Hannes schnitt eine Grimasse hinter Thanners Rücken. Normalerweise kamen er und der Boss super miteinander aus, aber die Anwesenheit des Idiotenjungen brachte alles durcheinander!

3. Kapitel

Lydia war weiterhin nicht zu erreichen. Nach zwei Tagen vergeblicher Telefonate hatte sich Darius sogar in die Boutique in Cecina gewagt, in der ihre beste Freundin für gewöhnlich schwitzenden, übergewichtigen Touristinnen überteuerte Modefummel aufschwatzte, die die bedauernswerten Opfer unmöglicher aussehen ließen als zuvor. Aber selbst dort wusste niemand mehr, als dass Lydia ein paar Tage Urlaub genommen hatte.

Auch ihre Wohnung war versperrt; er klingelte Sturm, vergeblich.

»Lydia!« Er brüllte ihren Namen durch den stickigen Hausflur, schlug mit den flachen Händen gegen die Wohnungstür und wusste zugleich, dass er vergebens ausrastete, sie war nicht da, konnte ihn gar nicht hören.

Immerhin öffnete sich eine Tür nebenan, eine alte Frau lugte heraus, in blumiger Kittelschürze, das weiße Haar zurückgekämmt, hinten mit einem nicht zur Schürze passenden, neongrünen Samtband zusammengebunden.

»C’è un problema, signore?«

»Die signora Lydia, ist sie nicht da?« Überflüssige Frage, aber ihm fiel nichts Gescheiteres ein.

»No. È andata a Milano.«

Er wusste, dass sie keinen triftigen Grund hatte, ausgerechnet jetzt nach Mailand zu fahren, dass sie es lediglich tat, um es ihm heimzuzahlen; dass sie anschließend eine bühnenreife Szene aufführen und sich endlich versöhnen lassen würde; er kannte ihr Spiel seit langem. Dennoch konnte er seinen Ärger nicht verbergen, schmiss seine elf langstieligen Rosen der alten Frau vor die Pantoffeln und polterte grußlos die Treppe wieder hinab.

Zurück im Paradiso sah er vom Küchenfenster aus, wie Luciano, der Sohn des Gärtnereibesitzers, auf seinem grasgrünen Mofa in den Hof knatterte, vor die Bank, auf der Bettina saß, in Reitjeans und Schnürtop. Das Mädchen sagte etwas, mit finsterer Miene, Luciano brüllte zurück, wild mit den Händen gestikulierend, bis es ihm einfiel, den Motor abzustellen und abzusteigen.

Bettina war aufgesprungen, stemmte die Hände in die Hüften, und Darius grinste bei dem Gedanken, dass es mit Sicherheit keine Freundlichkeiten waren, die sie dem jungen Italiener an den Kopf warf.

Wenige Minuten später schien aus einem heftigen Streit eine noch heftigere Versöhnung zu werden. Jetzt hockte Luciano neben Bettina auf der Bank, legte besitzergreifend den Arm um ihre Schultern. Darius runzelte die Stirn. Sicher, seine Verantwortlichkeit beschränkte sich auf die jüngere Schwester, die vierzehnjährige Sabina. Bettina mit ihren achtzehn Jahren ließ sich nichts mehr verbieten und wenn sie sich mit dem Gemüsejungen amüsierte, um sich über die kaputten Familienverhältnisse daheim hinwegzutrösten, konnte er ihr eigentlich keinen Vorwurf machen. Er erinnerte sich an das, was ihr Vater am Telefon erzählt hatte, damals, als er fragte, ob die beiden reitbegeisterten Mädchen dieses Jahr früher kommen dürften, selbst wenn das Gästehaus nach dem Brand noch nicht völlig renoviert war: Die Mutter war Hals über Kopf verschwunden, mit ihrem Aerobic-Lehrer, hatte vor allem die kleine Sabina dadurch in tiefe Depression gestürzt, sodass der Vater auf Anraten des Arztes die Mädchen schon im Mai aus der Schule genommen und ins Paradiso verfrachtet hatte, wo die beiden seit Jahren die großen Ferien verbrachten. Eigentlich war es Bettina, die auf Sabina achten sollte, doch sie hatte sich, nach dem Intermezzo mit Pferdewirt Hannes im letzten Jahr, diesmal in den gut aussehenden Luciano mit seinem frechen Pferdeschwanz und seinem grünen Mofa verknallt. Kinobesuche, Disco-Abende, Strandbummel – wo sollte dem Mädel neben dem anstrengenden Terminplan der Verliebten Zeit bleiben, sich um eine minderjährige Schwester zu kümmern? So fühlte sich Darius verpflichtet, Sabina im Auge zu behalten, die hier auf der Ranch, bei ihren geliebten Pferden, schon viel fröhlicher wirkte als bei der Ankunft.

Bettina beugte sich zu Luciano; er konnte nicht erkennen, ob sie sich etwas zuflüsterten oder rumknutschten. Achselzuckend sagte er sich, dass es ihm egal sein dürfe. Sie war volljährig, aber jung; sie brauchte jemanden, zum Quatschen, zum Ausgehen, vielleicht fürs Bett.

Volljährig. Ken war vierzehn. Und nach seinem achtzehnten Geburtstag? Würde er den Rest seines Lebens in einem Heim verbringen müssen, ständig weggesperrt, wie die Löwen im Zoo, nicht geeignet für diese Standard-Welt? Darius seufzte.

Seine Stimmung sank vollends auf Minuswerte, als er den Stall betrat, um Peter Selmann zu begrüßen, dem er vor zwei Tagen Extrastunden zugesagt hatte. Natürlich hatte der Typ Welldones Sattelgurt viel zu locker geschnallt, immer in der Angst, dem ach-so-zartbesaiteten Tier in irgendeiner Weise weh zu tun. Der Nasenriemen schwang wie ein Artistentrapez frei und weit durch die Luft und der Schweif war nur mangelhaft verzogen, weil Selmann in der ständigen Angst lebte, das Pferd könne nach hinten austreten, wenn er gerade an ihm zugange war.

»Den Sattelgurt! Fester, um mindestens zwei Löcher«, knurrte Darius statt der Begrüßung, die er sich eigentlich vorgenommen hatte, aber es bereitete seiner Reiterseele Höllenqualen, ein dermaßen schlecht hergerichtetes Pferd zu sehen. »Und im Nasenriemen sollen zwei Finger Platz haben, nicht ein kompletter Etruskersarg.«

Pflichteifrig zog Selmann die Riemen enger, klopfte danach Welldones Hals, wie um das Pferd um Entschuldigung zu bitten, dass er es noch mal belästigte.

»Bringen Sie ihn raus!« Darius entschloss sich, das Stroh im Schweif für diesmal zu ignorieren und ging dem anderen voran in die Reitbahn.

»Von welcher Seite steigen wir auf?« Er hatte es satt, jedes Mal die gleiche Frage zu stellen, aber in manchen Dingen schien Selmann unbelehrbar.

»Ach ja, links.« Selmann wechselte die Seite. Zwar hatte er aufgrund seiner Körpergröße keine Probleme, in den Sattel zu gelangen, aber er verlor dabei seine Gerte, die Darius wortlos aufklaubte und zurückgab.

»Sie haben Ihre Steigbügel zu kurz eingestellt. Das soll schließlich keine Springstunde werden, oder?«

Als endlich alles gerichtet war, schlug Darius innerlich drei Kreuzzeichen und ließ Selmann anreiten. »Ganze Bahn.« Wenigstens das würde der Kerl wohl langsam können.

Die Reitstunde nahm den für Peter Selmann typischen Verlauf. Die erste Viertelstunde, in der Pferd – und Reiter – im Schritt gelockert werden sollten, verlief einigermaßen ordentlich, aber sowie es ans Traben ging …

»Treiben, Selmann! Reiten ist Arbeit!« Welldone war das willigste Großpferd im Stall, ein sanfter Brauner mit der friedlichen Gelassenheit eines Buddhas; niemand außer Selmann hatte je Schwierigkeiten mit ihm.

»Zügel nachfassen, die hängen Ihnen durch wie Lakritze!«

»Absätze tiefer!«

»Reiten Sie die Ecken aus! Und, wo ist in Ihren Augen eigentlich der erste Hufschlag?!« Mit jeder Korrektur wurde Darius innerlich gereizter und durfte es sich nicht anmerken lassen.

»Ruhiger mit den Händen! Wollen Sie eine Volte reiten oder einen Martini schütteln?!«

»Wenn Sie lange maulen, nehm ich den Martini!«, rief Selmann zurück, schwitzend unter dem schwarzen Helm, und plötzlich musste Darius über die klägliche Verzweiflung im Gesicht des Mannes lachen und das Lachen befreite ihn, trug den Ärger davon wie die verbrauchte Luft aus seinen Lungen.

Warum regte er sich überhaupt auf? Selmann war ein Reitanfänger, zugegebenermaßen einer der ungeschicktesten, die Darius je unterrichtet hatte – aber was spielte es für eine Rolle?

»Parieren Sie zum Schritt durch und konzentrieren Sie sich auf Sitz und Zügel!«

Eine ganze Weile beobachtete er den Mann, ausnahmsweise ohne zu korrigieren.

Peter Selmann war groß und linkisch und bewegte sich langsam. Sein braunes, gewelltes Haar, die tiefblauen Augen hinter der silbernen Metallbrille, der breite Mund und das eckige Gesicht ließen ihn weniger italienisch aussehen als Hannes oder Darius und doch war er gebürtiger Italiener, allerdings mit einem Südtiroler Vater.

Trotz seiner offensichtlich nicht vorhandenen reiterischen Begabung – man konnte ihm hundertmal erklären, dass er von links aufsteigen sollte, und er putzte seine Brille, nickte gehorsam und stand beim hundertersten Mal dennoch wieder auf der rechten Seite – konnte er keinesfalls dumm sein; er war studierter Archäologe, eine Kapazität für etruskische Ausgrabungen und vermochte mittels eines winzigen, dreckverklebten Stückchens Tonscherbe jahrhundertealte Geschichte zum Leben zu erwecken. Neben Deutsch und Italienisch sprach er fließend Englisch und Französisch, las Griechisch und Latein und Darius hegte immer den Verdacht, dass die vielen Vokabeln und Geschichtszahlen in seinem dreiundvierzigjährigen Hirn keinen Platz ließen für so alltägliche, geistlose Beschäftigungen wie Reiten. Warum der Mann es trotzdem lernen wollte, war ihm lange Zeit ein Rätsel geblieben.

Mittlerweile wusste er mehr. Peters Team war in der Nähe von Populonia auf eine etruskische Siedlung mit Töpferwerkstätten gestoßen. Die Grabungen waren zum Stillstand gekommen, als der Bauer, dem das Grabungsgelände gehörte, die Felder verkaufen wollte, um den Hausbau seiner Tochter zu finanzieren. Staat und Bauer rangelten um den Preis und bis die Sache entschieden war – was sich über Monate hinziehen konnte – durfte Peter nicht weitergraben. Das wäre an sich nicht so schlimm gewesen, da er ohnehin vorgehabt hatte, Urlaub zu nehmen, um ihn mit seinem Sohn, der bei seiner Ex-Frau in Sizilien lebte, zu verbringen. Aber die wenig kooperative Ex-Gattin hatte den Jungen auf einen Schüleraustausch nach England geschickt und nun verfügte Peter auf einmal über viel zuviel freie Zeit. Seine holprigen Versuche auf dem Pferdehof waren somit vermutlich eine Art halbherziger Beschäftigungstherapie für einen arbeitslosen und emotional geschädigten Archäologen.

Arbeitslos. Zuviel Zeit. Darius hatte da plötzlich eine Idee …

»Zügel nachfassen und wieder antraben! Und nicht so zaghaft! Reiten Sie vorwärts, Mann, sonst pennt Ihnen der Gaul unterm Hintern ein!«

Er ließ Peter eine Runde Zeit, ehe er ihm zurief: »Ach übrigens, hätten Sie nicht Lust, sich ein paar Reitstunden zusätzlich zu verdienen? Nötig hätten Sie sie jedenfalls! Sie hängen im Sattel wie meine nassen Waschlappen im Bad!«

»Das fehlte mir gerade noch! Was hätten Sie mir denn für eine Arbeit zugedacht? Mist schaufeln, damit sich Ihr Pferdewirt den schwarzäugigen Schönheiten der Umgebung widmen kann?«

»Keine schlechte Idee! Aber für mich wäre es nützlicher, wenn Sie meinem Jungen Italienisch beibringen. Und zerren Sie verdammt noch mal nicht so am Zügel, sonst braucht das arme Vieh hinterher einen Psychiater, weil es überhaupt nicht mehr weiß, was es soll!«

Dem Jungen Italienisch beibringen? Natürlich hatte Peter Selmann, wie jeder andere in der Gegend, von dem merkwürdigen ragazzo gehört, den il tedesco, der Deutsche, auf den Reiterhof geholt hatte. Die einen sagten, es handle sich um seinen Neffen, andere Stimmen munkelten, es sei sein unehelicher Sohn. Aber hieß es nicht, der Junge sei stumm? Und überhaupt, er, Peter, war Archäologe, kein Lehrer, und hatte keinesfalls vor, seine Freizeit zu ruinieren, indem er anderer Leute Kinder hütete, nicht, während sein eigener Emilio …!

»Ich hab’s ernst gemeint, Selmann, verdammt ernst!« Thanner verfolgte ihn in den Stall, half ihm sogar, Welldone das Zaumzeug abzunehmen und das blaue Stallhalfter überzustreifen. »Der Junge spricht zwar nicht, aber mir wäre sehr geholfen, wenn er wenigstens ein bisschen Italienisch verstünde. Lernintensive Gratis-Einzelstunden für Sie, im Austausch gegen Italienischstunden für den Jungen. Also, wie ist’s?«

Nein, danke, wollte Peter eigentlich sagen, während er Welldones Hals klopfte, doch stattdessen kam es ihm wie von selbst über die Lippen: »Kann ich den Jungen kennen lernen, bevor ich mich entscheide?«

Thanner führte ihn ins Haus, durch ein geräumiges, lichtdurchflutetes Wohnzimmer, dessen geschmackvolle Einrichtung mit Möbeln aus hellem Pinienholz und bodenlangen Vorhängen aus naturfarbenem, ungebleichtem Leinen Peter zugleich angenehm überraschte, als auch wehmütig an seine glücklichen Tage mit Marisa denken ließ, weiter in einen offenen, blumenüberwucherten Innenhof, in dem Bougainvillea und Wandelröschen zwischen grünen Palmen blühten, ein steinerner Springbrunnen mit einem Bronzedelfin als Wasserspeier sacht plätscherte.

Hinter dem Brunnen, halb verborgen hinter den glatten, langen Blättern einer niedrigen Bananenstaude saß oder vielmehr kauerte der Junge auf einer steinernen Bank, den Kopf mit den dunklen Locken über einen Notizblock gebeugt, den Stummel eines Bleistifts in der Hand.

»Ken!« Thanners Stimme klang scharf, viel härter, als er je mit den Pferden zu sprechen pflegte; der Junge riss den Kopf hoch und Peter blickte in ein erschrockenes, geisterhaft weißes Gesicht, in tiefliegende, düster graue Augen.

»Ken, das ist Peter Selmann, der dir Italienisch beibringen wird.«

»No! Aspetti! Ich hab noch nicht zugesagt«, protestierte Peter, doch Thanner fegte den Einwand lässig beiseite wie die Fliegen im Stall. »Mir fehlen sowohl Zeit als auch Geduld, es selber zu tun. Also bleiben nur Sie!«

Arrogantes Arschloch!, dachte Peter. Ich sollte dich glatt stehen lassen und verschwinden. Doch zugleich sah er den verlorenen Blick der grauen Augen des Jungen, so verloren, wie er selbst sich fühlte, seit er die Nachricht erhalten hatte, dass sein Sohn Emilio nicht kommen würde, die langen, heißen Sommertage mit ihm zu teilen …

Zwanzig Minuten später saß der Archäologe neben Kens Schreibtisch. Thanner hatte ihn vorsichtshalber vor Kens unberechenbaren Wutanfällen gewarnt, aber der Unterricht verlief völlig ruhig, angenehm leise für jemanden, der die Stille antiker Stätten gewohnt war und sich deshalb nicht am Schweigen seines Schülers störte.

»Sono tedesco. Ich bin Deutscher.« Kens Schrift war extrem krakelig, die Buchstaben ungleich groß. Mal nach rechts, mal nach links gekippt, die ordnungsheischenden Linien der Zeilen mit erstaunlicher Konsequenz missachtend, erinnerten ihre Formen Peter an die unregelmäßigen Scherben antiker Vasen, die er in einer großen Obstkiste von Populonia mitgenommen hatte, um sie bei sich zu Hause zusammenzusetzen.

»Sei tedesco. Du bist Deutscher. È tedesco …«

Spiegelten die wirren, ungleichmäßigen Lettern in irgendeiner geheimnisvollen Weise den Seelenzustand des Jungen wider?

Während der Junge schrieb, den Kopf so dicht über das Blatt gesenkt, als befürchte er, die Buchstaben würden davonlaufen, sobald er aufhörte, sie mit seinen finsteren Blicken zu fixieren, versuchte Peter zu verarbeiten, was Darius Thanner ihm erzählt hatte:

Ein sechsjähriger Junge, schon im Kindergartenalter auffällig, der einen Spielgefährten krankenhausreif schlug, von seiner vermutlich überforderten Mutter in ein privates Heim für schwer erziehbare und geistig behinderte Kinder abgeschoben wurde. Ein Junge, der zwei Jahre später aufhörte zu sprechen, als sich ein Pfleger namens Randolf, der sich wohl intensiv mit Ken beschäftigt hatte, das Leben nahm. Ein Junge, der seit seinem achten Lebensjahr konsequent jegliche sprachliche Äußerung verweigerte. Die Vorstellung, dass ein Kind, das physisch zum Reden imstande war, sechs Jahre lang kein Wort von sich gab, schien Peter unfassbar – sein Emilio konnte keine halbe Stunde den vorlauten Mund halten – und weckte zugleich seine wissenschaftliche Neugier.

Ken hielt den Kopf gesenkt, sah diesen neuerlichen Fremden nicht an, während er sich verdrossen mühte aufzuschreiben, was der Mann diktierte und vorsprach. »Uno, due, tre …«

Im Prinzip hatte Ken nichts dagegen, Italienisch zu lernen. Wenn er abhauen wollte – und das blieb trotz des Fiaskos beim ersten Versuch sein dringlichstes Ziel –, würde ihm die Kenntnis der Sprache nützen. Blieb abzuwarten, wie dieser Peter Selmann sich entpuppte. Anfangs waren die meisten Lehrer scheißfreundlich oder taten wenigstens so. Bis ihm zum ersten Mal die Sicherung flog …

»Quattro, cinque, sei …« Was kam danach noch mal gleich? Er spürte die vertraute Panik, wie jedes Mal, wenn er in der Schule versagte, wartete resigniert auf die unvermeidlichen Worte, die ihn zum Blödmann Europas abstempeln würden …

»Ich glaube, für’s Erste reicht’s dir, nicht? Lass uns eine Pause machen.«

Ken legte den Stift sorgfältig neben das Heft, starrte weiter auf das Papier. Was würde jetzt kommen?

»Spielst du Tischtennis, Ken?«

Nun sah er doch auf, misstrauisch wie immer.

»Beim Gästehaus steht eine Platte. Wir könnten spielen und die Punkte auf Italienisch zählen. Hast du Lust?«