Der Zwang in meiner Nähe - Michael Rufer - E-Book

Der Zwang in meiner Nähe E-Book

Michael Rufer

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Grundlagen und praktische Tipps für Betroffene und Angehörige Zwangserkrankungen wirken sich erheblich auf das Umfeld der Betroffenen aus. Familienangehörige, Partner_innen, Freund_innen, Arbeitskolleg_innen und andere Menschen, die einer zwangserkrankten Person nahestehen, sind oft alleine gelassen mit ihren Fragen: Wie kann ich der/dem Betroffenen am besten helfen? Wie kann ich zwanghafte Verhaltensweisen verstehen? Wie kann ich mich abgrenzen, und was mache ich dann mit meinem schlechten Gewissen? Wann ist eine professionelle Therapie notwendig? Soll ich einmal mit zur Therapie gehen? Diese und viele andere häufig gestellte Fragen werden von den Autor_innen, die beide jahrelange Erfahrung in der Beratung von Angehörigen und in der Therapie von Zwangskranken haben, aufgegriffen und mit Beispielen aus der Praxis und konkreten Tipps verständlich beantwortet. Für die dritte Auflage wurde der gesamte Text aktualisiert und dem heutigen Stand des Wissens angepasst. Einige Kapitel wurden erweitert; das betrifft insbesondere Informationen zu neueren Therapiemöglichkeiten wie die achtsamkeitsbasierten Ansätze in der Psychotherapie und die hirnchirurgischen Verfahren, die bei sehr schweren Zwangserkrankungen vermehrt durchgeführt werden. Ein neues Kapitel beschäftigt sich zudem mit den Besonderheiten der Situation von Eltern zwangskranker Kinder.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 252

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Rufer

Susanne Fricke

Der Zwang in meiner Nähe

Rat und Hilfe für Angehörige von zwangskranken Menschen

3., überarbeitete Auflage

Der Zwang in meiner Nähe

Michael Rufer, Susanne Fricke

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Psychologie:

Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich; Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich; Prof. Dr. Astrid Schütz, Bamberg; Prof. Dr. Markus Wirtz, Freiburg i. Br.; Prof. Dr. Martina Zemp, Wien

Prof. Dr. med. Michael Rufer

Triaplus AG

Klinik Zugersee

Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie

Widenstrasse 55

6317 Oberwil-Zug

Schweiz

und

Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

Lenggstrasse 31

8032 Zürich

Schweiz

E-Mail: [email protected]

PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Susanne Fricke

Psychotherapeutische Praxis

Hegestieg 6

20249 Hamburg

Deutschland

E-Mail: [email protected]

Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright-Hinweis:

Das E-Book einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.

Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Anregungen und Zuschriften bitte an:

Hogrefe AG

Lektorat Psychologie

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Dr. Susanne Lauri

Herstellung: René Tschirren

Umschlagabbildung: Getty Images/AlexLinch

Umschlaggestaltung: Claude Borer, Riehen

Satz: Claudia Wild, Konstanz

Format: EPUB

3., überarbeitete Auflage 2023

© 2009 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern

© 2016, 2023 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96275-7)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76275-3)

ISBN 978-3-456-86275-0

https://doi.org/10.1024/86275-000

Nutzungsbedingungen

Der Erwerber erhält ein einfaches und nicht übertragbares Nutzungsrecht, das ihn zum privaten Gebrauch des E-Books und all der dazugehörigen Dateien berechtigt.

Der Inhalt dieses E-Books darf von dem Kunden vorbehaltlich abweichender zwingender gesetzlicher Regeln weder inhaltlich noch redaktionell verändert werden. Insbesondere darf er Urheberrechtsvermerke, Markenzeichen, digitale Wasserzeichen und andere Rechtsvorbehalte im abgerufenen Inhalt nicht entfernen.

Der Nutzer ist nicht berechtigt, das E-Book – auch nicht auszugsweise – anderen Personen zugänglich zu machen, insbesondere es weiterzuleiten, zu verleihen oder zu vermieten.

Das entgeltliche oder unentgeltliche Einstellen des E-Books ins Internet oder in andere Netzwerke, der Weiterverkauf und/oder jede Art der Nutzung zu kommerziellen Zwecken sind nicht zulässig.

Das Anfertigen von Vervielfältigungen, das Ausdrucken oder Speichern auf anderen Wiedergabegeräten ist nur für den persönlichen Gebrauch gestattet. Dritten darf dadurch kein Zugang ermöglicht werden. Davon ausgenommen sind Materialien, die eindeutig als Vervielfältigungsvorlage vorgesehen sind (z. B. Fragebögen, Arbeitsmaterialien).

Die Übernahme des gesamten E-Books in eine eigene Print- und/oder Online-Publikation ist nicht gestattet. Die Inhalte des E-Books dürfen nur zu privaten Zwecken und nur auszugsweise kopiert werden.

Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Download-Materialien.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur zweiten und dritten Auflage

Vorwort zur ersten Auflage

Geleitwort

1 Informationen zur Zwangsstörung

1.1 Was ist eine Zwangsstörung? Welche Arten von Zwängen gibt es?

1.2 Was ist normal, wann beginnt ein Zwang?

1.3 Unterscheidung von anderen psychischen Erkrankungen

1.4 Zusammenfassung

2 Wie Zwangsstörungen entstehen und warum sie nicht von alleine wieder verschwinden

2.1 Die Eltern und andere nahestehende Personen

2.2 Kritische Lebensereignisse

2.3 Die Persönlichkeit des Betroffenen

2.4 Biologische Risikofaktoren

2.5 Warum Zwänge nicht von allein wieder verschwinden

2.6 Zusammenfassung

3 Selbsthilfe- und Therapiemöglichkeiten für Menschen mit einer Zwangsstörung

3.1 Möglichkeiten der Selbsthilfe

3.2 Psychotherapie

3.2.1 Ambulante Therapie

3.2.2 Teilstationäre und stationäre Therapie

3.3 Medikamente

3.4 Weitere Therapieverfahren

3.5 Zusammenfassung

4 Wie können Sie dem Betroffenen helfen?

4.1 Allgemeine Unterstützung des Betroffenen

4.1.1 Den Betroffenen nicht fallen lassen

4.1.2 Einen guten Umgang mit dem Betroffenen finden

4.2 Wie können Sie dem Betroffenen konkret helfen?

4.2.1 Ins Gespräch über die Erkrankung kommen

4.2.2 Dem Zwang die Unterstützung entziehen

4.2.3 Den Betroffenen unterstützen, nicht den Zwang

4.2.4 Mitarbeit bei konkreten Übungen gegen den Zwang

4.3 Was können Sie tun, damit der Betroffene eine professionelle Therapie beginnt?

4.3.1 Wann ist eine Therapie eigentlich notwendig?

4.3.2 Wie können Sie den Betroffenen dazu motivieren, eine Therapie zu beginnen?

4.3.3 Und wenn der Betroffene eine Therapie dennoch strikt ablehnt?

4.4 Wie können Sie den Betroffenen bei seiner Therapie unterstützen?

4.4.1 Zusammen mit dem Betroffenen zu seiner Therapeutin gehen

4.4.2 Unterstützung bei therapeutischen Übungen gegen den Zwang

4.4.3 Unterstützung bei weiteren Therapiezielen

4.4.4 Umgang mit Verschlechterungen oder fehlenden Fortschritten

4.4.5 Zum langfristigen Therapieerfolg beitragen

4.5 Zusammenfassung

5 Was können Sie für sich selbst tun?

5.1 Auf die innere Balance achten

5.1.1 Für ausgleichende Aktivitäten sorgen

5.1.2 Sich abgrenzen und Freiräume schaffen

5.1.3 Eigene Ziele nicht aus den Augen verlieren

5.1.4 Anerkennung

5.2 Sie sind nicht allein

5.3 Angehörige, die sich gegenseitig unterstützen

5.4 Professionelle Hilfe für sich selbst in Anspruch nehmen

5.5 Zusammenfassung

6 Zwänge bei Kindern und Jugendlichen

6.1 Inhalte von Zwängen

6.2 Therapiemöglichkeiten und Anlaufstellen

6.3 Wie Sie Ihr Kind unterstützen können

6.4 Zusammenfassung

7 Antworten auf häufige Fragen von Angehörigen

8 Literatur und hilfreiche Adressen

8.1 Verwendete Literatur

8.2 Selbsthilfeempfehlungen (eine Auswahl)

8.3 Kontaktadressen

Sachwortverzeichnis

Autoren

|9|Vorwort zur zweiten und dritten Auflage

Die 2009 erschienene erste Auflage dieses Buches ist auf ein erfreulich breites Interesse gestoßen. Wir haben viele positive Kommentare und Rückmeldungen erhalten, und aufgrund der großen Nachfrage wurde zwischenzeitlich ein weiterer Nachdruck notwendig. Dies zeigt, dass wir mit diesem Buch, welches sich speziell an Angehörige von zwangskranken Menschen richtet, eine Lücke in dem ansonsten großen Angebot an Ratgebern füllen konnten. Wir freuen uns sehr darüber, dass wir hierdurch einen Beitrag dazu leisten konnten, Angehörige gezielt zu unterstützen.

Da die Nachfrage unverändert hoch ist, haben wir uns nun entschlossen, das Buch vollständig zu überarbeiten und zu erweitern. In allen Kapiteln wurden sprachliche Korrekturen vorgenommen und die Klarheit der Formulierungen an einigen Stellen verbessert. Hierdurch konnte die Leserfreundlichkeit erhöht werden. Darüber hinaus wurde der gesamte Text auf seinen Aktualisierungsbedarf hin überprüft und an mehreren Stellen dem heutigen Stand des Wissens angepasst. Einige Kapitel wurden, um den Entwicklungen in den letzten Jahren Rechnung zu tragen, erweitert. Das betrifft insbesondere Informationen zu neueren Therapiemöglichkeiten wie die achtsamkeitsbasierten Ansätze in der Psychotherapie und die hirnchirurgischen Verfahren, die bei sehr schweren Zwangserkrankungen vermehrt durchgeführt werden. Berücksichtigt wurden hierbei die aktuellen Empfehlungen zur Therapie aus anerkannten Leitlinien, insbesondere der Mitte 2022 erschienenen revidierten Fassung der S3-Leitline Zwangsstörungen. Und ein ganz neues Kapitel wurde ergänzt, welches sich mit den Besonderheiten der Situation von Eltern zwangskranker Kinder beschäftigt.

Wir hoffen, dass Sie als Leserinnen und Leser von diesen Änderungen profitieren. Sehr bedanken möchten wir uns bei den vielen Menschen, die uns Kommentare und Anregungen geschickt haben. Viele |10|davon sind in diese Überarbeitung eingegangen. Rückmeldungen und Hinweise zu diesem Buch sind unverändert sehr willkommen. Sie können uns diese gerne per E-Mail oder Post senden. Unsere Adressen finden Sie in der Autorenbeschreibung am Ende des Buches.

Oberwil-Zug und Hamburg, im Sommer 2022

Michael Rufer und Susanne Fricke

|11|Vorwort zur ersten Auflage

Liebe Angehörige1,

unter Zwangsstörungen leiden meistens nicht nur die Betroffenen selbst – auch die Menschen in ihrem Umfeld stehen unter erheblichem Leidensdruck. Deren Belastung kann dabei viele Gesichter haben. Vielleicht müssen sie sich beim Betreten der Wohnung umziehen und duschen, weil ihr zwangskranker Partner befürchtet, dass sie sonst den „Schmutz“ von draußen in der Wohnung verteilen. Oder in ihrer Familie ist das Badezimmer stundenlang blockiert, weil die erwachsene Tochter ihre Waschzwangshandlungen ausführen muss. Klopfen an die Tür und laute Rufe, sie möge sich beeilen, helfen nicht – im Gegenteil, es dauert dann sogar noch länger. Einige Angehörige dürfen bestimmte Bereiche ihrer Wohnung nicht betreten, damit eine bestimmte Ordnung nicht durcheinanderkommt. Halten sie sich nicht daran, kann die sonst so ruhige und höfliche Betroffene manchmal sehr aggressiv reagieren. Partner werden teilweise immer wieder um Rückversicherungen gebeten und sogar bei der Arbeit angerufen, damit sie dem Betroffenen bestätigen, dass dieser eine Handlung „richtig“ gemacht hat. Nicht zu antworten fällt dann schwer, weil man erleben muss, wie verzweifelt der Betroffene reagiert. Nachzugeben scheint der leichtere Weg, auch wenn man es eigentlich nicht möchte. Menschen, die mit Zwangskranken zusammenleben, die einen Sammelzwang haben, leiden wiederum |12|unter anderen Problemen: Die Wohnung ist vielleicht schon seit Jahren in großen Teilen nicht mehr benutzbar, Gäste zu sich einzuladen ist schon lange undenkbar. Neben der Einengung der persönlichen Freiräume können bei bestimmten Zwängen erhebliche finanzielle Aufwände als weiterer Belastungsfaktor dazukommen, etwa durch hohe Wasserkosten oder weil Dinge des alltäglichen Gebrauchs immer wieder aufgrund von „Verseuchung“ weggeworfen und neu gekauft werden müssen. Nicht zu vergessen ist natürlich auch der Verlust an Lebensqualität, wenn man miterlebt, wie schlecht es den Betroffenen geht und wie schöne Dinge, die man früher gemeinsam unternommen hatte, wegen des Zwanges nicht mehr möglich sind.

Viele Angehörige haben daher ein großes Informationsbedürfnis und suchen Rat und Hilfe. Sie möchten die Krankheit und damit auch die Betroffenen besser verstehen. Wie kann ich selbst den Betroffenen am besten unterstützen? Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es für ihn? Wie kann ich ihn davon überzeugen, sich Hilfe zu suchen? Diese oder ähnliche Fragen werden uns häufig von Angehörigen gestellt. Wichtig ist vielen von ihnen aber auch zu wissen, was sie für sich selbst tun können, damit ihr Leben nicht zunehmend eingeschränkt wird, wie sie sich abgrenzen können von den unerbittlichen Forderungen des Zwanges und an wen sie sich wenden können, wenn sie Erfahrungsaustausch und Unterstützung benötigen.

In unserem Berufsalltag als Verhaltenstherapeuten haben wir im Rahmen der Therapie von Zwangskranken immer auch Kontakt mit den Menschen aus dem nahen Umfeld der Betroffenen, deren Bedürfnissen und deren Leid. Wir sehen gleichzeitig auch ihr zumeist großes Engagement, ihren Wunsch und ihre Anstrengungen, zu unterstützen und zu helfen. Darin steckt ein großes Potential für die Therapie, denn gut informierte und motivierte Angehörige können entscheidend dazu beitragen, es dem Zwang ungemütlich zu machen, indem sie seinen Forderungen nicht mehr nachkommen. Sie können außerdem einen wertvollen Beitrag in der Therapie leisten, indem sie beispielsweise die Betroffene bei ihren Übungen gegen den Zwang unterstützen, zu ihr halten und sie motivieren, wenn sie zwischendurch der Mut verlässt.

Erfreulicherweise stehen, anders als früher, für Zwangskranke heute zahlreiche Erfolg versprechende, unterschiedlich intensive Behandlungsangebote zur Verfügung: Es gibt Selbsthilfegruppen, verschiedene Selbsthilfebücher und Selbsthilfe-Computerprogramme. Und wenn |13|diese Angebote nicht ausreichen, so gibt es Psychotherapien, insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie, und wirksame Medikamente, um den Betroffenen zu helfen, ihre Zwänge zu reduzieren oder ganz zum Verschwinden zu bringen.

Für Sie als „Mitbetroffene“ gibt es bisher hingegen viel weniger Angebote. In den meisten Selbsthilfebüchern richtet sich zwar ein Kapitel an die Angehörigen, außerdem stehen Informationsbroschüren zur Verfügung, aber unseres Wissens gibt es kein Buch, das für Sie als Angehörige geschrieben wurde. Daher haben wir uns entschieden, eines zu schreiben, das sich an die Familienangehörigen und Partner, Freunde und Bekannte, Lehrerinnen und Vorgesetzte, kurz alle „Mitbetroffenen“ von erwachsenen Zwangskranken richtet. Wir wollen Ihnen einerseits Wissen vermitteln, was eine Zwangserkrankung ist und wie man sie behandeln kann. Denn wenn Sie diese Krankheit besser verstehen, können Sie den Betroffenen leichter motivieren, etwas dagegen zu unternehmen, und ihn dabei auch unterstützen. Ein großer Teil dieses Buches widmet sich dann dem Thema, wie Sie der Betroffenen helfen können, wie Sie dabei vorgehen können und was zu beachten ist. Darüber hinaus ist uns aber auch wichtig, dass Sie erfahren, was Sie für sich selbst tun können, damit Sie nicht mehr durch den Zwang belastet und eingeschränkt werden, was Sie für eine Erhöhung Ihrer Lebensqualität tun können und welche Hilfe Sie wo bekommen können, wenn Sie es allein nicht schaffen. Ausdrücklich werden häufige Fragen von Angehörigen aufgegriffen und beantwortet, beispielsweise wie Sie damit umgehen können, wenn der Betroffene im Rahmen der Zwänge aggressiv reagiert, oder welche Möglichkeiten Sie haben, wenn er den Zwang nicht als Problem sieht und sich auf keine Behandlung einlassen möchte.

Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie durch das Lesen dieses Buches viele Ideen und Anregungen bekommen, die Ihnen in Ihrem Alltag und im Umgang mit Betroffenen weiterhelfen.

Michael Rufer

Susanne Fricke

1

Es ist schwierig, Partner, Kinder, Eltern, Verwandte, Freunde, Bekannte und alle, die mit einem Zwangskranken näheren Kontakt haben, mit einem Begriff zu bezeichnen. Wenn wir aber jedes Mal alle Personengruppen aufzählen würden, würde dies das Lesen sehr umständlich machen. Wir haben uns daher entschieden, der Einfachheit halber von Angehörigen zu sprechen, und meinen damit nicht nur die Verwandten, sondern alle Menschen im nahen Umfeld von Zwangskranken, die von der Erkrankung mitbetroffen sind.

|15|Geleitwort

Zwangsstörungen zählen nach jüngsten epidemiologischen Untersuchungen aus Deutschland zu den häufigsten psychischen Störungen in der Bevölkerung. Leider haben diese epidemiologischen Erhebungen auch aufgedeckt, dass die Behandlungsraten, verglichen mit anderen psychischen Störungen, eher niedrig sind. Mit anderen Worten: Ein immer noch sehr großer Teil der Betroffenen findet sich in keiner Behandlung, dies oft lebenslang. Dabei stellen Zwänge ein Krankheitsbild mit oft sehr starken Auswirkungen auf das alltägliche Leben dar, indem sie den Aktionsradius stark einschränken, Partnerschaften und ganze Familiensysteme belasten und häufig zu einer erheblich verminderten Leistungsfähigkeit in Schule, Ausbildung und Beruf führen. Viele Menschen sind aufgrund schwerer Zwänge arbeitsunfähig. Dabei stellt sich die therapeutische Situation recht gut dar, denn es gibt wirksame Behandlungen wie insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie mit Reizkonfrontation und auch Medikamente. Auf diese Weise lassen sich Zwangsstörungen zwar meist nicht ganz heilen, aber doch wesentlich bessern.

Viele Angehörige sind oft hilflos und verzweifelt, weil sie nicht wissen, wie sie mit der Zwangserkrankung eines Familienangehörigen umgehen sollen. Dabei neigen viele Menschen mit Zwangserkrankungen dazu, andere Personen in ihre zwanghaften Systeme einzubinden. Hier als Angehörige mitzumachen, ist zwar verständlich und wird von den Betroffenen oft als hilfreich erlebt, fördert aber nicht die Heilung der Zwänge.

Das vorliegende Buch der beiden langjährigen Experten Susanne Fricke und Michael Rufer ist ein exzellenter Ratgeber für Angehörige und auf wissenschaftlich sehr gutem Niveau unter Berücksichtigung neuester Ergebnisse geschrieben.

|16|Ich wünsche auch der dritten Auflage des Buches eine gute Verbreitung und hoffe, dass es vielen Angehörigen und dadurch auch Betroffenen mit Zwangserkrankungen helfen kann.

Prien, den 25. Juli 2022

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer

Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e. V.

Leiter des Revisionsprozesses der S3-Leitlinie Zwangsstörungen

|17|1  Informationen zur Zwangsstörung

Sie als Angehörige2 können eine wertvolle Unterstützung im Kampf gegen den Zwang sein. Sie können mithelfen, dass sich Zwänge im Alltag nicht weiter ausbreiten oder sogar langsam wieder verschwinden. Sehr oft sind es außerdem die nahestehenden Menschen, die den Anstoß für eine Therapie geben. Und in einer Therapie können Sie durch Ihre Mithilfe dazu beitragen, dass diese erfolgreich verläuft. Gleichzeitig ist es wichtig, dass Sie Ihre eigenen Grenzen erkennen und sich nicht selbst überfordern. Nur wenn Sie auch auf Ihre innere Ausgeglichenheit und Ihre eigenen Bedürfnisse achten, können Sie der Betroffenen auf Dauer hilfreich zur Seite stehen. Den ersten wichtigen Schritt auf diesem Weg können Sie bereits mit dem Lesen dieses Kapitels tun: Sie informieren sich über Zwangsstörungen! Wenn Sie gut informiert sind, hat das viele Vorteile: Sie können dann besser verstehen, dass die Betroffene unter einer Krankheit – und nicht unter zu wenig Willenskraft oder mangelnder Disziplin – leidet. Sie können außerdem leichter mit ihr über ihre Zwänge ins Gespräch kommen. Und Sie wissen, wie Sie sich im Alltag gegenüber der Betroffenen und den Zwängen am besten verhalten. Darüber hinaus werden Sie besser erkennen können, wann Selbsthilfe nicht mehr ausreicht, und dann versuchen, sie einfühlsam und mit guten Argumenten für eine Therapie zu motivieren und sie dann dabei zu unterstützen. Und, zu guter Letzt, Informationen über Zwangserkrankungen können Ihnen dabei helfen, besser für sich selbst zu sorgen und sich leichter abgrenzen zu können. Daher haben wir die wichtigsten Informationen zu Zwangsstörungen in diesem Kapitel für Sie zusammengetragen: was eine Zwangsstörung ist und welche Arten von Zwän|18|gen es gibt (1.1), was noch normal ist und wann ein Zwang beginnt (1.2) und wie man Zwänge von anderen psychischen Erkrankungen unterscheidet (1.3). Am Ende dieses Kapitels fassen wir alles noch einmal zusammen (1.4).

1.1  Was ist eine Zwangsstörung? Welche Arten von Zwängen gibt es?

Zwänge sind für Außenstehende oft nur schwer nachzuvollziehen. Warum macht jemand etwas immer wieder, von dem er selbst weiß, dass es „Unsinn“ ist? Warum reißt er sich nicht zusammen und hört einfach auf? Mit etwas gutem Willen müsste das doch gehen, oder nicht? Leider ist das nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. Ein zentrales Merkmal der Zwangsstörung liegt nämlich gerade darin, dass der Betroffene vom gesunden Menschenverstand her weiß, dass das, was er da gerade macht, unsinnig ist. Trotz aller Mühe und gutem Willen kann er aber nicht anders handeln, er muss diesen „Unsinn“ machen.

Manche von Ihnen kennen vielleicht die Situation, dass Sie vor Abreise in einen längeren Urlaub immer wieder kontrollieren müssen, ob Sie Ihr Portemonnaie, Ihren Wohnungstürschlüssel und Ihren Personalausweis eingesteckt haben. Plötzlich drängt sich wieder der Gedanke auf: „Hab’ ich meinen Ausweis wirklich eingesteckt?!“ Eigentlich wissen Sie ganz genau, dass Ihr Ausweis in der Tasche ist, aber der Gedanke lässt sich nicht zur Seite drängen und macht Sie unruhig. Daher öffnen Sie lieber nochmals Ihre Tasche und kontrollieren, obwohl Sie wissen, dass das eigentlich unnötig ist, und obwohl Sie sich irgendwie ein bisschen merkwürdig dabei vorkommen. Wenn Sie sich jetzt vorstellen, dass sich bei einer Zwangsstörung ein solcher Gedanke („Hab’ ich wirklich nichts vergessen?!“) immer wieder und bei vielen verschiedenen Situationen aufdrängt, sich nicht unterdrücken lässt und ein großes Unbehagen auslöst, sodass Sie immer wieder nachkontrollieren müssen, so können Sie vielleicht ein bisschen nachempfinden, wie es einem Zwangskranken ergeht.

|19|Was ist eine Zwangsstörung?

Zu dieser Krankheit gehören in der Regel Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Zwangsgedanken sind Vorstellungen, Gedanken oder Impulse, die den Betroffenen unsinnig oder übertrieben vorkommen und nicht ihre eigene Meinung wiedergeben. Trotzdem drängen sie sich auf, kommen immer wieder in den Kopf und lassen sich nicht ignorieren. Außerdem lösen sie Ängste, Anspannung, Unbehagen oder auch Ekel aus.

Als Zwangshandlungen bezeichnet man übertriebene oder sinnlose Verhaltensweisen, die oft in ganz bestimmter Art und Weise ablaufen müssen. Betroffene fühlen sich sehr stark dazu gedrängt, diese Zwangshandlungen auszuführen, und können sich kaum oder gar nicht dagegen wehren, obwohl sie sie für übertrieben oder unsinnig halten. Zwangshandlungen haben oft zum Ziel, die Ängste, Anspannung, Unbehagen oder Ekel zu verringern, welche durch Zwangsgedanken ausgelöst worden sind.

Es gibt sehr viele verschiedene Arten von Zwängen. Die häufigsten Zwangshandlungen sind Wasch- und Reinigungs- sowie Kontrollzwänge. Zwangsgedanken haben oft aggressive Inhalte oder beziehen sich auf die Themen Verschmutzung bzw. Kontamination. Bei einer Untersuchung von über hundert unserer Patienten (Rufer, Fricke, Moritz, Kloss & Hand, 2006) fanden wir die folgende Verteilung (wobei fast alle Patienten mehrere Arten von Zwängen hatten, sodass die Summe über 100 % ergibt):

Welche Zwänge sind am häufigsten?

Zwangshandlungen

71% der Patienten führten Kontrollen durch

64% hatten Wasch- oder Reinigungszwänge

44% Wiederholungszwänge

39% Zählzwänge

28% Ordnungszwänge

16% Sammel-/Aufbewahrungszwänge

|20|Zwangsgedanken

69% der Patienten hatten Zwangsgedanken, die sich auf Aggressionen bezogen

66% hatten Zwangsgedanken bzgl. Verschmutzung/Kontamination

33% Symmetrie-Zwangsgedanken

21% religiöse Zwangsgedanken

17% Zwangsgedanken bzgl. Sammeln/Aufbewahren

17% Zwangsgedanken bezogen auf den eigenen Körper

6% sexuelle Zwangsgedanken

Im Folgenden werden wir die häufigsten Zwänge anhand von Beispielen genauer beschreiben.

Kontrollzwänge

Betroffenen drängt sich bei Kontrollzwängen z. B. immer wieder der Gedanke auf, dass sie einen Fehler gemacht haben könnten, dass sie etwas übersehen haben könnten und dann daran schuld sind, wenn etwas Schreckliches passiert, oder dass sie aus Unvorsichtigkeit jemand anderem einen Schaden zufügen könnten. Als Zwangshandlung erfolgt dann meist ein übertriebenes Kontrollieren.

Beispiel 1 für Kontrollzwänge

Frau Pagel3 hat Zwangsgedanken, die sich auf elektrische Geräte, Wasserhähne und Türen und Fenster beziehen. Ein Gedanke ist zum Beispiel, dass sie den Herd nicht ausgemacht haben könnte und sie dann dafür verantwortlich ist, dass das Mehrfamilienhaus, in dem sie wohnt, abbrennt. Deswegen muss sie jeden Morgen in ganz bestimmter Art und Weise kontrollieren, ob der Herd aus ist (obwohl sie ihn seit längerer Zeit kaum noch benutzt). Ebenso muss sie jeden Morgen kontrollieren, ob alle Fenster geschlossen, die Wasserhähne zugedreht und alle elektrischen Geräte abgestellt sind. Zum Schluss ihrer ungefähr einstündigen Kontrolle macht sie Fotos mit ihrem Smartphone von allem, was sie kontrolliert |21|hat, danach prüft sie, ob die Wohnungstür richtig abgeschlossen ist. Im Bus auf der Fahrt zur Arbeit überprüft sie auf den Fotos auf ihrem Smartphone, ob zu Hause wirklich alles in Ordnung war. Als sie noch mit ihrer erwachsenen Tochter zusammenwohnte, war es leichter. Diese musste nämlich später als sie zur Arbeit. Frau Pagel konnte sich dann immer sagen, dass die Tochter es ja noch merken würde, falls sie selbst etwas übersehen hätte.

Beispiel 2 für Kontrollzwänge

Herr Schulze leidet unter dem wiederkehrenden Zwangsgedanken, dass er beim Autofahren versehentlich jemanden überfahren haben könnte. Obwohl er weiß, dass dies extrem unwahrscheinlich ist, gerät er dann so unter Druck, dass er mehrfach anhalten und zu Fuß die Straße zurückgehen muss, um zu kontrollieren, ob Tote oder Verletzte am Straßenrand liegen. Manchmal kontrolliert er am Tag nach einer Autofahrt noch die Tageszeitung, ob in dieser von Unfällen mit Fahrerflucht berichtet wird. Wenn seine Partnerin mit im Auto sitzt, fragt er sie hinterher, ob er wirklich niemanden überfahren hat. Bis jetzt hat sie noch verhältnismäßig geduldig auf seine immer wieder gestellten Fragen reagiert, aber in der letzten Zeit klingt sie doch ab und zu ziemlich verärgert.

Wasch- und Reinigungszwänge

Ebenfalls zu den häufigsten Zwangssymptomen gehören Wasch- und Reinigungszwänge. Betroffene müssen beispielsweise stundenlang ihre Hände oder andere Körperteile waschen, sich duschen, ihre Wäsche reinigen, ihre Wohnung oder auch andere Orte oder Gegenstände putzen. Dazugehörige Zwangsgedanken können sein, dass jemand übertriebene Angst hat, durch Krankheitserreger (wie z. B. HIV oder seit einiger Zeit auch Corona) oder Umweltgifte krank zu werden oder schuld daran zu sein, dass andere krank werden. Andere Betroffene ekeln sich extrem vor eigenen oder fremden Körperflüssigkeiten oder -ausscheidungen wie Blut und Speichel, Urin oder Kot. Abhängig vom Ausmaß und von der Art der Zwangshandlungen und den dazugehörigen Zwangsgedanken können Waschzwänge für Familienangehörige, |22|Partner und den Freundeskreis in vielerlei Hinsicht problematisch sein: Wegen seiner Zwangsgedanken fordert der Betroffene von ihnen, dass sie sich nach den Sauberkeitsvorgaben des Zwanges richten, obwohl diese viel strenger sind als ihre eigenen. Sie müssen zum Beispiel ihre Hände mit Desinfektionsmittel reinigen oder dürfen keinen Körperkontakt zum Betroffenen haben, beispielsweise weil dieser befürchtet, sich zu beschmutzen. Das Badezimmer kann stundenlang vom Betroffenen belegt sein, weil dieser sich so lange waschen muss. Manchmal bleibt nur noch wenig oder gar keine Zeit mehr für schöne gemeinsame Aktivitäten, weil der Zwang so viel Zeit beansprucht oder der Betroffene wegen seiner Zwänge Kontakt mit bestimmten Gegenständen, Personen oder Orten vermeidet. Auch Sexualität findet möglicherweise wegen dieser Zwänge nicht mehr statt. Waschzwänge können außerdem erhebliche Kosten verursachen, zum Beispiel durch einen hohen Verbrauch von Waschmitteln, Wasser und Strom, wenn immer wieder verkeimt erscheinende Dinge weggeworfen und neu gekauft werden müssen oder weil der Betroffene häufig umzieht, weil ihm die alte Umgebung verunreinigt erscheint.

Beispiel 1 für Wasch- und Reinigungszwänge

Die Ehefrau von Herrn Scheibler hat einen Waschzwang. Ihre Zwangsgedanken beziehen sich darauf, ihren privaten Bereich zu „verseuchen“. Wenn sie von draußen in ihre Wohnung kommt, zieht sie sich gleich hinter der Tür aus, duscht zwei Stunden lang und wäscht ihre Kleidung. Zusätzlich putzt sie ihre Wohnung täglich. Sie weiß, dass das deutlich übertrieben ist, kann sich aber nicht dagegen wehren, da sie sonst ein sehr unangenehmes und kaum aushaltbares Gefühl bekommt. Auch von Herrn Scheibler verlangt sie, dass er sich beim Betreten der Wohnung sofort auszieht, seine Kleidung in die Waschmaschine tut und sich gründlich duscht, damit die Wohnung sauber bleibt. Wenn sie abends die Wohnung geputzt hat, darf er sich nicht mehr ins Wohnzimmer setzen, da sie dann das Sofa erneut sauber machen müsste. Herr Scheibler fühlt sich dadurch eingeschränkt, er hat aber schon festgestellt, dass seine Partnerin massiv unter Druck gerät und sehr aggressiv werden kann, wenn er sich nicht daran hält, was der Zwang möchte.

|23|Beispiel 2 für Wasch- und Reinigungszwänge

Frau Brückners 18-jährige Tochter Marie hat ebenfalls einen Waschzwang. Sie leidet unter übertriebenen Befürchtungen (Zwangsgedanken), sich an einer Krankheit anzustecken. Wenn sie Leute sieht, die nicht ganz sauber gekleidet sind oder irgendwie nicht ganz gesund aussehen, befürchtet sie, dass sie sich mit Aids oder anderen lebensbedrohlichen Krankheiten anstecken könnte. Diese Ängste hat sie auch, wenn sie diese Leute aus der Ferne sieht, weil sie ja vielleicht doch irgendwie, und sei es indirekt, in Kontakt mit ihnen kommen könnte. Türgriffe in der Öffentlichkeit, Haltegriffe im Bus, Geldstücke usw. kann sie schon gar nicht mehr anfassen, weil diese ja von vielen berührt werden. „Da kann man ja nicht sicher sein“, denkt sie, „dass nicht jemand mit einer schlimmen Krankheit diese Gegenstände vorher berührt hat“. Daher muss sie immer wieder sehr lange duschen und ihre Kleidung in der Waschmaschine reinigen, wenn sie Kontakt mit „verdächtigen“ Leuten oder Gegenständen hatte. Neben den Sorgen um die Tochter ist für Frau Brückner besonders die hohe Wasserrechnung problematisch. Als alleinerziehende Office Managerin verdient sie nicht so viel, und sie hat schon ein mulmiges Gefühl beim Holen der Post, weil sie die nächste Zahlungsaufforderung befürchtet.

Wiederholungszwänge

Etwas seltener als Wasch- und Reinigungszwänge sowie Kontrollzwänge sind viele andere Arten von Zwängen. Dazu gehören die Wiederholungszwänge.

Beispiel 1 für Wiederholungszwänge

Herr Behrens muss alltägliche Handlungen immer so lange wiederholen, bis er das Gefühl hat, dass er sie „richtig“ ausgeführt hat. An schlechten Tagen braucht er allein drei Stunden, bis er am Frühstückstisch sitzt, weil er alles (aufstehen, Schlafanzug ausziehen, duschen, Zähne putzen, anziehen …) mehrfach wiederholen muss. Die Ehefrau ist ziemlich gereizt, weil bei ihrem Mann alles so lange dauert. Besonders schwierig für sie ist, dass sie versuchen muss, sich nichts anmerken zu lassen, weil ihr Mann dann unter Druck gerät und noch länger braucht.

|24|Beispiel 2 für Wiederholungszwänge

Frau Baumgarten hat Wiederholungszwänge, die zusätzlich mit magischem Denken verbunden sind. Hunderte von Malen taucht im Alltag ganz plötzlich ein Zwangsgedanke auf, dass etwas Schlimmes passiert und Frau Baumgarten daran schuld ist, wenn sie nichts tut, um es zu verhindern. Sie wiederholt dann das, was sie gerade gemacht hat, als der Gedanke auftauchte, und zwar solange, bis sie es gemacht hat, ohne dass der „Katastrophengedanke“ dabei auftritt. Neulich beispielsweise drängte sich ihr beim Anziehen der Schuhe der Gedanke auf, dass ihre beste Freundin Krebs bekommen wird. Sie musste dann die Schuhe so oft aus- und wieder anziehen, bis sie es geschafft hatte, die Schuhe zuzubinden, ohne diesen Gedanken zu denken.

Eine weitere Art von Zwängen sind Sammel- und Aufbewahrungszwänge, diese können sich sowohl als Handlungen zeigen als auch als Gedanken, die sich auf dieses Thema beziehen.

Beispiel für Sammel- und Aufbewahrungszwänge

Frau Michaelsen hatte gestern einen großen Streit mit ihrem Partner. Der Anlass war, dass ihr Partner zehn Handtücher mitbrachte, die er als Sonderangebot sehr günstig eingekauft hatte. Was war das Problem? Herr Michaelsen hat einen Sammelzwang. Wenn er irgendwo günstige Angebote sieht, kauft er sie mit dem Gedanken, dass er oder ihm nahestehende Personen dieses Angebot irgendwann einmal gut gebrauchen könnten. Deswegen kann er die Gegenstände auch nicht wieder wegwerfen. Wenn er das versucht, drängen sich Gedanken auf, dass er etwas Wichtiges weggeben würde, er fühlt sich dann sehr schlecht und unruhig. Mittlerweile sind zwei Zimmer in der gemeinsamen Wohnung kaum noch benutzbar, weil sie völlig überfüllt sind. Auch Küche und Bad sind schon sehr vollgestellt. Herr Michaelsen hat seiner Frau schon sehr oft versprochen, keine Sonderangebote mehr zu kaufen, aber wenn er eines sieht, kann er einfach nicht anders. Frau Michaelsen ist gleichzeitig wütend und verzweifelt. Sie fühlt sich in der Wohnung überhaupt nicht mehr wohl, und das Geld ist knapp, weil ihr Partner es immer wieder für neue Sonderangebote ausgibt. Besondere Sorgen macht ihr auch, dass die 9-jährige Tochter sehr darunter leidet, dass alles vollgestellt ist, und sie keine Freundinnen mit nach Hause bringen kann.

|25|Die bis jetzt beschriebenen Zwänge waren Beispiele für gemischte Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Dies kommt am häufigsten vor. Manchmal leidet jemand aber auch an alleinigen Zwangsgedanken ohne Zwangshandlungen.

Beispiel 1 für Zwangsgedanken: aggressive Denkinhalte

Frau Berger leidet unter dem aggressiven Zwangsgedanken, dass sie ihren vier Monate alten Sohn mit einem Messer erstechen könnte. Der Gedanke drängt sich immer wieder auf, obwohl sie versucht, ihn nicht zu denken. Teilweise tauchen auch Bilder auf, wie sie ihren Sohn ersticht. Sie macht sich große Vorwürfe, dass sie so denkt, und hat große Angst, dass sie diesen Gedanken in die Tat umsetzt. Dabei liebt sie ihren Sohn über alles, möchte auf gar keinen Fall, dass ihm Schaden zugefügt wird. Als Vorsichtsmaßnahme hat sie nach und nach alle Messer in den Keller geräumt; außerdem hat sie ihren Alltag so organisiert, dass sie nie mit ihrem Sohn allein ist, sondern ihre Mutter, Freundinnen oder ihr Ehemann da sind. Ihr Ehemann wunderte sich lange Zeit, warum seine Frau nicht mehr mit dem Baby allein sein wollte. Als irgendwann die Belastung zu hoch war, vertraute sie sich ihm an. Er war zuerst sehr geschockt. Auf seine Anregung hin forschte das Ehepaar dann gemeinsam im Internet nach und erfuhr so, dass es sich um eine besonders belastende Form von Zwangsgedanken handelt, die man gut behandeln kann. Diese Information war für beide eine Erleichterung, und sie suchten gemeinsam professionelle Beratung auf.

Beispiel 2 für Zwangsgedanken: magische Denkinhalte

Frau Friedrich sieht auf dem Kalender, dass heute Montag, der 26. ist, und seufzt. Ihr Sohn hat den Zwangsgedanken, dass die 13 eine Unglückszahl ist. Hat ein Datum etwas mit 13 zu tun (unter anderem der 13. und 26. des Monats, aber auch der 13., 26., 39. usw. Tag des Jahres), so macht er an diesem Tag nichts Wichtiges, da er fürchtet, dass dies dann für alle Zeiten mit einem Unglück behaftet sein könnte. An seiner Arbeitsstelle ist heute eine Besprechung angesagt, und sie fürchtet, dass er zu dieser nicht hingehen wird. Der Arbeitgeber, der von der Zwangsstörung nichts weiß, hat sich schon wiederholt beschwert, weil der Sohn bestimmte Aufgaben einfach nicht gemacht hat. Frau Friedrich befürchtet, dass er bald seinen Arbeitsplatz verlieren könnte.

|26|Ebenfalls möglich, wenn auch selten, ist das Auftreten von alleinigen Zwangshandlungen ohne Zwangsgedanken.

Beispiel für Zwangshandlungen: Ordnungszwänge

Heute Abend ist Herr Vias bei seinem Freund zum Fußballschauen eingeladen. Er freut sich auf das gemeinsame Fernsehen, gleichzeitig ist es für ihn aber auch anstrengend, denn der Freund leidet unter Ordnungszwängen. Die ganze Wohnung ist extrem ordentlich, alles hat seinen Platz, millimetergenau und teilweise symmetrisch ausgerichtet. Vermutlich hat er Stunden dazu gebraucht, um diese Ordnung herzustellen. Zum Fußball gibt es immer Chips, aber selbst wenn Herr Vias diese ganz vorsichtig isst, macht der Freund sofort seinen Handstaubsauger an, um mögliche Krümel wegzusaugen. Die Toilette benutzt Herr Vias gar nicht mehr, denn sobald er aus dem Badezimmer kommt, springt der Freund auf und hängt die Handtücher wieder genau so hin, wie sie vorher hingen. Das kann bis zu 20 Minuten dauern. Herr Vias hat seinen Freund schon öfter darauf angesprochen, ob er sein Ordnunghalten nicht übertrieben findet, doch der Freund hat ziemlich gereizt reagiert und nicht darüber sprechen wollen.