Diabetes v2.0 - Andreas Festa - E-Book

Diabetes v2.0 E-Book

Andreas Festa

0,0

Beschreibung

Unser Blick auf die "Volkskrankheit" Diabetes hat sich in den letzten Jahren fundamental verändert. So sehen wir uns dramatischen Neuerungen gegenüber, vor allem im Bereich der Medikamente und moderner Technologien. Diese Entwicklungen haben die Möglichkeiten der Behandlung deutlich verbessert – jetzt heißt es, den Überblick zu bewahren. Das Buch fasst den aktuellen Kenntnisstand zusammen und gibt Betroffenen ebenso wie interessierten Laien die Möglichkeit, aktuelle Entwicklungen zu verstehen und den Bogen zu spannen vom Theoretischen hin zum realen Diabetes. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden in einfachen Worten erklärt, um letztlich auch deren Bedeutung für den Alltag mit Diabetes nachvollziehen zu können.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 251

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Gebrauchsanleitung

Prolog

TEIL 1

Diagnose und Grundlagen des Diabetes

Kapitel 1 Zucker ist nicht gleich Zucker

Die gut geölte Maschine

Diagnose Diabetes

Zucker ist der Treibstoff

Zucker 120 mg/dl – nur eine Zahl?

Diabetes Typ 1 oder Typ 2 oder sonst noch was?

Welcher Typ sind Sie? – Die vielen Gesichter des Diabetes

Aber warum? Und vor allem: warum ich?

Fehler im System – die Hauptakteure

Lebenswichtig: die Bauchspeicheldrüse als Hormonfabrik

Die erste Geige im Orchester

Der „normale“ Zucker – ein Selbstversuch

Kapitel 2 Behandlung – die Grundlagen

Medizin: immer individuell, also persönlich

Die drei (magischen) Kreise

Lehrreiche Gedanken eines Patienten

Wir schmieden einen Plan

Hurra, wir haben einen Plan

Wem gehört der Behandlungsplan?

Kein Plan ist in Stein gemeißelt

Nie mehr Schule – oder doch?

Gedanken zur Logistik in der Betreuung der Patientinnen und Patienten

Health Literacy

Kapitel 3 Therapieziele

Wohin geht die Reise?

Die Ziele der Ärztinnen und Ärzte

Behandlungsziele in besonderen Fällen

Therapieziele bei Schwangerschaftsdiabetes

Therapieziele bei Diabetes im Alter

TEIL 2

Zucker runter – aber wie?

Kapitel 4 Gewohnheitstier und Schweinehund

Lebensstil mit Stil

E wie (gesunde) Ernährung

B wie Bewegung (nicht – unbedingt – Sport)

R wie Rauchen aufgeben

Verstehen – akzeptieren – umsetzen

Wie ich mit meinen Patientinnen und Patienten spreche

50% Psychologie

Compliance

Lebensstil – acht Tipps für den Alltag

Kapitel 5 Medikamente

Blutzucker „only“ – Medikamente, die „nur“ den Blutzucker senken

Blutzucker „plus“ – blutzuckersenkende Medikamente, die einen klinischen Zusatznutzen versprechen

Zusätzliche Medikamente, die häufig bei Diabetes gegeben werden

(Gewichtswirksame) Medikamente bei Typ-1-Diabetes

Die Geschichte mit dem Heizstrahler – zur Wirkung von Placebo und Nocebo

Kapitel 6 Injektionstherapien

Welche Spritze?

Insulindosis bei Typ-1-Diabetes

Insulin bei Typ-2-Diabetes

Insulin bei Schwangerschaftsdiabetes (Gestationsdiabetes)

Insulin „to go“

Insulinstrategien bei Typ-2-Diabetes

Insulinstrategie: aber welche?

Praktisches

Injektionstherapien – neue Entwicklungen

Kapitel 7 Neue Technologien

Blutzuckermessungen – Sensoren

So viel Auswahl – welchen Sensor brauche ich?

Selbstversuch

Pumpen

DIY – do it yourself

TEIL 3

Diabetes ganz speziell

Kapitel 8 Diabetes für Spezialistinnen und Spezialisten

Typ-1-Diabetes

A blast from the past – ein ganz individueller Blick zurück zu den Anfängen

Besonderheiten des Typ-1-Diabetes

Der Akku ist leer – Vorsicht Unterzuckerung

Diabetes im Kindesalter

MODY-Diabetes

Schwangerschaftsdiabetes

Schwangerschaft und Typ-1-Diabetes

Diabetes im Alter – 60 plus!

Diabetes bei Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse

Übergewicht – so gelingt die Gewichtsabnahme

Der/die schwierige Patient/in

Kostenerstattung durch die Krankenkassen

Mythen – Fakt oder Fake?

Die Rolle der Pharmaindustrie

Diabetes in der Krise

TEIL 4

Die Zukunft

Kapitel 9 Die Zukunft

Neue Medikamente

Neuigkeiten bei Typ-1-Diabetes

Neue Technologien

Trotz aller Neuerungen – alte Sorgen

Fünf Hypothesen für die Zukunft

Epilog

Stichwortverzeichnis

Danksagung

 

 

 

Univ.-Prof. Dr. med. Andreas Festa

 

 

Diabetes v2.0

 

Wie moderne Therapien funktionieren und wie Sie profitieren

 

 

© Verlagshaus der Ärzte GmbH, Nibelungengasse 13, 1010 Wien, Österreich

www.aerzteverlagshaus.at

1. Auflage 2021

 

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere das der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwendung, vorbehalten.

 

Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden im Buch nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann aber nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

 

ISBN 978-3-99052-271-4

Umschlag: Grafikbüro Lisa Hahsler, 2232 Deutsch-Wagram

Umschlagfoto: istockphoto (marina_ua)

Grafik und Illustration: Karoline Baumgartner, 2105 Oberrohrbach

Projektbetreuung: Hagen Schaub

 

Sämtliche Angaben in diesem Buch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr und müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eine Haftung des Autors oder des Verlags aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen.

„Wir müssen unser Dasein so weit, als es irgend geht, annehmen, alles, auch das Unerhörte, muss darin möglich sein.“

Rainer Maria Rilke, 1904

 

 

 

Liebe Leserin/lieber Leser!

 

Die Inspiration zu diesem Buch fand ich zuerst beim Historiker und Philosophen Yuval Noah Harari (u.a. 21 Lessons for the 21st century; 2018). Er ermuntert alle Wissenschafter und Wissenschafterinnen dazu, Engagement zu zeigen in der öffentlichen Diskussion. Gerne höre ich den Appell, mein Wissen, das ich im Laufe der Jahrzehnte sammeln durfte, mit Ihnen allen zu teilen. Mein Anspruch ist es dabei, das aktuelle Wissen bestmöglich darzustellen, aus der Sicht der Wissenschaft (als Grundlage der modernen Medizin), aus der Sicht der Wirtschaftlichkeit (die moderne Medizin ist kostspielig) und – vor allem anderen – aus der Sicht der Betroffenen, also aller Menschen mit Diabetes, und aller, die sich dafür interessieren (Medizin ist für die Menschen da). Denn gerade beim Diabetes gilt: Wissen ist Macht. Macht, die es braucht als Gegengewicht zur Ohnmacht, die so viele Betroffene angesichts der vielen Herausforderungen, die der Diabetes mit sich bringt, empfinden.

Welches Wissen braucht es also? Das ganze Wissen liegt ja heute ohnehin vor unseren Augen ausgebreitet, quasi nur einen Mausklick entfernt. Also fragen wir doch einfach Dr. Google! Eine kurze Suche im Internet hat mich dann doch überrascht: 70% der Bücher über Diabetes sind Kochbücher oder haben irgendetwas mit Essen zu tun. Als ob sich der Diabetes in der Küche besiegen ließe!

Dieses Buch ist also mein (bescheidener) Beitrag, Ihnen allen den Diabetes ein Stück näherzubringen. Mit dem Ziel, die spannenden Zusammenhänge zu erklären, die zur Entstehung des Diabetes beitragen, die Feinheiten in der Unterscheidung der zahlreichen Diabetesformen aufzuzeigen, und auch die unendlich vielen Möglichkeiten der Behandlung, die abgrundtiefen Enttäuschungen, die Betroffene viele Male erleben, aber auch die grandiosen Entwicklungen etwa im Einsatz moderner Technologien. Diese faszinierende Bandbreite des Diabetes möchte ich Ihnen nahebringen. So lege ich Ihnen mein ganzes Wissen und meine ganze Erfahrung zu Füßen (oder besser vor Augen, dann können Sie diese Zeilen besser lesen). Es ist mir eine Ehre und Freude, einen Bogen zu spannen vom „theoretischen“ Diabetes (das Wissen, das wir in den Lehrbüchern finden) zum „realen“ Diabetes (das, was Betroffene Tag für Tag erleben und erleiden) und Ihnen allen etwas an die Hand zu geben, was Sie bei Dr. Google garantiert nicht finden!

So darf ich Ihnen von Herzen eine interessante Lektüre wünschen.

 

Ihr

Andreas Festa

 

Gebrauchsanleitung

Wir erleben eine Revolution, einen dramatischen Wandel in der Betreuung von Menschen mit Diabetes. Neue Entwicklungen versprechen neue Hoffnung im Umgang mit der Krankheit. Von diesen Entwicklungen wird in diesem Buch die Rede sein. Ich helfe Ihnen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Wahre Hoffnungen klar zu trennen von den „fake news“. Ich zeige Ihnen, wie Sie diese Neuerungen für sich ganz persönlich nützen können, welchen möglichen Gefahren Sie aus dem Weg gehen sollten und was Sie in der Zukunft noch erwarten dürfen. Ich spanne einen Bogen über alle wichtigen Aspekte der Erkrankung, also von der Diagnose zur Behandlung, vom „Einfachen“ (Lebensstil) zum „Komplizierten“ (neue Technologien). All das vor dem Hintergrund Ihrer ganz persönlichen Sorgen, Bedürfnisse und Erwartungen. Ich bringe Sie auf den letzten Stand der Dinge, entlarve Mythen und gebe Ihnen Hilfe für Ihr Leben mit Diabetes. Betrachten Sie den Umgang mit der Krankheit als eine Reise. Ziel der Reise ist ein sorgenfreies und gutes Leben, in dem es gelingt, die Erkrankung so weit in den Griff zu bekommen, dass sie möglichst „unsichtbar“ bleibt und im Alltag nicht spürbar ist.

 

Erwarten Sie aber bitte kein Lehrbuch (es erhebt auch keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit), es ist auch kein Ratgeber (ich möchte Ihnen keinen Rat geben, bestenfalls eine Anregung) und es ist auch keine klassische Abhandlung diabetesrelevanter Schulungsinhalte. Ziel des Buches ist vielmehr, Zusammenhänge zu erklären, Beobachtungen zu teilen und zum Nachdenken anzuregen. Und natürlich auch den einen oder anderen praktischen Tipp im Umgang mit Diabetes zu geben.

Ich folge dabei immer den Pfaden und den Regeln der Wissenschaft, orientiere mich also in meinen Aussagen an den Erkenntnissen der gängigen Forschung. Mein Zugang ist demnach in erster Linie evidenzbasiert, das heißt, meine Aussagen stützen sich auf wissenschaftlich nachweisbare Erkenntnisse. Im Unterschied zu einer wissenschaftlichen Arbeit (oder einem Lehrbuch) habe ich allerdings darauf verzichtet, jede Erkenntnis mit entsprechenden Zitaten zu unterlegen. Seien Sie aber versichert, dass sich alle in diesem Buch dargestellten Erkenntnisse durch entsprechende Literatur belegen lassen. In den Fällen, in denen das Eis der Erkenntnis dünner wird (was durchaus schon mal vorkommt), erlaube ich mir, auch darauf hinzuweisen, und ich drücke mich dann auch entsprechend vorsichtig aus. Falls die eine oder andere Information vielleicht noch der Erklärung bedarf (also falls ich mich nicht klar genug ausgedrückt habe), dann bitte ich an dieser Stelle um Entschuldigung. Bitte sprechen Sie in jedem Fall, in dem Fragen offen geblieben sind, mit Ihrem Arzt/Ihrer Ärztin. Besonders dann, wenn es um konkrete Behandlungssituationen geht.

 

Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt erkläre ich einige Grundlagen, die vermutlich auch das Verständnis für die folgenden Abschnitte erleichtern. Aber nicht zwangsläufig; viele von Ihnen werden schon ein robustes Wissen mitbringen. Im zweiten Abschnitt schreibe ich über die Möglichkeiten der Behandlung des Diabetes, einschließlich der modernen Technologien. Mit dem dritten Teil zu den Spezialthemen und dann auch mit dem letzten Abschnitt zu zukünftigen Entwicklungen in der Diabetologie hoffe ich, auch den Experten und Expertinnen unter Ihnen noch Wissenswertes mitgeben zu können. Diese Kapitel eignen sich besonders zum „querlesen“. Auch dafür ist das Buch übrigens generell gut geeignet. Der Flexibilität in der Lesefolge steht gegenüber, dass sich der eine oder andere Inhalt mitunter wiederholt. Es sind jedenfalls die Dinge, die mir besonders wichtig erscheinen, die ich dann in den jeweiligen Zusammenhang stelle und dann keinesfalls – und ganz bewusst – nicht herauskürzen wollte. Scheuen Sie sich nicht, mal nach vorne und dann wieder zurück zu blättern. Als Beispiel sei hier der Typ-1-Diabetes genannt, dem ich – wiederum ganz bewusst – kein eigenes Kapitel widme. Stattdessen habe ich immer wieder versucht, diese besondere Diabetesform in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Einige Unterkapitel sind dann aber doch voll und ganz dem Typ-1-Diabetes gewidmet. Im Anhang finden Sie dann noch einige praktische Informationen, etwa die 50 häufigsten Fragen aus meiner Praxis.

So, und jetzt geht’s endlich los – mit einer Kurzgeschichte.

 

Prolog

Wer hat das Paket bestellt? Ich jedenfalls nicht!

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen gemütlich beim Abendessen im Kreis Ihrer Familie. Es wird zwanglos geplaudert und es herrscht gute Laune. Das Essen duftet, gerade nehmen Sie Platz, rücken den Sessel zurecht und greifen nach Ihrem Besteck.Plötzlich ein Läuten an der Eingangstür. Ein kurzer Blick in die Runde: „Wer kann das sein?“ Fragende Gesichter. „Na gut, lasst dann mal, ich sehe nach.“ Sie erheben sich, wenden sich in Richtung Vorzimmer. Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf: „Wer könnte das sein?“ Oder: „Ist etwas passiert?“ Schon sind Sie an der Tür, drehen den Schlüssel im Schloss um und öffnen die Tür. Draußen steht: ein junger Mann. „Ah die Post oder einer dieser Paketdienste“, denken Sie, „Gott sei Dank nichts Schlimmes.“„Was kann ich für Sie tun?“, geht Ihnen durch den Kopf, aber nein, er tut ja etwas für mich, er bringt mir Post, einen Brief oder vielleicht ein Paket. „Guten Abend, bitte entschuldigen Sie die spätere Stunde, aber Sie wissen ja, es ist so viel los um diese Zeit.“ „Nein, nein, kein Problem.“ Aha, doch ein Paket, und schon streckt es der Mann in Ihre Richtung. Sie fühlen freudige Erwartung. Ein Geschenk vielleicht, das nimmt man immer gerne, aber von wem kann es wohl sein? Schon mischt sich leiser Zweifel in die Freude. Oh Gott, hab ich das etwa online bestellt – und schon wieder vergessen? „Wer schickt denn das Paket?“ fragen Sie.„Sehen Sie, hier steht etwas“, lautet die prompte Antwort, während der Bote auf einen Schriftzug an der Seite des Pakets deutet. „Meine Brille,“ denken Sie, „keine Chance, das zu entziffern.“ Also sagen Sie: „Na gut, lassen Sie mal, das wird schon passen.“ Langsam wird der Bote ungeduldig, hält Ihnen ein flaches Ding zur Unterschrift vor die Nase. Sie setzen Ihren Namen in das Textfeld und nehmen das Paket entgegen. Schon ist der Bote verschwunden, während Sie noch kurz an der offenen Tür verharren. Unschlüssig wiegen Sie das Paket in Ihren Händen. Es fühlt sich schwer an, kalt und sonderbar. Die Verpackung ist dunkel, die Oberfläche rau, die Kanten scharf. Das kann nur ein Irrtum sein, morgen schick ich das Paket wieder zurück, denken Sie noch, als Sie schon wieder auf dem Weg zurück zur Gesellschaft sind. Es wird ein sehr vergnüglicher und langer Abend. Als Sie zu Bett gehen, haben Sie das Paket längst wieder vergessen.Über Nacht bringt eine Wetterfront Regen und Wind, der sich zu einem Sturm entwickelt. Als Sie erwachen, ist es dunkel, viel zu früh noch, um den Tag zu beginnen. Wahrscheinlich hat der Sturm am Fensterladen gerüttelt. Plötzlich ist der Traum zum Greifen nahe. Sie halten ein Paket in Händen. Absender: unbekannt. Es fühlt sich schwer an, dann wieder federleicht. Es scheint sich zu bewegen, aus dem Inneren heraus, dann hält es still. Sie verspüren den Drang, es weit von sich zu werfen. Plötzlich, wie aus weiter Ferne, dringt ein Ton aus ihm hervor, zuerst leise, dann immer lauter, immer höher, dann bricht der Ton abrupt ab und alles ist wieder still. Unheimlich still. Aus dem Inneren schimmert jetzt ein Licht, zuerst blau, dann rot, und so schnell das Licht gekommen ist, ist es schon wieder erloschen. In Ihren Händen bleibt ein schwerer, unförmiger Klumpen. Dann nehmen Sie sich doch ein Herz und beschließen, das Paket zu öffnen. Unheimlich ist das Gefühl, aber irgendwas drängt Sie, Ihrer Neugier nachzugeben.

Doch so weit soll es nicht kommen – der Wecker läutet und der Tag beginnt. Zurück bleibt ein bitterer Nachgeschmack – es war kein Alptraum, aber einer dieser Träume, die Sie ein wenig ratlos zurücklassen. Doch jetzt rasch aus dem Bett. Wenig später, auf dem Weg aus dem Haus (wie üblich mit Verspätung), nehmen Sie das Paket aus dem Augenwinkel gerade so lange wahr, um sich des Traumes nochmals zu erinnern.

„Hmm“, denken Sie, „aber gut, jetzt ist keine Zeit dafür.“ Dann doch noch ein kurzer Blick auf den Absender: „Diagnosehaus“ steht da in großen Lettern, und daneben, etwas kleiner, „Diabetes“. Und schließlich noch: „Bitte unverzüglich öffnen.“

 

TEIL 1

Diagnose und Grundlagen des Diabetes

 

Kapitel 1Zucker ist nicht gleich Zucker

Oft werde ich in meiner Praxis gefragt: „Vor einem Jahr war noch alles ganz normal, jetzt ist mein Zucker plötzlich hoch. Was ist da los, was ist passiert?“ Solche oder ähnliche Fragen sind immer eine gute Gelegenheit, um die vielen Gesichter des Diabetes Revue passieren zu lassen.

Die gut geölte Maschine

Wenn zu viel Zucker im Blut durch den Körper fließt, sprechen wir Ärztinnen und Ärzte von der Zuckerkrankheit, die Diagnose lautet dann „Diabetes mellitus“. Zu viel Zucker im Körper ist sehr leicht zu messen. Ein Tropfen Blut genügt dazu. Allerdings: Was zunächst einfach klingt, ist bei näherer Betrachtung Ausdruck eines hochkomplexen biologischen Systems. Der erhöhte Blutzucker ist die Folge verschiedener Störungen im normalen Ablauf der Körperfunktionen. Der menschliche Körper verfügt über sehr gut ausgebildete, komplexe Regelkreise, die eine normale („physiologische“) Funktionsweise sicherstellen. Kommt es zu Störungen im Ablauf dieser Regelkreise, sind oft Krankheiten die Folge. Zum Beispiel die Zuckerkrankheit.

 

An der Entstehung des Diabetes sind häufig mehrere Organe gleichzeitig beteiligt. Diese Organe bilden die Eckpfeiler in einem Regelkreis, in dem Abweichungen und kleinere Funktionsstörungen abgefedert werden können – der menschliche Körper funktioniert dann wie eine gut geölte Maschine. Ist der Zucker hier ein wenig zu hoch, kommt sofort die Bauchspeicheldrüse zu Hilfe und schüttet rasch Insulin aus. Das Hormon, das den Zucker sehr effizient und rasch wieder senkt. Oder die Leber springt ein und bremst die körpereigene Produktion von Zucker. Ein komplexes Geflecht ist am Werk, ein gut geübtes Orchester, das wohltuende Klänge ertönen lässt. Wenn wir das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker hören, mögen viele denken: Das ist doch wunderbar und sieht ganz einfach und spielerisch aus. Mitnichten. Wird nur ein einziger Handgriff nicht gut ausgeführt, kann ein Misston entstehen. So ähnlich funktioniert auch der menschliche Körper, nur viel komplizierter. Kommt es also zu Misstönen (bzw. Funktionsstörungen), die ein gewisses Ausmaß übersteigen (dieses Ausmaß ist individuell von Mensch zu Mensch sehr verschieden), dann läuft die Maschine plötzlich nicht mehr ganz rund. Die gut geölte Maschine beginnt zu stottern, zuerst ganz leise, kaum hörbar, dann immer lauter. Das System gerät aus dem Gleichgewicht, ein Maschinenschaden droht. Höchste Zeit einzugreifen, bevor die Schäden irreparabel werden. Jetzt gilt es, rasch die Abweichungen zu erkennen und die Abläufe wieder in gewohnte Bahnen zurückzuführen. Den hohen Blutzucker rechtzeitig als Störfaktor zu erkennen und angemessen zu behandeln.

Diagnose Diabetes

Oft sehe ich Patientinnen und Patienten in der Klinik, die von ihren Hausärztinnen und Hausärzten zu uns geschickt wurden.

„Was kann ich für Sie tun, Frau Schön?“, frage ich dann zuallererst. Oder eben auch den Herren Schön.

„Ich wurde von meinem Arzt geschickt, zur Blutzuckereinstellung.“

Zu Beginn der Erkrankung, kurz nach Diagnosestellung, sprechen wir gerne von der „Ersteinstellung“ des Diabetes.

„Wie ist meine Blutzuckereinstellung, Herr Doktor?“, werde ich oft auch im weiteren Verlauf gefragt. Oft ist damit gemeint: Wie gut habe ich meinen Diabetes im Griff, wie gut habe ich meinen Blutzucker unter Kontrolle?

Aber warum sprechen wir im Zusammenhang mit dem Blutzucker überhaupt so oft von der „Blutzuckereinstellung“? Als wäre der Zucker ein Stellrad in Beziehung zu einer Skala. Oder meinen wir mit Einstellung etwa auch unsere innere Geisteshaltung, beschreibt die „Einstellung“ nicht auch eine persönliche Beziehung zu einer Lebensrealität? Unsere Einstellung der chronischen Krankheit gegenüber, dem Umgang mit Diabetes im Alltag, 24 Stunden lang, 7 Tage die Woche, ein ganzes Leben lang?

Zucker ist der Treibstoff

Zurück zur Rolle des Blutzuckers. Welchen Zweck erfüllt dieser (chemisch) so einfache und doch so komplexe und vor allem so wichtige Stoff? Wozu brauchen wir Menschen den Zucker überhaupt?

Einfach gesagt: Der Zucker versorgt unsere Organe mit Energie. Zucker ist der Treibstoff, der die Maschine am Laufen hält. Unser Gehirn, die Kommandozentrale, ist ganz besonders auf den Zucker im Blut angewiesen, um gut und möglichst reibungslos funktionieren zu können. Kein System, das auch nur irgendeine Leistung erbringt, kann ohne Energie arbeiten, kein physikalisches System, keine Maschine, kein Fahrzeug und auch kein biologisches System, kein Organismus. Und was für Leistungen der menschliche Körper vollbringt! Denken Sie an ein Fahrzeug, etwa Ihr Auto, mit dem Sie vielleicht heute schon gefahren sind, oder an den Zug, mit dem Sie heute schon gereist sind, oder an den Kühlschrank, dem Sie die Milch für Ihren Morgenkaffee entnommen haben. Alles „Systeme“ (wenn auch keine biologischen), die Energie in Form von Brennstoffen, etwa Benzin oder elektrischem Strom, benötigen, um klaglos zu funktionieren. Umso mehr brauchen auch biologische Systeme, Pflanzen, Tiere, Menschen, die in Aufbau und Funktion ja noch viel komplexer sind, ständig Energie, die in der Sekunde verfügbar sein muss (selbst in Ruhe oder wenn wir schlafen). Also brauchen wir Energie, brauchen wir Menschen Zucker, um überhaupt (über-)leben zu können.

Unser Gehirn, also die Kommandozentrale, braucht den Zucker ganz besonders als Energiequelle. Denken verbraucht – viel! – Energie. Andere lebenswichtige Organe wie Leber, Herz, Darm und andere können leichter und mit weniger Aufwand auch auf alternative Nährstoffe, Substrate, auch Fett und Eiweiß als Treibstoff und Energiequelle zurückgreifen. Um diesem zentralen Stellenwert des Zuckers Rechnung zu tragen, hat der menschliche Körper seit Abertausenden von Jahren der Entwicklung ein komplexes Regelwerk entwickelt. Ein Regelwerk, das den Blutzucker in verschiedenen Lebenssituationen sehr stabil hält, damit das Gehirn (und andere lebenswichtige Organe) somit kontinuierlich und verlässlich mit Energie versorgt werden. Eine einfache Aufgabe (ständige Verfügbarkeit von Energie), die einer komplexen Lösung bedarf, die vielfach verzahnt und durch verzweigte Abläufe mehrfach gesichert ist. Ein biologisches System, das sich über Jahrtausende entwickelt hat und in allerjüngster Zeit (sagen wir etwa im Laufe der letzten 100 Jahre) ganz speziellen Herausforderungen ausgesetzt ist – durch fundamental geänderte Lebensumstände. Die Lebenserwartung hat sich in extrem kurzer Zeit (verglichen mit der Geschichte der Menschheit auf Erden) mehr als verdoppelt. Das Nahrungsangebot ist überbordend (ich spreche hier von unserer Welt, nicht von den Schwellen- und Entwicklungsländern). Wir sind an Schreibtische, Computer und Fernsehsofas gefesselt. Die Funktionen unseres Bewegungsapparates und mit ihm des Muskel- und Fettgewebes erfahren eine ganz neue Bedeutung. Wen wundert es, wenn das System plötzlich Schwächen zeigt in einer Umgebung, für die es ursprünglich nicht gemacht wurde. Ein System, das Schwächen zeigt und störungsanfällig wird. An dieser Stelle ist es Zeit für eine gute Nachricht: Unser Wissen um diese möglichen – und unerwünschten – Mechanismen und zugrundeliegenden Störfaktoren hat enorm zugenommen, womit sich auch die Möglichkeiten der Prävention und Behandlung des Diabetes drastisch verbessert haben.

Zucker 120 mg/dl – nur eine Zahl?

„Herr Stark, Ihr Blutzucker beträgt 120mg/dl“, wird dem Patienten dann von seinem Hausarzt oder seiner Hausärztin mehr oder weniger feierlich verkündet. Eine einfache Zahl auf einem Stück Papier (oder Pixel auf einem Bildschirm) – und doch steckt so viel dahinter. Und doch ist es wieder nur eine abstrakte Größe, wenn wir nicht verstehen, was dahintersteht, wenn wir nicht die Regelkreise beachten, deren Endstrecke als Zahl zum Ausdruck kommt. Wenn wir nicht verstehen, wie die beteiligten Organe zusammenwirken, welche Hormone im Spiel sind, um dieses Zusammenspiel zu orchestrieren, wenn wir – last but not least – nicht den Menschen betrachten, in dessen Blut der Zuckerwert gemessen wurde.

Nehmen wir als Beispiel einen Blutzuckerwert von 120mg/dl. Das kann ein hoher Wert sein, wenn wir einen jungen Menschen betrachten, der seit Stunden nichts gegessen oder getrunken hat. Das kann wenig sein, wenn ein Mensch mit Typ-1-Diabetes vor kurzer Zeit einen hohen Blutzuckerwert mittels Insulin behandelt hat. Oder es kann ein optimaler Wert sein, etwa eine Stunde nach einer Mahlzeit bei einer schwangeren Frau mit Gestationsdiabetes. Oder es kann ein Wert sein, der nicht aus dem Blut, sondern aus dem Gewebe unter der Haut (mittels Sensortechnologie) gemessen wurde, zusätzlich noch versehen mit einem Trendpfeil, der anzeigt, in welche Richtung der Zuckerwert sich in den nächsten Minuten weiterentwickeln wird. Und siehe da: Was zunächst eine simple und noch bedeutungslose Zahl auf einem Stück Papier ist, hat flugs eine lebendige Bedeutung bekommen.

Diabetes Typ 1 oder Typ 2 oder sonst noch was?

Jede Krankheit ist Ausdruck des Zusammenspiels der Gene, die den Bauplan für ein Lebewesen enthalten (die erbliche Komponente) mit dem, was die Umwelt dem Lebewesen antut (die erworbene Komponente). Doch damit nicht genug; wir Ärztinnen und Ärzte bezeichnen den Diabetes gerne als „multifaktoriell“ (wie übrigens auch die meisten anderen, vor allem chronischen Erkrankungen). Es ist also wieder einmal bei genauem Hinsehen doch noch etwas komplizierter. Multifaktoriell bedeutet, dass viele Gene beteiligt sind (und nicht nur ein oder zwei), aber auch viele Faktoren, die gemeinhin der Umwelt zugeschrieben werden; ich selbst spreche bei letzteren dann gerne von Faktoren des Lebensstils. Den Lebensstil ins Rampenlicht zu rücken, ist deshalb so wichtig, weil wir vor Augen haben sollen, dass die Umwelt nicht notwendigerweise etwas Schicksalhaftes darstellt, sondern etwas, das wir zu einem guten Teil selbst in Händen halten. Anders als unsere genetische Ausstattung eben, denn die Gene, die wir sprichwörtlich in die Wiege gelegt bekommen, können wir – wenn überhaupt – nur indirekt beeinflussen. Letzteres beschäftigt das Fach der Epigenetik, eine vergleichsweise junge Wissenschaft mit noch einigen Unbekannten.

So steht bei Typ-1-Diabetes die Bauspeicheldrüse im Fokus der Aufmerksamkeit, während beim Typ-2-Diabetes Leber, Muskulatur und Fettgewebe die entscheidende Rolle spielen. Die genaue Kenntnis dieser Komponenten ist entscheidend für eine punktgenaue, „individualisierte“ Behandlung von Menschen mit erhöhtem Blutzucker. Je besser ich als behandelnder Arzt verstehe, welche Komponenten bei Frau Schön oder bei Herrn Stark eine Rolle in der Entstehung des Diabetes spielen, desto besser sind die Behandlungsempfehlungen, die ich geben kann.

Welcher Typ sind Sie? – Die vielen Gesichter des Diabetes

„Herr Doktor, mein Hausarzt sagt, ich habe einen Alterszucker. Warum muss ich dann überhaupt Insulin spritzen? Es ist doch nur ein leichter Zucker.“ Solche oder ähnliche Fragen bzw. Aussagen höre ich häufig in der Praxis. Oder etwa gleich gerade heraus: „Bin ich nun Typ-1- oder Typ-2-Diabetiker?“

Die Frage nach dem Diabetestyp ist bei vielen Patientinnen und Patienten recht leicht zu beantworten, aber eben nicht bei allen. Aus meiner persönlichen Erfahrung möchte ich den Anteil der Patientinnen und Patienten, die jedenfalls einer näheren Betrachtung hinsichtlich ihres Diabetestyps bedürfen, mit etwa 20% beziffern. Betrachten wir zunächst das gesicherte Lehrbuchwissen (siehe auch Tabelle).

 

1. Es gibt keine verlässlichen Kriterien, die eine sichere Zuordnung zu einem der Diabetestypen erlauben, z.B. nach dem Alter des Auftretens oder der Häufigkeit des Diabetestyps. So sehen wir etwa sehr wohl Patientinnen und Patienten, bei denen ein Typ-1-Diabetes erst im höheren Alter (z.B. mit 70 Jahren) auftritt, oder auch einen Typ-2-Diabetes in jungen Jahren (z.B. mit 30 Jahren).

 

2. Der Verlauf des Diabetes ist in Relation zur Gesamtlebenszeit (die Krankheit dauert über viele Jahrzehnte an) in der Regel lang, aber der Schweregrad ist nur unzureichend vorhersehbar. Ebenso das Fortschreiten des Diabetes, die Progredienz. Diese Information ist wichtig, etwa um die Ziele der Behandlung festzulegen. Ist der – erwartete – Verlauf günstig oder „milde“, wird eine aggressive Blutzuckersenkung nicht erforderlich oder sogar kontraproduktiv sein. Als Faustregel gilt, dass der Diabetes umso intensiver (oder wie manche sagen würden: aggressiver) zu behandeln ist, je jünger der/die Betroffene ist.

 

3. Die Behandlung (Insulin, Tabletten) unterscheidet sich zwischen den einzelnen Diabetestypen, es gibt aber auch große Überschneidungen. So wird z.B. der Typ-1-Diabetes immer mit Insulin behandelt, zusätzlich gibt es aber die Möglichkeit, die Insulintherapie durch die Gabe von Medikamenten zu ergänzen. Andererseits werden viele Menschen mit Typ-2-Diabetes (auch) mit Insulin behandelt.

So weit das derzeit geltende „Lehrbuchwissen“. Aber die Forschung ist nicht hier stehen geblieben. Aus epidemiologischen Daten wissen wir etwa, dass gerade beim so häufigen Typ-2-Diabetes verschiedene Kategorien (Subtypen) von Patientinnen und Patienten vorliegen können, die wiederum von unterschiedlichen Behandlungsstrategien zu profitieren scheinen.

Um von den vielfältigen Überschneidungen der Diabetestypen nicht in die Irre geleitet zu werden, braucht es also zunächst eine exakte Diagnosestellung. Diese lässt sich am besten durch eine sorgfältige Anamnese (also ein ausführliches Gespräch mit dem/der Betroffenen) erzielen, ergänzt durch den einen oder anderen Laborbefund. Eine individuell maßgeschneiderte Beurteilung der Pathophysiologie (was läuft biologisch schief?), die hinter dem erhöhten Blutzucker steht – und zwar bei diesem einen, ganz speziellen Menschen mit Diabetes –, ist erforderlich. Die Klärung einiger fundamentaler Fragen sollte dabei im Vordergrund stehen (siehe Tabelle).

 

Eine Betrachtung der Diabetesformen im Detail hat zum Ziel, eine möglichst exakte Klassifizierung vorzunehmen, idealerweise bei Diagnosestellung bzw. sehr früh im Krankheitsverlauf. All das ist nicht nur von rein „akademischem“, wissenschaftlichem Interesse, nein, eine solche Zuteilung ist ganz entscheidend für die spezielle und individuelle Behandlung des erhöhten Blutzuckers. Jeder Mensch ist einzigartig, auch ein Mensch, bei dem ein hoher Blutzucker gemessen wurde, ist ganz besonders und unterscheidet sich von gleichermaßen Betroffenen. Und verdient demnach eine „ganz besondere“, individuelle, auf die Person abgestimmte Behandlung. Dies umso mehr, als wir heute bei Diabetes eine ganze Fülle an Behandlungsmöglichkeiten anbieten können (siehe dazu auch Teil 2). Wir arbeiten aber nicht mit der Gießkanne. Am besten ist immer die Medizin, die einem einzelnen Menschen den größten Nutzen bringt, das ist das Prinzip der „individualisierten“, punktgenauen Präzisionsmedizin (mehr dazu später).

Aber warum? Und vor allem: warum ich?

Zurück zu den Grundlagen. Oft werde ich nach den Ursachen des Diabetes gefragt.

„Damals hatte ich eine Grippe, plötzlich war der Zucker hoch.“

„Nach dem Besuch im Restaurant war mir übel, dann stellte der Arzt den hohen Blutzucker fest.“

„Wissen Sie, die Grippe (bzw. das Essen, der Stress etc.) ist halt schuld an meinem Diabetes.“

Solche Aussagen höre ich oft. Wir Menschen sind immer gern auf der Suche nach einem Sündenbock, nach einer Erklärung. Diese Suche entspricht unserer Sehnsucht nach einer klaren Kausalkette – auf A folgt B. B folgt, weil A. Ein durch und durch menschliches und auch sinnvolles Muster. Wir blicken zurück und fragen uns: „Was ist passiert?“ Und stellen uns dann die Frage nach dem „Warum?“ Und natürlich in der Folge auch die Frage: „Warum ich?“ Logisch, folgerichtig, unvermeidlich – eben menschlich. Aber auch: gar nicht einfach zu beantworten. Und selten so geradlinig, wie wir uns das wünschen. In der Praxis heißt es dann oft eben nicht: Auf A folgt B. Sondern: Zuerst A, dann B oder C oder D. Oder zuerst C, dann A, dann D. Und alle weiteren Kombinationsmöglichkeiten, angesichts von 2, 3 oder 12 verschiedenen Einflussfaktoren (diese Vielfalt gilt übrigens auch für die Medikamente bei Diabetes, dazu später). Und wir wissen schon: Die Ursachen des Diabetes sind vielfältig, multifaktoriell. Auch lohnt es, die Begriffe „Ursache“ und „Auslöser“ näher zu betrachten und sorgfältig auseinanderzuhalten.

 

In der wissenschaftlichen Beobachtung unterscheiden wir zwischen einem vorwiegend zeitlichen (oder auch zufälligen) Zusammenhang (zweier oder auch mehrerer Faktoren) und einem ursächlichen oder kausalen Zusammenhang. Diese Unterscheidung ist immens wichtig, um daraus die richtigen Schlussfolgerungen (etwa für die Behandlung) zu ziehen. Besteht ein kausaler Zusammenhang, lässt sich eine Ursache einer bestimmten Wirkung eindeutig zuordnen. Wenn Sie beim Skifahren stürzen und sich dabei den Fuß brechen, so ist der Sturz die eindeutige Ursache für die Verletzung (Wirkung als Folge einer Ursache). Ein solcher Zusammenhang ist allerdings bei vielen Krankheiten nicht so eindeutig festzustellen. Häufig ist eben mehr als eine einzige Ursache an der Entstehung und Entwicklung beteiligt. Erst durch das Zusammenspiel dieser Faktoren entsteht dann eine biologische „Wirkung“, z.B. die Erhöhung des Blutzuckers.