Deutsche Sagen - Ludwig Bechstein - E-Book

Deutsche Sagen E-Book

Ludwig Bechstein

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Beschreibung

Die klassische deutsche Sammlung des Erbes an Sagen. Inhalte u. a.: Die getreue Alte. Baden und das Wildbad. Die Bärenmühle. Der Baumeister von St. Stephan. Die Belagerung von Neueberstein. Das Bernsteinrecht. Das Bild des großen Christoph im Dom zu Erfurt. Die Braut vom Kynast. Bremer Roland. Die beiden Brüder. Der Burggeist auf Rodeck. Die Clemenskirche. Der Drache auf Drachenfels. Der Drache und der Ritter von Frankenstein. Faust kommt plötzlich von Prag nach Erfurt zu einem Abendessen. Doktor Faust in Auerbachs Keller. Doktor Faust muß die Stadt Erfurt verlassen. Die Eichelsaat zu Dünwald. Elisabeth kommt als vierjährige Braut auf die Wartburg. Elisabeths Mantel. Elisabeths Rosen. Elisabeth speist die Armen. Die heilige Elisabeth wird von der Wartburg vertrieben. Die Entdeckung der Salzquelle zu Halle. Die Entstehung der Porta Westfalica. Die Entstehung des Siebengebirgs. Die Erfindung der Buchdruckerkunst.[*] Die Felsenhöhle. Der Finkenherd in Quedlinburg. Die wilden Frauen im Unterberge. Der Freier auf Freundstein. Die Geißler in Straßburg. Gevatter Tod. Die silberne Glocke. Von dem kleinen Gleichberge bei Hildburghausen. Der Grafensprung.[*] Belagerung von Neueberstein. Die schwarze Gret und das Danewerk. Götzens Turm. Das Himmelreich. Der starke Hermel. Herrgottstritte. Der fliegende Holländer. Hünenspiel. Der ewige Jäger. Jan und Griet. Ida von der Toggenburg. Die Jungfrau auf dem Lurlei. Junker Jörg. Der im Berge schlafende Kaiser. Kaiser Friedrich der Rotbart. Kaiser Karl im Brunnen und im Berge. Kaiser Sigismund und die Straßburger Edelfrauen. Der Kampf der Helden auf dem Wasgenstein. Kämpfe der Thüringer mit den Franken. Karlsruhes Ursprung und Name. Die Kapelle auf dem Stromberg. Alle neun Kegel. Das Kind mit dem Tränenkruge. Der Kinderkreuzzug. Des Rechenbergers Knecht. König Watzmann. Das heilige Land. Der eiserne Landgraf und sein Arzt. Der eiserne Landgraf und sein Arzt. Das Lebenslicht. Die Löwenbraut. Die Mainau. Die Maultasch-Schutt. Sage von Möbisburg. Von der Münchner Frauenkirche. Die Münsteruhr. Nibelung von Hardenberg und der Zwerg Goldemar. Die Legende der heiligen Odilia. Peter von Staufenberg. Ratten vertrieben. Der Raubritter. Regiswindis. Rolandseck. Romeias. Der große Rosenstock am Dom zu Hildesheim. Der Rüde an der Wupper. Schätze der Luchsburg. Schelm von Bergen. Sage vom Schüler Hildebrand. Schwarzkopf und Seeburg am Mummelsee. Schweppermanns Eier und Grab. Die sieben Schwestern. Drei heilige Schwestern. Die Seeräuber. Siegenheim. Siegfried und Mimer. Die Speckermönche zu Düsseldorf. Spottnamen und Schildbürger im Norden. Stavorens Untergang. Sankt Goar. Sankt Sebaldus. Der Tannhäuser. Der eiserne Tisch. Der Titisee. Treuenfels. Trifels. Vineta. Der Volkssänger Augustin in der Pestgrube. Die Walpurgisnacht auf dem Blocksberg. Warum die Blankenburger sonst Eselsfresser genannt worden sind. Die Weiber von Ruffach. Eine alte Weissagung von Straßburg. Woher die »blinden Hessen« und die »Mühlhauser Pflöcke« kommen. Die Wunder der Marienburg. Der Yberg. Die Zerstörung von Hohenkrähen. Der Ziegel vom Waldstein. Der alte Zoller. Der Zweikampf. Die getreue Alte. Baden und das Wildbad. Die Bärenmühle. Der Baumeister von St. Stephan. Die Belagerung von Neueberstein.

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Deutsche Sagen

– die große Sammlung

Ludwig Bechstein u.a.

idb

Die getreue Alte.

Zu Husum sollte einst auf dem Eise ein Winterfest gefeiert werden; denn das Eis war fest. Zelte wurden aufgeschlagen auf der herrlichen blanken Fläche zwischen dem Ufer und der Insel Nordstrand; wer konnte, lief Schlittschuh, Stuhlschlitten flogen dahin, Musik und Tanz, Lied und Becherklang verherrlichten den schönen Tag und die nahe lichthelle Mondnacht, die den Jubel noch vermehren sollte.

Alle waren hinaus aufs Eis und machten sich lustig, nur ein steinaltes Mütterlein war zurückgeblieben, das hatte die Weltlust hinter sich, und wenn es ja wollte, konnte es hinaus und hinab aufs Eis sehen, denn ihr Häuslein stand auf dem Damm. Und sie tat's, sie sah gegen Abend hinaus und sah im Westen ein Wölkchen über die Kimmung heraufziehen. Da befiel sie große Angst; denn sie war eines Schiffers Witwe und kannte die See und die Zeichen von Wetter und Wind. Sie rief, sie winkte – niemand vernahm sie, niemand blickte nach ihr – aber das Wölkchen wuchs zusehends und war ein Bote der Flut und des schnell umspringenden Windes von Nord nach West. Und wenn die auf dem Eise nur noch eine halbe, eine Viertelstunde zögerten, so war es um sie getan, so stand Husum menschenleer. Wie die Wolke wuchs, zusehends, riesengroß, schwarz – wie sie schon den lauen Windhauch spürte, wuchs der Alten unsägliche Angst – und sie war allein, krank, halb gelähmt, machtlos! Dennoch ermannt sie sich, kriecht auf Händen und Füßen zum Ofen, nimmt einen Brand, zündet das Stroh ihres eigenen Bettes an und kriecht zur Türe des Häuschens hinaus. Bald schlägt die Flamme aus dem Fenster, hinauf zum Dach, des Sturmes Odem facht hellodernde Glut an, und: »Feuer! Feuer!« schreit es auf dem Eise. Die Zelte werden verlassen, die Schlittschuhläufer fliegen dem Strande zu, die Schlitten lenken sich heimwärts. Und da faucht schon der Wind über die Eisfläche, da pocht's schon drunten und poltert's, und wie Kanonendonner kracht das Eis in der Ferne. Die schwarze Wolke überzog den Mond und den ganzen Himmel, wie ein Leuchtturm flammt das Haus der Witwe und zeigt den Heimwärtseilenden die sichere Bahn. Wie die Letzten am Strande sind, rollt die Flut ihre Wogen über das Eis und reißt Zelte und Tonnen, Wagen und Zechgeräte in ihre rauschenden Wirbel.

Die arme Alte hatte ihr Häuschen geopfert, die Bewohner ihrer Stadt zu retten. Es wird ihr ja wohl nicht unvergolten geblieben sein.

Aloys Wilhelm Schreiber

Baden und das Wildbad.

Einst hüteten Hirten ihr Vieh in der Nähe des Herrnwieser Sees. Da stieg ein schwarzer Stier aus demselben hervor und gesellte sich zu den andern Rindern. Aber alsbald kam ein kleines Männlein nach, in Rattenpelz gekleidet, um den Stier zurückzuholen. Dieser wollte nicht gehorchen; da bat das Männlein zwei von den Hirten, sie möchten ihm doch den Stier in den See treiben helfen. Diese waren dazu bereit; es gelang ihnen, den Stier bis an den Rand des Sees zu treiben, von wo er sich augenblicklich in das Wasser stürzte und nicht mehr gesehen wurde. Das Männlein im Rattenpelz aber sagte zu den Knaben: »Hier schenke ich jedem von euch einen Stein; wohin ihr ihn werfen mögt, da entspringt auf der Stelle ein warmer Quell, der heilsame Kräfte besitzt für manches Leiden der Menschen.« Die Knaben nahmen die Steine und bewahrten sie lange auf. Zufällig kam später einer derselben in das Tal, wo jetzt Baden liegt, und ruhte sich aus auf dem Hügel, auf welchem die meisten und wärmsten der Heilquellen Badens entspringen. Da gedachte er plötzlich des Steins, den er vom Seemännlein erhalten, nahm ihn aus der Tasche, ließ ihn den Felsen, auf welchem er saß, hinabkollern, und siehe, da wo der Stein den Felsen berührte, öffnete sich eine Spalte, aus welcher heißes Wasser quoll. So entstanden der Ursprung, die Höllenquelle und die Klosterquelle in Baden. Der andere Hirt aber warf, seinen Stein in dem Tale nieder, wo das Wildbad hervorsprudelt.

Moritz Bermann

Die Bärenmühle.

In der Umgegend von Gundershofen im Elsaß soll eine Mühle stehen, die den Namen »Bärenmühle« führt. Der Name kommt auch sonst vor, zum Beispiel in der Nähe von Wien. Von dieser Mühle wird folgendes Abenteuer erzählt:

Damals gehörte die Mühle dem Meister Johann Wachtel. Es war demselben aber unmöglich, seine Müllerburschen länger als zwei Tage zu behalten, denn ein Bär besuchte jede Nacht die Mühle und jagte ihnen großen Schrecken ein. Da kam einmal ein starker und beherzter Bursche, namens Andreas Luftig, ein Mann, der durch seine außerordentliche Stärke in den Fäusten in der ganzen Gegend berühmt war, so daß kein Bursche mit ihm zu raufen wagte. Der hatte auch von dem Bärenspuk gehört und bot um guten Lohn und Kost dem Müller seine Dienste an. Er trat auch alsbald bei ihm ein und sollte schon in der nächsten Nacht mahlen.

Nun kam an diesem Abend der Müllermeister spät vor seinem Hause an, als ihn plötzlich der Bär überfiel. Wachtel war ein kräftiger Mann, der sich rüstig und mutig gegen seinen zottigen Gegner zur Wehr setzte; aber Meister Petz war ein gewaltiger Kumpan, der ihn bald überwältigt und zu Boden geworfen hatte. Als nun der Meister aus Leibeskräften um Hilfe rief, öffnete sich ein Fenster im ersten Stockwerk des Mühlengebäudes und heraus sah der neue Knecht des Müllers, Andreas Luftig. Der erkannte die gefährliche Lage, in welcher sein Herr sich befand; über die Stiege zu laufen oder die sämtlichen Knechte zu wecken, um dem Meister Beistand zu bringen, war des Zeitverlustes wegen nicht ratsam. Er besann sich daher nicht lange, sondern sprang flugs zum Fenster hinaus, hinab auf die Straße.

Der Sprung brachte ihn aber zufällig auf den Bären selbst, auf dem er wie auf einem Pferde zu reiten kam. Der Knecht schlang sogleich seinen rechten Arm um den Hals des Tieres und schnürte ihn mit seiner Riesenkraft dergestalt zusammen, daß Meister Petz den Müller losließ, da ihn das ungewohnte Halsband furchtbar einschnürte. Aber so leichten Kaufes sollte er nicht davonkommen. Luftig nahm auch seine andere Faust zu Hilfe, und in diesen beinahe eisernen Klammern erstickte endlich das Untier.

Der Müllermeister war gerettet und umarmte dankbar den wackeren Knecht, ihm jede Belohnung, die er haben wollte, zusagend. Der bescheidene Müllerbursche erbat sich indes nur die Haut des Bären zum Lohne, aus welcher er sich einen Pelz machen ließ, den er beständig am Leibe trug, mit dem Unterschiede, daß derselbe im Sommer an einer Stahlkette befestigt über die Schulter herabhing. Von diesem Schmucke erhielt er denn auch den Beinamen »Bärenhäuter« und trug denselben bis an sein seliges Ende.

Der Müller aber ließ den Bären an seiner Mühle abbilden, welche davon die Benennung »Bärenmühle« erhielt.

Moritz Bermann

Der Baumeister von St. Stephan.

Der St. Stephansdom zu Wien, dieses herrliche Denkmal altdeutscher Baukunst, ist die vorzüglichste gotische Kirche in ganz Österreich. Mit Liebe und Innigkeit blickt das lebende Geschlecht auf den stolzen, altersgrauen Zeugen der Vergangenheit. Mitunter allerdings durchfröstelte die alte Zeit das graue Gebäude; es löste sich eine verwitterte, längst abgeblühte Rosette von dem Gemäuer und zerfiel zerstäubt auf das Pflaster herab; ja der alte Turm selbst hat sich schon wie zur Ruhe geneigt, und es schien, als sei ihm der Sturm in den heitern Höhen zu arg und als sehnte sich der Riese nach der längst vermißten Mutter Erde. Aber da kam ihm die Gegenwart zu Hilfe. Ein »Dombauverein« entstand, neue Giebel haben seine Seite geschmückt, die Spitze wurde ihm neu aufgesetzt, und die Baumeister der Gegenwart haben nach Jahrhunderten dort wieder gewaltet und geschaltet, wo die Baumeister aus alter, großer Zeit ihr unsterbliches Werk gegründet und vollbracht hatten.

Besonders berühmt ist der hohe, schlanke Turm zu St. Stephan, das eigentliche Wahrzeichen von Wien. Von ihm sagt ein altes Sprichwort: »Wien hat viele Türme, aber nur einen St. Stephan«. Von welcher Weltgegend immer, Süd und Südwest ausgenommen, der Reisende kommen mag, so wird er, bevor er von der Stadt nur das geringste wahrnehmen kann, doch schon den grauen Turm erblicken, der ihm den Platz ankündet, wo Wien liegt. Der Wiener kann sich seine Vaterstadt ohne Stephansturm, auf den er so stolz ist, gar nicht denken, und sie schien ihm verwaist, als die baufällig gewordene Spitze zweimal im vorigen Jahrhundert, 1839 und 1860, abgetragen werden mußte. Wie freute sich aber jeder Wiener, als die erneuerte Spitze nach den alten Plänen wieder vollendet war!

Es ist daher an der dankbaren Nachwelt, des Meisters zu gedenken, der den Turm erbaut hat, des Baumeisters Hans Puchsbaum.

Am Orgelfuß ist er im steinernen Brustbild zu schauen; er blickt herab mit edlen, gedankenvollen Zügen. Die großen Augen muß einst ein tiefes, leuchtendes Feuer erfüllt haben, in den Wangen liegen die Falten des Grams, der Arbeit; lang und schlicht wallt das Haar herab und kräuselt sich über der Stirne; das malerische Gewand der alten Tage liegt kleidsam um die wohlgebauten Glieder. Wie man ihn auch des Ruhmes entkleiden wollte, als sei er nicht der Begründer des unausgebaut gebliebenen Turmes, wie man ihm seinen Anteil auch bestreiten wollte an der Vollendung des Langhauses als leitender Werkmeister – Hans Puchsbaum ist für das Volk und seine Sage doch die volkstümliche Gestalt des Domes und seiner Geschichte bis zum heutigen Tage geblieben.

Hans Puchsbaum, genannt Hennslein der Wurmitzer, Werkmeister am Dome zu Stephan, war der Gehilfe des Baumeisters Peter von Prachatitz, der den Bau bis zum Jahre 1429 leitete. Er mochte damals 29 Jahre alt sein und war Wohl in der Jugend ein schöner, schmucker, liebreizender Geselle, voll Anstand und Kraft, voll feinen Wesens. Seinem Herrn war er ein treuer Diener. Es lag ihm das Werk am Herzen, und er schuf und wirkte daran mit treuem Fleiß und reger Ausdauer. Da starb der geliebte Meister, und es kam ein anderer nach, genannt Hans von Prachatitz, und dieser warf grimmigen Haß auf den strebsamen Gehilfen. Er sah in ihm einen Nachfolger, der seinen Ruf verdunkeln könnte, und beschloß in seiner schwarzen Seele sein Verderben.

Hans von Prachatitz, der düstere Mann, hatte eine wunderliebliche Tochter, Marie mit Namen, die oft und viel den Bau zu beschauen kam und mit ihm den eifrigen Gesellen, der an ihm wirkte und schuf. Puchsbaum warb um ihre Hand beim Vater, aber dieser setzte höhnisch dem Gesellen die Aufgabe, er müsse in kürzest angegebener Frist auch den zweiten Turm erbauen, dann würde Marie seine Gattin. Dem Puchsbaum brach ob dieser Antwort schier das Herz; aber er faßte sie als ernste Wahrheit auf. Sinnend und trübsinnig, ratlos schlich er umher. Da nahte sich ihm der Böse, der damals in Wien und in der Welt noch in menschlicher Gestalt umherging, wie man meinte, und Hans Puchsbaum, in der Sinne Verwirrung, in des Herzens Gram, verschrieb sich ihm. Es war die einzige Bedingung, die der Böse dem Puchsbaum auferlegt hatte, nie den Namen des Herrn, der heiligen Jungfrau oder eines aus der Schar der Heiligen auf dem Bau zu nennen. Darauf war Hans Puchsbaum eingegangen, alsbald förderten unsichtbare Hände den Bau, daß er bald seiner Vollendung nahe war.

Da, an einem heitern, stillen Abende beschlich den Puchsbaum der Stolz über sein Werk; er stieg hinauf auf die oberste Spitze des Gerüstes und blickte auf den mächtigen Bau. Tief unten war es dämmerig, einsam, der Platz wie verlassen, ringsum lagen die Steine, lagen Baugeräte, und aus der fernen Bauhütte tönte vollstimmiger Gesang. Da war es dem Puchsbaum, als träte aus dem Schachte eine schlanke, weiße Gestalt, die langsam näher käme, und er vermeinte seiner geliebten Braut Maria holde Züge zu erkennen. Mit erhobenen Armen, in jubelndem Selbstvergessen rief er den Namen, rief er »Maria« in die Lüfte – da war das Wort gebrochen, hinter ihm erhob sich dunkel, glühend die Gestalt des Bösen und warf zürnend den Puchsbaum vom neuerbauten Turme auf den Platz hinab.

An dem Turme aber ward nicht fortgebaut, und die Sage erhielt sich bis auf die neueste Zeit, wenn auch andere Meinungen sich kundgaben, nach denen es der neidische Bauherr Hans von Prachatitz selbst gewesen sein soll, der die düstere Tat vollbrachte.

Aloys Wilhelm Schreiber

Die Belagerung von Neueberstein.

Im Jahre 1357 geriet Graf Eberhard von Württemberg mit dem Grafen Wolf von Wunnenstein, der gleißende Wolf genannt, in eine schwere Fehde, in welche auch Wolfs Bruder, Graf Wilhelm auf Neueberstein, verwickelt wurde. Der Württemberger zog mit großer Heeresmacht vor Alteberstein und zerstörte die Burg. Fast zu derselben Zeit entstand aber auch eine große Unzufriedenheit unter dem schwäbischen Adel, und dieser errichtete einige Jahre später einen Bund unter dem württembergischen und benachbarten Adel, welcher der Bund der Schlegler oder Martinsvögel genannt wurde. Haupt desselben war Graf Wolf von Wunnenstein, der mit einigen Fehdegenossen einen Anschlag auf Graf Eberhard machte. Letzterer hielt sich damals mit seinem Sohne in Wildbad auf, und die Verschworenen hatten so gute Kundschafter, daß ihr Plan auf Vater und Sohn kaum mißlingen konnte. Beide wurden jedoch, als das Städtlein bereits in den Händen der Feinde war, durch einen Hirten gerettet, der sie schleunigst unbekannte Gebirgswege führte.

Eberhard klagte die Ebersteiner und ihre Mitverbündeten bei dem Kaiser als Landfriedensbrecher an; dieser ernannte den Grafen von Öttingen als Richter, und der Graf lud die von Eberstein und ihre Helfer vor seinen Richterstuhl, aber niemand erschien. Jetzt wurde vom Kaiser die Acht gegen sie ausgesprochen, und es erging an einige Herren, an Straßburg und die Reichsstädte in Schwaben der Befehl, mit ihren Truppen zu Graf Eberhard zu stoßen, dem man gestattete, die Reichsfahne zu führen. Aber Markgraf Rudolf von Baden begünstigte heimlich seine Vettern, die Ebersteiner, und Pfalzgraf Ruprecht von der Pfalz erklärte, die Grafen von Eberstein seien verurteilt worden, ohne daß man sie gehört habe; außerdem sei Graf Wilhelm von Eberstein sein Lehensmann und er müsse diesen schützen.

Unterdessen zog Graf Eberhard mit Truppen der Reichsstädte vor Neueberstein; der Pfalzgraf schlug einen Vergleich durch Schiedsrichter vor und begab sich selbst in das Lager vor Eberstein. Eberhard wollte aber keinen der vorgeschlagenen Schiedsrichter annehmen.

Auf Neueberstein führte Wolf von Wunnenstein den Befehl. Von ihm war der erste Gedanke zur Stiftung des Bundes der Martinsvögel ausgegangen, und Eberhard hatte deshalb seine Burg im Vottwartale niedergebrannt. Er besaß eine Tochter, Ida mit Namen, die er mit sich nach Eberstein nahm, weil er sonst nirgends Sicherheit für sie wußte. Graf Wilhelm von Eberstein hatte sich nach Baden geflüchtet und ihm die Verteidigung der Burg anvertraut, weil er ein einsichtsvoller, tapferer Krieger war.

Unter den Belagerungstruppen des Grafen Eberhard befand sich auch ein Fähnlein aus Heilbronn, welches von einem jungen, in der Reichsstadt angesessenen Edelmanne, Georg vom Stein, angeführt wurde. Der junge Rittersmann hatte längst für die schöne Ida eine heftige Leidenschaft gehegt und auch Gelegenheit gefunden, ihr seine Liebe zu erklären. Ida war gegen ihn nicht gleichgültig; das wußte ihr Vater, und darauf baute er einen Plan zur Rettung von Eberstein. Er ließ Graf Eberhard wissen, wie er geneigt sei, eine Kapitulation abzuschließen; man möge ihm daher den Ritter vom Stein als Unterhändler schicken, denn nur mit diesem allein werde er einen Vertrag schließen. Eberhard willigte ein, und Georg, nachdem er vorher die feierliche Zusicherung freien Geleites erhalten, begab sich nach der Burg. Der Wunnensteiner stellte ihm jetzt vor, wie Graf Eberhard ebensowohl der Feind der Reichsstädte als des Adels sei, wie er nach und nach beide sich unterwürfig machen werde. Nur um ihrer Freiheit willen hätten ja die Schlegler sich verbunden, und ihr Bund sei ebensowohl zum Frommen der freien Städte als des Adels geschlossen. Georg schien das einzusehen, denn in der Tat war Eberhard ebensowenig ein Freund der freien Städte als der Ritterschaft. Während der Unterredung trat Fräulein Ida ins Gemach.

»Ihr hier, Herr vom Stein?« sagte sie errötend.

»Ihr hättet mich wohl nicht hier erwartet,« bemerkte der Ritter.

»Wenigstens nicht unter unseren Feinden,« erwiderte das Fräulein.

Der Ritter geriet in die größte Verlegenheit. Er beteuerte, daß er noch immer sein Leben einsetzen werde zur Erhaltung des ihrigen.

»Das sind eitle Versicherungen,« versetzte Ida. »Sagt, was wird meines Vaters Los und das meinige sein, wenn vielleicht Eberstein durch Sturm genommen werden sollte?«

»Neueberstein soll nicht gestürmt werden!« rief Georg, »und Ihr, Ida, und Euer Vater sollt nicht in die Hände Eurer Feinde fallen!«

»Wie wollt Ihr Eurem Worte Kraft geben?« fragte der Wunnensteiner.

»Wie? Das ist meine Sache,« entgegnete der Anführer, »aber laßt mich die Hoffnung mit mir nehmen, daß, wenn Ihr wieder frei seid, Ida meiner noch in Liebe gedenken wird.«

»Rechnet auf die Dankbarkeit des Vaters und der Tochter,« erwiderte der Wunnensteiner, und Georg schied, von dem Liebreiz des Fräuleins noch fester gefesselt als zuvor.

Bei seiner Zurückkunft ins Lager gab er Graf Eberhard Nachricht von dem Erfolg seiner Sendung. »Die Belagerten,« sagte er, »suchen nur Zeit zu gewinnen, und scheinen auf Hilfe vom Pfalzgrafen und Markgraf Rudolf von Baden zu rechnen!« Gegen die Führer der reichsstädtischen Fähnlein dagegen führte er eine andere Sprache. Er machte sie aufmerksam auf die wachsende Macht des Württembergers, der auch die freien Städte unterjochen werde, wenn er erst den Adel bezwungen hätte. »Wir arbeiten,« setzte er hinzu, »an unserem eigenen Untergange und opfern unsere besten Kräfte für einen gefährlichen Feind, dessen ehrgeizige Absichten keinem von euch verborgen sein können.«

Diese Worte wirkten umso stärker auf die reichsstädtischen Führer, je unzufriedener sie schon über den langsamen Gang der Belagerung waren, und da ohnehin schon längst unter vielen ein Mißtrauen gegen den Grafen von Württemberg herrschte. Georg suchte zugleich die Nachricht zu verbreiten, der Pfalzgraf bereite einen Einfall in Schwaben vor. Dies alles hatte denn auch zur Folge, daß eines Morgens sämtliche Anführer des reichsstädtischen Zuzugs in sein Zelt traten und ihm ihren Entschluß erklärten, mit ihren Truppen heimzuziehen, wenn er sich ihnen anschließen wolle. Nach einigen unbedeutenden Einwürfen, unter welchen Georg seine Freude über die gelungene List zu verbergen suchte, wurde beschlossen, diesen Beschluß zuerst dem Grafen und dann ihren Truppen zu eröffnen und am nächsten Morgen abzuziehen. Eberhard bat und zürnte und tobte, versprach und drohte, alles war umsonst, zumal als die Soldaten erfuhren, was vorging. Alles schrie: »Nach Hause, nach Hause!« und dem Grafen von Württemberg blieb nichts anderes übrig, als ziehen zu lassen, was er nicht zurückhalten konnte. Am andern Morgen, vor Anbruch der Dämmerung, verließen die Truppen der Städte Augsburg, Heilbronn, Eßlingen, Straßburg, Ulm, Nördlingen und anderer das Lager und zogen in tiefer Stille ab, um die Belagerten nicht aufmerksam zu machen. Diese erfuhren aber bald, was vorgegangen war, und machten häufige Ausfälle, so daß sich Graf Eberhard zu schwach fühlte, die Belagerung mit Erfolg fortzusetzen. Wenige Tage nach dem Abzuge der Hilfstruppen hob er die Belagerung auf und kehrte in sein Land zurück. Georg vom Stein vergaß seiner Geliebten nicht. Als Eberstein wieder frei war, begab er sich selbst dahin, und seine Werbung wurde vom Vater und der Tochter freundlich aufgenommen, denn er hatte ja Wort gehalten.

Ludwig Bechstein

Das Bernsteinrecht.

Am Gestade des Frischen Haffs war vor Zeiten das edle Naturgeschenk des Bernsteins überaus reich. Aber der Menschen Habgier schmälert gar oft den Gottessegen. Sonst konnte den Bernstein, den die See an den Strand warf, auflesen wer wollte, aber das ist schon lange her. Als der Marienorden in das Samland kam, eignete er sich den Alleinbesitz des Bernsteins zu, und Bruder Anselmus von Losenberg, der Vogt auf Samland, machte ein neues Recht und Gesetz, daß jeden Sammler, der nicht vom Orden Erlaubnis oder Auftrag habe, die Strafe des Stranges treffen sollte. Das ging dem Volk schwer ein, daß es nicht aufheben sollte, was verstreut am Boden lag und keines Menschen Eigentum war, insonderheit dem Volke der Fischer, denen es leicht geschehen konnte, daß eine Meereswelle ihnen ein Stück oder mehrere in Boot und Nachen warf. Aber der Vogt hielt unerbittlich auf seinem Gesetze, und wer zur Anzeige kam und geständig war, daß er Bernstein aufgehoben, ward ohne Gnade am nächsten besten Baum aufgehenkt. Als aber Anselmus, der Vogt, gestorben war, hat es nicht gut um die Ruhe seiner Seele gestanden. Man hat seinen irren Geist in Sturmnächten, in denen die See den meisten Bernstein auswarf, am Strande wandeln sehen und ihn rufen hören: »O mein Gott! Bernstein frei! Bernstein frei!«

Und seit so viele Menschen um des Bernsteins willen eingekerkert, gequält und hingemordet worden sind, ist des Bernsteins viel, viel weniger geworden, und die See wirft nicht den tausendsten Teil so viel mehr aus als früher. Es war eine Zeit, da baute und bildete man aus Bernstein Altäre, Heiligenstatuen, große Prunkschreine und kostbare Gefäße, hoch und weit und voll köstlichen Zierates, was heutzutage nur noch selten gemacht werden kann, man bildet nur allerlei kleines Geräte und Tand daraus.

Bisweilen sehen die beutesüchtigen Strandreiter und Wächter große, herrliche Stücke in Ufernähe herumschwimmen, wenn man aber mit den Gezeugen hinrudert und sie einfischen will, ist's ein Blendwerk und ein Schaum.

Scharlach und Haupt

Das Bild des großen Christoph im Dom zu Erfurt.

An einer Wand der Domkirche zu Erfurt ist in Riesengröße der große Christoph dargestellt, wie er das Jesuskind durch den Fluß trägt. Nach der Sage war der große Christoph ein starker, wilder Riese, der jedem, den er auf seinem Wege traf, zu Leibe ging, und immer siegte. Nun wollte er zwar gern dienen, aber nur einem solchen Herrn, der mächtiger und stärker sei als die andern alle, und den fand er immer nicht. Er diente einem mächtigen Könige, der fürchtete den Teufel; er diente dem Teufel, der aber fürchtete das Zeichen des Kreuzes. Da nahm er sich vor, dem Herrn Christus seine Dienste anzubieten; aber wo sollte er ihn finden? So stellte er sich an das Ufer eines großen Flusses und trug die Menschen, die hinüber wollten, durch das Wasser. Das war sein Tagewerk. Da kam einst ein Kind an den Fluß und bat ihn, daß er's auch hinübertrüge. Und da er's auf den Rücken nahm und in das Wasser schritt, da wurde ihm die Last immer schwerer, daß er fast zusammenbrach. Und als er sich darüber verwunderte, sprach das Kind: »Wundere dich nicht, denn du trägst Christum, den Herrn des Himmels und der Erde.« Da beugte sich sein stolzer Sinn; er diente fortan diesem Herrn und ward ein frommer Christ.

Ludwig Bechstein

Die Braut vom Kynast.

Auf der Burg Kynast über Hermsdorf saß ein Ritterfräulein, Kunigunde genannt, das war eine grimme Männerfeindin. Allen Bewerbern um ihre Hand legte sie eine Mutprobe von so gefahrvoller Art auf, daß ihr Bestehen schier unmöglich war; sie sollten auf der hohen und schmalen Burgmauer rings um die Burg reiten; wenn sie es versuchten und es ging noch so gut, sobald sie an die Stelle der Mauer kamen, die man noch heute die Hölle nennt, wo der Abgrund zu steiler Tiefe sich jäh absenkt, schwindelten Roß und Mann und stürzten zerschmettert in die Tiefe. Das eben, und nichts anderes, wollte Kunigunde. Viele Ritter hatten schon auf diese grausame Weise ihr Leben verloren, doch hatte der Ruf davon noch nicht alle Freier abgeschreckt; angezogen von Kunigundens stolzer Schönheit und vielleicht mehr noch vom kalten Mammon in ihren Kisten und Kästen, mehrte sich die Zahl der betörten Opfer. Da geschah es, daß ein Landgraf von Thüringen – einige sagen Albert, andere nennen dessen Sohn Friedrich den Freudigen – daheim auf seinem Wartburgschloß ein gefährliches Kunststück übte; er umritt die Mauer seines Schlosses täglich einmal und gewöhnte sein treues und kluges Roß an sichern Blick und Tritt; denn hoch über Felsenabgründen hebt sich der Wartburg alter Bau. Endlich ritt der Landgraf von Thüringen mit einem reisigen Zuge nach Schlesien zum hohen Kynast hinan und ließ sich als ein Ritter aus Thüringen melden. Als Kunigunde den herrlichen Mann sah, wurde ihr wunderbar zu Sinne, ihr starres Gefühl ward weich, sie liebte den noch jugendlichen Ritter und beschwor ihn flehend, den Ritt nicht zu versuchen. Allein er ließ sich nicht davon abbringen, er wagte den Ritt und bestand glücklich das gefährliche Abenteuer. Jubelnd flog ihm Kunigunde entgegen, all ihr Sehnen war gestillt, ihm allein wollte sie angehören, gern und freudig, ihm wollte sie ein liebendes Weib sein. Aber mit Ernst und Strenge im Blick wehrte der Landgraf ihr Umfangen von sich ab und sprach Worte zu ihr, die sie in ihrem Gemüt aufs tiefste erschütterten. Darunter war die Nachricht, daß er bereits glücklich vermählt sei, für sie das härteste Wort. Wie er als Rächer so vieler Opfer stolz von dannen ritt, da soll Fräulein Kunigunde die Mauer erklommen und ihm nachgesehen haben, so lange als ihr nur möglich, dann habe sie sich freiwillig in die Hölle hinabgestürzt. Andere haben die ernste Sage scherzhaft gewendet und sagen, Kunigunde habe sich vor Schrecken in das häßliche Holzbild verwandelt, das noch heute als »Braut vom Kynast« den Reisenden zum Kusse angeboten wird; wer es aber nicht küssen will, dieweil es statt der Haare und Augenbrauen mit der Haut eines Stacheligels aufwartet, der muß sich mit kleinem Gelde lösen.

Ludwig Bechstein

Bremer Roland.

Auf dem großen und weiten Marktplatz zu Bremen steht eine uralte Rolandsäule, die ist das Zeichen der Freiheit dieser Stadt, die nimmer vergehen soll, so lange das alte Heldenbildnis steht. Die Sage geht, daß für den Fall, daß je ein Naturereignis den Roland niederstürze, im Ratskeller noch ein zweiter Roland als Ersatzmann aufbewahrt werde; es müsse solcher jedoch innerhalb 24 Stunden aufgestellt werden, sonst sei es getan um die Bremer Freiheit. Am Rolandbilde steht diese Schrift:

Friheit do ick juopenbar Da Carl on mannig Fürst vorwar Deser Stadt gegefen hat Deß danket Got ist min Rat.

Unten aber am Rolandbilde wird die Figur eines Krüppels erblickt als ein Wahrzeichen, an welches diese Sage geknüpft ist: Es war eine Gräfin von Lesmon, die war reich an Land und Gütern und besaß eine ausgedehnte, stattliche Weidefläche. Da es nun dem Stadtrat an einer solchen gebrach, ward sie angegangen durch des Rates Abgeordnete, ihm ein Stück davon kauf- oder lehensweise abzutreten. Da nun darüber die Gräfin mit den Herren Gesprächs im Freien pflog, kroch ein elender Krüppel heran und bat die reiche Gräfin um ein Almosen. Dieses dem Krüppel darreichend, sprach die Gräfin lächelnd zu den Ratsverwandten: »Ich will der guten Stadt Bremen von meiner Weide so viel zum Geschenk machen, als dieser Lahme in einem Tag umkriechen kann.« Sie meinte damit nicht allzuviel zu verschenken, und der Rat meinte auch nicht zu viel zu erlangen, denn das Kriechen des armen Krüppels war gar jämmerlich anzusehen. Aber als ihm nun guter Lohn verheißen ward, fing der Krüppel an so munter und rasch zu kriechen, daß jedermann sich verwunderte; denn er war, obschon lahm, doch stark von Knochen und von rüstiger Kraft, und so umkroch er die ganze große Bürgerweide, die noch heute der Stadt Eigentum ist. Der hohe Rat bedankte sich bei der Gräfin aufs beste, verpflegte den Krüppel lebenslänglich und ließ zum ewigen Andenken dessen Bild unter dem Bilde der Stadtfreiheit, am Roland, anbringen.

Die beiden Brüder.

Unter Hirzenach liegen auf jähen, mit Reben bewachsenen Felsen die zerfallenen Burgen Liebenstein und Sternenfels, welche insgemein die Brüder genannt werden. In den alten Zeiten der deutschen Tapferkeit und Minne lebte hier ein Ritter, der zwei Söhne hatte, die er sorgsam erzog. Mit den beiden Knaben wuchs ein Mägdlein heran, das elternlos war, aber reich an Besitztümern. Ihre Jugend ging in herrlicher Blüte auf, und beide Brüder liebten sie, aber ein jeder trug seine Liebe stillverschwiegen in sich.

Die Jungfrau kam nun in das Alter, in dem sie sich verheiraten sollte; und der Vater machte ihr den Vorschlag, unter seinen Söhnen zu wählen. Es war ihr nicht verborgen geblieben, daß in beiden dieselbe Neigung glimme, und sie wollte daher durch ihre Wahl keinen betrüben. Da bat sie der ältere Bruder, der sie dem jüngern geneigter glaubte, selbst, sich für diesen zu entscheiden.

Der alte Ritter segnete seine Kinder und legte ihre Hände ineinander, doch sollte der Tag der Trauung noch auf eine gewisse Zeit hinaus verschoben werden.

Der ältere Bruder sah das Glück des jüngeren ohne Neid, aber die Ruhe war aus seinem Herzen gewichen, und die Jungfrau kam ihm seit ihrer Verlobung nur noch liebenswürdiger vor. Er faßte daher den Entschluß, sich zu entfernen, und ging nach Rense zu dem Fürsten, der ihn gern in sein Gefolge aufnahm.

Um diese Zeit kam der heilige Bernhard an den Rhein und predigte das Kreuz. Fast von allen Burgen zogen Edle nach Frankfurt, wo Kaiser Konrad den frommen Abt dem Volke vorstellte, und ließen sich mit dem Kreuze bezeichnen. Bald wehte von allen Schlössern am Rhein die Fahne mit dem Zeichen des Erlösers, und täglich sah man zu Wasser und zu Land fröhliche Scharen wandern, die nach dem gelobten Lande zogen. Auf den jüngeren Bruder wirkte dies Beispiel mit unwiderstehlicher Gewalt, und er beschloß, gleichfalls nach Palästina zu ziehen und erst bei seiner Heimkehr seine Verlobte zum Altare zu führen. Der alte Vater schüttelte den Kopf, die Jungfrau suchte Tränen zu verbergen; aber der junge Ritter blieb bei seinem Vorhaben, sammelte ein Fähnlein und führte es nach Frankfurt zum Kaiser.

Der Vater starb bald darauf, und jetzt kehrte der ältere Sohn von Rense auf seine väterliche Burg zurück. Seine Liebe wollte wiederkehren in ihrer ganzen Stärke, aber er meisterte sie dadurch, daß er die Jungfrau gewissenhaft als seine Schwester betrachtete. – Zwei Jahre waren bereits vorübergegangen, als die Nachricht kam, daß der jüngere Bruder aus Palästina zurückkehre und eine schöne Griechin mit sich bringe, die ihm angetraut sei. Seine Verlobte versank in stillen Kummer und faßte den Entschluß, in ein Kloster zu gehen.

Der ältere Bruder aber entbrannte in edlem Zorn; er warf dem Boten, den der jüngere vorausgesandt hatte, den Handschuh vor die Füße und sagte: »Dies ist meine Antwort.« Zugleich rief er seine Mannen auf und traf Anstalten zum ernstlichen Kampfe.

Der Kreuzfahrer langte mit der Griechin auf der benachbarten Burg Sternenfels an, welche sein Vater für ihn erbaut hatte. Alsbald begann zwischen den beiden Brüdern eine blutige Fehde, und sie forderten sich schließlich zum Zweikampf heraus. Da trat die Jungfrau mit der Milde eines Engels zwischen sie und versöhnte sie miteinander. Hierauf schied sie aus dem friedlichen Aufenthalt ihrer Kindheit und nahm den Schleier.

Stille Trauer schwebte von nun an über den Zinnen von Liebenstein, aber auf Sternenfels war der Sitz lärmender Freude. Die Schönheit der Griechin und die Anmut ihres Umgangs zogen alle jungen Ritter der Gegend an, und sie ließ sich ihre Huldigungen gern gefallen.

Der ältere Bruder sah das Unglück des jüngern, ehe es dieser selbst erkannte, und verschaffte ihm Gelegenheit, sich von der Untreue seiner Gattin zu überzeugen. Der junge Ritter schnob Rache und wollte die Griechin ermorden, aber sie entfloh noch zur rechten Stunde.

Jetzt schloß der Ältere den Verzweifelnden in seine Arme und sprach zu ihm: »Laß uns miteinander ehelos leben und dadurch den Schmerz der edlen Jungfrau ehren, die ihre Jugend im Kloster vertrauert.« Sie gaben sich die Hände darauf und blieben unverehelicht und ungetrennt bis an ihr Ende. Mit ihnen erlosch ihr Stamm. Traurig blicken die Trümmer ihrer Burgen ins Tal herab und heißen noch heute » die Brüder«.

Aloys Wilhelm Schreiber

Der Burggeist auf Rodeck.

Ungefähr eine Stunde von der Stelle, wo Türennes Denkmal steht, zieht sich im Gebirge ein wildes, stark bevölkertes Tal hin, das von einem kühnen, mutigen Menschenschlag bewohnt wird. In diesem Tale steht auf einer Höhe das Schloß Rodeck, von welchem sich folgende Sage erhalten hat:

Zur Zeit des Bauernkrieges wohnte auf dem Schloß ein Burggeist. Es war ein gutmütiger Knirps, der es nur übelnahm, wenn man über seine Gestalt spottete oder irgend etwas Unrechtes tat. An der Familie auf Rodeck hing er mit großer Liebe. Als der unselige Bauernkrieg sich auch über den Schwarzwald verbreitete, sah der Edelmann auf Rodeck wohl ein, daß er sein Schloß nicht werde verteidigen können, und wußte keinen Rat. Gattin und Kinder jammerten, und das treue Gesinde nahm warmen Anteil an ihrem Kummer. Da kam eines Tages der Zwerg und berichtete dem Ritter, er habe im Gebirge eine unbekannte Reihe unterirdischer Felsenkammern entdeckt, der Eingang sei mühevoll und kaum auszuspähen. Dahin sollte sich der Rodecker mit seiner Familie und seinen Kostbarkeiten flüchten, auch die nötigen Lebensmittel nicht vergessen.

Der Vorschlag wurde mit Freuden angenommen. Die meisten Knechte und Mägde hatten bereits das Schloß verlassen und waren den Bauern zugelaufen, auf die Treue der wenigen, die zurückgeblieben, konnte der Rodecker zählen. Die Wanderung ins Gebirge geschah in der Nacht; nur der Zwerg wollte nicht mit und verlangte, man sollte ihm die Hut des Schlosses anvertrauen. Der Edelmann willigte ein, denn er mußte erwarten, daß es ohnedies von den Bauern niedergebrannt werden würde.

Kaum hatten die Auswanderer die Mauern von Rodeck hinter sich, als der Zwerg eiligst die Gräben mit Wasser füllte und die Brücke aufzog. Nach wenigen Tagen erschien ein Haufen bewaffneter Bauern, die das Schloß aufforderten, sich zu ergeben. Als aber keine Antwort erfolgte und doch alles im Verteidigungszustand war, ahnten sie eine Hinterlist und beschlossen, das Wasser aus den Gräben abzuleiten und dann zu stürmen. Es wurde alsbald Hand ans Werk gelegt, und schon wurden Leitern herbeigebracht, als man plötzlich aus den benachbarten Tälern den Lärm von Trommeln und Pfeifen vernahm. Zu gleicher Zeit erschien der Zwerg auf der Warte und schlug ein gellendes Gelächter auf. Die Bauern überfiel eine tödliche Angst; sie wähnten, es seien Truppen des schwäbischen Bundes, die herannahten, und zerstreuten sich nach allen Seiten. Als sich aber später herausstellte, daß die Gegend weit umher völlig frei von den Truppen der Städte und Fürsten war, entstand in den Bauern der Glaube, die Burg Rodeck sei verzaubert, und keiner wagte sich mehr in ihre Nähe. So blieb sie in den Schrecknissen des Bauernkriegs verschont, und die Familie fand bei ihrer Rückkehr alles unversehrt, wie sie es verlassen.

Aloys Wilhelm Schreiber

Die Clemenskirche.

Wenn man durch den schauerlichen Felsenschlund bei Bingen an Hattos gespenstigem Turme vorübergeschifft ist und Aßmannshausen hinter sich hat, macht der Rhein eine starke Krümmung, und das linke Ufer tritt wie eine Halbinsel hervor. Dicht am Strome unter Walnußbäumen liegt die verlassene Clemenskirche, und hinter derselben erheben sich Rheinstein und Reichenstein, welche Rudolf der Habsburger als Raubnester brechen ließ. Von der Stiftung dieser Kirche hat sich folgende Sage erhalten:

Auf einer Burg im benachbarten Sauertale lebte ein schönes, züchtiges Fräulein. Der Ritter von Rheinstein warb um die Hand des Mägdleins, wurde aber abgewiesen. Da faßte er den Entschluß, sich ihrer mit Gewalt zu bemächtigen, und es gelang ihm auch, sie zu rauben und auf ein Schiff zu bringen. Aber plötzlich entstand auf dem Rhein ein gewaltiger Sturm, desgleichen die Steuerleute nie erlebt hatten, und jedermann auf dem Schiffe verzweifelte an seiner Rettung. Da tat die Jungfrau ein Gelübde, dem heiligen Clemens eine Kirche am Ufer zu bauen, wenn er sie aus der Gefahr des Todes und aus den Händen ihres schändlichen Entführers befreien würde. Jetzt sah man plötzlich den Heiligen in seinem bischöflichen Anzuge auf dem Wasser erscheinen. Er reichte der Jungfrau die Hand, und sie wandelte mit ihm so sicher über die schäumenden Wogen hin ans Ufer, als wär's auf dem festen Lande. Das Schiff aber mit den Menschen, die sich noch darauf befanden, wurde vom Abgrund verschlungen.

Johann Georg Theodor Gräße

Der Drache auf Drachenfels.

Während das linke Rheinufer durch die Römerherrschaft bereits dem Christentum zugeführt war, behaupteten auf dem rechten noch heidnische Horden ihre Unabhängigkeit, machten auch häufig Einfälle auf das andere Ufer und kehrten beutebeladen von da in ihre Heimat zurück. Bei einem dieser Raubzüge hatten sie auch eine christliche Königstochter entführt. Der Sohn des heidnischen Beherrschers der Löwenburg sah sie und entbrannte in Liebe zu ihr. Allein sie wollte, mochte man ihr auch noch so viel versprechen, ihre Hand einem Götzendiener nicht reichen.

Nun wohnte damals auf einem der sieben Berge, welche mit ihren steilen Höhen die Ufer des Rheines umgrenzen, ein grimmiger Drache, der Schrecken des weiten Landes. Kein Krieger, kein Ritter wagte mit ihm den Kampf aufzunehmen. Um den Drachen zu befriedigen, beschlossen die Heiden im Rate der Großen, ihm die schöne Jungfrau zu opfern.

Am frühen Morgen des folgenden Tages, während der Drache noch in seiner Höhle schlief, schleppte man die Christin auf den Felsen und fesselte sie in der Nähe der Höhle an einen Baum. Rundum am Fuße des Felsens harrte eine Menge Neugieriger, auch der Königssohn von der Löwenburg. Gern hätte er sein Rachegefühl bezwungen, gern wäre er hinaufgeeilt, der Jungfrau Leben mit dem eigenen zu schirmen, allein im Rate der Großen war sie dem Tode geweiht worden, und ihm durfte er sich nicht widersetzen.

Ruhig und unerschrocken stand die Jungfrau da; sie zog aus ihrem Busen ein Kruzifix, und auf das Bild des Gekreuzigten heftete sie ihren vertrauensvollen Blick. Plötzlich trat der Drache aus seiner Höhle hervor, und wachsamen Auges spähte er ringsumher nach Beute. Kaum hatte er das für ihn bestimmte Opfer erblickt, so eilte er wütend und schäumend auf dasselbe zu, allein – o Wunder! als er in der Hand der Jungfrau das Kruzifix erblickte, ergriff ihn Schreck und Betäubung; er stürzte zu Boden und rollte vom steilen Felsen in den hochbrausenden Strom, wo er in den tobenden Wellen sein Grab fand. Der Gekreuzigte hatte gesiegt. Die Heiden eilten herbei und fielen der Jungfrau zu Füßen, den preisend, der ihr solche Macht verliehen. Alsdann ließ die Jungfrau aus ihrer Heimat Priester kommen, das Evangelium Christi zu verkündigen, und als bei der ersten Taufe auch der Königssohn unter den Bekehrten erschien, reichte sie ihm zu unverbrüchlichem Bunde die Hand. Noch heute zeigt man an der westlichen Seite des Drachenfelsens jene Höhle, und wenn in gesegnetem Herbst die Weinlese dem fleißigen Winzer lacht, dann sammeln die Bewohner von Königswinter des Drachen feuriges Blut, das alljährlich am steilen Rücken des Felsen hervorsprießt.

Ludwig Bechstein

Der Drache und der Ritter von Frankenstein.