Descent – Die Reise ins Dunkel: Der Schild des Daqan - David Guymer - E-Book

Descent – Die Reise ins Dunkel: Der Schild des Daqan E-Book

David Guymer

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Beschreibung

Ein epischer Fantasyroman zu den hochgradig beliebten Descent-Spielen. Die einst ruhmreiche Baronie von Kell ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, wird von Banditen und Hungersnöten heimgesucht. Der edle Baron Frederic muss zugleich sein Volk retten und die Grenzen verteidigen. Aber es soll noch schlimmer kommen … denn eine neue Finsternis steigt auf. Die sadistische Krieger-Priesterin Ne'Krul sieht ihre Chance, blutige Rache für ihre dämonischen Herren zu üben, und führt ihre Uthuk-Kriegerbande in eine brutale Invasion. Kells einzige Hoffnung: der heilige Krieger Andira Runehand und der legendäre Held Trenloe der Starke. In Kell angekommen, stehen sie einer Allianz des Bösen gegenüber, wie Terrinoth sie noch nie gesehen hat. Doch sie dürfen nicht scheitern …

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DAVID GUYMER

Ins Deutsche übertragen vonKatrin Aust

Die deutsche Ausgabe von DESCENT: DER SCHILD DES DAQANwird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Katrin Aust; verantwortlicher Redakteur undLektorat: Markus Rohde; Lektorat: Jana Karsch; Korrektorat: Peter Schild;Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: Jeff Chen, Karte: Francesca BaeraldPrint-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice. Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

DESCENT: THE SHIELD OF DAQAN

First published by Aconyte Books in 2021

Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd

Copyright © 2021 Fantasy Flight Games. All rights reserved.

Descent: Journeys in the Dark and the FFG logo are trademarks of Asmodee Group or affiliates.

German translation copyright © 2022 Cross Cult.

Print ISBN 978-3-96658-639-9 (März 2022)E-Book ISBN: 978-3-96658-640-5 (März 2022)

WWW.CROSS-CULT.DE

Inhalt

TEIL EINS

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

TEIL ZWEI

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

TEIL DREI

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

TEIL VIER

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

EPILOG

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

TEILEINS

1

Trenloe der Starke

Die Purpurhöhen, Südostkell

Stahl blitzte auf den Hügeln. Trenloe schirmte seine Augen gegen die Sonne ab, die tief und rot über dem gewundenen Lothan-Fluss im Osten stand. Er und seine Söldner, die Gefährten, hatten Jahre damit verbracht, sich in den südlichen Baronaten einen Namen zu machen, doch dies war sein erster Besuch an der raueren Nordostgrenze von Terrinoth. Die Aussicht war gleichzeitig wunderschön und einschüchternd.

»Vielleicht habe ich ja was an den Augen, aber das sieht nicht nach Fredrics Männern aus.«

»Du magst viele Schwächen haben, aber ein Sehfehler gehört sicher nicht dazu.« Dremmin sah genauer hin. Die Augen der Zwergin waren zu jeder Tageszeit außergewöhnlich scharf, vor allem aber während der Dämmerung, wenn der menschliche Blick sich leicht von den Schatten täuschen ließ. »Für eine daqanische Patrouille sind es zu wenige«, sagte sie. »Selbst wenn wir versehentlich in Frest herausgekommen sein sollten – und unser Reiseführer versichert uns, dass das nicht der Fall ist –, kann ich von hier aus keine Banner erkennen.«

»Wie viele sind es insgesamt?«

»Höchstens zwanzig. Alle zu Pferd.«

»Also weniger als wir.«

»Die haben sicher Verstärkung hinter dem Bergrücken versteckt, darauf kannst du wetten.«

Die Gefährten waren vor weniger als einer Woche ins Baronat Kell gekommen, nachdem ein Agent der Lady von Hernfar sie angeheuert hatte, um die Garnison der Burg Nordgard zu verstärken. Aber sie waren von ihrer Basis in Artrast aus so lange unterwegs gewesen, dass der Sommer dem Herbst gewichen und Trenloes Atem als Wölkchen sichtbar war. Sie waren gute Krieger, die sowohl von Gerechtigkeit als auch von Gold angetrieben wurden, aber sechzig müde, fußwunde Söldner, die noch nicht bezahlt worden waren, gaben keine gute Armee ab. Zumindest keine, die er in eine Schlacht führen wollte.

»Sollten wir uns Sorgen machen?«

Die durch das Kauen von Taba-Blättern fleckig gewordenen Lippen der Zwergin teilten sich zu einem Grinsen, das abgebrochene, gelbe Zähne offenbarte. »Die Graufüchsin mag sich selbst als Banditenkönigin von Kell bezeichnen, aber ihre Armee besteht aus hungrigen Proleten, Bauern und einer Handvoll Deserteure.«

Südlich von Dhernas hätte Trenloe nur mit Glück jemanden außerhalb seiner eigenen Kreise gefunden, der von der Graufüchsin gehört hatte. Seit sie in Kell waren, gab es jedoch so viel Gerede über sie, dass schwer zu sagen war, was genau davon, wenn überhaupt etwas, eigentlich wahr war.

Es hieß, sie könne die Bäume des Flüsternden Waldes kontrollieren und die Purpurhöhen nach ihren Vorstellungen formen und dass die Armeen von Kell sie deshalb nie hatten aufspüren können. Sie gehöre dem Feenvolk an, sagten einige, und dass die alten Geister ihre Leute beschützen. Es hieß, sie könne Gold und Silber in Brot verwandeln, dass sie ihre Gestalt verändern und mit den Tieren der Felder und der Wildnis kommunizieren könne, um so den Sturz der Menschen in Kell zu planen. Manche behaupteten ohne jegliche Beweise, dass sie die Ururenkelin des lange toten und nahezu mythischen Gründers des modernen Terrinoth, König Daqan, sei, während man im übernächsten Tal schwor, sie sei eine Agentin der Uthuk Y’llan aus dem Osten, die ausgeschickt worden sei, um sie alle zu vernichten.

Aber auf die Fragen, die Trenloe am meisten beschäftigten, lieferten die Gerüchte überraschend wenig Antworten. Wer war die Graufüchsin wirklich? Wie sah sie aus? Was wollte sie? Wie lautete ihr richtiger Name? Würde sie sich aus den Purpurhöhen zurückziehen oder würde sie Trenloe zwingen, gegen sie zu kämpfen?

»Man sagt, die Graufüchsin kann sich in Tiere verwandeln und sich nachts ins Lager schleichen.«

Dremmin lachte. »Natürlich sagt man das.«

Trenloe beobachtete, wie das Funkeln auf dem Hügel in einer der zahllosen Vertiefungen in der Heide verschwand. Die Erhebungen waren flach und geschwungen, wie die Wellen an der Kronfreien Küste, und von Heide, Süßgräsern und dichtem Farngestrüpp bedeckt. Die Einheimischen nannten sie die Purpurhöhen, vermutlich aufgrund der Farbe.

Er empfand die Farbe eher als ein sattes Violett, aber Dremmin tadelte ihn immer wieder dafür, dass er die Welt anders wahrnahm. »Ich hatte nicht erwartet, so weit im Osten auf weitere Banditen zu treffen. Wir müssen fast schon in der Grenzmark sein. Ich dachte, vor uns läge weniger als ein Tagesritt.«

»Das haben mir zumindest die Bewohner von Gwellan versichert.«

»Sie müssen sich geirrt haben. Oder du warst betrunken.«

»Fang jetzt nicht so an, Junge. Ich kenne mich in diesem Land genauso wenig aus wie du.«

Trenloe schüttelte den Kopf. »Ich habe nur laut gedacht.«

Er kannte Dremmin jetzt seit vielen Jahren. Ein Jahr lang hatte er in der trastanischen Armee unter ihr gedient, bevor die Zwergin ihn überredet hatte, sich gemeinsam mit ihr auf eigene Faust durchzuschlagen. Aber er kannte sie nicht wirklich. Er wusste nicht, was sie in die Gegend so weit südlich von Thelgrim getrieben hatte. Ihr Alter hätte er nicht einmal ansatzweise schätzen können. Aber wer außer einem anderen Zwerg konnte schon von sich behaupten, dass er einen Zwerg wirklich kannte? Und vielleicht nicht einmal der. Alles, was er mit Sicherheit über sie sagen konnte, war das, was er sehen konnte. Ihr Gesicht war zerfurcht, mit einer stolz vorgewölbten Stirn unter einem geflügelten Lederhelm. Sie trug ein langes Kettenhemd aus Lederschuppen mit eingenähten Stahlplatten, das ihr bis über die Knie reichte. Als Buchhalterin und Quartiermeisterin der Gefährten von Trenloe (oder »Wachtmeisterin des Goldes«, wie sie genannt werden wollte) war sie fraglos sehr wohlhabend und hätte sich einen Harnisch aus geschmiedetem Stahl leisten können, wenn sie gewollt hätte. Vielleicht sogar eine Rüstung aus runengebundenen Platten, wie sie nur die größten Ritter und Herrscher der Baronate ihr Eigen nennen durften. Trenloe hatte sie einst gefragt, warum sie sich nichts dergleichen leistete, worauf die Zwergin nur geknurrt hatte, sie würde »sparen«. Wofür, hatte sie nicht verraten wollen, und Trenloe vermutete, dass er es nie erfahren würde.

Auf ihrem zottigen Hochlandpony ließ die Zwergin ihren Blick über die Purpurhöhen schweifen. »Nicht wie zu Hause, was?«

»Nicht wie zu Hause, nein«, stimmte Trenloe zu.

»Ich hasse es, wenn du das tust.«

»Was denn?«

»Wiederholen, was ich gerade gesagt habe, als würdest du dadurch weise klingen wollen.«

Trenloe grinste, lehnte sich zu ihr hinüber und fragte gedehnt: »Ich versuche, weise zu klingen?«

»Ich weiß nie, ob du mich aufziehen willst oder wirklich so dumm bist, wie du aussiehst.«

Trenloes Lachen ließ seinen Halbharnisch klirren.

Eine Zeit lang saßen sie schweigend da und suchten die Hügel nach Bewegungen ab. »Das Land eignet sich nicht für den Ackerbau«, antwortete Trenloe schließlich auf die vorherige Bemerkung der Zwergin. »Die Anbausaison ist zu kurz. Die Nächte sind zu lang und zu kalt.« Er deutete mit dem Kopf auf die glitzernde Linie des Flusses. »Nicht zu vergessen, dass man immer Gefahr läuft, dass die Uthuk-Plünderer aus der Grenzmark die Ernte niederbrennen.«

»Ist ein bisschen was anderes, als über die Grenze nach Lorimor oder Aymhelin zu blicken, was?«

»Dieses Gebiet eignet sich nur als Weideland.«

»Ich vergesse immer wieder, dass du Bauer warst, bevor wir uns begegnet sind.«

»Der Sohn eines Bauern.«

»Ist doch dasselbe. Schwer vorzustellen, dass Trenloe der Starke mal Ziegen gemolken hat.«

Trenloe antwortete nicht. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.

»Komm«, sagte er, nachdem er noch eine Weile darüber nachgedacht hatte. »Wenn die Graufüchsin da draußen ist, wird sie sich offensichtlich nicht zeigen. Wir müssen weiter. Vor allem wenn wir weiter von Hernfar entfernt sind, als wir dachten.«

»Als mir gesagt wurde.«

Trenloe wendete sein Pferd.

Er hatte die mächtigen Schlachtrösser der Baronatsritter im Einsatz gesehen, gewaltige Tiere, die einen ausgewachsenen Mann samt Vollrüstung tragen und eine Schlacht bestehen konnten. Er hätte sogar einmal die Chance gehabt, eines zu kaufen, aber er liebte den in die Jahre gekommenen trastanischen Ackergaul, auf dem er auch jetzt ritt, und Rusticar, wie er ihn genannt hatte, schien das Gefühl zu erwidern. Er mochte langsam sein, aber er war das einzige Tier, dem Trenloe je begegnet war, das groß genug war, um sogar ihn zu tragen.

Die Gefährten von Trenloe waren gerade dabei, das Lager abzubrechen. Sie waren an das angenehmere Klima der südlichen Baronate gewöhnt und legten keine Eile an den Tag. Korporal Bethan schritt in voller Kampfmontur und mit wehendem Umhang durch das Lager und spielte »Der Aufstieg der Freien« auf ihrer Zither, während sie denjenigen Tritte verpasste, die immer noch in den Federn lagen. Die Wagenladungen der Flüchtlinge dagegen waren deutlich schneller. Sie hatten sie bei ihrem Aufbruch aus Gwellan aufgelesen. Die Größe der Stadt deutete an, dass sie einst ein Handelszentrum gewesen sein musste, doch das nun vorherrschende Elend bot einen fast schon schmerzhaften Anblick. Alle behaupteten, es sei die letzte Siedlung vor Hernfar, und die Gefährten hatten dort Halt gemacht, um ihre Vorräte aufzufüllen. Trenloe hatte den dreifachen Wert gezahlt und sich dennoch schuldig gefühlt, ihnen ihr weniges Gut wegzunehmen. Das Mindeste, was sie hatten tun können, war, denjenigen eine Eskorte anzubieten, die die Reise zur Burg auf der Insel Hernfar auf sich nehmen wollten.

Und das schienen eine ganze Menge zu sein. Die Dunkellande waren offenbar weniger beängstigend als die Graufüchsin und Burg Nordgard verlockender, als der schlechte Ruf, den die Insel in Trast hatte, vermuten ließ.

Die Karawane schlängelte um eine Kurve des ausgetretenen Pfads, den Bethan manchmal spaßeshalber als »Straße« bezeichnete. Ein paar in Leder gekleidete Reiter der Gefährten trabten neben ihr her und beschwerten sich über die frühe Morgenstunde, das karge Essen und das kalte Wetter.

»Die Stadtbewohner sehen nervös aus«, sagte Trenloe.

»Liegt daran, dass sie nervös sind«, konterte Dremmin und kramte nach der Pfeife in ihrem Beutel.

»Sie kennen das Land besser als wir. Wenn sie nervös sind, sollten wir es vielleicht auch sein.«

»Das klingt verdächtig wie etwas, das dein alter Herr gesagt hätte.«

Trenloe nickte. »›Hör auf die, die es wissen müssen‹, hat er immer gesagt.«

»Aye.« Dremmin schniefte. »Dachte ich mir.«

Trenloe beobachtete, wie die Reihe der Wagen die Straße entlangkroch.

»In diesem Tempo sind wir nächstes Jahr noch nicht in Hernfar«, meinte Dremmin.

Trenloe spornte Rusticar zu einem Trab an, der seiner Höchstgeschwindigkeit schon sehr nah kam. »Mal sehen, was da los ist.«

»Aye.« Dremmin nahm einen kräftigen Zug aus ihrer Pfeife und trieb ihr Pony an, um ihm zu folgen. »Sehen wir nach.«

2

Kurt

Nördlich von Gwellan, Südostkell

Kurt rannte den Hügel hinauf. Trockenes Farnkraut knirschte unter den dünnen Sohlen seiner Stiefel. Die Samen der Wollgräser stoben auf, als er sie mit den Schienbeinen streifte. Sein Teil der Purpurhöhen bestand aus wildem Heideland und nacktem Felsen und erstreckte sich von den Grenzen des Flüsternden Waldes zum Fuß der beiden Hügel, dem Graubart und dem Widder, und der Kluft dazwischen. Sein bescheidenes Gehöft stand versteckt in dieser Felsspalte, so weit vom Wald entfernt wie möglich. Der gekrümmte Rücken des Graubarts schirmte es gegen Stürme aus dem Osten ab. Ein Bächlein rahmte es von drei Seiten ein und trieb ein kleines Wasserrad an. Kurt empfand diesem Ort gegenüber gemischte Gefühle. Er liebte ihn, weil er die Erinnerungen lebendig hielt, die Kurt selbst lieber verdrängte. Aber für seine Kargheit, für seine Kälte, die dünne, unfruchtbare Erdschicht, für die kurzen Tage und die finsteren, einsamen Nächte hasste er ihn abgrundtief. Er zahlte an seinen Baron mehr Steuern und andere Abgaben, als er mit Wolle und Käse verdienen konnte. Selbst in der Armee hatte er besser gegessen. Sogar zum Ende hin.

Als er den Bergrücken erreichte, wurde er langsamer. Er ging im kurzen Gras auf ein Knie und legte einen Pfeil an seinen Flachbogen. Die Sonne ging langsam über der Bergkette im Osten auf und überzog die Täler mit Schatten. Der schneidend kalte Wind trug Jubelrufe und Schreie heran. Rauchwolken sprenkelten die Landschaft. Das Donnern von Hufen ließ den Boden unter seinem Knie erzittern.

Die Banditen kamen aus dem Flüsternden Wald. Diese Erkenntnis erschreckte ihn. Nur die Graufüchsin wäre mutig genug, dieses verfluchte Dickicht zu zähmen oder ihr Gefolge so aufzupeitschen, dass es von den Geistern des alten Waldes akzeptiert wurde.

Eine Gruppe Reiter kam den benachbarten Hügel hinunter. Kurts Ausbildung übernahm die Kontrolle und begrub den leisen Anflug von Angst tief in seiner Brust. Er atmete langsam ein und spannte die Bogensehne, vorbei an dem Zahn, den er sich in seiner Jugend in einem Kampf abgebrochen hatte, und bis hinter sein Ohr.

Er blickte am Schaft des Pfeils entlang. Dann atmete er aus und ließ los.

Der Pfeil löste sich mit einem Surren und er knurrte zufrieden, als er sich in die Schulter des Reiters grub. Der Räuber fiel mit einem Schrei von seinem Pferd und landete im Farnkraut. Kurt legte erneut an, spannte seinen Bogen und schoss. So hatte man es ihm in der Armee beigebracht. Der Rhythmus war entscheidend. Er lenkte einen von dem Gedanken ab, dass man gerade jemanden tötete. Der Pfeil bohrte sich durch die dicke Lederrüstung und in den Bauch eines zweiten Reiters. Der Bandit kippte mit einem Aufschrei aus dem Sattel, doch ein Fuß verfing sich im Steigbügel und das Pferd schleifte ihn über das Gras, bevor es zurück in den Wald rannte.

»Geh und erzähl deinen Freunden«, brüllte Kurt ihm hinterher, »dass dieses Land Kurt Stavener gehört und die Graufüchsin es nicht bekommen wird.«

Die restlichen Reiter drehten ab. Kurt gestattete sich, erleichtert durchzuatmen, behielt sie allerdings im Auge, während sie in Richtung von Larions Gehöft in der Heide verschwanden. Er ließ sie ziehen. Sollte Larion doch ihre eigenen Pfeile auf sie verschießen. Er wandte sich ab. Der Bandit mit der Schulterwunde wand sich noch immer im Gestrüpp.

»Boxer. Wisper.«

Auf sein Kommando preschten die Hunde den Hügel hinab.

Es waren Schäferhunde, darauf trainiert, zu jagen, nicht zu töten. Aber natürlich wusste der Räuber das nicht. Kurt grinste in sich hinein, als der Verletzte sich aufrappelte und schreiend in die Heide zurückhumpelte. Er legte einen weiteren Pfeil an.

Als er hörte, wie ein Pferd hinter ihm den Hügel hochpreschte, drehte er sich zu seinem neuen Ziel um, nur um sogleich die Sehne locker zu lassen und den Pfeil auf den Boden zu richten.

Sein jüngster Sohn Elben, der letzten Sommer fünfzehn geworden war, kämpfte darum, das schwarze, gut einen Meter sechzig große Streitross, das Kurt von seiner alten Garnison »geborgt« hatte, anzuhalten. In dem hohen Sattel sah der Junge lächerlich klein aus, wie ein verwirrter Gnom, der immer noch sein Nachtgewand trug.

»Komm da runter«, sagte Kurt. Liebe, Angst und alte Armeegewohnheiten verwandelten seine Stimme in ein unerwartet tiefes Knurren. »Das Pferd ist viel zu groß für dich.«

Elben wirkte gekränkt. »Aber du hast mich doch gebeten, ihn herzubringen.«

»Ich habe dich gebeten, ihn herzubringen. Nicht, ihn zu reiten. Runter da.«

Der Junge wollte widersprechen, aber genau in diesem Augenblick kamen Boxer und Wisper aus der Heide zurückgerannt. Sie kläfften aufgeregt, legten sich ein paar Meter vor Kurt artig auf den Boden und klopften mit ihren Ruten auf das trockene Grünzeug. Boxer leckte sich die Lefzen und bellte.

Elben stieg ab.

Kurt kraulte Boxers Ohren, lobte Wisper dafür, dass er so brav und still war, und nahm seinem Sohn dann die Zügel ab, um mit einiger Anstrengungen auf den Rücken des gewaltigen Pferdes zu klettern. Er schwankte kurz, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Er war ein erfahrener, wenn auch kein begeisterter Reiter, aber sein Land war zu hügelig und zerklüftet, um es zu Fuß zu durchqueren.

»Ich könnte mit dir kommen«, bot Elben an und deutete auf den Flachbogen seines Vaters. »Ich kann schießen.«

Kurt gestattete sich einen Moment der Nachsicht und reichte seinem Sohn den Bogen. Wie das Pferd wirkte auch er in seinen Händen lächerlich überdimensioniert, doch der Junge strahlte. Kurts eigenes Lächeln erstarb sofort wieder. Der Anblick erfüllte ihn eher mit Schmerz als mit Stolz. Er wünschte, er hätte seinen Söhnen eine andere Fähigkeit mit auf den Weg geben können. Alles, nur das nicht.

»Geh wieder nach Hause«, sagte er und kämpfte darum, das widerspenstige Tier zu wenden. »Nimm die Hunde mit und hilf deinem großen Bruder, das Haus zu beschützen. Es sollten nicht mehr allzu viele in diese Richtung kommen. Ich bin bald zurück. Hüja!« Er trieb das Pferd zu einem wilden Galopp an, der ihn über die Hügelkuppe und den Hang hinab trug.

Die Sonne verschwand hinter dem Graubart und sein gebeugter Schatten senkte sich über Kurt. Er blickte sich um. Tau glitzerte hier und da noch auf dem Heidegestrüpp, das noch nicht von der Dämmerung erreicht worden war. Erleichtert entdeckte er ein paar gräuliche Schafe, die sorglos am Riedgras knabberten, das aus einer Felsspalte wuchs. Irgendwie brachte er das gewaltige Tier dazu, langsamer zu werden, und trieb die dummen Viecher vor sich her.

Kurt besaß vierzig Schafe, die weit über sein Land verteilt waren, und ihre Milch, ihre Wolle und ihr Fleisch waren alles, was er hatte. Normalerweise drohte ihnen nicht viel Gefahr, außer vom Wald selbst, und niemand, der in seinem Schatten aufgewachsen war, würde den Feenwesen des Waldes ein oder zwei Tiere aus seiner Herde verwehren. Reiter aus Ru auf der anderen Seite des Lothan kamen nur selten so weit in den Westen und die Banditen waren nicht so dreist, aus dem Wald heraus seine Herde anzugreifen.

Zumindest bis jetzt nicht.

Auf der nächsten Anhöhe entdeckte er ein weiteres Dutzend Schafe, die auf dem Felskamm nach Gras suchten. Er lenkte das widerspenstige Pferd in langsamen Kreisen um den Hügel, um sie zu den anderen zu geleiten. Nachdem er ein Viertel seiner Herde beisammenhatte, suchte er die flachen Hügel und das umliegende Moorland nach Nachzüglern ab.

Ein Klirren wie von Stahl erklang aus der Richtung seines Zuhauses, gefolgt von einem Schrei. Sein Herz krampfte sich zusammen und er drehte sich im Sattel nach dem Geräusch um. Doch er zögerte.

Vor die Frage gestellt, ob er seinen Söhnen zu Hilfe eilen oder die Versorgung der Familie für den Winter sichern sollte, wusste er nicht, was er tun sollte.

Ein weiterer Schrei erklang von der anderen Seite des Hügels.

Er schüttelte den Kopf, verfluchte, was Armut und Hunger mit seinem Verstand angestellt hatten, und wendete sein Pferd in Richtung seines Zuhauses. Er trat ihm in die Rippen und es reagierte mit einem Schnauben, das zu sagen schien: »Endlich!«, bevor es in Galopp verfiel.

Kurt umrundete die Hügel und hielt sich in den Tälern, um so auf Umwegen in die Felsschlucht zu donnern, wo sich der Graubart und der Widder gegenseitig auf die Füße traten. Wo Kurt und Katrin Stavener einst ihr Heim errichtet hatten. Hätte er Baron Frederic als Kavallerist gedient, hätte man ihm beigebracht, nicht kopflos in feindliches Gebiet zu reiten, aber er war nur ein Bogenschütze gewesen und so preschte er geradewegs auf den Hof. Glücklicherweise war sein Pferd ein Streitross und zu Tode gelangweilt davon, Schafe über die Hügel zu jagen. Es wusste genau, was es zu tun hatte.

Die Hufe klapperten laut auf dem felsigen Untergrund, als es mitten in die Gruppe der Räuber sprang und sie auseinandertrieb. Einen warf es mit seiner breiten Brust um, einen anderen trampelte es nieder. Das Tier blähte die Nüstern, als Kurt es zurückhielt. Es stampfte ungeduldig auf, wild darauf, die Männer zu überrennen. Er zog sein Schwert. Die Waffe war ramponiert, verbogen und absolut unspektakulär, sie bestand aus sechzig Zentimetern rostigem Stahl. Schnell stieg er ab. Sein alter Holzschild, der von einem Stahlring zusammengehalten wurde, hing an einem Haken am Sattel des Pferdes. Er nahm ihn und schob seinen linken Unterarm durch die Schlaufen.

»Verschwinde«, befahl er dem Pferd. Es schnaubte, stampfte auf und bewegte sich keinen Millimeter. »Du hast zu viel Zeit mit meinen Jungs verbracht. Na schön, wie du willst.«

Er ging aufs Haus zu.

Acht oder neun Räuber hatten nach dem ersten Angriff die Flucht ergriffen. Sie waren fälschlicherweise davon ausgegangen, dass kein einzelner Reiter so dumm sein würde, auf einem solchen Untergrund gegen so viele Gegner anzutreten, und dass sie einer Kavallerieeinheit aus einer nicht existenten Garnison in Gwellan in die Arme gelaufen sein mussten. Doch trotz dieser glücklichen Wendung entdeckte Kurt immer noch sechs Männer, die versuchten, die Tür einzurennen. Ein weiterer nutzte das Wasserrad und die Hauswand, um auf das Schrägdach zu klettern, auf dem Elben saß und Pfeile auf sie niederregnen ließ. Nicht mit Kurts großem Flachbogen, Kellos und seinem goldenen Feuer sei Dank, sondern mit dem kurzen Übungsbogen, den Kurt widerwillig für ihn angefertigt hatte.

Die Hälfte der sechs Männer an der Tür drehte sich um. Drei gegen einen – dieses Ungleichgewicht gefiel Kurt ganz und gar nicht.

Er handelte schnell, bevor sie dahinterkamen, wie sie ihren Vorteil am besten nutzen konnten, und schlich am Bach entlang. Einer von Elbens Pfeilen ragte plötzlich aus dem Hals des mittleren Kämpfers und er ging zu Boden. Kurt nutzte die Ablenkung, um einem zweiten sein Schwert in den Bauch zu treiben. Drehen und rausziehen. Dieses Mantra hatte die Armee ihm so eindringlich eingebläut, dass er das Gebrüll seines Ausbilders selbst dann noch im Ohr hatte, wenn er sich über seine Frühstückswurst hermachen wollte. Er drehte sein Schwert und zog es heraus. Der Dritte schwang eine Axt in einem hohen, weiten Bogen. Kurt wehrte den Aufprall mit seinem Schild ab und drängte den Räuber mit der Schulter zwei Schritte zurück. Der Kämpfer wich sogar noch weiter zurück, plötzlich gar nicht mehr so kampflustig wie vor zwei Sekunden, als seine Kameraden noch gestanden hatten. Kurt hoffte, er würde vernünftig sein und die Flucht ergreifen, aber aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass auch die drei anderen sich von der Tür abgewandt hatten, um zu sehen, was vor sich ging.

Vier gegen einen gefiel ihm noch weniger. Schnell zog er sich zu seinem Pferd zurück und hob seinen Schild, als die Tür aufflog und Sarb heraussprang.

Er war größer als Elben, wahrscheinlich sogar größer, als der Jüngere jemals werden würde, und wäre vermutlich sogar noch kräftiger als Kurt gewesen, wenn es denn in den letzten Jahren mehr zu essen gegeben hätte. So war er hoch aufgeschossen und drahtig und seinem Vater in Aussehen und Charakter ähnlicher, als ihnen beiden lieb war. Selbst sein Haaransatz ging bereits zurück. Er trug einen zwei Meter langen Speer der kellanischen Infanterie mit massivem Schaft und einer Klinge, die schwer genug war, um einen Charg’r-Dämonenhund zu töten, wenn man ihn richtig erwischte. Er trieb ihn in den Rücken des nächsten Räubers.

Drehen und rausziehen, dachte Kurt instinktiv.

Aber natürlich hatte Sarb im Gegensatz zu Kurt nicht gedient. Auf den Purpurhöhen gab es keine richtige Armee mehr und selbst wenn es eine gegeben hätte, hätte Kurt den Jungen eher im Haus angebunden, als ihn dienen zu lassen. Sarb zog einfach nur und die lange Klinge blieb stecken.

In diesem Moment stürzten Boxer und Wisper aus der Tür, fielen über einen zweiten Mann her, bevor dieser reagieren konnte, und rissen ihn zu Boden. Elben jagte einen Pfeil in die lederne Schulterplatte eines Dritten. Die letzten zwei und der, der an der Wand hinaufgeklettert war, hatten genug. Sie nahmen die Beine in die Hand. Der Mann mit der Axt, gegen den Kurt gekämpft hatte, stieg auf ein Pferd und galoppierte auf die Hügel zu.

Kurt hätte ihm zu gern ein paar deutliche Worte mit auf den Weg gegeben, fürchtete aber, dass er das Bewusstsein verlieren könnte, wenn er seinen Atem darauf verschwendete. Er war zu alt für den Nahkampf. Und zwar mindestens zehn Jahre. Er ließ sein Schwert fallen. Der Schild wäre wahrscheinlich gefolgt, wenn er nicht so fest um seinen Arm geschlungen gewesen wäre.

»Seid ihr … beide … in Ordnung?«

Elben lehnte sich von seinem Platz über der Traufe vor und musterte den Mann, dem er durch den Hals geschossen hatte. Er wurde kreidebleich. Es schmerzte Kurt mehr als jeder vergiftete Pfeil der Uthuk, der ihn je getroffen hatte, dass seine Söhne das sehen mussten.

»J… Ja«, stammelte der Junge.

Sarb antwortete nicht. Er zog lediglich seinen Speer aus dem Rücken des toten Banditen und eilte den Pfad hinunter und durch den kleinen Bach, um die Fliehenden zu verfolgen. »Schnell, Vater«, drängte er. »Schnapp dir das Pferd. Wenn wir uns beeilen, können wir sie einholen.«

»Und wozu?«

Sarb wirbelte zu ihm herum und stampfte frustriert auf, sodass das Wasser aufspritzte. Seine Hand umklammerte den Speer so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Ich weiß nicht. Um sie zu bestrafen?«

»Dein Blut ist in Wallung«, sagte Kurt ruhig und leise. Es war der Tonfall, den er auch benutzte, um Boxer und Wisper zu beruhigen, wenn sie aufgebracht waren. Innerlich loderte die Wut in ihm allerdings genauso hell, weil seine Jungs gezwungen worden waren, zu Mördern zu werden, bevor sie ganz aus den Kinderschuhen heraus waren. »Jetzt gerade fühlst du dich, als könntest du es mit der Graufüchsin selbst aufnehmen. Hab ich recht? Aber glaub mir, das Gefühl vergeht schnell, wenn einer ihrer Pfeile dich trifft.« Er blickte sich nachdrücklich zwischen den Leichen auf dem Hof um. Boxer bellte aufgeregt. »Schon ein einziger kann tödlich sein.«

»Aber …«

»Kein Aber. Mach dich sauber und dann zurück ins Haus.«

»Was ist mit Tante Larions Gehöft?«, rief Elben mit schwacher Stimme vom Dach.

Sarb nickte. »Was glaubst du, wer auf dieses Land aufgepasst hat, als du nicht da warst?«

Kurt verzog das Gesicht. Sarb wusste immer ganz genau, wie er alte Wunden aufreißen konnte. »Dieses Mal wird Larion auf sich selbst aufpassen müssen.«

»Aber Vater …«, setzte Elben an, doch ein erschöpfter Blick seines Vaters brachte ihn zum Schweigen.

»Was ist mit den Tieren?«, fragte Sarb. Seine Stimme war eisig und seine Miene grimmig. »Willst du sie da draußen einfach der Graufüchsin überlassen?«

Kurt schwieg.

Es waren einfach zu viele. Es würde einer Armee oder eines Helden bedürfen, um die Angriffe der Banditenkönigin abzuwehren, und Kurt war ganz sicher kein Held. Alles, was ein alter Soldat tun konnte, war durchhalten, abwarten und sehen, wie groß der Schaden ausfallen würde.

»Und wenn sie sich alles geholt hat?«, fragte Sarb.

Kurt warf ihm einen finsteren Blick zu. »Ins Haus, hab ich gesagt.«

3

Trenloe der Starke

Die Purpurhöhen, Südostkell

Rusticar trabte am steinigen Abgrund entlang und vorbei an der stockenden Karawane der Wagen, die die alte Straße verstopfte. Trenloe brachte sein Pferd an der Spitze zum Stehen. Es schnaubte und scharrte über das dürre Gestrüpp, das am Wegesrand wuchs. Dann hob es mit klirrendem Geschirr den Kopf, als hätte es sich mit dieser kurzen Anstrengung eine Belohnung verdient. Trenloe schob seine bettelnde Nase weg und tätschelte dem treuen alten Tier den Hals.

Einer der Wagen der Flüchtlinge aus Gwellan hatte ein Rad verloren und stand auf seiner Achse mitten auf der Straße. Eine Handvoll Wagen war davor stehen geblieben und die Kutscher blickten besorgt zurück. Viele andere saßen dahinter fest. Einige von ihnen, gehüllt in kratzige, handgesponnene Wolle, hatten ihre Wagen verlassen, um zu helfen oder zu schimpfen. Ein greifbares Gefühl von Dringlichkeit und Angst verlieh jedem noch so beiläufigen Wort einen bissigen Unterton. Ein Mann und eine Frau stolperten bereits den Abhang hinunter, um das verlorene Rad aufzulesen.

»Holt die Pferde«, rief eine bis auf die Knochen ausgemergelte Frau, deren Gesicht von ihrer Wollmütze nahezu verschluckt wurde. »Schleppt den Wagen von der Straße und lasst den Rest von uns durch.«

»Nein«, entgegnete ein anderer. »Wir müssen zusammenhalten.«

»Ja, das ist das Werk der Graufüchsin.«

»Es heißt, sie sei eine echte Hexe. Gestern war Bremens Wagen noch vollkommen in Ordnung.«

»Diese Leute werden noch unser Ende sein«, meinte Dremmin, deren stämmiges Pony hinter Rusticar hergetrottet war. »Wenn dieser Wagen irgendwann in den letzten hundert Jahren in Ordnung war, bin ich die Erbin von Bran und Ordan. Ich sage dir, wir werden noch einige von ihnen verlieren, bevor wir die Insel Hernfar erreichen.« Sie kaute auf dem Mundstück ihrer Pfeife herum. »Wenn wir je dort ankommen.«

»Hätten wir Gwellan ohne sie verlassen sollen?«

Dremmin nahm die Pfeife aus dem Mund. »Willst du darauf wirklich eine Antwort?«

Mit einem Lächeln stieg Trenloe ab.

Als Partner hätten er und Dremmin nicht unterschiedlicher sein können, aber Trenloe allein hätte nicht den nötigen Geschäftssinn besessen, um die Gefährten aufzubauen und sie aus einer Truppe ungleicher Leute zu dieser Macht des Guten zu machen. Das Geld rann ihm immer allzu leicht durch die Finger, wenn er andere in Not sah. Schließlich konnte ein Söldner seines Rufes immer neues verdienen. Bedauerlicherweise. Im Gegenzug sorgte er dafür, dass Dremmin auf dem rechten Pfad blieb. Zumindest redete er sich gern ein, dass ihm das einigermaßen gut gelang.

Die kleine Gruppe auf der Straße machte ihm Platz. So aufgebracht sie auch waren, Trenloe war abgesehen von den Pferden immer noch die imposanteste Erscheinung hier.

»Trenloe!«, rief eine alte Frau in einem gesteppten grauen Kleid und einem Schal aus dem hinteren Bereich des liegen gebliebenen Wagens. Sie hob die Hand und winkte ihm zu. »Trenloe!«

Trenloe hatte keine Ahnung, welche Position sie in Gwellan innegehabt hatte, aber hier auf der Straße war sie zu einer Art Sprecherin der neuen zivilen Einheit der Söldner geworden. Dremmin hielt sie für eine aufdringliche, besserwisserische Nervensäge und soweit Trenloe sagen konnte, schien die alte Frau Dremmin nicht minder zu verachten. Jede von ihnen kämpfte für das Wohlergehen ihrer Leute und Trenloe musste sie mehr als einmal daran erinnern, dass sie alle im selben Boot saßen.

Er jedenfalls war froh, sie in der Nähe zu haben. »Maeve ist hier«, sagte er.

»Oh gut«, erwiderte Dremmin trocken. »Maeve ist hier.«

»Komm schon«, forderte Trenloe. »Sehen wir mal, wie wir helfen können.«

Schwerfällig stieg Dremmin ab und beide gingen auf den Wagen zu.

»Wir müssen den Wagen reparieren und wieder in Bewegung setzen«, erklärte Maeve und betrachtete die gebrochene Achse mit säuerlicher Miene. »Und wenn das nicht geht, müssen wir ihn schnell aus dem Weg schaffen. Wir sollten uns nicht zu lange auf offener Straße aufhalten, wenn die Graufüchsin in der Nähe ist. Und ich habe ihre Bande in den Hügel da drüben herumstreunen sehen.«

»Scharfe Augen für einen alten Menschen«, kommentierte Dremmin.

Trenloe, der ihre ewigen Zänkereien nicht zusätzlich befeuern wollte, rang sich ein Lächeln ab.

Maeve funkelte beide böse an. »Frauen mit schwach ausgebildeten Sinnen werden nicht alt. Nicht so nah an der Ostgrenze zu Ru.«

»Ich denke nicht, dass Ihr in direkter Gefahr seid«, versicherte Trenloe mit einem Blick zu Dremmin, die zustimmend nickte. »Nicht solange wir hier sind.«

»Ich weiß nicht … Ich fürchte, so viele gut bewaffnete Krieger in ihrem Territorium werden bloß das Interesse der Graufüchsin wecken. Je schneller wir die Furt zur Insel Hernfar durchquert haben, desto besser. Vielleicht können wir uns dann sicher fühlen.«

»Wie weit ist es noch bis zur Burg Nordgard?«

»Vielleicht ein oder zwei Tagesreisen.«

Trenloe wandte sich Dremmin zu und seine Augenbrauen kletterten seine hohe Stirn hinauf. »Wir sind also wirklich so dicht dran. Als wir die Reiter auf dem Hügel gesehen haben, dachten wir, dass sich jemand geirrt haben müsste.«

Maeve schüttelte traurig den Kopf. »Inzwischen hat die Graufüchsin mehr Männer unter ihrem Kommando als der Baron.«

»Das ist doch unmöglich! Fredrics Armeen sind im Süden weithin bekannt. Es heißt, niemand sei besser bewaffnet als die Ritter von Archaut und in ganz Terrinoth gebe es keine größere Armee.«

»Vielleicht war das mal so. Aber falls es Euch nicht aufgefallen ist, wir haben ein paar schwere Jahre hinter uns. Seuchen in den Herden und Hungersnöte. Manche behaupten, dahinter stecke Zauberei, die aus den Dunkellanden über den Fluss geschickt worden sei. Andere beschuldigen die Graufüchsin. Ich weiß es nicht, aber jetzt kommen auch noch ihre Banditen dazu. Der Baron hat die meisten seiner Soldaten entlassen, um ihre eigenen Ländereien zu bestellen. Angeblich um Getreide anzubauen, das in der Stadt dringend benötigt wird, und um die ländlichen Gebiete besser vor Gesetzlosen zu schützen, aber …« Sie zuckte mit den Schultern.

»Ein Fehler«, knurrte Dremmin.

Maeve runzelte die Stirn. Sie stimmte der Zwergin zu, wollte ihr aber nicht die Genugtuung geben, es offen auszusprechen.

Trenloe schwieg. Er überließ es Dremmin, die Gefährten zu organisieren, und über die Regierung eines Landes wusste er noch weniger. Baron Fredric war in Artrast hoch angesehen und kannte die Bedürfnisse seines Landes bestimmt am besten.

»Dame Ragthorn von Hernfar hätte sicher keine Boten auf der Suche nach Söldnern bis nach Trast ausgesandt, wenn sie ausreichend Krieger zur Verfügung hätte«, sagte Dremmin. »Kells Verlust ist unser Gewinn, auch wenn es mich ärgert, dass es billiger zu sein scheint, uns anzuheuern, als die eigenen Soldaten des Baronats zu bezahlen.« Sie grinste Trenloe an. »Wir sollten mehr verlangen.«

»Darüber könnt Ihr später noch streiten«, schaltete sich Maeve ein und deutete nachdrücklich mit dem Kopf auf den gestrandeten Wagen. »Wenn Ihr angekommen seid.«

»Ihr solltet uns nicht auf die Probe stellen, sonst entscheiden wir uns am Ende noch dazu, Euch einfach zurückzulassen und vorauszureiten«, warnte Dremmin.

»Schluss jetzt«, fuhr Trenloe dazwischen, dem nun endgültig der Geduldsfaden riss. »Wir lassen niemanden zurück.«

Während er sprach, kehrte das Paar zurück, das das Rad geborgen hatte. Trenloe war erfreut zu sehen, dass eine der Gefährten ihnen zu Hilfe geeilt war, um es zurück zur Straße zu schleppen und anzubringen. Ein halbes Dutzend von Gwellans stärksten Männern stellte sich entlang des Wagens auf und versuchte, ihn unter Flüchen hochzuwuchten, doch sie schafften kaum mehr als einen Zentimeter. Trenloe musterte sie besorgt. Nicht einer der Männer und Frauen von Gwellan wirkte gut genährt oder für körperliche Arbeit geeignet. Als sie merkten, dass ihre Anstrengung nicht ausreichte, um das Rad anzubringen, ließen sie den Wagen erschöpft wieder auf seine Achse sinken. Ein paar von ihnen riefen schon nach Stemmeisen und Hämmern, um ihn auseinanderzunehmen, andere wollten weitere Helfer, um die Ladung vom Wagen zu werfen.

»Nein«, beharrte die hagere Frau von zuvor. »Bringt ein paar Pferde und zieht von der anderen Seite.« Der Kutscher, ein dünner, hektischer Mann namens Bremen, stritt mit ihnen allen.

Dremmin seufzte. »Wir werden noch bis zum Abendessen hier festsitzen.«

Trenloe tätschelte ihr den Kopf, was die Zwergin zwar nicht leiden konnte, für gewöhnlich aber ihre Beschwerden verstummen ließ. »Du kümmerst dich ums Abendessen, ich erledige das hier.«

Er ließ Dremmin und die verwirrt wirkende Maeve zurück und drehte eine langsame Runde um den Wagen. Er untersuchte, wo der Grund darunter weich oder fest war, wo er uneben oder flach war. Zufrieden mit dem Ergebnis, gesellte er sich zu der Gruppe an der beschädigten Seite. Er war breiter als zwei von ihnen zusammen und ließ drei von ihnen beiseitetreten, sodass auf jeder Seite nur noch ein Mann übrig blieb. Auch diese schickte er mit einem Lächeln und einem Nicken weg.

Die Scharniere seiner Rüstung ächzten, als er in die Hocke ging und die Finger unter den Boden des Wagens schob. »Bereit?«, rief er über seine Schulter zu den dreien mit dem Rad.

Die beiden Einheimischen nickten unsicher. Die Gefährtin hinter ihnen grinste. Sie wusste, was kommen würde.

»Das kann nicht Euer Ernst sein«, rief Maeve. »Der Wagen wiegt so viel wie mein Haus.«

»Man nennt ihn nicht Trenloe den Starken, weil er so schlau und gut aussehend ist«, erwiderte Dremmin. »Jetzt seid still und lasst ihn machen.«

Trenloe spannte sich an. Seine Schultermuskeln traten hervor, bis sein Harnisch protestierend ächzte. Seine Bizeps schwollen auf die Größe von Roc-Eiern an. Dann hob er mit einem angestrengten Knurren den Wagen aus den Schultern heraus an. Die Achse hob sich ein kleines Stück.

Beim Ausatmen ließ er ihn wieder sinken. Die Achse grub sich in die Erde und Trenloe trat zurück, um seine Schultern zu lockern und sich den Nacken zu massieren.

Inzwischen hatten Trenloes Bemühungen eine beachtliche Menge Schaulustiger angezogen und sein erster Versuch hatte den umstehenden Gefährten eine Reihe beeindruckter Ausrufe entlockt.

»Wir haben keine Zeit für Eure Kunststücke«, mahnte Maeve.

Trenloe wischte sich die Hände an der Rüstung ab und ging dann wieder in die Hocke, schob die Hände unter den Wagen und machte sich bereit. Er grinste über seine Schulter. »Bereit?«

»Bereit, Hauptmann«, sagte die Gefährtin, die das Rad hielt.

Trenloe atmete tief aus und dann wieder ein. Mit einem plötzlichen Brüllen stemmte er sich gegen die Seite des Wagens und hob ihn an. Die Muskeln seines Oberkörpers spannten sich. Die Scharniere seiner Halbrüstung protestierten. Die Zuschauer verstummten, als er sich erhob und das gewaltige Gewicht von seinen Armen in seine Beine verlagerte. »Rad!«, knurrte er durch zusammengebissene Zähne. »Jetzt!«

Der Mann und die zwei Frauen eilten herbei, schoben das Rad über die Achse und fixierten es. Dann entfernten sie sich schnell und mit einem letzten angestrengten Ächzen und zuckenden Muskeln setzte Trenloe den Wagen sanft ab. Jubel brach aus, als der Wagen wieder sicher auf seinen vier Rädern stand und die Gefährten stimmten einen Sprechgesang an: »Tren-loe! Tren-loe!«

Trenloe schlug sich mit der Faust gegen die Brustplatte und genoss ihre Bewunderung.

Maeve blieb der Mund offen stehen.

»Du hast deine Mutter nie gekannt, oder?«, fragte Dremmin.

»Sie hat meinen Vater verlassen, als ich klein war«, schnaufte Trenloe. Der alte Schmerz dieser Enttäuschung saß tief, aber mit der Zeit war er zu etwas geworden, das er nahezu ignorieren konnte. »Warum?«

Dremmin zuckte mit den Schultern. »Hab mich nur gefragt, ob da nicht vielleicht ein bisschen Riesenblut in deinen Adern fließt.«

Trenloe lachte und bedeutete der Karawane, sich in Bewegung zu setzen. Als sie vorbeirollte, warf er einen neuerlichen Blick auf die umgebenden Hügel. Er meinte, dort etwas gesehen zu haben. Das Aufblitzen von Stahl. Doch dann verdeckte eine Wolke die Sonne und was auch immer es gewesen sein mochte, verschwand wieder in der Heide.

Er hob die Hand und winkte dem Unbekannten zu, in der Hoffnung, dass die Graufüchsin seine kleine Vorstellung mit angesehen hatte.

4

Fredric

Burg Kellar, Nordkell

Vom Burgfried aus hätte man meinen können, dass alles in bester Ordnung wäre. Die Ansammlung von Werkstätten, Häusern und Gaststuben, aus denen die weitläufige Garnisonsstadt bestand, wirkte so geschäftig wie immer, der Gestank von Bratfett und Dung so stark wie eh und je. Die Vögel zwitscherten auf den Türmen und Mauern. Der Wind aus dem Dunwarr-Gebirge pfiff eisig und ließ die purpurnen und goldenen Banner wild tanzen. Es war dieser Ostwind, wie das Sprichwort sagte, der den Boden und die Herzen der Menschen hatte hart werden lassen.

Im Süden erstreckte sich der Flüsternde Wald als dichter grüner Ozean von einem Horizont zum anderen bis an die Grenzen von Dhernas, Pelgate und Frest. Weit im Osten glitzerte der Lothan-Fluss, der von den höchsten Türmen Kellars nur mehr als dünner Faden zu erkennen war. Das Dunwarr-Gebirge dahinter zeigte sich als dunstige Wand mit schneebedeckten Gipfeln, die die Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei bildete.

Im Norden und Westen erhoben sich die Hügel der Heulenden Riesen, kaltes Ödland mit entlegenen Dörfern, deren Bewohner Nordros, den Gott der Kälte und des Todes und den König des Winters, anbeteten und noch nicht mitbekommen hatten, dass die Erste Finsternis gebannt war. Vor Jahrtausenden waren die gewaltigen Fundamente Kellars aus den südlichsten Ausläufern des Gebirges gehauen worden. Der letzte Zusammenschluss nördlicher Clans hatte sich erfolgreich hinter seinen Erdwällen und Palisadenwänden gegen Arcus Penacor und seine Vereinigung des Westens verschanzt.

In den Adern der Männer des hohen Nordens und Ostens floss mehr Charg’r- als Talindon-Blut. Den großen Geschichtsannalen, dem Legendum Magicaria, zufolge waren die Nomaden der Charg’r die Ersten gewesen, die die Furt bei Hernfar durchquert und sich in Kell ausgebreitet hatten, bevor die zivilisierteren Völker aus dem Westen gekommen waren.

Wahre Kellar konnte darüber jedoch nur verächtlich schnauben. Sie waren die Ersten gewesen, die unter dem Heuschreckenschwarm, der Drachenhorde und dem Einmarsch des Unsterblichen gelitten hatten. Doch sie hatten allem widerstanden.

Das Baronat war zu spärlich besiedelt und seine Bewohner zu arm, als dass eine freie Stadt hätte entstehen können, und so machte niemand Kellar seinen Reichtum oder seine Talente streitig. Seine Mauern waren oft erweitert, verstärkt und erhöht und mit zusätzlichen massiven Türmen befestigt worden.

Von dort aus konnte man sich einreden, alles wäre in Ordnung.

»Könnten wir diese Besprechung bitte drinnen fortsetzen?« Beren Salter, die Haushofmeisterin, schlang zitternd die Arme um sich. »Nicht alle von uns sind heißblütige junge Männer.«

Die anderen beiden Mitglieder von Fredrics Rat, von denen keiner mehr ein junger Mann war, lachten trocken. Großmarschall Trevin Highgarde, Hauptmann der Yeronsritter und Burgvogt von Kellar, war ein groß gewachsener Mann mit einem stolzen Schnurrbart, gekleidet in eine glänzende goldene Rüstung und einen wehenden Umhang. General Urban Brant, Oberbefehlshaber der Armeen von Kell, war gebeugt, ein wenig kleiner und sein Haar war etwas grauer. Da er aus dem einfachen Volk stammte, hatte er kein Anrecht auf ein eigenes Wappen oder einen Titel, den er Fredrics Meinung nach verdient hätte. Entsprechend war er deutlich vernünftiger gekleidet: Er hatte einen dicken Steppmantel mit goldenen Epauletten auf den Schultern angezogen.

»Es ist wichtig, dass ich gesehen werde«, erklärte Fredric, doch er fühlte mit seinem ältesten Ratsmitglied. Er trug eine emaillierte Brustplatte mit eingravierten floralen Mustern in Gold und Silber und darunter ein gepolstertes purpurnes Ritterwams mit Goldstickereien, das hervorragenden Schutz vor einem Angriff bot, nicht aber vor der Kälte. Unter seiner Kehle prangte eine goldene Spange mit dem Wappen der Eule von Kell, die einen langen roten Umhang zusammenhielt, der im Ostwind wild flatterte. Er blickte über die Zinnen auf die Stadt hinab. »Die Leute müssen sehen, dass ich sie sehe, dass ich weiß, was in meinem Baronat vorgeht, und mit ihnen leide.«

Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, in diesem Aufzug Rat auf den Mauern zu halten. In letzter Zeit waren seine Diener schon beunruhigt, wenn er nicht in voller Plattenrüstung und mit Helm zum Frühstück erschien.

Er war nicht sicher, ob der Anblick ihres Barons in dieser Aufmachung – als künde sich ein Krieg nicht nur am Horizont an, sondern stünde bereits vor ihren Toren – sein Volk ermutigte oder verängstigte. Aber die Rüstung und die Waffen, die er dazu trug, hatten schon seinem Vater, seinem Großvater und seinem Urgroßvater vor ihm gehört und Fredric fühlte sich ihnen näher, allein indem er sich kleidete wie sie.

Er wünschte, in ihm würde mehr von Reginal oder Roland Drachentöter stecken. Vielleicht hätte dann die Hungersnot, die Kell heimgesucht hatte, verhindert oder zumindest eine Lösung gefunden werden können und die Graufüchsin, die sogenannte Banditenkönigin, und all die anderen wie sie im Norden hätten nie so viel Macht erlangt. Seine Vorfahren hätten etwas unternommen. Wenn Fredric bloß gewusst hätte, was, hätte er liebend gern das Gleiche getan. Selbst wenn das bedeutet hätte, in die Fußstapfen seines geliebten Ahnen und persönlichen Helden Roland zu treten, der den Familienharnisch mit ins Grab genommen hatte. Alles, was seine Maßnahmen bisher bewirkt zu haben schienen, war, die Lage zu verschlimmern.

»Und was geht in Eurem Baronat vor?«, fragte Urban. »Denn wenn Mylord das weiß, wisst Ihr mehr als ich. Ich höre herzlich wenig aus allen Gebieten, die weiter als eine Tagesreise von den Toren Kellars entfernt sind. Selbst über die Hohe Straße nach Dhernas kommen keine Neuigkeiten. Ich höre von Banditen, was allerdings nicht meine größte Sorge ist, wenn ich sehe, dass die östlichen Wachtürme unbesetzt sind.«

»Das ist ein alter Streitpunkt, Urban.« Es war eine schwere Entscheidung gewesen, die Armee zu verkleinern und ein paar der unbedeutenderen Grenzfestungen aufzugeben. Fredric wünschte, er hätte mit Sicherheit sagen können, dass es die richtige gewesen war, aber dieser Tage war er sich nur selten bei irgendetwas sicher. Die Hungersnot, die Tausende bedrohte, hatte ihn dazu getrieben, so viele Soldaten wie möglich auf ihre Felder zu entlassen. Doch die dezimierte Armee hatte die Graufüchsin und ihresgleichen nur ermutigt. Welche unerwünschte Folge würde als Nächstes auftreten? »Was soll ich denn tun?«

»Eure Armee wiederaufbauen. Ich ziehe heute Abend mit vier Hauptmännern und je hundert Mann los und verbreite den Befehl, dass alle Männer und Frauen zwischen zwölf und fünfzig sich zum Wehrdienst zu melden haben. Wir tragen ihn bis in die vier Ecken des Baronats und stellen eine Armee auf, die die Straßen säubern und die Gesetzlosen aus ihren Löchern scheuchen und jeden einzelnen von ihnen in den Flüsternden Wald treiben wird.« Ein verächtliches Grinsen breitete sich auf seinem schlecht rasierten Gesicht aus. »Sollen sich das Drachenvolk und die Feen um sie kümmern, wie sie es immer getan haben.«

Trevin lugte über den Rand seines hohen Halskragens. Seine Lippen waren dahinter verborgen, doch in seinen Augen schimmerte Belustigung.

»Findet Ihr das etwa lustig, Highgarde?«, fragte Urban.

»Allerdings«, antwortete der Großmarschall.

Urban verzog das Gesicht.

»Genug«, seufzte Fredric.

Es war schon schlimm genug, dass seine Untertanen gegenseitig ihre Häuser plünderten und niederbrannten, auch ohne dass der Oberbefehlshaber seiner Armeen und sein getreuer Beschützer einander an die Gurgel gingen. Fredric wusste, beide Männer waren frustriert, aber darüber hinaus konnten sie einander schlicht und ergreifend nicht leiden. Soweit Fredric wusste, gab es dafür keinen ersichtlichen Grund. Manchmal war das einfach so. Und es half vermutlich auch nicht, dass Trevin die Fähigkeit besaß, selbst ein sanftmütiges Maultier mit einer spitzen Bemerkung oder einer gehobenen Augenbraue zur Weißglut zu treiben.

Urban wandte sich an Fredric: »Riecht Ihr das, Mylord?«

Fredric schüttelte den Kopf. »Was denn?«

»Man sieht es von hier nicht, aber …« Der Soldat schnüffelte. »Rauch. Selbst hier hängt er in der Luft.«

»Das bildet Ihr Euch ein«, sagte Salter.

»Tue ich das?«, entgegnete Urban und richtete sich wieder an Fredric: »Tue ich das? Dieser Tage trägt der Wind mehr als nur das Eis der Berge aus dem Osten heran. Wann war einer von Euch zuletzt mit dem Pferd östlich von Orrush Khatak? Oder hat die Waldstraße in Richtung der Purpurhöhen und der Furt von Hernfar genommen? Euer Baronat steht in Flammen.« Wütend gestikulierte er über die Mauern. »Denkt Ihr, es reicht, dass sie wissen, dass Ihr hier steht und zuseht?«

»Ihr habt genug gesagt.« Trevin trat vor. Seine gigantische Vollplattenrüstung war mit den ritterlichen Flügeln und emaillierten Federn seines Ordens verziert. Die beiden Pagen, die ihm mit dem Großschwert namens Unbill mit dem geflügelten Griff überallhin folgten, fielen auf die Knie und hielten das Schwert bereit, sollte sich ihr Meister einem Duell gegenübersehen. »Ihr seid zu weit gegangen.«

Fredric hob die Hand und wandte sich von den beiden ab. Es half nicht, sich in Erinnerung zu rufen, dass Urban genau wie Fredric Kell bestmöglich dienen wollte oder dass er mit ziemlicher Sicherheit mit allem, was er gesagt hatte, recht hatte. Fredric war kein Kind. Er konnte gute Ratschläge annehmen und eingestehen, wenn er vom rechten Weg abgekommen war. Aber dieser Mann war der Oberbefehlshaber aller Armeen Kells. Das war seine einzige Sorge. Fredric dagegen musste viele Faktoren gegeneinander abwägen und das war ermüdend, sowohl körperlich als auch geistig. Es gab keine einfachen Antworten. Wenn es sie gegeben hätte, hätten sich alle darauf verständigen können und sie müssten nicht weiterhin miteinander streiten.

»Schon gut, Trevin. Ich kann die harten Worte meines Generals verkraften. Nehmen wir mal an, ich stelle diese gewaltige Armee auf, wie Ihr es von mir verlangt, General, und sie würde erreichen, was Ihr behauptet – was dann? Wenn die Ernten weiterhin ausbleiben und das Vieh stirbt, was dann? Werden meine Soldaten still und leise in ihren Garnisonen verhungern, mit all den Waffen und der Ausbildung, die wir ihnen gegeben haben? Nein. Sie würden selbst zu Abtrünnigen werden, und das mit gutem Recht, weil ich sie im Stich gelassen hätte. Und Ihr würdet feststellen, dass Ihr einen Feind gegen einen noch stärkeren eingetauscht hättet, den Ihr auch noch selbst bewaffnet habt. Und was machen wir dann, General? Das hier ist nicht Greyhaven oder Nerekhall. Wir können nicht immer neue Armeen aufstellen, bis uns die Feinde ausgehen.«

Urban stieß ein leises Knurren aus. »Vergebt mir, Baron, wenn ich zu forsch war. Ich habe nur meine Meinung gesagt. Ich wollte Euch nicht beleidigen.«

»Gesteht mir wenigstens zu, dass ich nicht so dünnhäutig bin.« Fredric zog sich von den Zinnen zurück und stöhnte, als es plötzlich in seinem Rücken zwickte. Er dehnte seine Wirbelsäule.

»Mylord wird alt«, bemerkte Trevin.

Fredric warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Doch er prallte am Lächeln des Ritters ab wie ein Pfeil von einem Felsen.

»Ihr wisst gar nicht, was alt ist«, murmelte Salter.

Fredric lachte und war überrascht, wie gut sich das anfühlte. Er versprach sich selbst, dass er sich das öfter erlauben musste. »Ich habe zu viele Stunden damit verbracht, mich über verblichene Karten zu beugen und Briefe an ehemalige Verbündete zu schreiben, die dazu verdammt sind, ignoriert zu werden, das ist alles.« Er starrte über seine Schulter zu einem fernen Horizont hinüber. »Geht ein Stück mit mir. Das wird mir guttun. Mein Vater hat immer gepredigt, dass ein langer Spaziergang hilft, die Probleme des Lebens zu lösen.«

Salter seufzte und beschwerte sich lautstark über ihre alten Knochen und steifen Gelenke, folgte Fredric und den anderen aber pflichtbewusst die Zinnen entlang und die lange Granittreppe hinab. Urban ging vor ihr her. Trevin Highgarde folgte mit seinen Pagen direkt hinter Fredric und war, wie es sein Schwur verlangte, nie mehr als einen großen Schritt von Unbill oder seinem Baron entfernt.

Am Fuß der Treppe öffnete sich ein Innenhof, in dem hundert Soldaten in prächtiger Uniform in Purpur und Gold Manöver übten. Jeder war mit einem Infanteriespeer und einem runden Schild mit der Eule von Kell ausgerüstet und sie alle trugen einheitliche Brustplatten, Eisenhauben, Schienen am Speerarm und leichte Beinschienen. Es war das Mindestmaß an Schutz, das nötig war, aber mehr, als die Truppen der meisten Baronate erwarten durften. Zwischen all dem Wenden, Marschieren und Herumwirbeln der Speere gab ein Trompeter mit komplizierten Tonfolgen jeweils das Signal dazu, die Formation zum Schiltron aufzufächern, sie zum Quadrat zusammenzuziehen oder die Speere nach außen zu richten. Fredric fand den Anblick wunderschön. Als würde ein Meisterwerk der Alten Könige vor seinen Augen lebendig.

Die Manöver gingen unbeirrt weiter, auch als Fredric und sein Gefolge den Exerzierplatz überquerten, um eine weitere Treppe zu erreichen, die wieder nach oben führte.

Sie kamen noch an einigen weiteren Soldaten vorbei, die auf dem Weg zu ihren Posten waren und schwere Flachbögen oder Schild und Speer mit sich herumschleppten. Sie verbeugten sich vor Fredric und Trevin, hatten aber offensichtlich Angst vor General Brant, der stets jemanden entdeckte, den er abfällig anschnauzen konnte, dass der Speer nicht richtig gehalten wurde oder der Helm nicht ordentlich geputzt war, bevor er weiterging.

Oben angekommen stand die Gruppe schließlich auf einem Wehrgang, der so breit wie hoch war und aus der Wand eines der Mitteltürme der Festung herausragte, wo er vor gewöhnlichen Angriffen geschützt war. Von hier aus hatten etwa zwanzig Leute einigermaßen bequem Platz, um die östlichsten Burghöfe zu überblicken, die die Burg Kellar zwischen der Festung selbst und der ersten und höchsten Ringmauer umgaben. Der Anblick war identisch mit dem zuvor, nur in vielfacher Ausführung. Mehrere Hundert Soldaten traten in Übungskämpfen gegeneinander an. Ritter von drei verschiedenen Orden, die dem Baronat Kell treu ergeben waren, exerzierten mit ihren Pferden, während Runengolems, brutal aussehende Konstrukte aus Steinrüstung mit eingravierten magischen Symbolen, in offenen Unterständen ruhten und auf die arkanen Verse warteten, die sie zum Kampf rufen würden. Andere Baronate hielten ihre Golems in entlegenen Festungen versteckt, als Rückversicherung für Notfälle. Aber für Kellar waren die Uthuk Y’llan eine sehr direkte Bedrohung.

Die Armeen von Kell mochten dezimiert sein, doch in Fredrics Augen waren sie immer noch der kriegerische Stolz von Terrinoth.

Fredric wollte auf die Brustwehr zugehen und sich hinüberlehnen, um seinen Soldaten zuzusehen, doch ein warnendes Bauchgefühl hielt ihn zurück und er machte einen Schritt rückwärts. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit den Schultern gegen die Turmwand. Zu seiner Linken stand eine lorimanische Balliste auf einer hölzernen Drehscheibe. Sie mochte eines der Geräte sein, die vor achthundert Jahren die Drachen vom kalten Himmel des Ostens geholt hatten. Verehrte Relikte aus einer Zeit, die im Volksgedächtnis von Kell immer noch lebendig war, als sich das Baronat den Feinden Terrinoths tapfer entgegengestellt hatte. Jedes Standbein der Belagerungswaffe war länger als die Spannweite von Fredrics Armen. Die schräge Schiene, in die eine Dreiermannschaft Bolzen laden konnte, war länger als er selbst. Das Holz war so gut eingeölt, dass es glänzte, und mit einer wetterfesten Plane zugedeckt, die im kalten Bergwind flatterte. Sein Rat drängte sich um ihn. Die Pagen, die Unbill trugen, bibberten auf den Stufen.

»Kellar hat ausreichend Truppen«, sagte Urban überflüssigerweise, da sie es selbst alle gesehen und gehört hatten. »Wir haben genug Proviant, um sie für lange Zeit zu versorgen. Derzeit kommt zwar nicht viel Nachschub von den Bauernhöfen, aber das zeigt sich in den Kornkammern nicht so deutlich, wie man erwarten könnte. Kell hat schon immer in erster Linie zähe Männer hervorgebracht.«

»Und noch zähere Hammel«, ergänzte Trevin.

Salter grummelte eine Zustimmung.

Urban fuhr fort: »Es kommen immer noch Händler aus Dhernas und gelegentlich aus Frostgate, um unsere Lager aufzufüllen, wenn auch nur unter schwerer Bewachung von Soldaten, die ich eigentlich nicht von ihren Posten abziehen kann, jetzt wo die östlichen Wachtürme verlassen sind.« Er ging zu einer Tür in der Seite des Turms und öffnete sie, um sicherzustellen, dass niemand dahinter lauerte und sie belauschte. Dann schloss er sie wieder und wandte sich den anderen zu. »Ich habe Gerüchte gehört – von Grenzlandspähern und Rittern der Zitadelle auf Wanderschaft hier in Kell und von Söldnern, die im Süden und Osten unterwegs waren – über Uthuk Y’llan, die sich in großer Zahl in Ru am Lothan entlangbewegen. Ich habe sogar von einer Schlacht gehört, auch wenn ich nicht weiß, wer gekämpft hat und wie sie ausgegangen ist.«

Bei diesen Worten schien der Wind, der durch Fredrics Mantel drang, um einiges kälter zu werden.

Die Uthuk waren die große Bedrohung aus dem Osten. Allerdings waren sie eher eine Legende, auch wenn sie gelegentlich über den Lothan kamen, um entlegene Gehöfte zu überfallen oder auch über den gesetzlosen Staat Letzthafen Handel zu treiben. Seit tausendvierhundert Jahren waren sie nicht mehr bis nach Kellar vorgedrungen und es hatte seither andere Bedrohungen für die Baronate gegeben, die zurückgedrängt worden waren. Aber die Uthuk waren die erste und größte Gefahr gewesen, Leute, die die Dämonen der Ynferneum-Ebene mit Blutritualen und Menschenopfern besänftigten. Sie weckten die Angst vor der Verdammnis in Kindern wie alten Männern gleichermaßen und allein beim Gerücht von einem möglichen Überfall sehnte sich Fredric nach seinem Schild und Schwert.

Zu seiner Überraschung nickte Trevin. »Ich habe ähnliche Berichte gehört.« Der Großmarschall musterte seinen Baron reumütig. »Nicht alle Ritter tragen Rüstung und ich könnte Euch selbst mit allen Einheiten hier in Kellar nicht beschützen.«

»Es sei Euch vergeben«, sagte Fredric. »Aber soweit ich weiß, kann eine Armee den Lothan nur an der Furt von Hernfar überqueren. Es sei denn, sie wählt den Weg über das Dunwarr-Gebirge und kommt über das Baronat Forthyn.«

»Es ist der einzig mögliche Übergang für eine ganze Armee. Aber das heißt nicht, dass nicht kleinere Gruppen oder Einzelne eindringen könnten, jetzt wo die Forts unbemannt und die Berge unbeobachtet sind.«