Deutschland und die Migration - Maria Alexopoulou - E-Book

Deutschland und die Migration E-Book

Maria Alexopoulou

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Beschreibung

Deutschland hat sich lange dagegen gesträubt, ein Einwanderungsland zu sein, zum Teil tut es das bis heute. Dabei waren nicht-deutsche und nicht als deutsch wahrgenommene Migrant*innen in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert ständig präsent – von den "Wanderarbeitern" aus Polen und Italien im Kaiserreich über die "Gastarbeiter" in der alten Bundesrepublik bis zu den Schutzsuchenden aus aller Welt heute. Deutschland hat sich über viele Jahrzehnte zu einer vielfältigen Einwanderungsgesellschaft gewandelt und muss sich mit dieser Realität auseinandersetzen. Die Historikerin Maria Alexopoulou erzählt diese vernachlässigte und von strukturellem Rassismus durchzogene Facette der deutschen Geschichte, indem sie die Perspektive derjenigen einnimmt, die längst dazugehören und dennoch immer wieder Ausgrenzung erfahren.

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Maria Alexopoulou

Deutschland und die Migration

Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen

Reclam

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Coverentwurf: Kuzin & Kolling, Büro für Gestaltung

Coverabbildung: Unsplash.com / Timon Studler

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961822-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011311-0

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung

Vor der ›Stunde Null‹ – Migrationen, Herkunftshierarchien und die Geburt der »Volksgemeinschaft«

Die ersten Ausländer der Bundesrepublik

Die ›Gastarbeiter‹ sind da!

Die Geburt des »ausländischen Mitbürgers« und des »Scheinasylanten«

Konjunktur des Rassismus und der Kampf um Rechte

Einwanderungsgesellschaft wider Willen

Einleitung

Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft

Deutschland ist aus einem tiefen Schlaf erwacht und hat plötzlich erkannt, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein. Es bedurfte der sogenannten ›Flüchtlingskrise‹ 2015, damit sich erstmalig eine Mehrheit der Bevölkerung und ihrer politischen Vertreter*innen klar zu diesem Faktum bekannte. Trotz der gesellschaftlichen Spaltung, die diese Frage (wieder einmal) ausgelöst hat, ist dies eine historische Zäsur.

Diese Aussage mag überraschen, schließlich kann Deutschland auf eine 150-jährige Einwanderungsgeschichte zurückblicken. Folgende Differenzierung ist dabei wichtig: Während Migrationsgeschichte als breiteres Feld zu verstehen ist, das transnationale, transregionale und translokale Mobilität samt der Geschichte der damit zusammenhängenden Institutionen sowie der beteiligten Akteur*innen umfasst, hat die Geschichte der Einwanderungsgesellschaft Deutschland, um die es in diesem Buch primär gehen soll, einen anderen Gegenstand, nämlich die deutsche Gesellschaft und ihre Formen der Vergesellschaftung in Anbetracht von (dezidiert unerwünschter) Einwanderung.

Dabei ist selbst der Begriff der Einwanderung erst seit einigen Jahren in diesem Kontext üblich, ja überhaupt sagbar. Einwanderung wird als ein sukzessiver Prozess verstanden, der zur dauerhaften Niederlassung in einer Gesellschaft führt und üblicherweise mit der Erteilung voller Bürger*innenrechte für die Eingewanderten einhergeht. Da Einwanderung in Deutschland jedoch nicht erwünscht war, sprach man selbst in der Forschungsliteratur bis vor kurzem kaum davon. Stattdessen war meist von Migration oder Zuwanderung die Rede, wobei Zuwanderung ein neutraler Begriff aus der Statistik ist, der allerdings in der politischen Debatte oftmals benutzt wurde und wird, um die faktische Einwanderung nicht als solche benennen zu müssen. Migration bezeichnet dagegen insgesamt menschliche Mobilität und gehört quasi zu den Grundbedingungen der Menschheitsgeschichte,1 auch wenn der Begriff in medialen und politischen Debatten sowie im Alltagsverständnis immer wieder höchst normativ verstanden und ideologisch aufgeladen wird.

Der bis in die Gegenwart vorhandene Widerwille, die Bundesrepublik als ein Einwanderungsland zu verstehen, ging damit einher, dass auch die Geschichte Deutschlands als Einwanderungsgesellschaft weitgehend unbeachtet blieb. Die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen stellen die einzige Einwanderer*innengruppe dar, die bislang fester Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur und der nationalen Meistererzählung ist. Gleichwohl wurden sie sehr lange gar nicht unter dem Blickwinkel Migration, geschweige denn als Einwanderer*innen, betrachtet, erst recht sahen und bezeichneten sie sich selbst nicht als solche.

Alle anderen Menschen mit Migrations- oder Einwanderungsgeschichte, die inzwischen ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen und in manchen Städten wie Mannheim etwa 45 Prozent der Stadtbevölkerung stellen, wurden bislang quasi als Zufallsprodukte der Geschichte betrachtet: Die Art, wie in öffentlichen und politischen Debatten oder selbst innerhalb der Geschichtsschreibung über sie gesprochen wurde, erweckt den Eindruck, dass ihre Vorfahren bzw. sie selbst mehr oder weniger versehentlich in Deutschland gelandet seien. Das Einsetzen von Einwanderungsprozessen wird als Fehlentwicklung betrachtet, als Folge unbedachter politischer Entscheidungen, die aufgrund des wirtschaftlichen Booms oder auf der Grundlage des (zu) liberalen deutschen Asylrechts getroffen wurden, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Denn Deutschland war ja – anders als die sogenannten klassischen Einwanderungsländer, worunter man die USA, Kanada, Großbritannien und Frankreich verstand – kein Einwanderungsland. Nur dass Deutschland im gesamten 20. Jahrhundert statistisch gesehen zu den führenden Einwanderungsländern gehörte. Im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts verzeichnete Deutschland im weltweiten Vergleich meistens die zweitgrößte Zahl an Einwanderer*innen nach den USA.

Eine einstige Kolonialmacht war Deutschland ebenso wenig, zumindest glaubte es das sehr lange; es hatte also auch keinerlei Erfahrungen im Umgang mit »Fremden« wie etwa Frankreich und Großbritannien. Dabei hat Deutschland zwar eine kurze, aber von den Zeitgenoss*innen im Deutschen Kaiserreich und in den »Schutzgebieten« sehr intensiv erlebte und ereignishistorisch herausragende Kolonialgeschichte: Nicht zuletzt gilt der in Deutsch-Südwestafrika verübte Genozid an den Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 welthistorisch als der erste seiner Art. Zudem wird die deutsche Kolonisierung Osteuropas zunehmend ebenfalls als Teil einer deutschen Kolonialgeschichte verstanden.

In Deutschland existierte nach 1945 auch kein Rassismus mehr, so die weitverbreitete Meinung. Der sei mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland als politisches System, Ideologie und Überzeugung in der ›Stunde Null‹ verschwunden, bis er dann spätestens mit dem Aufkommen einer neuen Generation in den 1970er Jahren vollkommen ›ausgestorben‹ sei. Auch die akademische deutsche Zeitgeschichte, deren selbstgestellte Hauptaufgabe es zunächst war, die Entwicklung vom »Dritten Reich« hin zu einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft historiographisch zu begleiten, sah bis vor kurzem keinen Anlass, sich mit der Geschichte des Rassismus in Deutschland seit 1945 zu beschäftigen. Die Geschichtsschreibung der DDR hatte sich zwar den Anti-Rassismus auf die Fahnen geschrieben, was aber kaum nachhaltige Wirkung auf die gesamtdeutsche Historiographie hatte.

Umso größer war bei den führenden Zeithistorikern – hier ist bewusst nur die männliche Form gewählt, da Männer weiterhin die Debatten dominieren – die Ratlosigkeit darüber, wo all dieser offene Rassismus, der den Geflüchteten aus Syrien und anderen Krisengebieten der Welt seit 2015 entgegengebracht wurde, plötzlich herkam. Die Wahlerfolge der AfD konnten nicht allein auf den Einfluss der rechtsextremen Szene oder auch nur den aktuellen globalen Siegeszug des Rechtspopulismus zurückgeführt werden. Die klassischen Erklärungsmuster von den »Ängsten der Bürger« oder von der ökonomischen Krise, die in Phasen von Konjunkturen des Rassismus in Deutschland immer wieder zum Einsatz gekommen waren, schienen nun ebenfalls nicht mehr richtig zu greifen.

Bei der Analyse der Ereignisse rund um den sogenannten Asylkompromiss 1993 hatte man sich letztlich mit Erklärungen zufriedengegeben, die das Phänomen sehr verkürzt darstellten: Die Pogrome gegen Asylbewerberheime und der offene Hass auf Ausländer und ›Asylanten‹ seit Ende der 1980er Jahre, die mehrere Migrant*innen das Leben kosteten, trafen auch Menschen, die schon lange als Einwanderer*innen in Deutschland gelebt hatten. Ziemlich vereinfachend wurde diese Gewalt als Ausdruck von Problemen abgehängter junger ostdeutscher Männer interpretiert, die mit den Entwicklungen der Wiedervereinigung nicht zurechtgekommen und deshalb zu Rechtsextremen geworden seien. Rechtsextreme Kräfte und Bewegungen für die alleinige Ursache des Rassismus in Deutschland zu halten, ist jedoch nicht nur historisch falsch, sondern auch gefährlich.

Nach einer Rede, in der der AfD-Politiker Björn Höcke das Holocaust-Mahnmal in Berlin ein »Denkmal der Schande« genannt hatte, erklärte der Leiter des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, Martin Sabrow, den Erfolg, den diese Partei im Gefolge der ›Flüchtlingskrise‹ hatte, damit, dass der Anspruch der Geschichtsschreibung, Aufklärung zu leisten, gescheitert sei.2 Dabei verschwieg Sabrow aber, dass die deutsche Zeitgeschichte den Rassismus seit 1945 eben nicht aufgeklärt, sondern in großen Teilen einfach ignoriert hatte.3 Einer der führenden NS-Forscher, Michael Wildt, versuchte die Rückkehr von Konzepten wie der »Volksgemeinschaft« zu erklären, indem er von 1945 quasi direkt in die Gegenwart sprang, ohne sich genau anzuschauen, dass auch in der Zwischenzeit Vorstellungen vom »deutschen Volk« als einer homogenen ›Blutsgemeinschaft‹ weiterhin tief verwurzelt und sogar ins Grundgesetz eingeschrieben gewesen waren.4

Was diese beiden Historiker wie viele andere Kolleg*innen und weitere Kommentator*innen also nicht sahen bzw. durch ihre Beiträge noch bekräftigten, ist der große blinde Fleck in der neuesten deutschen Geschichte, nämlich der Fortbestand des Rassismus in Deutschland seit 1945. Dessen Geschichte umfasst neben dem Antisemitismus und dem Antiziganismus (also dem spezifisch gegen Sinti und Roma gerichteten Rassismus), die in Deutschland nie zu existieren aufhörten, auch den Rassismus gegen ›Migrationsandere‹ – Migrant*innen, früher Ausländer, die als wesenhaft Andere kein Teil des »Wir« sind, sein können oder gar sein dürfen. In diesem Buch soll diese Seite der Geschichte der Einwanderungsgesellschaft Deutschland offengelegt werden.

Verflochtene Geschichten

Als der deutsche Fußballspieler Mesut Özil im Sommer 2018 bei seinem Rückzug aus der Nationalmannschaft dem Deutschen Fußballbund Rassismus vorwarf, stieß er in der Öffentlichkeit mehrheitlich auf Ablehnung oder zumindest Skepsis. Denn sein eigenes Verhalten in der »Causa Özil« war alles andere als vorbildlich gewesen. Seine offensichtlichen Sympathien für den türkischen Staatspräsidenten wurden als Illoyalität gegenüber der Bundesrepublik empfunden. Das machte sein Handeln aus der Sicht vieler zumindest moralisch fragwürdig, und er schien damit auch sein Recht verwirkt zu haben, Rassismusvorwürfe vorzubringen, die landläufig ohnehin als moralisierend oder als Polemik verstanden werden.

Es bleibt aber dennoch die Frage des Rassismus und der Rolle, die er in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland spielt. Denn Özils weithin kritisierte öffentliche Abrechnung mit dem DFB löste die #metwo-Debatte auf Twitter aus, die nicht ohne weiteres mit einer Variante des Moralismusvorwurfs abgetan werden konnte. Unter diesem Hashtag erzählten vor allem junge Menschen von ihren Diskriminierungserfahrungen, die auf ihre nichtdeutsche Herkunft zurückgehen. Damit legten sie – ähnlich wie die Frauen, die unter dem Originalhashtag #metoo sexuelle Belästigung thematisiert hatten – offen, wie alltäglich und banal Rassismus – ebenso wie Sexismus – eigentlich ist und wie sehr er diejenigen, die ihn erfahren, im Innersten treffen oder ihre Lebenschancen beeinflussen kann.

Die durch unzählige Erfahrungsberichte, aber auch durch Studien belegten Diskriminierungen und Ungleichbehandlungen von Migrant*innen in Deutschland machen gerade das aus, was der Psychologe und kritische Migrationsforscher Mark Terkessidis bereits 2004 in Anlehnung an Hannah Arendts berühmtes Buch sehr klug die »Banalität des Rassismus« genannt hat. Damit meint er die strukturellen, institutionellen und sprachlichen Diskriminierungen sowie Alltagserfahrungen, die Migrant*innen in Deutschland als Teil einer vermeintlichen Normalität erleben.

Dieser »banale« Rassismus äußert sich nicht als Gewalt oder Hassrede, sondern in einem höheren Armutsrisiko, schlechteren Zugängen zu Bildung, zum Arbeitsmarkt und zum Wohnungsmarkt, racial profiling, sich ständig wiederholenden Überfremdungs- und Integrations(unfähigkeits)debatten und alltäglichen Mikroaggressionen – also abwertendem Verhalten wie Augenrollen, Nicht-Einbeziehen usw. – gegenüber Minderheiten bzw. Migrant*innen. Aber er manifestiert sich auch in der Tatsache, dass viele Migrant*innen in der zweiten und dritten Generation sich immer noch nicht als gleichwertige Bürger*innen und damit als Deutsche fühlen – oder es faktisch auch nicht sind. Doch diese Zustände werden von der Mehrheitsgesellschaft meist ignoriert, und der Rassismusvorwurf, den Migrant*innen übrigens nicht erst seit einigen Jahren, sondern seit jeher artikulieren, wird als übertrieben und moralisierend abgetan. Doch woran liegt es, dass Rassismus reflexhaft mit Moralismus in Verbindung gebracht wird?

Eine Erklärung besteht darin, dass in Deutschland das Thema Rassismus stets im Kontext des Nationalsozialismus bzw. des Holocausts steht. Das Aufzeigen von Rassismus hat dabei lange Zeit immer und immer wieder die Frage nach der Schuld und somit nach der individuellen Verantwortung für den Holocaust aufgerufen. Dabei geriet das Thema in seiner historischen wie auch in seiner jeweils aktuellen Dimension in eine Schieflage: Denn erstens ist Rassismus weit mehr als eine Frage der Moral oder von individuellen oder kollektiven Gefühlen und Haltungen. Es handelt sich um ein äußerst komplexes, vielschichtiges und vielgesichtiges Phänomen, das nicht nur in die Moderne eingeflochten, sondern gar deren dunkle Seite ist, wie der Philosoph Achille Mbembe das nennt.

Zweitens ist Rassismus nicht mit den extremsten Formen, die er angenommen hat, gleichzusetzen. Die moralische Entrüstung, die diese vermeintliche Gleichsetzung erzeugt und in deren Licht alle anderen Formen der Herabsetzung von Gruppen aufgrund ihrer Herkunft als unbedeutend abgetan werden, machte Rassismus in seinen übrigen Facetten und als Phänomen insgesamt in Deutschland nach 1945 unsagbar und damit unsichtbar, was letztlich mit zu seinem Erhalt beigetragen hat. Die Empörung über die Verwendung des Begriffs Rassismus wurde und wird dabei teils bewusst eingesetzt. Der britische Soziologe Keith Kann-Harris hat in Bezug auf Antisemitismus-Vorwürfe angemerkt, dass es auf ironische Art und Weise ein später Sieg Hitlers sei, wenn selbst offensichtliche Antisemiten den Vergleich zum Holocaust benutzen, um ihre eigenen antisemitischen Haltungen zu relativieren.1

Es gilt also, Rassismus historisch in all seinen Formen und in einem viel breiteren zeitlichen Horizont zu erfassen. Nur so kann man ihn als vergangenes und gegenwärtiges Phänomen begreifen, das auch zwischen 1945 und heute eine Geschichte hat und zudem die Geschichte der jeweiligen Gesellschaften, in denen es sich entfaltete, nachhaltig prägte. Deutschland hat in den zwölf Jahren, in denen das nationalsozialistische Regime herrschte, welthistorisch die radikalste Form des Rassismus hervorgebracht. Doch diese Extremform rassistischer Ideologie und Praxis entstand weder aus dem Nichts noch verschwand sie wieder dorthin. Sie hatte eine Vor- und eine Nachgeschichte, oder korrekter: Die Geschichte des Rassismus in Deutschland ist nicht deckungsgleich mit der Geschichte des Nationalsozialismus.

Sie fällt sicher ebenso wenig mit der Geschichte von Migration und Einwanderung zusammen, sie sind aber eng miteinander verflochten. Schon seit der Gründung des Kaiserreichs 1871 entwickelte sich ein rechtlicher, ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Umgang mit Ausländern,2 der diese nach dem Wert ihrer Herkunft hierarchisierte und dementsprechend zu den Deutschen in Beziehung setzte. Auch die Frage, wer Deutscher war oder sein durfte, wurde immer wieder auch im Kontext von Migration gestellt und ausgehandelt. Dabei entwickelte sich eine Binarität zwischen ›dem Deutschen und dem Ausländer‹, die anhand eines Konglomerats aus Blut und Kultur – beides zusammen wurde unter dem Stichwort Abstammung oder Herkunft zusammengefasst – voneinander unterschieden wurden. Jenes Kriterium bestimmte, ob ein*e Migrant*in als »wertvoller Bevölkerungszuwachs« angesehen wurde und sich einbürgern lassen durfte – oder ob er/sie zu jenen Gruppen gehörte, die höchstens ein begrenztes Aufenthaltsrecht auf deutschem Territorium erhalten sollten. Die Binarität ›Deutscher und Ausländer‹ wurde ergänzt durch eine Hierarchisierung der einzelnen nichtdeutschen Herkunftsgruppen untereinander, die über deren Rechte und Privilegien und damit auch über deren Wahrnehmung innerhalb der Gesellschaft entschied.

All diese Prozesse sind ein wichtiger Bestandteil der Geschichte des Rassismus in Deutschland, aber historiographisch wenig aufgearbeitet und allgemein innerhalb der deutschen Erinnerungskultur kaum bekannt. Dies wirft ein schlechtes Licht auf die Rolle Deutschlands, das sich angesichts der eigenen, inzwischen international als vorbildlich geltenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gern als »Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung« sieht bzw. auch oft so gesehen wird. Denn weder das Fortleben des Antisemitismus noch der Rassismus gegen Ausländer oder auch gegen Sinti und Roma sowie Schwarze Deutsche, die vor 1945 Normalität waren und die die ›Stunde Null‹ überlebt haben, können angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen einfach als Randphänomene weggewischt werden, mit denen man sich nicht eingehender beschäftigen muss. Es ist höchste Zeit, nachzuzeichnen, durch welche Mittel, auf welche Weise und mit welchen Konsequenzen Rassismus seit 1945 weiterwirkte.

Die Position, die ich in diesem Buch mit Daten und Fakten begründe, lautet, dass die Ausgestaltung der Einwanderungsgesellschaft Deutschland stark von rassistischem Wissen über Ausländer geprägt wurde, das schon weit vor 1933 entstanden war und über unterschiedliche Wege bis heute weitergegeben und neu produziert wurde. Rassistisches Wissen, das sei betont, ist falsches Wissen und damit nicht mit Erkenntnis oder gar Wahrheit gleichzusetzen. Es existiert in Diskursen, etwa als das ewige Gerücht über den kriminellen Ausländer. Es existiert in Institutionen, beispielsweise über lange Zeit im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht, das deutsches Blut als Kriterium der Zugehörigkeit festgelegt hatte. Es existiert in Strukturen, etwa in der politischen Partizipation, von der Einwanderer*innen sehr lange bewusst ausgeschlossen wurden.

Rassistisches Wissen ist also nicht allein Bestandteil von individuellen Haltungen, von Vorurteilen oder Ressentiments, sondern findet sich über das oben Erwähnte hinaus auch in eingespielten bürokratischen Praktiken, in unhinterfragtem Alltagswissen, in Begriffen und in Topoi. Dieses Wissen wird aktiv oder unbewusst genutzt, und es kann bewusst oder auch strategisch, aus Unwissenheit und Geschichtsvergessenheit oder einfach aus Desinteresse ignoriert werden. Rassistisches Wissen verdeckt oder legitimiert dabei letztlich die Macht der Privilegierten in diesem Verhältnis. Es ist zudem als Wissen über Rassismus vorhanden, nämlich als Wissen derer, die von Rassismus betroffen sind.

Gegengeschichten

Ich habe es nie bereut, nach Deutschland gekommen zu sein. Das Einzige, was mich stört, ist diese Betonung auf »Ausländer«, »Gastarbeiter« oder »Mitbürger«. Wenn man »Gastarbeiter« genannt wird, dann wird man nur als Arbeiter betrachtet. Das nenne ich weiße Sklaverei! Deshalb sagen wir: Weg damit! Egal was du von Beruf bist, selbst Rektoren macht es fertig, wenn man sie »Mitbürger« nennt.1

Diese Sätze stammen aus einem lebensgeschichtlichen Interview von 2005 mit einer verrenteten griechischen ›Gastarbeiterin‹. Ageliki Gountenidou kam im Jahr 1958 nach Mannheim, um ihren Bruder zu besuchen. Er war bereits in den 1940er Jahren als sogenannter »fremdvölkischer Zivilarbeiter« aus Athen nach Deutschland gekommen, hatte in den Nachkriegswirren eine deutsche Frau geheiratet und war bei ihr geblieben. Ageliki hatte gar nicht vorgehabt, nach Deutschland auszuwandern, wenn überhaupt träumte sie von Amerika. Doch sie blieb in Mannheim, arbeitete und lebte dort, gründete eine Familie, bekam Kinder, kaufte ein Haus, ging in Rente, verstarb und liegt nun neben ihrem griechischen Mann auf dem Mannheimer Hauptfriedhof begraben. Sie liebte »Lewerknödel« und Sauerkraut, fuhr gern mit ihrer Familie mit dem Mercedes Benz in den Urlaub nach Griechenland und hatte viel Spaß mit ihren internationalen Kolleg*innen in den Fabriken, in denen sie allerdings durch die körperlich schwere Arbeit ihre Gesundheit ruinierte. Sie und ihr Mann ermöglichten ihren zwei Kindern ein Studium, die beide erfolgreiche Karrieren absolvierten. Ageliki verstand sich als echte Mannheimerin, aber nicht als Deutsche.

In dem Interview, das ich im Zuge eines Film- und Ausstellungsprojektes anlässlich des 50. Jubiläums des sogenannten ersten Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und Italien mit ihr führte, beklagte sie dennoch klar und deutlich, dass ihr nie aktiv angeboten worden war, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen. Deshalb habe sie nie alle Rechte genossen, die ihr als Staatsbürgerin zugestanden hätten, darunter das grundlegende demokratische Recht, mitbestimmen und wählen zu dürfen. Und genau wie viele andere aus ihrer Generation störte sie sich an den Begriffen, mit denen sie zeitlebens benannt wurde: ›Gastarbeiter‹, Ausländer.

Dieser kurze Einblick in ein migrantisches Leben reißt viele Erfahrungen und Perspektiven an, die der Mehrheitsbevölkerung in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland bisher wenig bekannt oder bewusst sind: Etwa, wie offen Migrationsprozesse sind und wie wenig sich deren Verläufe bestimmen lassen. Dass Migrant*innen sich eigensinnig beheimateten, auch wenn von ihnen erwartet wurde, dass sie als »Gäste« wieder gehen sollten, und ihnen das durchaus sehr bewusst war. Dass ihnen ebenso bewusst war, dass sie vieler Rechte entbehrten. Und – das ist wohl weniger bekannt – dass ein sehr großer Anteil von ihnen Rassismuserfahrungen gemacht hat. Auch Ageliki Gountenidou erzählte von einem Erlebnis in der Fabrik von ZEWA Mannheim, das sie noch vierzig Jahre später bewegte:

Einmal hat unser Schlosser bei Zellstoff, als ich ihn bat, etwas an meiner Maschine auszubessern, gesagt: »Hau ab, du dreckiger Ausländer!« Das hat wehgetan. Die Augen haben nicht geweint, aber das Herz.2

Freilich werden diese Erlebnisse von den Betroffenen nur selten als Rassismuserfahrungen bezeichnet. Diese Geschichten gehören vielmehr auch für sie selbst zum typischen Leben eines ›Gastarbeiters‹. Rassismuserfahrungen sind ohnehin in ihrer Mehrzahl unspektakulär, werden durch ihre Häufigkeit normalisiert und in ihrer Normalität unsichtbar, was es noch schwieriger macht, sie zu erfassen. Oft können Betroffene nicht mit Sicherheit sagen, ob sie wegen ihrer Herkunft, ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der Ausländer, ungleich, abwertend oder aggressiv behandelt wurden. Auch das habe ich in zahlreichen biographischen Interviews mit Migrant*innen erlebt, die offenbar mitten im Erzählen anfingen, darüber nachzudenken, inwiefern ihre Lebenschancen von Diskriminierungen beeinträchtigt worden waren, die sie wegen ihrer Herkunft oder ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der Ausländer erlebt hatten.

Diese Gegengeschichten zum dominanten Erfolgsnarrativ der Bundesrepublik als einer pluralistischen, rassismusfreien Demokratie sind essentiell, um die Geschichtsschreibung und das historische Bewusstsein der Einwanderungsgesellschaft Deutschland zurechtzurücken. Die Gegengeschichten und Gegenperspektiven der Eingewanderten, die nicht nur in Form von mündlichen Erzählungen vorliegen, sondern auch bei der neuerlichen Analyse und Interpretation von Dokumenten, Texten, Praktiken und Ereignissen zutage treten, müssen also nicht nur gehört und am Rande erzählt werden. Nein, sie müssen in die große Meistererzählung einfließen, in eine veränderte Version der neueren deutschen Geschichte.

 

Da Migrant*innen als Akteur*innen vor allem lokal greifbar werden, so wie ihre Einwanderungsprozesse insgesamt lokal verortet sind, werde ich in diesem Buch die Geschichte der deutschen Einwanderungsgesellschaft vom Lokalen ausgehend erzählen. Die Industriestadt Mannheim, die, so der retrospektive Blick, seit ihrer Gründung eine Migrationsstadt war, dient mir dabei als Bezugspunkt, auf den ich immer wieder episodisch und themenspezifisch zurückkomme. Daraus ergibt sich auch der klare Schwerpunkt auf die Geschichte der (alten) Bundesrepublik Deutschland.

Der Blick auf die vorrepublikanische Zeit ermöglicht es zunächst, die Parameter der Geschichte der Einwanderungsgesellschaft sichtbar zu machen, die seit der Kaiserzeit bis direkt vor der ›Stunde Null‹ gesetzt wurden und die über diese scheinbare Epochengrenze hinweg weiterwirkten. Es folgt ein Kapitel zur ersten, meist vergessenen Ausländergruppe der BRD, den »heimatlosen Ausländern«, und deren Aufnahme. Anschließend wird es um die arbeitenden »Gäste« und darum gehen, wer sie waren, warum sie kamen und weshalb sie nicht bleiben sollten. Nach einem Kapitel zur Genese des »ausländischen Mitbürgers« und des »Scheinasylanten« befasse ich mich mit der lang anhaltenden Konjunktur des Rassismus, die von 1980 bis zur Mitte der 1990er Jahre anhielt und die ihren Höhepunkt im vereinigten Deutschland erreichte. Zuvor wird ein kurzer Blick auf die andere Seite der Mauer geworfen.

Angesichts der 30-jährigen Archivsperre und des daraus folgenden weitgehenden Fehlens von regierungsamtlichen Quellen ist die Abhandlung der Jahre nach 1990 nur eingeschränkt möglich. Ab diesem Zeitpunkt muss meine historiographische Analyse auf andere Quellen zurückgreifen, weshalb ich die jüngste Vergangenheit lediglich in einem eher auf Hypothesen basierenden Ausblick behandle. Das Buch schließt mit einigen Kontrapunkten migrantischer Akteur*innen zu den damals und teilweise heute noch aktuellen Debatten.

Vor der ›Stunde Null‹ – Migrationen, Herkunftshierarchien und die Geburt der »Volksgemeinschaft«

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg war das Deutsche Kaiserreich weltweit das zweitgrößte Zuwanderungsland nach den USA. Allerdings betrachtete man die Migrant*innen in der Regel nicht als Einwanderer*innen, die sich dauerhaft niederlassen und schließlich neue Deutsche werden konnten. Vielmehr war in den Jahrzehnten zuvor, von der Initiative Preußens ausgehend, ein Migrationsregime aufgebaut worden, das massenhafte Arbeitsmigration mit einem Anti-Einwanderungssystem zu verbinden suchte. Dadurch konnten zwei entgegengesetzte Tendenzen koexistieren: Der hungrige Arbeitsmarkt versorgte sich mit allzeit verfügbaren, günstigen und weitgehend rechtlosen ausländischen Arbeitskräften, und gleichzeitig war eine zunehmend an völkischen und rassentheoretischen Ideen orientierte »deutsche Bevölkerungspolitik« möglich. Beide Strategien zielten primär auf die östlichen Nachbarn, die als Arbeitskräfte gefragt, aber nicht als »wertvoller Bevölkerungszuwachs« geschätzt waren.

Die »Arbeitseinfuhr« von jenseits der östlichen Grenzen Deutschlands changierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen saisonaler Wanderarbeit mit Rückkehrzwang und erzwungenem Arbeitseinsatz bei Rückkehrverbot: Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg stellten Arbeiter*innen aus dem Osten Europas die Mehrheit der Zwangsarbeiter*innen. Zwangsarbeit und Konzentrationslager waren allerdings schon zuvor in den überseeischen Kolonien Deutschlands erprobt worden. Sie wurden dort zur Bestrafung und Disziplinierung eingesetzt, etwa im Fall der widerständigen Nama in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Allerdings war die Arbeit der »Eingeborenen«, die weder als Teil der deutschen Bevölkerung angesehen noch rechtlich auch nur annähernd als solche behandelt wurden, in den deutschen »Schutzgebieten« auch aus wirtschaftlichen Gründen gefragt und wurde dort ebenfalls oft erzwungen.

Die extreme NS-Rassenideologie und die Radikalität ihrer Umsetzung, besonders auch im Umgang mit Zwangsarbeiter*innen aus dem Osten Europas während des Zweiten Weltkrieges, haben Geschichtswissenschaftler*innen lange dazu bewogen, die deutsche Migrationsgeschichte vor 1933, jene in den zwölf Jahren zwischen 1933 und 1945 und jene der Zeit danach als mehr oder weniger eigenständige historische Etappen zu betrachten. Das galt umso mehr, nachdem die sogenannte Sonderwegthese vom Tisch war: Deren Anhänger*innen hatten postuliert, dass die Entwicklungen in Deutschland seit dem Kaiserreich – etwa der deutsche Militarismus oder die völkische Bewegung – zwangsläufig zum »Dritten Reich« geführt hätten. Zwar ist ein derart deterministisches Denken, das historische Ereignisse quasi als Schicksal begreift und damit die Akteur*innen bzw. die gesamte Gesellschaft aus der Verantwortung entlässt, schwerlich plausibel. Ebenso wenig ist die Behauptung haltbar, es habe keine anderen Handlungsoptionen gegeben. Dennoch muss die Zeit vor 1933 auch als Vorgeschichte des Nationalsozialismus betrachtet werden.

Als gleichermaßen irreführend erwies sich die Auffassung, das Jahr 1945 trenne die NS-Zeit wie eine Barriere sauber von der Zeit danach. Die Historiographie hat die Vorstellung einer ›Stunde Null‹, nach der in Deutschland vermeintlich alles neu begann, inzwischen hinter sich gelassen. Somit ist ein frischer Blick auf den Umgang mit Migration bzw. mit Herkunftsdifferenz in Deutschland über einen langen Zeitraum hinweg geboten. Dabei geht es nicht darum, Vergleiche zwischen den Epochen anzustellen, sondern in der Zusammenschau neben den Brüchen auch die Kontinuitäten zu erkennen und deren Auswirkungen nachzuspüren – freilich können im Zusammenhang dieses Buches nur einzelne Aspekte beleuchtet werden.

Als wirkmächtige Kontinuität festigte sich etwa der Gegensatz ›Deutscher und Ausländer‹. Migrant*innen wurden zu den ›Anderen‹ der Deutschen, was nicht nur dem Begriff Ausländer ein ganz spezifisches Gepräge gab, sondern auch das Leben und die Chancen dieser ›Migrationsanderen‹ als gedachte Gruppe, aber auch als einzelne Individuen, in der gesamten Zeitspanne sehr stark mitbestimmen konnte. Darüber hinaus wurden Migrant*innen über den gesamten Zeitraum hinweg stets nach ihrer Herkunft hierarchisiert. Noch heute bestimmt der Wert, der der jeweiligen Herkunft zugeordnet wird, den Ort oder auch Nicht-Ort dieser Gruppe in der deutschen Gesellschaft. Dabei blieben einige Herkünfte konstant am unteren Ende der Hierarchie, andere haben im Laufe der Jahre im Rahmen von anderen, parallel verlaufenden ›Identitätsgeschichten‹ die Stufe in dieser Hierarchie gewechselt – etwa mit dem Aufkommen einer ›europäischen Identität‹.

Auf welche Weise Herkunft in der Zeit zwischen 1890 und 1945 hierarchisiert wurde, möchte ich am Beispiel der polnischen Arbeiter*innen konkretisieren: Zwar unterschied sich deren Lebensrealität in den drei aufeinanderfolgenden Regimen in Deutschland, nämlich dem Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem »Dritten Reich«, wesentlich. Dennoch war sie in ähnliche Gesellschaftsstrukturen und Wissensbestände eingebettet.

Im Kaiserreich hatten die sogenannten »Auslandspolen« weniger Rechte als andere Migrant*innen, was auch in sichtbare Markierungen übersetzt wurde: Ab 1909 erhielten alle ausländischen Arbeitsmigrant*innen Legitimationskarten, die ihnen je nach Herkunft bestimmte Rechte zuteilten, was durch die unterschiedlichen Farben der Karten veranschaulicht wurde. Die rote Karte der »Auslandspolen« bedeutete etwa, dass sie der Karenzzeit unterlagen. Sie mussten also jeden Winter Deutschland verlassen und wurden bei Zuwiderhandeln abgeschoben. Für alle anderen Herkunftsgruppen galt der saisonale Rückkehrzwang nicht. Die jeweils unterschiedlichen Rechte und Gebote, die für eine Gruppe galten, waren für die kontrollierenden Polizeibehörden an der Kartenfarbe sofort ablesbar.

Auch die Rechte und Privilegien der sogenannten »fremdvölkischen Zivilarbeiter« im »Dritten Reich« waren durchgängig nach Herkunft gegliedert: So erhielten die sogenannten »Westarbeiter« aus Frankreich und Holland weitaus großzügigere Essensrationen von besserer Qualität als die polnischen Zwangsarbeiter*innen, die wiederum noch über den »Ostarbeitern« aus der Sowjetunion standen. Die unterste Stufe der Hierarchie war den zumeist jüdischen Sklavenarbeiter*innen zugedacht, die durch Arbeit ohnehin den Tod finden sollten. Die sichtbaren Zeichen ihrer Kategorisierung waren ein an der Kleidung befestigtes, gut sichtbares P bzw. O oder der gelbe Davidstern.

Diese Zeichen dienten dazu, in diesen nach Herkunft segregierten Gesellschaften die unterschiedlichen Gruppen, die mit den Deutschen auf engstem Raum zusammenarbeiteten, erkennbar zu machen. Je extremer das Regime in dieser Hinsicht war, desto wichtiger war die Sichtbarmachung. Schließlich ließ sich die Herkunft der ausländischen Arbeiter*innen oder weiterer Minderheiten in Deutschland nicht an äußeren Merkmalen festmachen. Die Betroffenen trugen das Zeichen ihrer Differenz nicht direkt auf der Haut, im Gegensatz zu den Schwarzen Amerikaner*innen, den mexikanischen oder chinesischen Arbeitsmigrant*innen in den USA, die anhand phänotypischer Merkmale kategorisiert und hierarchisiert wurden. Derartige Assoziationen stellten schon Zeitgenossen wie der Agrarökonom August von Waltershausen her. Er schrieb 1903 in Bezug auf die gesamte ausländische »Arbeiterschicht zweiten Grades« in Deutschland, dass sie die gleichen Funktionen erfülle wie »der Neger in den nordamerikanischen Oststaaten, der Chinese in Kalifornien, der ostindische Kuli in Britisch-Westindien, der Japaner in Hawaii, der Polynesier in Australien«.1

Trotz der beschriebenen Hindernisse migrierten Menschen, wie sie es schon immer getan hatten, über Staatsgrenzen hinweg und wurden sesshaft. Oft widersetzten sie sich dabei den Kontrollansprüchen des Staates und wurden mit Widerwillen und Diskriminierungen innerhalb der Gesellschaft konfrontiert, in die sie einwanderten oder durch Grenzverschiebungen oder koloniale Eroberungen hineinkatapultiert wurden.

Imperiale Verhältnisse

1884/85 trat das Deutsche Kaiserreich als »verspätete Nation« direkt in die Phase des Hochimperialismus ein und wurde zum Kolonialreich. Die überseeischen Kolonien stellten in der wilhelminischen Ära einen der imperialen Grenzräume dar, in denen es um das »Schicksal des deutschen Volkes« ging, das seiner »Überlegenheit« als »Kulturvolk« weltweit Geltung verschaffen sollte. Auch im östlichen Grenzgebiet Preußens trieb man die Konsolidierung des ›Deutschtums‹ voran, indem die weitere Ansiedlung und kulturelle Dominanz von Deutschen gefördert wurden. In beiden imperialen Grenzräumen, so die Historikerin Dörte Lerp, sicherte sich das Kaiserreich die Herrschaft über die in Besitz genommenen Territorien und die dortige Bevölkerung, indem es Deutsche von Nicht-Deutschen scharf trennte und Ausbeutungsstrukturen zugunsten ersterer etablierte. Obwohl beide Kolonialismen – der überseeische und der osteuropäische – innerhalb des Kaiserreichs immer wieder kritisiert wurden, prägten sie Deutschland nachhaltig, was die Produktion von rassistischen Wissensbeständen über ›Deutsche und Ausländer‹ betrifft.

Das polnische Königreich war unter den europäischen Mächten mehrfach aufgeteilt worden und seit 1796 als eigenständiger Staat vollständig von der Karte verschwunden. Die damit verbundenen Gebietszugewinne hatten Preußen neue polnisch-sprachige Untertan*innen eingebracht, die nun preußische Staatsbürger*innen wurden. Nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 wurde die polnischsprachige Bevölkerung Preußens allerdings immer mehr als Fremdkörper empfunden: Das betraf polnischstämmige Deutsche ebenso wie die sogenannten Auslandspolen, also jene, die unter der Herrschaft Russlands und der Habsburger Monarchie standen und die wie zuvor, insbesondere in den Grenzregionen, auf ›deutschem Territorium‹ mobil waren.

Mittels Germanisierungsmaßnahmen und im Kulturkampf gegen die katholische Kirche – der die polnischsprachigen Deutschen zumeist angehörten – sowie deutscher Siedlungs- und Kolonisierungstätigkeiten an den Ostgrenzen wurden sie unter der Federführung des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck zunehmend als zentrale Gefahr für die deutsche Nation bekämpft. Die »polnische Gefahr« wurde dabei nicht nur an politischen nationalpolnischen Aktivitäten festgemacht, sondern auch am Fortleben polnischen Sprach- und Kulturbewusstseins, sowie an den Jahrzehnte andauernden massenhaften Arbeits- und Transmigrationsbewegungen von Osten nach Westen.

Einen Höhepunkt erreichte die »polnische Abwehrpolitik« 1885, als eine große Zahl von »Russisch-Polen« aus den östlichen Provinzen Preußens ausgewiesen wurde. Personen, die teilweise seit Generationen dort lebten und sich ihres formaljuristischen Status als Ausländer nicht einmal bewusst waren, wurden binnen einiger Tage ausgewiesen oder regelrecht vertrieben. Als entscheidendes Kriterium definierte die amtliche Statistik die Abstammung – nicht aber die Sprachkenntnisse oder die nationale Selbstzuschreibung der Betroffenen. Das zeigt sich klar im Wortlaut der preußischen Ausweisungsbefehle von 1885:

[D]a festgestellt worden ist, daß Sie durch Ihre Abstammung, wenn auch der deutschen Sprache mächtig, zu der Kategorie der gedachten Ausländer gehören, werden Sie im Auftrag der Landespolizeibehörde hiermit angewiesen, Ihren gegenwärtigen Aufenthalt […] und das preußische Staatsgebiet […] mit ihren Familienangehörigen zu verlassen und sich auf dem kürzesten Wege nach Ihrem zukünftigen Aufenthaltsort im Auslande zu begeben.1

In derartigen Prozessen begann sich die binäre Vorstellung von ›Deutschen und Ausländern‹ herauszubilden, die bei der Volkszählung 1890 erstmals in die neuen statistischen und rechtlichen Kategorien des »Reichsangehörigen« und des »Reichsausländers« gegossen wurde. Diese formaljuristische Unterscheidung zwischen Deutschen und Ausländern wurde laut der Historikerin Léa Renard zwar erst nach zwei Weltkriegen »auch zu einer lebensweltlichen, alltagspraktischen Kategorisierung«.2 Doch der Definitionsprozess dessen, wer Deutsche*r war und wer nicht, trat zu jener Zeit in eine höchst dynamische Phase ein, die von vielen Faktoren beeinflusst wurde.

Es war das Zeitalter der Biopolitik, in dem immer effizienter agierende und sich auf die neuen positivistischen Wissenschaften berufende nationale Staatsapparate die Zusammensetzung und Eigenschaften ihrer Bevölkerungen zu bestimmen, zu kontrollieren und zu manipulieren suchten: Das geschah etwa durch die Einführung von Pässen, das Führen von Statistiken, soziologische, biologische, medizinische Studien und Maßnahmen wie etwa medizinische Grenzkontrollen.3 Besonders angesichts von Migration stellte sich die Frage, wer Teil der Bevölkerung werden durfte und wer nicht – und wie dies reguliert und überwacht werden könnte.

Doch von den antipolnischen Maßnahmen waren auch immer wieder preußische und damit deutsche Staatsbürger*innen betroffen. Beispielsweise ein großer Teil der sogenannten Ruhrpolen, die vom landwirtschaftlich geprägten Osten in den Westen gezogen waren, um dort als Bergleute zu arbeiten, oder auch die polnischsprachige Bevölkerung in Posen, die dort sogar die Mehrheit stellte. Parallel dazu versuchte man stets, die polnischsprachigen Deutschen durch Germanisierungsmaßnahmen von ihrem »minderwertigen, stets zu Exzessen geneigten« Wesen zu befreien und der »Überlegenheit des Deutschtums« näherzubringen, wie es eine preußische Denkschrift von 1898 formulierte.4 Darauf reagierten die Gemaßregelten jedoch oft mit kollektivem oder individuellem Protest und Widerstand.

Besonders mit Blick auf Posen schrieb der Vorstand des Alldeutschen Verbands, Ernst Hasse, 1906: »Die harmlosen Gemüter, die uns noch immer den Rat zu geben wagen, um des lieben Friedens willen ›unsere Mitbürger polnischer Zunge‹ sänftiglich zu behandeln«, seien »mehr als kindlich«, da sie »nicht daran glauben, daß wir uns in einem von den Polen aufgedrängten Kriegszustande befinden.« Deshalb solle man die Polen zwar nicht »ausrotten«, aber »durch eine anders gestaltete Grenze […] dauernd unschädlich« machen.5 Tatsächlich schränkte das Reichsvereinsgesetz von 1908 den Gebrauch der polnischen Sprache in der Öffentlichkeit an Orten ein, an denen die Mehrheit deutschsprachig war – somit praktisch überall im Westen des Reichs.6 Das Verbot, polnisch zu sprechen, betraf stellenweise sogar religiöse Rituale wie Taufen und Beichten, da die deutschen Behörden argwöhnten, diese könnten für »politisch-polnische Agitation« genutzt werden.7

Dennoch gelang es den verschiedenen polnischen Gemeinden im Westen, im Laufe der Jahre eigene Strukturen aufzubauen. Mit der einflussreichen Zeitung Wiarus Polski (Der polnische Kämpe) schufen sie sich ein eigenes Sprachrohr, und allmählich entwickelte sich eine lokal eingebundene Identität. Polnischsprachige Deutsche nahmen zunehmend sogar über ihre eigene Gemeinde hinaus Einfluss auf politische Entwicklungen, etwa als treibende Kraft in den großen Streiks im Ruhrbergbau der Jahre 1905 und 1912. Wie einer der ersten ruhrpolnischen Akademiker in Westfalen, Jan Kaczmarek, berichtet, konnten die ehemaligen Landarbeiter und Bergleute, nachdem sie durch »geistige Ausbildung einen klaren Blick für die sozialen und politischen Verhältnisse erworben hatten, … [sic] im vollsten Sinne des Wortes ›mitreden‹«.8

Der Alldeutsche Verband unter der Leitung von Hasse war allerdings ein Vorreiter jener radikal-nationalen und völkischen Strömung, die bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts versuchte, das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht von 1871 zu verändern. Bei ihren Bemühungen, das »Deutsche« und das »Undeutsche« auch formaljuristisch klar voneinander zu trennen, dienten die polnischsprachigen Deutschen sicherlich als zentrales Feindbild, als Gruppe, deren weitere Vergrößerung und Einflussnahme man verhindern wollte.

Zu dieser Strömung gehörte auch die antisemitische Bewegung, die ihrerseits die rechtliche Emanzipation der jüdischen Deutschen wieder rückgängig machen wollte. Der stärker werdende Antisemitismus verwob sich dabei mit dem entstehenden antislawischen Rassismus. Der Historiker Heinrich von Treitschke hatte schon 1879 in seiner vielzitierten Schrift Unsere Aussichten behauptet, dass der »Instinkt der Massen« tatsächlich eine »schwere Gefahr«, einen »hochbedenklichen Schaden des neuen deutschen Lebens« erkenne und darauf berechtigterweise mit Antisemitismus reagiere. Das könnten Engländer und Franzosen, die mit einer »gewissen Geringschätzung« über das »Vorurtheil der Deutschen gegen die Juden« redeten, nicht nachvollziehen, da sie in »glücklicheren Verhältnissen« lebten. Denn sie hätten in ihren Ländern nur mit den sephardischen Juden aus Spanien, nicht aber mit den Juden zu tun, die beständig über »unsere Ostgrenze aus der unerschöpflichen polnischen Wiege« kämen. Treitschke beschrieb Letztere als »Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge«, deren Nachkommen

dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung wächst zusehends, und immer ernster wird die Frage, wie wir dieses fremde Volksthum mit dem unseren verschmelzen können.

Denn das »osteuropäische Judentum« stehe dem »germanischen Wesen ungleich fremder gegenüber«.9 Damit meinte Treitschke jedoch auch die deutschen Juden, die bereits Immanuel Kant nicht nur als Osteuropäer, sondern auch als zwar zur »weißen Rasse« gehörig, aber doch minderwertige »Orientale« kategorisiert hatte.10

Ein weiterer heute noch hoch angesehener Pionier seines Fachs, der Soziologe Max Weber, spielte eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der These von der Gefahr aus dem Osten. Seine Studie Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland erschien 1892 und löste ein großes politisches, wissenschaftliches und publizistisches Echo aus. Darin vertrat Weber die These, dass deutsche von polnischen Arbeiter*innen kontinuierlich aus den östlichen Provinzen des Kaiserreichs verdrängt würden, was er nicht nur als ökonomische, sondern auch als essentielle kulturelle Gefahr wertete. Die polnischen Arbeiter*innen seien wegen ihres minderen Wesens bereit, unter schwierigeren Umständen für weniger Lohn zu arbeiten. Der »Zuzug vom Osten« habe damit nicht nur Nachteile für den Arbeitsmarkt, sondern sei vielmehr eine »Existenzfrage« des »Deutschtums«, da die deutsche Kultur im Osten zurückgedrängt und die deutsche Kolonisation dort zunichte gemacht würden. Bei der Diskussion seiner Thesen kam auch der Begriff der »Überfremdung« auf, der noch eine lange Geschichte in der Debatte um Migration in Deutschland haben sollte.

Dementsprechend richteten sich die Bestrebungen national-radikaler, völkischer und antisemitischer Kreise primär gegen die osteuropäischen, insbesondere die jüdischen Migrant*innen, deren Naturalisierung, den formaljuristischen Endpunkt des Einwanderungsprozesses, sie verhindern wollten. Im deutschen Kaiserreich handhabten die einzelnen Bundesstaaten die Einbürgerung allerdings noch sehr unterschiedlich. Hasse forderte als nationalliberaler Abgeordneter in einer Reichstagsrede im März 1895, die »Rasse- und Sprachfremden […] slawischer und semitischer Abstammung« sollten »grundsätzlich überhaupt nicht oder nur so wenig als möglich naturalisiert« werden.11 Insgesamt sollten keine Ausländer »fremden Stammes«, zu denen er auch Italiener und Tschechen rechnete und die »minderwertiges Menschenmaterial« seien, eingebürgert werden.12 Dieses Privileg wollte er nur noch ›Deutschstämmigen‹ zugestehen, etwa Ausgewanderten, die nach Deutschland zurückkehrten. Sie sollten ihre Staatsbürgerschaft nach zehn Jahren der Abwesenheit künftig nicht mehr automatisch verlieren. Das gleiche sollte für die deutschen Siedler*innen in den Kolonien gelten, die Reichsdeutsche bleiben sollten.

Darüber, dass die »Eingeborenen« überseeischer Besitzungen keine Reichsdeutschen sein konnten, waren sich die Politik und Fachjuristen weitgehend einig, zumal die Kolonien nur »Schutzgebiete« und damit kein vollwertiger Teil des Reichs waren. Manche erklärten die dort ansässige Bevölkerung zu »Reichsausländern«, die aber vielfach schlechter gestellt waren als andere weiße Ausländer, die im jeweiligen Gebiet lebten, etwa Buren oder Briten. Auch die Frage nach dem formaljuristischen Status von »Mischehen« und »Mischlingen« kam sehr bald auf, so dass eine Änderung bzw. diesbezügliche Präzisierung des Staatsbürgerschaftsrechts aus Sicht der Mehrheit der Parteien und Abgeordneten im Reichstag notwendig schien.13

Antisemitischer, antislawischer und gegen die kolonisierten Bevölkerungen in Afrika und Asien gerichteter Rassismus sowie deren binäres Gegenstück, nämlich die völkisch-rassisch-kulturelle Überhöhung der Deutschen und die daraus abgeleiteten Rechte auf eine expansionistische, gewalttätige und unterdrückende imperiale Politik verflochten sich also in jener Zeit zu einem Bündel an rassistischen Überzeugungen. Dieses Geflecht, das in Deutschland in kommunistischen, sozialistischen, teilweise sozialdemokratischen und einigen liberalen Kreisen noch bekämpft wurde, wurde zudem mit vermeintlich wissenschaftlichen Argumenten unterfüttert, wodurch sich allmählich ein rassistisches Wissen herausbildete.

Die Jahrhundertwende war die Hochzeit der wissenschaftlichen Rassentheorien, in denen Biologie und Medizin, aber auch die »Völkerkunde«, nicht nur die »unterentwickelten Kolonialvölker« taxierten, sondern auch innerhalb Europas Hierarchien zwischen den nordischen, den slawischen, den südlichen und sonstigen »Völkern« herstellten. Darüber hinaus vollzog sich in jener Zeit die »Verwissenschaftlichung des Sozialen« (Lutz Raphael): Der Sozialdarwinismus setzte sich als dominantes Deutungsmuster durch, demzufolge das Soziale als Ausdruck biologischer Verhältnisse und Entwicklungen zu verstehen ist. »Rasse« war dabei ein Begriff, der zwischen Biologie und Kultur changierte und deren vermeintlich engen Zusammenhang postulierte.

Diese neuen rassistischen Wissensbestände verbreiteten sich nicht nur in akademischen Kreisen und in allen politischen Milieus, sondern auch in der breiteren Öffentlichkeit. Das lässt sich daran ablesen, wie über den Kampf der deutschen Kolonialtruppen gegen den Widerstand der Herero und der Nama – Letztere wurden als »Hottentotten« bezeichnet – diskutiert wurde. Das Thema war äußerst präsent in den Medien, besonders im Rahmen der Reichstagswahl von 1907, die als »Hottentottenwahl« in die Geschichte einging.

In ihrem Zusammenhang wurde auch das Für und Wider der Kolonialpolitik breit diskutiert. Reichskanzler Bülow erklärte dem Reichstag, dass Kolonialpolitik keine Entscheidungsfrage sei – man könne sich nicht dagegen entscheiden, sondern man müsse kolonisieren, da der »Trieb zur Kolonisation zur Ausbreitung des eigenen Volktums« in jedem vitalen Volk angelegt sei. Der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger stimmte dem Prinzip zu, plädierte aber dafür, die Kolonialvölker nicht als Feinde, sondern als »Mündel« zu betrachten; denn der »Eingeborene ist das schwarze Kind mit seinen Vorzügen und all seinen großen, großen Schattenseiten«. Und selbst August Bebel, Abgeordneter der SPD, die sich bislang gegen die Kolonialpolitik ausgesprochen hatte, bezeichnete die Kolonisation als »Kulturtat«, welche den »fremden Völkern« die »Errungenschaften der Kultur und der Zivilisation« bringe.14

In der medialen Berichterstattung über den Guerillakrieg der Nama gegen die deutschen Kolonisatoren vollzog sich in Deutschland, so der Historiker Frank Oliver Sobich, parallel dazu ein Wandel des vorherrschenden Bilds »des Negers« vom faulen, kindergleichen Wilden zur gefährlichen »schwarzen Bestie«.15 Als Träger des Siedlungsimperiums in Afrika – und im Osten des Reichs, wo seit 1908 auch eine Kolonisationskommission tätig war – verstand man jedenfalls in der Regel nicht die Nation, den Staat oder bestimmte Klassen, sondern das »deutsche Volk«.16

Die weniger politisch Interessierten erreichte das sich ausbreitende rassistische Wissen auch auf anderen Wegen. So war auf der 300-Jahr-Feier der Stadt Mannheim 1907 der »Vergnügungspark Abessinisches Dorf« eine der Hauptattraktionen. Dort wurden in täglichen Schauen, wie eine Postkartensammlung aus der Zeit verrät, nicht nur Themen wie »Schule«, »Töpfer«, »Mutterfreude« und »Moschee« präsentiert, sondern auch Krieger gezeigt und Lanzengefechte vorgeführt. Diese »Attraktionen« bekamen nicht nur die Besucher*innen der »Internationalen Kunstausstellung und der Großen Gartenbauausstellung« zu Gesicht, die von Mai bis Oktober 1907 andauerte, sondern auch die Empfänger der Postkarten oder die Zeitungsleser der nahegelegenen Gemeinde Sandhofen. In einer Ankündigung zur »muhamedanische[n]« Taufzeremonie »im abessinischen Dorfe« konnten sie lesen:

Die Zeremonien, die diese Fremden aus einem fernen Weltteile dabei gewißenhaft ausführen, muten jeden Europäer seltsam an, und da zuletzt noch durch Speerwerfen, Freudentänze, Fußringkämpfe, einen Umzug sowie einen sehr ergiebigen Schmaus die Schaulust befriedigt wird, so dürfte dieses eigenartige Fest auch von Europäern viel besucht werden.17

»Völkerschauen« hatten sich in den europäischen Städten zu einem rentablen Geschäft entwickelt und brachten einen Hauch von »Afrika« in zahlreiche Metropolen. Das »deutsche Volk« konnte somit am sprichwörtlichen »Platz an der Sonne« teilhaben. Schließlich kamen alle Gesellschaftsschichten in gewissem Maße im Alltag mit den Kolonien in Verbindung, sei es, dass sie im Kolonialladen exotische Waren erwarben, sich bei den Schauen in wohligem Grusel über die »Eingeborenen« ergingen oder sich bei der Zeitungslektüre selbst mittelbar als Kolonialherr*innen fühlen konnten.

Andererseits gehörten die Teilnehmer*innen solcher Schauen zu den wenigen »Farbigen«, die neben der persönlichen Dienerschaft von deutschen Militärs oder Siedlern aus den Schutzgebieten überhaupt als Migrant*innen nach Deutschland kommen durften. Einigen wenigen unter ihnen gelang es auch, in Deutschland zu bleiben, was einer der Gründe war, weshalb die Deutsche Kolonialgesellschaft derartige Schauen ablehnte.

Der Kameruner Ekwe Bruno Ngando beispielsweise hatte 1896 mit einer Truppe an der Berliner Gewerbeausstellung teilgenommen. Wie er in einem Schreiben an die Behörden berichtete, mit dem er sich 1912 um die Reichsangehörigkeit bewarb, verspürte er daraufhin »keine Lust« mehr, »mit meiner Truppe weiter zu reisen«. Stattdessen war er bei einem Berliner Schneidermeister in die Lehre gegangen, arbeitete nun in Hannover als Kellner und wollte dort die »Büffetdame Ida Kleinfeld« heiraten. Sein Einbürgerungsantrag wurde abgelehnt, wie wohl in den meisten dieser ohnehin wenigen Fälle im Deutschen Reich.18

Die »Eingeborenen« sollten in Übersee, oftmals unter Zwang bzw. in regelrechten Arbeitslagern, für die deutschen Siedler*innen vor Ort arbeiten, was zudem im Zuge ihrer »Zivilisierungsmission« als »Erziehung zur Arbeit« verklärt wurde.19 Zuhause im Reich erledigten derweil andere »minderwertige Völker« jene Arbeit, die man als Deutscher nicht mehr machen wollte.

»Arbeitseinfuhrland« Deutschland

Es ist fraglos, daß die deutsche Volkswirtschaft aus der Arbeitskraft der im besten Alter stehenden Ausländer einen hohen Gewinn zieht, wobei das Auswanderungsland die Aufzuchtkosten bis zur Erwerbstätigkeit der Arbeiter übernommen hat. Von noch viel größerer Bedeutung ist jedoch das Abstoßen oder die verminderte Anwerbung der ausländischen Arbeiter in Zeiten wirtschaftlichen Niederganges. Die Nichtbeschäftigung der ausländischen Arbeiter bedeutet alsdann für den deutschen Arbeitsmarkt keine Arbeitslosigkeit, sondern ein Fernbleiben der Ausländer aus Deutschland […].

[…] Die ausländischen Tagelöhner zeigen die größere Bereitwilligkeit, grobe und schwere Arbeiten zu übernehmen, als die auf höherer Kulturstufe stehenden deutschen Arbeiter. Ihnen sind gewisse Arbeiten vorbehalten, die der deutsche Arbeiter nur mit Widerstreben ausführt. […]

Mit der Schwere der Ausländerarbeit ist aber zumeist eine ermüdende Einförmigkeit ohne irgendwelche geistige Anspannung, ein abstoßender Schmutz und ein Zusammenkommen unvermeidlicher, unhygienischer Arbeitsbedingungen verbunden. Das Abstoßen dieser Arbeiten auf die Ausländer bedeutet keine Entartung, sondern eine in hygienischer Beziehung erwünschte Förderung der Volkskraft. […]

Ist es unvermeidlich, ausländische Arbeiter heranzuziehen, so scheint es auch sozialpolitisch angezeigt, sie gerade mit den niedrigsten, keine Vorbildung erfordernden und am geringsten entlohnten Arbeiten zu beschäftigen, denn dadurch besteht für die einheimische Arbeiterschaft der beachtenswerte Vorteil, daß ihr Aufstieg von der gewöhnlichen, niedrig entlohnten Tagelöhnerarbeit zu der qualifizierten und gut entlohnten Facharbeit wesentlich erleichtert wird.1

Dieses Resümee zog 1918 Friedrich Syrup, der zwei Jahre später, nunmehr in der Weimarer Republik, erster Leiter des Reichsamtes für Arbeitsvermittlung wurde und der während der NS-Herrschaft als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz die Zwangsarbeit maßgeblich mitorganisierte. In diesen Absätzen fasste Syrup nicht nur die bisherigen Erkenntnisse zum Phänomen der ausländischen Arbeitsmigration zusammen. Er formulierte gleichzeitig auch das Verwertungskalkül, unter dem ausländische Arbeitnehmer*innen auch künftig betrachtet wurden und das trotz aller »volkstumspolitischen« Einwände im Zweifel überwog. Die »Arbeitsfähigkeit« entschied darüber, ob eine wegen ihrer Herkunft geringgeschätzte und damit für das »Deutschtum gefährliche« Gruppe dennoch zeitweilig als nützlicher Teil der Bevölkerung in Deutschland akzeptiert wurde.2

Die Migration von Arbeiter*innen war bereits im gesamten 19. Jahrhundert Normalität gewesen, wobei Sesshaftigkeit und Mobilität zunächst auf regionaler Ebene ausgehandelt wurden. Die Historikerin Katrin Lehnert hat am Beispiel Sachsens herausgearbeitet, wie die Behörden in den 1830er Jahren zunächst versuchten, das Gesinde, hochmobile junge Frauen und Männer, die traditionell auch aus dem benachbarten Böhmen auf Zeit zum Arbeiten kamen, gegen deren Widerstand zur Sesshaftigkeit zu bewegen. Gegen Ende des Jahrhunderts war schließlich die Freizügigkeit nur der Ausländer beschränkt worden, während Deutsche das Recht auf Freizügigkeit – zu kommen, zu gehen oder zu bleiben – nun in allen deutschen Bundesstaaten zuerkannt bekamen. Die deutschsprachigen Böhmen, die formaljuristisch Ausländer*innen waren, durften allerdings auch weiterhin nach Sachsen kommen, während tschechischsprachige Böhmen als Ausländer*innen nicht nur in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurden, sondern weitere rechtliche und soziale Diskriminierungen erfuhren.3 Mobilität und Arbeit entwickelten sich zu den zentralen gesellschaftlichen Feldern, auf denen die Trennung und Hierarchisierung von ›Deutschen und Ausländern‹ stattfand und das spezifische Bild des Ausländers sein Gepräge bekam.

In den 1880/90er Jahren hatte sich Deutschland vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland, oder wie es 1922 ein Zeitgenosse treffender nannte, zum »Arbeitseinfuhrland« gewandelt. Die transatlantische Auswanderung der Deutschen kam für eine Weile zum Stillstand, doch Deutschland selbst war längst Ziel und Schauplatz größerer Migrationsbewegungen geworden: Zum einen gab es die kontinuierliche Transitmigration von Menschen aus Russland und den ehemaligen polnischen Gebieten – darunter sehr viele Jüdinnen und Juden, die dort diskriminiert und verfolgt wurden –, die auf ihrem Weg nach Westen insbesondere in die norddeutschen Hafenstädte und von da in die USA reisten. Zum anderen ist die Arbeitsmigration zu nennen, die mehrheitlich vom Osten und Süden Europas ins Deutsche Reich stattfand.

Die rasante Industrialisierung hatte die innerdeutsche Migration in die Industriezentren des Westens verstärkt und den »Leutemangel« in der ostdeutschen Landwirtschaft verschärft, der wiederum durch Arbeitskräfte aus den polnisch, ukrainisch bzw. ruthenisch dominierten Grenzgebieten ausgeglichen wurde. Im weiteren Verlauf wurden ausländische Arbeitsmigrant*innen jedoch auch in der Industrie und im Baugewerbe im gesamten Kaiserreich nachgefragt. Die meisten der 1,2 Millionen ausländischen Arbeiter*innen, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland arbeiteten, waren Pol*innen, an zweiter Stelle standen die größtenteils männlichen Arbeiter aus Italien.

Der Mannheimer Generalanzeiger meldete im Januar 1907 die »Masseneinwanderung von italienischen Arbeitern«, insgesamt 350 Personen, die nach der Schiffsüberfahrt von Bregenz nach Konstanz Richtung Schwarzwald weitergezogen seien.4