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Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Ein Brief, amtlich. Der Einberufungsbescheid ruft einen Maler aus der Schweiz zurück, der vor der »großen Menschenmordmaschine« des Ersten Weltkriegs dorthin geflohen ist. Doch auch wenn er die »Stickluft der patriotischen Phrasen« hasst, übt der amtliche Schrieb einen Zwang auf ihn aus, der seine Ehe, seine Freiheit, sein Leben bedroht. Ein Kampf gegen die eigene Feigheit und die Macht militärischer Autorität beginnt.
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Seitenzahl: 76
Stefan Zweig
Der Zwang
Fischer e-books
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Pierre J. Jouve
in brüderlicher Freundschaft
Die Frau schlief noch fest mit runden starken Atemzügen. Ihr Mund, halb aufgetan, schien ein Lächeln beginnen zu wollen oder ein Wort, und weich hob unter der Decke Beruhigung die jung gewölbte Brust. Von den Fenstern dämmerte erste Helligkeit. Aber der winterliche Morgen hatte nur armes Licht. Zwitterschein von Dunkel und Tag wogte unsicher über dem Schlaf der Dinge und hüllte ihre Gestalt.
Ferdinand war leise aufgestanden, er wußte selbst nicht, warum. Das geschah ihm jetzt oft, daß er mitten in der Arbeit plötzlich zum Hut griff und rasch aus dem Hause ging, in die Felder hinein, rascher und immer rascher forteilend, bis er sich matt gelaufen und plötzlich irgendwo weitab in fremder Gegend stand, ein Zittern in den Knien und mit springendem Puls an den Schläfen. Oder daß er jählings in belebtem Gespräch aufstarrte, die Worte nicht mehr verstand, an Fragen vorüberhörte und sich gewaltsam zurechtschütteln mußte. Oder daß er sich abends im Auskleiden vergaß und, den abgestreiften Schuh starr in Händen, auf dem Bettrand sitzen blieb, bis ein Rufwort seiner Frau ihn aufschreckte oder plötzlich der Stiefel polternd zu Boden fiel.
Wie er jetzt aus dem leicht durchschwülten Gemach auf den Balkon trat, fröstelte ihn. Unwillkürlich drückte er die Ellbogen wärmer an den Leib. Die tiefe Landschaft unter ihm war noch ganz nebelverfangen. Über dem Zürichsee, den er sonst von seinem hochgelegenen Häuschen wie einen geschliffenen Spiegel sah, in dem jede Himmelswolke weiß eilend widerglitt, wogte ein dicker milchiger Schaum. Alles war feucht, dunkel, glitschig und grau, wo seine Blicke, seine Hände hintasteten, Wasser troff von den Bäumen, Feuchte rieselte von den Balken. Wie ein Mensch, der eben sich der Flut entwunden und von dem in Strähnen das Wasser abtropft, war die aufsteigende Welt. Menschenstimmen kamen durch die Nebelnacht, aber gurgelnd und dumpf wie das Röcheln von Ertrunkenen, manchmal auch Hammerschlag und ferner Kirchturmruf, doch feucht und rostig der sonst so klare Ton. Ein nasses Dunkel stand zwischen ihm und seiner Welt.
Ihn fröstelte. Und doch, er blieb und stand, die Hände tiefer in die Taschen geschmiegt, den ersten freien Ausblick zu erwarten. Wie graues Papier begannen die Nebel sich langsam von unten aufzurollen, und unendliche Sehnsucht überkam ihn nach der geliebten Landschaft, die er unten in geordnetem Bestand und nur vom morgendlichen Rauche verborgen wußte und deren klare Linien sein eigenes Wesen sonst ordnend erhellten. Wie oft, aus der Wirrnis seiner selbst an dies Fenster tretend, hatte er am gefriedeten Ausblick hier Beruhigung gefunden; die Häuser drüben am andern Ufer, freundlich eines zum andern gestellt, ein Dampfboot zierlich sicher das blaue Wasser zerteilend, die Möwen, heiter das Ufer überschwärmend, der Rauch in silberner Schraube aus rotem Schorne aufsteigend ins Mittagsgeläut, alles das sagte ihm so sichtlich: Friede! Friede! daß er, gegen sein eigenes Wissen und den Wahnsinn der Welt, diesen schönen Zeichen glaubte und für Stunden der eigenen Heimat über dieser neugewählten vergaß. Vor Monaten war er, ein Flüchtling vor der Zeit und den Menschen, aus Kriegsland in die Schweiz gekommen und spürte, wie sein zerknittertes, zerfurchtes, von Grauen und Entsetzen aufgepflügtes Wesen hier sich glättete und narbte, wie die Landschaft ihn weich in sich aufnahm und die reinen Linien und Farben seine Kunst in die Arbeit riefen. Darum fühlte er immer sich entfremdet und wieder fortgestoßen, wenn dieser Blick ihm verdunkelt war, und so in dieser Morgenstunde, da der Nebel ihm alles hüllte. Unendliches Mitleid kam ihn an mit all denen, die da unten im Dunkel verschlossen waren, mit den Menschen seiner heimatlichen Welt, die auch so in eine Ferne versunken waren, unendliches Mitleid und unendliche Sehnsucht nach Verbundenheit mit ihnen und ihrem Geschick.
Irgendwo aus dem Rauche schlug die Kirchturmglocke viermal und dann, sich selber die Stunde erklärend, helleren Tones achtmal in den Märzmorgen. Und selbst wie auf einer Turmspitze fühlte er sich unsäglich allein, die Welt vor sich und seine Frau hinter sich im Dunkel ihres Schlafs. Sein innerster Wille spannte sich an, diese weiche Wand von Nebel zu zerreißen und irgendwo Botschaft des Wachens, Gewißheit des Lebens zu spüren. Und wie er die Blicke gleichsam aus sich forttrieb, war ihm, als ob dort unten im Grau, wo das Dorf endete und der Weg in kurzatmigen Serpentinen hier herauf zum Hügel stieg, etwas sich langsam regte, Mensch oder Tier. Weich verhüllt, klein kam es heran, eine Freude zuerst, daß noch etwas wach war außer ihm, und doch eine Neugier zugleich, brennend und ungesund. Dort, wo sich die graue Gestalt jetzt hinschob, war ein Kreuzweg, zum Nachbarort führend oder hier empor: einen Augenblick schien das Fremde dort aufatmend zu zögern. Dann klomm es langsam den Saumpfad hinauf.
Unruhe überkam Ferdinand. Wer ist dieser fremde Mensch, fragte er sich, welcher Zwang treibt ihn aus der Wärme seines dunkeln Gemaches wie mich in den Morgen hinaus? Will er zu mir und was will er von mir? Jetzt, durch den lockeren Nebel der Nähe erkannte er ihn: es war der Postbote. Jeden Morgen, von den acht Glockenschlägen getrieben, klomm er hier empor, und Ferdinand wußte und sah in sich sein hölzernes Gesicht mit dem roten Seemannsbart, der an den Enden weiß wurde, und den blauen Brillen. Nußbaum hieß er, und er nannte ihn Nußknacker wegen seiner harten Bewegungen und der Würde, mit der er die Tasche, die große, schwarzlederne Tasche, immer rechtsherum warf, ehe er gewichtig seine Briefschaften abgab. Ferdinand mußte lächeln, wie er ihn da stapfen sah, Schritt für Schritt, die Tasche links übergeworfen und bemüht, mit seinen kurzbeinigen Schritten recht würdevoll zu gehen.
Aber plötzlich spürte er seine Knie zittern. Seine Hand, über die Augen gehoben, fiel ab wie lahm. Die Unruhe von heute, von gestern, von all diesen Wochen, die war mit einemmal wieder da. Er meinte zu spüren, daß dieser Mensch auf ihn zukäme, Schritt um Schritt, und zu ihm allein. Ohne selbst um sich zu wissen, klinkte er die Türe auf, schlich an seiner schlafenden Frau vorbei und hastete die Treppen hinab, den Zaunweg hinunter, dem Kommenden entgegen. An der Gartentür stieß er mit ihm zusammen. »Haben Sie … haben Sie …« dreimal mußte er ansetzen. »Haben Sie etwas für mich?«
Der Briefträger schob die feuchten Brillen hoch, ihn anzusehen. »Woll woll.« Er warf mit einem Ruck die schwarze Tasche rechtsherum, tappte mit den Fingern – wie große Regenwürmer waren sie, feucht und rot vom Nebelfrost – in den Briefen herum. Ferdinand zitterte. Endlich griff er einen heraus. Es war ein großes braunes Kuvert, »amtlich« stand breitgedruckt darauf und darunter sein Name. »Zu unterschriebe«, sagte er, feuchtete den Tintenstift und hielt ihm das Buch hin. Mit einem Riß, unleserlich vor Erregung, schrieb Ferdinand seinen Namen.
Dann griff er nach dem Brief, den die dicke rote Hand ihm bot. Aber seine Finger waren so starr, daß das Blatt ihnen entglitt und zu Boden fiel, in nasse Erde und feuchtes Laub. Und wie er sich bückte, es aufzuheben, drang in seinen Atem ein bitterer Geruch von Fäulnis und Verwesung ein.
Das war es gewesen, nun wußte er es klar, was seit Wochen unterirdisch seine Ruhe verstörte, dieser Brief, den er wider Willen erwartet hatte, der aus einer sinnlosen, formlosen Ferne auf ihn zuging, nach ihm tastete, mit seinen starren maschinengeschriebenen Worten nach seinem warmen Leben, seiner Freiheit griff. Er hatte ihn kommen gefühlt von irgendwoher, wie ein Reiter auf Patrouille zwischen dem grünen Walddickicht ein kaltes Stahlrohr unsichtbar auf sich gerichtet fühlt und das kleine Stück Blei darin, das hinein will in das Dunkel unter seiner Haut. Vergebens war also die Gegenwehr gewesen, die kleinen Schliche, mit denen er nächtelang sein Denken erfüllt: nun hatten sie ihn erreicht. Acht Monate kaum waren es, daß er nackt, vor Kälte und Ekel zitternd, drüben vor einem Militärarzt gestanden, der nach den Muskeln an seinen Armen griff wie ein Pferdehändler, daß er an dieser Erniedrigung die Menschenunwürde der Zeit erkannt und die Sklaverei, in die Europa verfallen. Zwei Monate lang ertrug er es noch, in dieser Stickluft der patriotischen Phrase zu leben, aber allmählich ward ihm der Atem zu eng, und wenn die Menschen um ihn die Lippen auftaten zur Rede, meinte er das Gelbe der Lüge auf ihrer Zunge zu sehn. Was sie sprachen, widerte ihn an. Der Anblick der frierenden Frauen, die mit ihren leeren Kartoffelsäcken im Morgendämmer auf den Stufen des Marktes saßen, preßte ihm die Seele entzwei: mit geballten Fäusten schlich er umher und fühlte, wie er böse und gehässig wurde, sich selbst widerwärtig in seiner ohnmächtigen Wut. Endlich war es ihm dank einer Fürsprache gelungen, mit seiner Frau in die Schweiz herüberzukommen: als er die Grenze überschritt, sprang ihm plötzlich das Blut in die Wangen. Er mußte sich an den Pfosten festhalten, so taumelte er. Mensch, Leben, Tat, Wille, Kraft fühlte er sich zum erstenmal wieder. Und seine Lungen taten sich auf, Freiheit aus der Luft zu spüren. Vaterland, das hieß ihm jetzt nur mehr Gefängnis und Zwang. Fremde, sie war ihm Weltheimat, Europa die Menschheit.