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Dieses Buch ist in einfacher Sprache geschrieben. Bei der Übersetzung in einfache Sprache folgen wir weitgehend der Norm DIN 8581-1. Das Buch eignet sich für Leserinnen und Leser, die eine eingeschränkte Lesefähigkeit haben (LRS), Deutsch als Zweitsprache lernen, mit komplexen Texten Schwierigkeiten haben oder einfach ein Buch in kompakter, lesefreundlicher Form genießen wollen. "Der Zwang" ist eine Novelle von Stefan Zweig, die 1920 veröffentlicht worden ist. Die Geschichte spielt während des Ersten Weltkriegs und handelt von einem jungen Künstlerpaar, das aus ihrem Heimatland flieht, um dem Krieg zu entkommen. Sie suchen Zuflucht in der Schweiz, wo sie hoffen, in Frieden leben zu können. Der Mann erhält einen Brief, in dem er aufgefordert wird sich dem Militärdienst zu stellen. Vor die Wahl gestellt, seinen Überzeugungen treu zu bleiben oder dem Befehl nachzukommen, erlebt er einen tiefen inneren Konflikt. Die Novelle erkundet Themen wie persönliche Freiheit, moralische Entscheidungen und die Auswirkungen des Krieges auf das Individuum.
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Inhaltsverzeichnis
Der Zwang
Impressum
Die Frau schläft tief und atmet stark. Ihr Mund ist ein wenig offen, als würde sie gleich lächeln oder etwas sagen. Ihre Brust hebt sich ruhig unter der Decke. Draußen wird es langsam hell, aber der Wintermorgen bringt nur wenig Licht. Es ist ein Zwielicht, das über allem liegt.
Ferdinand steht leise auf, ohne genau zu wissen, warum. Oft verlässt er plötzlich die Arbeit und geht hinaus auf die Felder. Er läuft immer schneller, bis er erschöpft weit weg in einer fremden Gegend ankommt. Manchmal hält er mitten in einem Gespräch inne, versteht die Worte nicht mehr und hört nicht auf Fragen. Oder er vergisst sich beim Ausziehen abends und sitzt mit einem Schuh in der Hand auf dem Bettrand, bis ihn ein Ruf seiner Frau weckt oder der Schuh laut zu Boden fällt.
Als Ferdinand jetzt vom warmen Zimmer auf den Balkon geht, friert er. Er zieht die Arme an sich, um sich zu wärmen. Unten ist die Landschaft ganz im Nebel. Über dem Zürichsee liegt dichter Nebel wie Schaum. Alles ist nass, dunkel und rutschig. Wasser tropft von den Bäumen und die Feuchtigkeit rinnt von den Balken herunter. Die Welt sieht aus, als käme sie gerade aus dem Wasser.
Aus der Ferne hört er Menschenstimmen durch den Nebel, aber sie klingen dumpf und fern. Manchmal hört er auch einen Hammerschlag oder das Läuten einer Kirchenglocke, aber der Klang ist feucht und dumpf. Zwischen ihm und der Welt liegt ein nasses Dunkel.
Ferdinand friert, aber er bleibt stehen und steckt die Hände tiefer in die Taschen. Er will den ersten freien Blick auf die Landschaft erhaschen. Langsam lichtet sich der Nebel wie graues Papier. Er sehnt sich sehr nach der Landschaft, die er kennt und liebt. Sie liegt normalerweise klar vor ihm. Oft hat er am Fenster gestanden und Ruhe im Anblick der anderen Seite des Ufers gefunden. Beim Anblick der Häuser, eines Dampfboots, der Möwen und des Rauchs, der wie eine silberne Spirale aufsteigt. Diese Szenen haben ihm Frieden gebracht und haben ihn für eine Weile seine Sorgen vergessen lassen.
Vor Monaten ist er als Flüchtling in die Schweiz gekommen, um dem Krieg zu entkommen. Er hat gefunden, dass die Landschaft seine Kunst neu belebt hat. Wenn der Blick auf diese Landschaft durch Nebel verdeckt ist, fühlt er sich entfremdet. An diesem Morgen empfindet er tiefes Mitgefühl für die Menschen, die im Dunkeln sind. Er sehnt sich nach einer Verbindung mit ihnen und ihrem Schicksal.
Irgendwo schlägt eine Kirchturmuhr in den Märzmorgen. Er fühlt sich sehr klein, mit der Welt vor sich und seiner schlafenden Frau hinter sich. Er wünscht sich, den Nebel zu durchbrechen und ein Zeichen von Leben zu finden. Als er in die Ferne schaut, sieht er etwas, das sich bewegt. Vielleicht ist es ein Mensch oder ein Tier. Es kommt langsam näher. Er spürt eine Freude darüber, dass noch etwas anderes wach ist. Er ist aber auch neugierig und empfindet eine unruhige Spannung. Das Wesen bewegt sich an einer Kreuzung, die entweder ins Nachbardorf oder den Hügel hinaufführt. Kurz scheint es zu zögern, dann setzt es seinen Weg den Pfad hinauf fort.
Ferdinand wird unruhig. Er fragt sich, wer der Fremde ist und warum er so früh am Morgen unterwegs ist. Will der Fremde zu ihm? Dann erkennt er ihn durch den Nebel: Es ist der Postbote. Jeden Morgen kommt er den Berg hinauf. Ferdinand erinnert sich an sein Gesicht mit dem roten Bart und an seine blaue Brille. Der Postbote heißt Nussbaum, aber Ferdinand nennt ihn wegen seiner steifen Art "Nussknacker". Ferdinand muss lächeln, als er sieht, wie der Postbote mühsam Schritt für Schritt geht. Er hat die Tasche über der Schulter und versucht, mit seinen kurzen Schritten würdevoll zu gehen.
Plötzlich zittern Ferdinands Knie und seine Hand fällt kraftlos herunter. Die Unruhe der letzten Tage ist plötzlich wieder da. Er fühlt, dass der Postbote direkt zu ihm kommt. Er öffnet die Türe. Er geht an seiner schlafenden Frau vorbei und eilt die Treppe hinunter, um dem Postboten entgegenzugehen. An der Gartentür stoßen sie zusammen. Ferdinand fragt mehrmals, ob der Postbote etwas für ihn hat.
Der Briefträger schiebt seine nasse Brille hoch und sieht ihn an. "Ja, ja." Er wirft seine schwarze Tasche herum und sucht in den Briefen. Ferdinand zittert. Schließlich zieht der Briefträger einen großen braunen Umschlag heraus, auf dem "amtlich" und Ferdinands Name stehen. "Zu unterschreiben", sagt der Briefträger und reicht ihm ein Buch für die Unterschrift. Ferdinand unterschreibt hastig.
Dann nimmt er den Brief, aber seine Finger sind so steif, dass der Umschlag herunterfällt. Als er sich bückt riecht er einen bitteren Geruch von Fäulnis und Verwesung.
Jetzt weiß er, was seine Ruhe seit Wochen gestört hat: der Brief, den er nicht will. Er hat ihn erwartet. Er kommt aus der Ferne, mit kalten Worten, die nach seinem Leben und seiner Freiheit greifen. Er hat ihn kommen gefühlt, wie ein Soldat, der im Wald das kalte Metall seiner Waffe spürt. Seine Versuche, sich davor zu verstecken, sind umsonst gewesen. Sie haben ihn gefunden.
Vor acht Monaten ist er zitternd vor einem Militärarzt gestanden. Der Arzt hat ihn untersuchte, als wäre er ein Pferd. Das hat ihm gezeigt, wie erniedrigend diese Zeit ist. Zwei Monate hat er es noch ausgehalten, umgeben von leeren Worten und Lügen. Er hat frierende Frauen im Morgengrauen gesehen, die vergeblich auf Nahrung gehofft haben. Das hat ihn wütend und traurig gemacht. Er ist böse geworden und hat sich selbst für seine Ohnmacht verachtet.
Dank einer Fürsprache hat er mit seiner Frau in die Schweiz fliehen können. Als er die Grenze überquert hat, hat er sich plötzlich wieder lebendig gefühlt. Er hat Freiheit eingeatmet. Für ihn hat "Vaterland" bis jetzt nur Gefängnis und Zwang bedeutet. Die Fremde ist seine neue Heimat und Europa steht für die Menschheit.
Aber dieses glückliche Gefühl hält nicht lange an. Dann kommt die Angst zurück. Er fühlt, dass sein Name noch irgendwie in dem Chaos verstrickt ist. Es gibt etwas Unbekanntes, das ihn nicht loslässt. Er fühlt, dass irgendwo ein wachsames Auge auf ihn gerichtet ist. Er zieht sich zurück. Er liest keine Zeitungen. Er wechselt seinen Wohnort, um seine Spuren zu verwischen. Er lässt Briefe nur postlagernd an seine Frau senden. Er meidet Menschen und geht nicht in die Stadt, sondern lässt seine Frau einkaufen. Sein Leben versteckt er in einem kleinen Dorf am Zürichsee. Dort hat er ein Haus gemietet. Doch er weiß, dass irgendwo ein Dokument mit seinem Namen existiert. Eines Tages werden sie es finden. Er kann sich vorstellen, wie jemand eine Schublade öffnet, seinen Namen tippt und der Brief ihn schließlich erreichen wird.
Jetzt hält Ferdinand das kalte, knisternde Papier in seinen Händen und versucht, ruhig zu bleiben. "Was bedeutet dieses Blatt für mich?" denkt er. "Morgen und übermorgen werden hier tausende Blätter an den Büschen sein und jedes ist mir so fremd wie dieses hier. Muss ich es lesen, nur weil 'amtlich' draufsteht? Ich habe keine Pflichten gegenüber anderen Menschen und niemand hat Macht über mich. Kann mich jemand zwingen, zu lesen, was darauf steht? Wenn ich es ungelesen zerreiße, fliegen die Stücke bis zum See. Ich weiß dann von nichts und die Welt weiß von nichts. Es ändert nichts, ob ich es lese oder nicht. Ich will nicht. Ich will nur meine Freiheit."
Ferdinand will das feste Kuvert zerreißen, aber seine Muskeln gehorchen ihm nicht. Obwohl er will, dass seine Hände es zerfetzen. Er öffnet vorsichtig den Umschlag und faltet das weiße Blatt auseinander. Darauf steht, was er schon befürchtet hat: Er soll sich für eine erneute Untersuchung seiner militärischen Tauglichkeit melden.
Eine Stunde später, als er zurück ins Zimmer kommt, kommt seine Frau lächelnd auf ihn zu. Sie hält einen Strauß Frühlingsblumen in der Hand. Sie sieht sorglos aus und zeigt ihm die Blumen, die sie hinter dem Haus gefunden hat. Dort blühen schon Blumen, obwohl im Schatten noch Schnee liegt. Um ihr eine Freude zu machen, nimmt er die Blumen und riecht daran. So muss er nicht in ihre unbeschwerten Augen sehen. Dann flüchtet er schnell in sein Atelier unter dem Dach.
Ferdinand kann nicht arbeiten. Sobald er die leere Leinwand vor sich sieht, erscheinen darauf die Worte des Briefes. Die Farben auf seiner Palette fühlen sich an wie Schlamm und Blut. Er denkt an Eiter und Wunden. In seinem Selbstporträt sieht er einen Militärkragen unter seinem Kinn. "Wahnsinn! Wahnsinn!", ruft er und versucht, die verrückten Bilder zu vertreiben. Aber seine Hände zittern und der Boden scheint unter ihm zu wanken. Er muss sich hinsetzen und bleibt so, bis seine Frau ihn zum Essen ruft.
Jeder Bissen bleibt ihm im Hals stecken. Etwas Bitteres macht ihm das Essen schwer und es kommt immer wieder hoch. Er merkt, dass seine Frau ihn besorgt anschaut. Sie legt ihre Hand sanft auf seine. "Was ist los, Ferdinand?", fragt sie. Er antwortet nicht. "Hast du schlechte Nachrichten bekommen?" Er nickt nur. "Vom Militär?" Wieder nickt er. Sie schweigen beide. Der Gedanke an den Brief füllt den Raum, drückt auf alles und macht das Essen ungenießbar. Er fühlt sich an wie eine kalte Last, die sie beide erdrückt. Sie schauen sich nicht an und sitzen nur da. Sie sitzen gebückt und still unter der schweren Last dieses Gedankens.
Ihre Stimme klingt gebrochen, als sie fragt: "Haben sie dich zum Konsulat gerufen?"
"Ja."
"Und wirst du hingehen?