Diabolic – Durch Wut entflammt - S.J. Kincaid - E-Book

Diabolic – Durch Wut entflammt E-Book

S.J. Kincaid

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Beschreibung

Mit Nemesis an seiner Seite hat Tyrus den Kaiserthron bestiegen. Endlich können sie nach vorne blicken. Endlich kann Frieden in der Galaxie herrschen. Doch Macht zu haben ist nicht dasselbe, wie sie zu erlangen. Und wahre Veränderung stößt oft auf Widerstand. Als sich in den Riegen ihrer Untertanen eine Rebellion abzeichnet, die den jungen Kaiser stürzen will, weiß Nemesis, dass sie Tyrus um jeden Preis beschützen wird. Doch kann sie, um sich und ihre große Liebe zu retten, wirklich wieder zum seelenlosen Diabolic werden, der sie einst war?

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Seitenzahl: 532

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S.J. KINCAID

 

 

 

DIABOLIC

 

DURCH WUT ENTFLAMMT

 

 

Aus dem Amerikanischen von Ulrich Thiele

 

 

 

 

 

 

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Empress« bei Simon & Schuster Books For Young Readers, einem Imprint der Simon & Schuster Children's Publishing Division.

Copyright © S.J. Kincaid, 2017

Deutsche Erstausgabe 2019, Arena VerlagÜbersetzung aus dem Englischen: Ulrich Thiele© 2019 Arena Verlag GmbH, Würzburgwww.arena-verlag.de

 

Herausgeber für die deutschsprachige Ausgabe 2024:

Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth,

Hammergasse 7–9, 98587 Steinbach-Hallenberg

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Die Nutzung des Inhalts für Text und Data Mining

im Sinne von § 44b UrhG ist ausdrücklich verboten.

 

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

 

 

 

Für Sophia, Grace, Madeleine und Estelle –

 

ich bin so gespannt darauf,

wie ihr eure Träume einmal leben werdet!

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1

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3

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5

6

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Danksagung

Hochgeschätzter Senator Alectar von Pasus,

 

möge Euch das Licht der Sterne stets den Weg weisen. Verzeiht, dass ich mich in solch primitiver Form an Euch wende – da ich nicht wage, Euch meine Botschaft auf herkömmlichem Wege zu übermitteln, habe ich sie von Hand auf Diskretpapier niedergeschrieben. Ihr solltet es binnen zehn oder zwölf Tagen von einem treuen Boten erhalten. Ich bitte Euch dringendst, es nach der Lektüre unverzüglich zu Staub zu zermalmen und falls nötig auch den Überbringer hinzurichten, sollte die Vertraulichkeit nur so gewahrt werden können. Mein Diener wird nichts dagegen einzuwenden haben, sein Leben für den Lebendigen Kosmos zu geben.

Es ist mir höchst unangenehm, Euch in dieser Zeit der Trauer um Eure geliebte Tochter Elantra belästigen zu müssen, doch mir bleibt keine andere Wahl. Noch fungiere ich als Vicar Primus, aber mein Gespür verrät mir: Dies wird sich bald ändern. Als hochrangigster Helioniker im Zentrum des Imperiums fühle ich mich verpflichtet, einen verzweifelten Hilferuf an Euch zu richten!

Wir, die Verfechter des wahren Glaubens, sind noch tief erschüttert von den Ereignissen, die sich jüngst hier im Chrysanthemum zugetragen haben. Die Senatoren der Pasier haben den Lebendigen Kosmos stets an vorderster Front verteidigt – jetzt, in dieser Stunde, ist es an Euch, es Euren Vorfahren gleichzutun! Nun ist der heilige Kosmos auf Euren Eifer, auf Eure Stärke angewiesen! Ich, der ich demnächst von meinem Posten verdrängt werden dürfte, bin bald außer Gefecht gesetzt.

Ich habe nicht den geringsten Grund, an Eurer moralischen Größe zu zweifeln, Senator. An jenem Tag, als Ihr den verstorbenen Senator von Impyrean für sein ketzerisches, ungehöriges Interesse an der wissenschaftlichen Forschung zur Rechenschaft zogt, ergriff mich eine unbändige Freude. Ohne Euer Einschreiten hätten die Gotteslästerer weiter ungestraft gegen die innersten Geheimnisse unseres heiligen Kosmos verstoßen können! Ein Großteil des Senats rüttelte im Namen der sogenannten »Wissenschaft« am Fundament unseres Imperiums, und hättet Ihr unserem Kaiser Randevald nicht weise Worte zugeflüstert und ihm geschickt die Hand geführt, als er endlich zum Schlag ausholte – sie hätten es womöglich zum Einsturz gebracht.

Nun muss ich Euch bitten, einmal mehr Euren Mut unter Beweis zu stellen.

Gleich einer mehrköpfigen Schlange ist unseren Feinden ein neuer Kopf gewachsen und sie haben ihre Giftzähne in unsere Galaxie geschlagen. Allein der Gedanke, Euch seinen Namen zu nennen, lässt mich erschaudern. Doch vermutlich habt Ihr ohnehin eine Vermutung.

Es handelt sich um unseren jungen Kaiser Tyrus von Domi­trian.

Wie Ihr wisst, diene ich seit über einem Jahrhundert als Vicar Primus im Chrysanthemum. Zu all den mächtigen Grandiloquay, die an unserem galaktischen Kaiserhof wirken, spreche ich mit der Stimme des Lebendigen Kosmos. Ich habe sichergestellt, dass der überkommene Irrglaube, den wir auf der alten Erde hätten zurücklassen sollen, nicht den Mittelpunkt unseres Imperiums befleckt. Ich bin der Garant für das spirituelle Wohlergehen der Hofgesellschaft und damit ebenso fester Bestandteil derselben wie die Angehörigen der Aristokratie. Ich konnte mir immer in den höchsten Kreisen Gehör verschaffen. Zwei domitrianische Herrscher vertrauten gleichermaßen auf meinen Rat!

Der junge Tyrus sucht sich andere Ratgeber. Und dennoch schreibt Euch hier kein eitler alter Mann, der es nicht ertragen kann, beiseitegeschoben zu werden. Gäbe es vernünftige Gründe dafür, würde ich mich ohne Weiteres meinem Schicksal fügen – doch während ich diese Zeilen zu Papier bringe, sind üble Machenschaften im Gange. Wer weiß, welche verfälschten Darstellungen der jüngsten Ereignisse demnächst verbreitet werden? Ich will Euch aus erster Hand berichten, was sich tatsächlich bei der Krönung des neuen Kaisers zugetragen hat.

Unser Kaiser Tyrus hatte Luminaren ins Chrysanthemum eingeschleust, ein besonders widerspenstiges und gottloses Kaliber unter den Überschüssigen – aber wem erzähle ich das! Mit ihrer Hilfe stellte er seiner eigenen Großmutter eine Falle, unserer geliebten Grandeé Cygna, dieser treuen Dienerin des Glaubens. Er hatte sich mit Planetenbewohnern gegen seinesgleichen verschworen, gegen die Grandiloquay, und das sollte noch das Geringste seiner Verbrechen sein.

Zweifellos habt Ihr die Übertragung der Konvokation verfolgt. Ihr habt Tyrus also von seinem neuen Zeitalter sprechen hören – die Wissenschaften will er wiederaufbauen, um den Raumgeschwüren ein Ende zu setzen. Irrsinn! Doch ich weiß, wer dem jungen Kaiser diese Torheiten in den Kopf setzt. Ich kenne die Quelle dieser verderblichen Gedanken.

Es ist die Kreatur, die er zur Frau nehmen will.

Dass ich gerade Euch, einem Vater, der kürzlich den schmerzlichsten aller Verluste hinzunehmen hatte, darüber schreiben muss, tut mir in der Seele weh. Aber es ist wahr: Tyrus von Domitrian beabsichtigt, die Diabolic Nemesis dan Impyrean zu heiraten. Die Mörderin Eurer Tochter Elantra.

Nemesis sollte bei der Krönung des neuen Kaisers als Feueropfer dienen. Tyrus’ Großmutter Cygna hatte es so gefordert, Tyrus hatte eingewilligt. Doch dann befreite er die Kreatur und verurteilte Grandeé Cygna an ihrer Stelle zum Tode! Unser neuer Kaiser tötete also seine eigene Großmutter und – mir zittern die Finger, ich kann es kaum niederschreiben – verkündete, die Diabolic zur Kaiserin an seiner Seite erheben zu wollen.

Zur Kaiserin!

Eine Diabolic, ein Kunstwesen soll unsere Kaiserin werden!

Lange Zeit machten Gerüchte die Runde, der junge Tyrus sei wahnsinnig. Später hieß es, er habe seinen Wahnsinn lediglich vorgetäuscht, um dem Blutdurst seiner Verwandtschaft zu entgehen. Nun, allem Anschein nach ist er doch durch und durch verrückt – es ist die einzige Erklärung! Als wüssten wir nicht alle, was Diabolics sind!

Diabolics sind keine Menschen. Nemesis dan Impyrean ist ein Ding, ein genmanipuliertes Monster. Ihrer äußeren Gestalt nach ähnelt sie einem Menschen, doch tatsächlich ist sie nichts dergleichen. Diabolics sind kräftiger, schneller und grausamer als unsereins, da ihr einziger Daseinszweck doch nur im Schutz ihrer Herren lag. Sobald bekannt wurde, dass Nemesis sich als ihre Herrin Sidonia von Impyrean ausgegeben hatte, hätte man sie unverzüglich hinrichten müssen.

Und all die Gewalt, die in der Folge über uns hereinbrach … der Tod Eurer geliebten Tochter Elantra, die Ermordung unseres alten Kaisers, die jüngsten Ereignisse … das können wir nicht länger dulden. Wir können es nicht hinnehmen!

Ich war bestürzt. Ich weigerte mich, den Kaiser zu salben, solange er nicht von der Kreatur lassen wollte. Sollte ich wie erwartet meinen Posten einbüßen, wäre dies die ungerechte Strafe dafür, dass ich unerschütterlich zu Euch gestanden habe. Auf meine Weigerung hin informierte mich der Kaiser im frechsten Tonfall, dass nun eine neue Zeit anbreche, in der ich überflüssig sei. Mein ganzes Leben habe ich den Domitrianern als Ratgeber zur Seite gestanden – was erlaubt sich dieser Überschüssigenbastard, so mit mir zu sprechen? Danach schlang Tyrus die Arme um Nemesis und küsste sie vor den entsetzten Zuschauern.

Wie soll man all dem Einhalt gebieten? Was ist zu tun? Ich weiß es nicht. Deshalb flehe ich Euch an, uns zu Hilfe zu eilen.

Mir ist bewusst, dass Tyrus’ bedauernswerte Cousine Devineé schwere Schäden am Gehirn erlitten hat – trotzdem ist sie die einzige Vertreterin des Domitrianergeschlechts, die an Tyrus’ Stelle rücken könnte. Euch, verehrter Senator von Pasus, der Ihr über das größte Territorium des gesamten Imperiums verfügt, bitte ich daher, Euch dem neuen Kaiser entgegenzustellen. Bringt ihn zur Vernunft – oder ersetzt ihn durch eine Person, die dem Lebendigen Kosmos nicht mutwillig ins Gesicht spuckt. Sollte Tyrus sich nicht überzeugen lassen, seinen Kurs zu ändern und entsprechend mich im Amt des Vicar Primus zu belassen, muss er einer vernünftigeren Verwandten weichen.

Glaubt Ihr nun, ich würde Euch eine unlösbare Aufgabe stellen? Dann lasst mich Euch eines verraten: Ich habe Tyrus meinen Segen verweigert. Die anderen Wächter unseres Glaubens ebenso. Ihr wisst, was dies für ihn bedeutet. Tyrus mag ein schlauer Junge sein, doch unser letzter Kaiser hatte ihn nur aufgrund von Spannungen in der Familie zum Successor Primus erkoren. Er hat ihn nicht ans Amt des Kaisers herangeführt, wie es Tradition ist. Er hat ihn nie gelehrt, was ein Thronfolger wissen sollte.

Tyrus von Domitrian ist sich seiner Schwäche und Angreifbarkeit also nicht im Geringsten bewusst.

Deshalb sollten wir nicht zögern, sofort zuzuschlagen.

Fustian nan Domitrian, Vicar Primus

1

 

Jemand hatte mich vergiftet. Das wusste ich schon nach dem ersten Schluck.

Und das bedeutete: Es würde Tote geben.

Ich sah mich im überfüllten Audienzsaal nach dem bedauernswerten Idioten um. Wer war hier so blöd, eine Diabolic vergiften zu wollen? Andererseits war das auch nichts Neues. In den unruhigen Tagen nach Tyrus’ Krönung hatte es bereits zwei Anschläge auf mein Leben gegeben. Zunächst hatte der junge Grande Austerlitz einen kleinen Überraschungsangriff mit einem Messer unternommen. Es war amüsant genug gewesen, dass ich ihn einige Sekunden lang ungeschickt mit seiner Klinge hatte herumwedeln lassen. Um nicht taktlos zu erscheinen, gab ich ihm dann noch eine letzte Chance. »Schluss damit! Sofort!«, rief ich, während ich dem nächsten und übernächsten Stich auswich.

Doch Austerlitz bleckte nur die Zähne und ging erneut zum Angriff über. Also machte ich einen schnellen Schritt zur Seite, hakte meinen Fuß hinter seinen und riss ihm die Beine weg. Brüllend wollte er sich wieder aufrappeln – da trat ich ihm gegen den Kopf, bis er liegen blieb.

Bis zum nächsten Anschlag verstrichen einige Tage, dann trat eine fanatische Jungpriesterin auf den Plan. »Monster!«, schrie sie, räumte dadurch die letzten Zweifel aus, was sie im Schilde führte, und versuchte prompt, sich mit mir in eine Luftschleuse zu stürzen. Ich riss mich los und stieß sie kurzerhand allein in die Schleuse. Zwischen uns versiegelte sich automatisch die luftdichte Tür, offensichtlich hatte die Priesterin die Zeitschaltuhr im Vorhinein eingestellt. Für einen Sekundenbruchteil sahen wir uns durch die Scheibe in die Augen, dann öffnete sich hinter ihr das Tor zum Weltraum, und die Attentäterin wurde in die Dunkelheit gesogen.

Wurden Kriminelle zur Strafe ins All geschleust, drehten ihnen die Zuschauer eigentlich den Rücken zu. Auf diese Weise sollte den Ehrlosen jeder Respekt verweigert werden, nicht mal ihr Tod sollte Beachtung finden.

Doch irgendetwas drängte mich, dieses Mal dabei zuzusehen. Im vollen Bewusstsein, wie es Austerlitz ergangen war, hatte sich diese Frau zur offenen Attacke entschlossen. Das war tapfer, also wollte ich ihr zumindest diese letzte Ehre erweisen. Viele Grandiloquay und etliche Helioniker verabscheuten mich mit jeder Faser ihres Körpers, doch kaum jemand besaß den Mut, seinen mörderischen Gedanken auch Taten folgen zu lassen.

In den Augen der Helioniker waren Kreaturen wie ich Missgeburten. Das »dan« in meinem Namen wies mich als niedriges, weit unter den Menschen stehendes Geschöpf aus – und doch wollte mich der neue Kaiser zur Frau nehmen. Bald müssten sie also alle vor mir knien. Vor einer Diabolic.

Über die Attentatsversuche wunderte ich mich deswegen nicht. Mich wunderte vielmehr, dass sie nur so selten waren. Bloß drei Anschläge innerhalb von zehn Tagen? Das war irgendwie … enttäuschend.

Die Gefahr im Nacken zu spüren, hatte mich noch nie gestört. Sie schärfte die Sinne und ließ meinen Herzschlag beschleunigen. Während ich also den Becher erneut zu den Lippen führte, schweifte mein Blick aufmerksam über die Menge. Mein leichtsinniger Möchtegernmörder würde mir sicher beim Sterben zusehen wollen.

Doch es ruhten derart viele Augen auf mir, dass ich den Giftmischer beim besten Willen nicht ausmachen konnte. Kein Wunder, schließlich stand ich seit Neuestem immer unter Beobachtung. Überall wurde ich gemustert, wurde über mich diskutiert und geurteilt.

»Wird denen das ständige Glotzen denn nie langweilig?«, hatte ich Tyrus am ersten Abend nach seiner Krönung gefragt.

Doch Tyrus hatte nur schwach gelächelt. »So lebt es sich nun einmal als Domitrianerin.«

Wer hatte es diesmal auf mich abgesehen? Es gab einfach zu viele Kandidaten. Zum Tag der Begnadigung hatte sich eine gewaltige Menschenmenge eingefunden, darunter so einige, die mir möglicherweise an den Kragen wollten.

Da spürte ich den Blick zweier blasser Augen – es war Tyrus. Wortlos neigte er den Kopf zum Ausgang, um mir mitzuteilen, dass wir uns allmählich aus der Gesellschaft der Grandiloquay verabschieden mussten. Es war Zeit für die Zeremonie, und diese führte uns zu den Überschüssigen.

Mit einem leichten Nicken stimmte ich zu. Der Tag der Begnadigung wurde in der Großen Heliosphäre abgehalten. Es war einer der wenigen bedeutenden Feiertage des Imperiums, der nicht die Grandiloquay, also die herrschende Klasse der Weltraumbewohner, bei Laune halten sollte, sondern die Überschüssigen, die noch auf den Planeten hausten. Als Kaiser genoss Tyrus an diesem Tag das Vorrecht, einigen straffälligen Überschüssigen, die sich zum Helionismus bekannt hatten, ihre Haft zu erlassen.

Ich lief Richtung Ausgang, um Tyrus dort zu treffen. Doch als ich an Tyrus’ Cousine und deren Gatten vorbeikam, um die sich einige Feiernde geschart hatten, verlangsamten sich meine Schritte. Es war wichtig zu wissen, wer die Nähe Devineés suchte, der neuen Successor Primus. Als Tyrus’ letzte direkte Verwandte war sie automatisch zur Thronfolgerin aufgestiegen und stellte damit die größte Gefahr für ihn dar. Zwar hatte unser erstes Aufeinandertreffen zur Folge gehabt, dass ihr Hirn nicht mehr richtig funktionierte, aus eigener Kraft könnte sie also keine Pläne zur Machtergreifung schmieden – doch andere könnten sie als Marionette benutzen. Wäre es nach mir gegangen, wäre Devineé deshalb längst tot gewesen. Die Entscheidung lag aber bei Tyrus. Außer Devineé hatte er keine Familie mehr, und nur meinetwegen war sie kaum noch bei Verstand. Sie nun auch noch umzubringen, kam für ihn nicht infrage.

Jedoch …

Da sickerte auf einmal ein Gedanke in mein Bewusstsein: Jetzt, in diesem Moment, hielt ich eine Mordwaffe in der Hand, die niemals mit mir in Verbindung gebracht werden konnte und für die ich keinerlei Verantwortung trug.

Damit war mein Entschluss gefallen. Als mein Schatten auf Devineés Gesicht fiel, hob sie ihren vernebelten Blick zu mir.

»Seid gegrüßt, Eure Hoheit«, sagte ich und lächelte auf sie herab. »Genießt Ihr die Feierlichkeiten?«

Stumpf musterte Devineé mich und blinzelte verständnislos. Wie zufällig stellte ich meinen Becher genau neben ihrem ab und löste danach umständlich meine aufwendige Hochsteckfrisur, um mir mein derzeit kastanienbraunes Haar neu zu richten. Das war wegen der eingewobenen Stützen, die in Sekunden jede beliebige Frisur formen konnten, eigentlich völlig unnötig, doch ich hatte beobachtet, dass sich viele Damen trotzdem ständig mit ihrem Haar beschäftigten.

»Immer wieder ein Vergnügen, mit Euch zu plaudern«, sagte ich zu Devineé. »Auf bald, ja?«

Damit griff ich mir ihren Becher und ließ meinen stehen – und schon war es erledigt. Ich ging weiter, um an Tyrus’ Seite der Zeremonie beizuwohnen, und hoffte, dass uns bereits an deren Ende die große Neuigkeit erreichen würde: der plötzliche Tod seiner gefährlichsten Feindin.

»Du siehst wunderschön aus«, raunte Tyrus mir zu, als wir zur Heliosphäre schritten.

»Ich weiß«, sagte ich.

Wir waren beide in funkelnde, mit fließenden Kristalladern durchwobene Silbergewänder gekleidet. Während ich mich für dunkles Haar und einen gebräunten Hautton entschieden hatte, war Tyrus ganz der Alte: bleich wie immer mit leichten Sommersprossen, schlaue blasse Augen mit zarten, steilen Brauen und ein strubbeliger roter Schopf.

Kurz vor der Heliosphäre zögerte ich. Eigentlich war es nicht meine Art, nervös zu werden, und ich war auch nicht nervös im herkömmlichen Sinne … doch mir war sehr wohl bewusst, was für ein Skandal es im Grunde war, dass ich nun diesen Raum betreten würde, um die Zeremonie von meinem Ehrenplatz aus zu verfolgen.

Tyrus erriet, was in mir vorging. Er beugte sich zu mir und senkte die Stimme. »Keine Sorge, heute werden uns keine Fanatiker belästigen. Und selbst wenn – die Zeremonie wird nicht live übertragen –, falls es also zu Zwischenfällen kommt, können wir sie problemlos herausschneiden. Außerdem habe ich uns eine Priesterin besorgt. Und da wir an diesem Feiertag vor den Überschuss treten, dürfte uns das Publikum wohlwollender gegenüberstehen.«

Uns? Tatsächlich meinte er: dir.

Wen hätte er sonst meinen sollen? Tyrus gehörte zu der Sorte Mensch, die immer schon zehn Schritte vorausdachte, ehe sie auch nur einen einzigen tätigte. Er hatte seit Beginn seiner Herrschaft immer mit Bedacht gehandelt – und deshalb auch die Öffentlichkeit erst nach und nach an die neue Frau an seiner Seite gewöhnt.

Bei der Übertragung der dramatischen Krönungsfeier, wo Tyrus mir vor aller Augen seine Liebe erklärt, mich in die Arme geschlossen und seine Großmutter an meiner Stelle zum Tod verurteilt hatte, durfte die Galaxie einen ersten kurzen Blick auf mich werfen. Allerdings war die Sendung so bearbeitet worden, dass ich statt Sträflingskleidung ganz hübsche Lumpen trug und sich anstelle meines farblosen Haars eine goldglänzende Lockenmähne um meine Schultern legte. Ich sah aus wie eine arme, verlorene Märchenprinzessin, nicht wie eine Diabolic.

Die Übertragung hatte deshalb die gewünschte Wirkung erzielt: Der Tod des alten Kaisers Randevald wurde allein Cygna angelastet, und das zu recht.

Schon dieser erste kurze Blick, den die Galaxie auf mich erhaschen konnte, ließ die Überschüssigen auf ihren Planeten überall im Imperium spekulieren: Wer war diese Unbekannte, die aus dem Nichts die Bühne des öffentlichen Lebens betreten hatte, welche Geschichte steckte dahinter? Die klügste Strategie, einem solchen Mysterium die Kraft zu nehmen, war Tyrus’ Meinung nach, es aus günstigem Winkel ins grelle Scheinwerferlicht zu rücken, das Geheimnis also nicht verschleiern zu wollen, sondern furchtlos zu enthüllen. Kurze Zeit nach meinem ersten Auftritt stellte er mich deshalb im Rahmen seiner ersten Konvokation als künftige Kaiserin vor – und als Diabolic.

Zur Konvokation begaben sich Tausende auf die Valor Novus, das zentrale Raumschiff des Chrysanthemums, und künstliche Avatare von Gästen, die Lichtjahre entfernt waren, füllten die letzten freien Plätze im Zentralheiligtum. Dieser größte Saal des Schiffs wurde nur für besondere Gelegenheiten geöffnet, etwa für die erste Rede des neuen Kaisers vor seinen Untertanen.

Zuvor hatte Tyrus einen Verbündeten beauftragt, ihn nach meiner Rolle zu befragen, um darauf wie geplant zu antworten: »Meine Verlobte soll das Symbol eines neuen Zeitalters sein, das wir hier und heute einläuten. Ihr Name lautet Nemesis dan Impyrean. Manche von Euch werden sich über meine Weigerung empören, eine Angehörige der höchsten Schicht des Imperiums zu heiraten. Dazu sage ich: Sollen sie sich empören! Ich liebe Nemesis und ich könnte mir keine aufrichtigere, mutigere und würdigere Kaiserin dieser Galaxie vorstellen. Ohne Zweifel werdet Ihr schon bald dieselbe Hochachtung vor ihr empfinden.«

In bestimmten Bereichen des Saals, wo es vermutlich Aufruhr geben würde, hatte Tyrus vorsorglich die Lautstärke herunterregeln lassen. Etliche derer, die für gewöhnlich Einspruch erhoben hätten, zwangen sich aber ohnehin aus blanker Furcht zum Jubeln. Bei seiner Krönung hatte Tyrus nämlich einige Helioniker als Geiseln genommen. Jetzt, da von seiner Großmutter keine Gefahr mehr ausging, wollte er sie zwar wieder freizulassen – allerdings nur, wenn ihre Angehörigen dabei halfen, diese Sendung zum Erfolg zu machen. Folglich waren kaum Gegenstimmen zu hören, während die Freudenrufe und der Applaus laut durch den Saal brandeten.

Außerdem hatte Tyrus allen Personen auf Eurydice, die für die galaktischen Medien zuständig waren, einen persönlichen Gruß gesandt. Daraus war klar hervorgegangen, in welcher Weise die Medien mich darzustellen hatten. Tyrus verließ sich auf ihre freudige Unterstützung.

Statt weitere Fragen zuzulassen, war Tyrus daraufhin zügig in seiner Rede fortgefahren und hatte von seinem Ziel gesprochen, den Wissenschaften wieder zu alter Größe zu verhelfen und so die Gefahr der Raumgeschwüre zu bannen. Erneut war die Reaktion der Grandiloquay im Jubel der Überschüssigen untergegangen. Indem er also am selben Tag seine beiden skan­dalträchtigsten Vorhaben enthüllt hatte, war es ihm tatsächlich gelungen, die Entrüstung zu halbieren.

Zum umjubelten Abschluss seiner ersten Konvokationsrede hatte Tyrus mich dann an der Hand gefasst und an seine Seite gezogen, auf dass die Galaxie mich von meiner schönsten Seite sah. Sie sah nicht das farblose Geschöpf, das ich von Natur aus war, nein, ich trat vor sie mit schimmernd schwarzem Haar, bronzener Haut, meine Wangenknochen verziert mit Glanzpartikeln, mein Kleid eine Kaskade aus goldenem Tuch.

Ich war keine Diabolic mehr. Ich war eine wunderschöne Frau.

Doch der äußere Anschein würde auf Dauer nicht genügen. Dessen war ich mir bewusst.

Hier und jetzt würde sich erstmals zeigen, ob die Öffentlichkeit mich wirklich so sah, wie Tyrus es sich erhoffte. Ich hoffte eher, die Überschüssigen im Publikum würden so sehr vom Prunk dieses Großereignisses geblendet, dass sie schlicht vergaßen, wer ich war. Oder besser noch: was ich war.

Tyrus und ich betraten die Große Heliosphäre. Peinlich genau achtete ich auf jedes Flattern meiner Augenbrauen und jedes Zucken meiner Muskulatur. Seit Neuestem wusste jeder, dass ich nichts mit den echten Menschen gemein hatte – war es da nicht umso wichtiger, menschlich zu erscheinen?

Kaum hatte die Menge uns im Diamant- und Kristallglanz des Heiligtums erspäht, verstummte sie, fiel rasch auf die Knie und grüßte ihren Kaiser, die Hand am Herz.

»Erheben Sie sich«, sagte Tyrus. Im Gegensatz zu Randevald ließ er seine Untertanen nie übermäßig lang auf dem Boden verharren.

Vor uns teilte sich das Menschenmeer, und während wir hindurchschritten, entdeckte Tyrus weiter vorne die junge, stets nervöse Astra nu Amador, eine Priesterin, die Senator von Amador unterstellt war.

Als Zeichen seiner Dankbarkeit neigte Tyrus den Kopf in Astras Richtung, worauf diese mit einem Lächeln antwortete. Ehrgeizig, wie sie war, hatte Astra erkannt, dass sie, sollte sie heute einen guten Eindruck hinterlassen, bald Fustian nan Domitrians Platz als Vicar Primus einnehmen könnte. Seit der Krönung, als Fustian mir seinen Segen verweigerte, herrschte zwischen ihm und Tyrus große Anspannung. Für Fustian wäre es nicht infrage gekommen, die Zeremonie in meinem Beisein abzuhalten.

Erst als ich mir einen Überblick über den Saal verschaffte, bemerkte ich, mit was für einer Kraft das Licht auf die Fenster einbrannte, auch wenn es meine Haut dabei nur leicht wärmte. Die einzigartige Architektur der Heliosphäre erlaubte es, das Sternenlicht je nach den Anforderungen des Gottesdienstes in Myriaden von Variationen zu brechen. Für das Begnadigungsritual, das in unmittelbarer Nähe des roten Hyperriesen Hephaestus abgehalten wurde, waren keine Verstärkungsspiegel nötig.

Hephaestus war so gewaltig und strahlte so hell, dass die ferneren Sterne des Kosmos vom umliegenden Schwarz verschluckt wurden. Vom Publikum wären nur dunkle Silhouetten vor strahlendem Grund zu sehen gewesen, hätten die Lichtpigmente unter ihrer Haut nicht ihre Gesichtszüge scharf hervortreten lassen. Ich erkannte niemanden wieder.

Während Tyrus und ich zu zweit im innersten Kreis des Heiligtums warteten, verteilte Vicar Astra mehrere geweihte Kelche im Raum.

Still und leise schob sich die Reihe der Häftlinge herein. Dieses Dutzend Überschüssige, das im Gefängnis zum Helionismus übergetreten war, hatte dieses Jahr das Glück, als reuige Sünder begnadigt zu werden.

Bei der eigentlichen Zeremonie hatte Tyrus nur einen überschaubaren Auftritt. Er trat vor, woraufhin die Männer und Frauen vor ihm knieten und das Haupt neigten, das sie sich zum Beweis ihres Glaubens kahl rasiert hatten. Es war ein trauriger Anblick, und nachdem Tyrus die kurze Begnadigungslitanei gesprochen hatte, übernahm wieder die Priesterin.

Astra schritt durch die Reihe der Bekehrten, half ihnen, sich ihrer Kleidung zu entledigen, und führte sie einzeln an den Händen zum Fenster, mitten in die hellen Strahlen des Hyperriesen. Nackt pressten sich die Männer und Frauen an die Scheibe, die Arme ausgebreitet, die Finger gespreizt, um jeden Zentimeter Haut vor dem Licht zu entblößen.

Tyrus fasste mich am Arm und bedeutete mir sanft, einen Schritt zurückzutreten, und noch einen. Denn nun stellte die Priesterin die optischen Systeme um und ließ mehr und mehr Licht in den Saal eindringen.

Das weiße Flimmern des Hyperriesen stach mir scharf in die Augen. Instinktiv riss ich die Hand vors Gesicht. Mein Sichtfeld verschleiert, für einen Moment blind, hörte ich das Rascheln von Kleidung, als auch viele andere sich hektisch vor den Strahlen schützten. Dann kam die Hitze, in einer unbarmherzigen Welle versengte sie die Luft und ließ meine Haut glühen, und mir wurde klar: Diese Hitze war nicht zu ertragen.

Hier war etwas faul.

Die Begnadigten wichen panisch vom Fenster zurück, ihre dunklen Umrisse zuckten vor der Scheibe, ihre Schreie zerschnitten die Luft. Auf einen Schlag ging das Gewand der Priesterin in Flammen auf und in allen geweihten Bechern loderte das Öl in die Höhe.

Drei Dinge drängten gleichzeitig in mein Bewusstsein: Feuer, Hunderte von Menschen um uns herum – und es gab nur einen Ausgang.

Wir befanden uns mitten in einer Todesfalle.

2

 

Ich reagierte schneller als die anderen. Ohne darüber nachzudenken, packte ich Tyrus und schleuderte ihn über die Köpfe der Zuschauer hinweg zum Ausgang – mit einer Kraft, die ich nicht mehr gespürt hatte, seit mein Körper zur Statur einer gewöhnlichen Frau modifiziert worden war.

Ich sprang über die Menschen hinweg, die sich endlich rührten, sich umsahen und in Geschrei ausbrachen. Sie bewegten sich träge, als wateten sie durch einen Sumpf, doch ich schoss an ihnen vorbei. Tyrus kämpfte noch mit dem Gleichgewicht, da hatte ich ihn schon erreicht, und nicht mal mit Gewalt hätte er mich davon abhalten können, ihn weiterzuschieben, aus dem Saal hinaus.

Aus der drückenden Gluthitze der Heliosphäre stolperten wir auf den Gang. Hinter uns wallten Flammen empor, gefolgt von einer Flut aus Körpern, mit der ich bereits gerechnet hatte. Die Luft war erfüllt von Rufen und Brüllen und vom Trampeln Hunderter Füße.

Ein paar Glückliche schafften es durch das Tor, etliche andere blieben stecken, immer mehr Arme und Beine und angstvolle, kreischende Gesichter quetschten sich in jede Lücke – bis es keinen Zentimeter mehr voranging. Die Menschen waren gefangen und aus ihren Schreien sprach pure Hysterie.

Tyrus deutete auf ein Überschüssigenmädchen, das neben ihm stand. »Geh Hilfe holen! SOFORT! Alle Nachbarschiffe sollen Medbots schicken!« Dann stürzte er zum verstopften Ausgang.

Verzweifelte reckten ihm Arme entgegen. Ich verdrängte sofort den kaltherzigen Gedanken, dass hinter den wenigen, die wir retten könnten, nur noch mehr Überschüssige warteten, und half Tyrus, die Ersten hinauszuzerren. In ihrer Panik klammerten sie sich alle an meine Hände, doch auch nur einen Einzigen aus den zusammengepressten Körpern zu befreien, war keine leichte Aufgabe. Es drängten stets neue Menschen in die Lücken, sodass wieder alle im Inneren gefangen waren. Immer mehr dunkler Rauch quoll aus der Heliosphäre und forderte seinen Tribut. Irgendwann grapschte niemand mehr nach mir, die ausgestreckten Hände sanken hinab, die Schreie wurden leiser und verstummten, die Lippen der massenhaft im Ausgang verkeilten Menschen färbten sich blau, ihre Blicke wurden trüb.

Manche, die wir hinausgezogen hatten, waren schon von Medbots gescannt worden, die daraufhin wieder davonflogen, da keine Aussicht auf Wiederbelebung bestand. Während Tyrus immer noch nicht müde wurde, weitere Opfer ins Freie zu zerren, trat ich einen Schritt zurück und betrachtete die Überlebenden. Ein Medbot flitzte zu mir und neutralisierte die Strahlenbelastung.

Schließlich legte ich Tyrus die Hand auf die Schulter.

Seine Arme erschlafften.

Er drehte sich nach links und rechts und ließ seine blassen Augen über die Überlebenden schweifen. Stumm bewegten sich seine Lippen. Er zählte.

»Wie konnte das nur …«

In seinem Gesicht klebte Asche. Er fuhr sich über den Kopf, raufte sich die Haare, schmierte noch mehr Asche hinein.

Ein Bot surrte über ihn hinweg. Als der rote Strahl aufflammte und den Kaiser von der Strahlenbelastung befreite, zuckte Tyrus zusammen.

»Du hast dein Möglichstes getan«, sagte ich.

Tyrus suchte nach Worten. »Wie konnte das passieren? Ich verstehe es nicht.«

Auch ich zählte die Überlebenden. Achtzehn. In der Heliosphäre mussten noch Hunderte sein. Ein Großteil der Opfer waren Diener und Angestellte der Grandiloquay. Um uns herum klammerten sich Menschen aneinander, andere lagen reglos am Boden. Überall sah ich feuerrote Haut, die Spuren von Verbrennungen. Ich sah einen Bot über dem Kopf eines Jungen schweben, der sich auf Händen und Knien übergab, so viel giftige Strahlung hatte er in sich aufgenommen.

Inzwischen waren weitere Medbots herbeigeeilt, doch insgesamt war es gerade mal ein Dutzend. Warum so wenige? Tyrus hatte doch der Überschüssigen befohlen, Hilfe anzufordern. Es hätte ein ganzer Schwarm von Bots hierherflitzen müssen, sobald das System das Leck erkannt hatte.

Das Leck …

Verwirrt warf ich einen Blick in Richtung Heliosphäre. Es war, als wäre das brennende Sternenlicht ungehindert in den Saal geschossen. Eigentlich hätten die Reparaturbots bereits die ersten Anzeichen eines solchen strukturellen Schadens erkennen und das Desaster abwenden müssen.

Da jagte mir ein neuer Gedanke einen Schauer über den Rücken: Die Helioniker werden sich darauf stürzen. Sie werden es als Mahnung des Lebendigen Kosmos interpretieren.

Durch die Sterne äußerte sich der Wille des heiligen Kosmos – hatte dieser seinen Unmut nicht gerade überdeutlich zum Ausdruck gebracht? Selbst mir, die ich nun wirklich nicht abergläubisch war, wurde kurz mulmig zumute.

Ob ich an den Lebendigen Kosmos glaubte? Vielleicht ja, vielleicht nein. Doch der Kosmos glaubte ganz sicher nicht an mich. Das hatte mir jeder einzelne Priester eingebläut.

Als ich mich wieder zu Tyrus umdrehte, hatte er sein Kaiserzepter gezückt und studierte es nachdenklich.

»Ich glaube, das war meine Schuld«, sagte er so leise, dass ich ihn kaum verstand.

»Tyrus …«

Doch wir konnten nicht mehr offen sprechen. Bald trafen die ersten Würdenträger auf der Valor Novus ein, Feinde wie Verbündete strömten herbei, kaum dass sich die Tragödie herumgesprochen hatte. Außerdem mussten Leichen fortgeschafft und Familien benachrichtigt werden. Als ich zurückwich, damit die Diener sich um die Toten kümmern konnten, blieb ich irgendwo mit der Ferse hängen.

Mein Blick zuckte nach unten.

Hinter mir lag ein totes Mädchen. Ein junges Mädchen, sein Arm zerstört von Brandblasen, die dunklen Augen auf die Decke gerichtet, trüb und starr, tot …

Sidonia …

Ich blinzelte. Das war nicht Sidonia. Sie war es nicht.

Doch Donias Geist schlich sich wieder einmal in meinen Kopf und rief mir in Erinnerung, dass sie niemals in dieses Universum zurückkehren würde. Wann immer diese Gedanken in mir aufstiegen, erschien mir die Galaxie öde und leer. Um mich zu zwingen, im Hier und Jetzt zu bleiben, sog ich die beißende Luft tief in die Lunge – und so verstand ich die Worte, die ein Bote gerade mit Tyrus wechselte.

In unserer Abwesenheit hatte sich eine weitere Tragödie ereignet.

»… vergiftet, wie wir glauben …«

Ruckartig drehte ich mich um. Bitte …

»Wie? Salivar ist tot?«, erwiderte Tyrus.

Nein. Nein, nein, nein!

Es hatte Devineés Ehemann erwischt. Er hatte von dem Wein getrunken. Devineé selbst hatte überlebt. Die Bedrohung bestand fort.

Ich hatte mein Ziel verfehlt.

Einen Monat lang hatte ich in Einzelhaft gesessen und darauf gewartet, durch Tyrus’ Hand zu sterben. Einen Monat lang hatte ich mich dafür verabscheut, dass ich mich noch immer nach ihm sehnte – trotz meiner Überzeugung, meiner felsenfesten Überzeugung, dass er für Sidonias Tod verantwortlich war.

Später hatte Tyrus jedoch seine Großmutter überlistet und ihr das Geständnis entrungen, dass sie mich in die Irre geführt hatte – und nicht er. Und dann hatten wir uns vor den Mächtigsten des Imperiums geküsst …

Dennoch hing zwischen uns noch immer ein leichter Nebel des Misstrauens. Meine Zweifel wollten nicht verstummen.

Aus diesem Grund hatte ich den Abend nach dem Begnadigungsritual, den Tyrus und ich zu zweit verbringen wollten, zugleich herbeigesehnt und gefürchtet. Bis dahin hatten ihn seine kaiserlichen Pflichten ununterbrochen auf Trab gehalten, wir hatten uns nie zu zweit zurückziehen können.

Nun würde dieser Abend ausfallen.

Die meisten Opfer waren zu Tode getrampelt worden, statt ihren Verbrennungen erlegen zu sein. Auch Senator von Amadors aufstrebende Priesterin war umgekommen.

Und wie Tyrus’ Diener gleich zu Beginn ihrer Ermittlungen feststellten, war auch mein Möchtegernmörder unter den Opfern. Sie zeigten uns Aufnahmen der Überwachungskameras, die den Vergiftungsversuch eingefangen hatten, Bilder der Versammlung der Grandiloquay, bevor Tyrus und ich uns verabschiedet hatten. Ich sah, wie ich durch die Menge streifte und mich nach einem stolpernden Mann umblickte, der sich ungelenk an die Schulter seiner Frau klammerte. Im selben Augenblick hatte ein Grande aus einem Nebenzweig der Rothesay-Familie einige Tropfen einer Flüssigkeit in mein Getränk geträufelt.

Danach beobachtete er mich. Dass ich meinen Becher mit Devineés vertauscht hatte, war ihm aber offenbar entgangen, denn er folgte mir in die Heliosphäre, um dort in Ruhe zuzusehen, wie ich dem Gift erlag.

»Der Schuss ist nach hinten losgegangen«, bemerkte ich, als ich mich erinnerte, das Gesicht des Attentäters unter den Toten gesehen zu haben. Da spürte ich Tyrus’ durchdringenden Blick. »Ich hatte keine Ahnung, dass mein Getränk vergiftet war. Oder dass ich es dann unwissentlich weitergereicht habe …«

»Ja«, sagte Tyrus mit wissendem Unterton. »Eine schlimme Überraschung, nicht wahr?« Er wandte sich an seine Diener. »Verbreiten Sie die Nachricht, wer Salivar vergiftet hat – ohne Nemesis zu erwähnen.« Mit einem Wink ließ Tyrus die Aufnahme erneut abspielen.

»Was ist?«, flüsterte ich.

»Befragen Sie auch diesen Mann.« Verärgert deutete Tyrus auf den Mann, der mich durch sein Stolpern von dem Giftmischer abgelenkt hatte. »Wenn nötig, schüchtern Sie ihn ein. Bis Sie sicher sind, ob er die Finger im Spiel hatte oder nicht.«

»Gute Idee«, sagte ich und lächelte.

Tyrus erwiderte mein Lächeln nicht. Sein Blick ruhte wieder auf der Liste der Todesopfer.

An einen schönen Abend zu zweit war zwar nicht zu denken, doch Tyrus und ich zogen uns trotzdem für ein paar Stunden auf die Hera zurück. Tyrus hatte mir dieses prächtige Astero­idenraumschiff zur Verlobung geschenkt – ein Domitrianerschiff für die künftige Domitrianerin.

Gemeinsam saßen wir im großen Jadesaal. Cygna wollte ihn in ein elegantes Einkaufszentrum umwandeln, hatte ihren Plan aber nicht mehr verwirklichen können. So schlängelte sich noch immer ein Fluss von einem sprudelnden Brunnen aus durch einen Garten aus bronzefarbenen Pflanzen und Bäumen.

Endlich waren Tyrus und ich unter uns, allein auf der großen widerhallenden Promenade. Tyrus griff in das Futteral an seinem Gürtel und zog einen Palladiumstab heraus. Auf sein Schnippen hin spreizte sich das obere Ende zu sechs spitzen Stacheln.

Das Kaiserzepter. Seit der Krönung hatte ich Tyrus öfter dabei erwischt, wie er es förmlich mit dem Blick durchbohrt hatte. Dem ersten Anschein nach wirkte das Zepter bloß wie ein hübsches Artefakt, tatsächlich war es aber ein wichtiges Machtinstrument. Durch dieses Zepter waren die Domitrianer zur bedeutendsten Familie der Galaxie geworden.

»Was hast du denn?«, fragte ich schließlich.

Zögerlich sah Tyrus mich an. »Du weißt, was das ist?«

Ich nickte, und er sprach weiter. »Ich habe es auf dieselbe Art und Weise empfangen wie jeder Kaiser vor mir. Mein Onkel ist tot – ich habe seinen Platz eingenommen.« Tyrus hielt seine Hand knapp über die Stacheln. »Die Spitzen haben meine Haut durchstoßen und mein Blut in sich aufgenommen. Erst nachdem sie mich als Domitrianer identifiziert hatten, ging das Zepter in meinen Besitz über – und damit auch das gesamte Chrysanthemum. Von diesem Augenblick an hatte ich die Kontrolle über jede seiner technischen Anlagen.«

Das war noch untertrieben. Tyrus hatte die Kontrolle über jede Maschine im Umkreis von mehreren Lichtjahren und sogar über einige weit draußen im Imperium. Der Kaiser konnte sie alle dirigieren. Nur deshalb stellte das Geschlecht der Domitrianer die Kaiserfamilie.

»Nicht jeder Domitrianer besitzt das gleiche Geschick im Umgang mit dem Zepter«, fuhr Tyrus fort. »Meine Urgroßmutter Acindra konnte nahe Maschinen durch pure Gedankenkraft steuern, doch mein Onkel … mein unbeholfener Onkel war auf Handzeichen angewiesen, manche Befehle musste er sogar laut aussprechen. Ich würde mich besser anstellen, davon war ich überzeugt.«

Tyrus hatte das Zepter noch nie vor meinen Augen benutzt. »Und? Wie stellst du dich an?«

Er sah mich an. »Nemesis«, flüsterte er. »Das Ding hört nicht auf mich.«

Ich betrachtete ihn ungläubig.

Stille.

»Wie bitte?«, fragte ich.

Tyrus zuckte die Achseln und sagte: »Einen Wächterbot hierher. Auf der Stelle.«

Wir warteten ab.

Vergeblich.

»Oh«, sagte ich.

»Solange ich nicht dahintergekommen bin, wie es funktioniert, sollte ich mich möglichst nicht mit dem Ding zeigen«, erwiderte Tyrus. »Das ist ein ernstes Problem, Nemesis. Das Zepter soll mir nicht nur erlauben, alle technischen Anlagen zu steuern. Es hält das Chrysanthemum zusammen. Nur das Zepter kann zweitausend einzelne Schiffe zu einer Einheit zusammenführen.« Seine Hand krallte sich um den Stab. »Deshalb konnte eine unbedeutende strukturelle Instabilität eine solche Kata­strophe auslösen. Nur die Reparaturbots, die sich schon auf der Valor Novus befanden, wurden mobilisiert, um das Leck in der Heliosphäre zu beheben, die Bots der Nachbarschiffe nicht. Und um dieses Leck zu kitten, hätte es Hunderte gebraucht, nicht bloß eine Handvoll.«

»Daran lag es also …«, überlegte ich laut. »Und aus demselben Grund musstest du die Medbots erst herbeirufen. Erst dann sind sie aufgetaucht.«

Tyrus nickte. »Ich habe keine Kontrolle, über keine einzige technische Anlage. Wir sitzen auf einem einzelnen Schiff inmitten von zweitausend anderen einzelnen Schiffen ohne jede innere Verbindung. Das Netzwerk, das drohende Probleme aufspüren und die Reparaturbots entsprechend verteilen soll, ist ausgefallen. Normalerweise hätte es nie zu diesem Leck in der Heliosphäre kommen können – besonders in der Nähe eines Hyperriesen wäre der Schaden schon lange behoben worden. Das hätte nie geschehen dürfen. Die Reparaturbots verweigern den Dienst, die externen Wächterbots sind offline … das ist ein wirklich ernstes Problem.«

Mit einem Schlag wurde mir die ganze Tragweite bewusst.

»Tyrus«, sagte ich. »Glaubst du, das ist schon anderen aufgefallen?«

»Nach dem heutigen Tag dürfte es kaum noch zu übersehen sein, oder?«

Wenn Tyrus weder Wächterbots befehligen noch die im Sonnensystem befindlichen Schiffe aus der Ferne steuern konnte, dann … dann war die Gefahr eines tödlichen Angriffs kaum geringer als vor seiner Krönung. Nein, sie war noch gestiegen. Denn als Kaiser war Tyrus erst recht zur Zielscheibe geworden.

»Sollte irgendeiner deiner Feinde nur darauf gewartet haben, dich zu attackieren …«, murmelte ich fassungslos, »oder … oder uns zu attackieren, wird er sofort handeln. Das willst du mir damit doch sagen?«

Tyrus nickte.

Natürlich sahen wir uns etlichen Bedrohungen gegenüber, doch von einem Mann ging die größte Gefahr aus. Dieser Mann war der mächtigste Senator des Imperiums und der Kopf der Helioniker, die gegen jedes einzelne von Tyrus’ Vorhaben aufbegehrten, aber mehr noch: Er war Vater. Und ich hatte vor Kurzem seine Tochter getötet.

»Wie lange es wohl dauern wird, bis Senator von Pasus Wind davon bekommt?«, fragte ich.

Tyrus wollte gerade antworten, da vibrierte sein Palladiumhandschuh. Er wurde kontaktiert. Noch bevor er die Hand he­rumdrehte und den Namen des Anrufers ablas, wusste ich, wer es war.

»Nicht allzu lange, würde ich sagen.« Mit einem bitteren Lächeln nahm Tyrus das Gespräch an und begrüßte Senator von Pasus.

3

 

Das letzte Mal, als ich Senator von Pasus zu Gesicht bekommen hatte, war er als ehrwürdiger alter Mann aufgetreten – vielleicht wollte er sich dadurch bewusst von seiner Tochter Elantra absetzen, die er als Tyrus’ Ehefrau vorgeschlagen hatte. Die meisten Grandiloquay machten sich absichtlich jung, doch manchmal entschieden sie sich auch für bestimmte Anzeichen des Alterns, um aus der Masse hervorzustechen oder, was wohl häufiger der Fall war, die Überschüssigen in ihrem Territorium leichter bändigen zu können. Für die Planetenbewohner, die natürlich nicht auf Schönheitsbots zurückgreifen konnten, standen sichtbare Alterserscheinungen für Lebenserfahrung. Insofern war Senator von Pasus mit seinem grauen Haar und kurzen Bart kein besonders ungewöhnlicher Anblick gewesen.

Als er nun als Hologramm vor uns trat, schien es jedoch, als wären die Jahre spurlos an ihm vorbeigegangen. Sein neuerdings pechschwarzes Haar verschluckte jedes Licht, seine Augen strahlten in arktischem Blau, und seine glatten, markanten Gesichtszüge waren offenbar von einem Bot gemeißelt worden, dem es weniger auf Schönheit als auf Erhabenheit angekommen war.

Kurz kniete Senator von Pasus sich auf den Boden und erhob sich nach dieser flüchtigen Demutsgeste sogleich wieder. »Ehrwürdigster Gebieter.«

Ich hatte mich derweil so weit zurückgezogen, dass ich nicht in dem Hologramm auftauchte, das an Pasus übertragen wurde.

»Senator«, antwortete Tyrus kühl. »Ihr habt Euch aufs Erstaunlichste gewandelt.«

»Eure Majestät selbst hat mich dazu inspiriert. Ich dachte mir, da ich ja nun zum ersten Mal vor meinen neuen Kaiser trete, sollte ich mir ein Beispiel nehmen und mich ebenfalls von einer neuen Seite zeigen.«

Natürlich. Wie so viele Grandiloquay hatte Senator Pasus Tyrus nur in seiner Rolle als irrer Thronerbe gekannt. Der intelligente junge Mann dahinter war ihm lange verborgen geblieben.

Nun blickte Tyrus zu mir und streckte die Hand aus.

Er wollte also, dass Pasus mich sah, auch wenn der Senator das sicherlich als Provokation auffassen würde.

Ich trat an Tyrus’ Seite und damit in das Hologramm.

»Ich hatte nicht mit Eurem Anruf gerechnet«, sagte Tyrus und nahm dabei meine Hand.

Für einen Moment blickte Pasus starr zu Boden, und mir war klar, dass seine kalten Augen die holografische Projektion unserer ineinander verschränkten Hände fixierten. »Ich bitte Euch untertänigst, mein Fehlen bei Eurer Konvokation und auch bei Eurer Krönung zu entschuldigen. Wie Eure Majestät weiß, war ich außer mir vor Trauer um meine kürzlich verstorbene Tochter.«

»Eine äußerst bedauerliche Angelegenheit«, erwiderte Tyrus mit der gleichen kühlen Höflichkeit. »Insbesondere die Ereignisse, die der Tragödie unmittelbar vorausgingen.«

Selbstverständlich wusste Pasus, worauf Tyrus hinauswollte – dass zuerst Elantra Sidonia ermordet hatte, bevor ich auf seine Tochter losgegangen war. Pasus’ Kiefer zuckte, doch er lächelte. Nein, er bleckte die Zähne wie ein wildes Tier. »Mir ist soeben zu Ohren gekommen, dass der bedauernswerte Salivar verschieden ist.«

Tyrus’ Miene blieb starr wie Stein. »Ach ja?«

»Mein herzliches Beileid, Eure Majestät. Es ist ein überaus schmerzlicher Verlust. Und Eure arme Cousine steht nun ohne Ehemann da …«

»Woran sich lange Zeit nichts ändern wird«, sagte Tyrus sofort.

Pasus’ eigentümliches Lächeln ließ mich frösteln – der Senator grinste, als hätte gerade irgendetwas seine Gier geweckt. Und als würde er nicht ruhen, ehe er es in seinen Besitz gebracht hatte.

»Euch muss recht unwohl zumute sein«, wechselte Pasus das Thema. »Wie konnte dieses Gift in unmittelbarer Nähe Eurer Majestät auftauchen, ohne von Euren Wächterbots neutralisiert zu werden? Ganz zu schweigen von der Heliosphäre … die Reparaturbots taugen heutzutage offenbar auch nichts mehr! Kaum zu erklären, wie an einem einzigen Tag gleich zwei eigenständige Systeme versagen konnten …«

Tyrus’ Augen verengten sich unmerklich. Er zog wohl denselben Schluss wie ich: Pasus wusste Bescheid. Er wusste, wieso Tyrus’ Zepter den Dienst verweigerte.

»Andererseits ist niemand vor dem Zufall gefeit, nicht wahr?«, fügte Pasus lächelnd hinzu. »Womöglich handelte es sich um einen einmaligen Aussetzer.«

»Womöglich«, stimmte Tyrus zu.

»Aber sollte es kein vorübergehendes Problem sein, befändet Ihr Euch dann nicht in einer sehr prekären Lage, ehrwürdigster Gebieter? Wärt Ihr dann nicht auf mächtige Verbündete angewiesen? Bisher umgebt Ihr Euch ja lieber mit Neulingen, die erst kürzlich in den Senatorenrang aufgerückt sind, um jene zu ersetzen, die wie Senator von Impyrean unter der Herrschaft Eures Onkels umgekommen sind. Sprich: mit Anfängern.«

An der Hand spürte ich Tyrus’ rasenden Puls, doch seine Stimme zitterte nicht. »Eure Sorge rührt mich, Senator. Ich kann Euch versichern, es besteht kein Grund zur Beunruhigung.«

»Soso. Hmm. Ich weiß, Ihr habt nicht um meinen Rat gebeten, aber da ich Euch, liebster Tyrus, nun einmal vom jüngsten Knabenalter an kenne, fühle ich mich dennoch verpflichtet, Euch einen gut gemeinten Ratschlag zu erteilen … ich an Eurer Stelle würde mich darum bemühen, die Gunst unseres Lebendigen Kosmos wiederzugewinnen. Womit Ihr Euch allerdings schwertun dürftet, solltet Ihr weiter an jenen festhalten, die Ihr um Euch geschart habt.« Bei diesen Worten wanderte Pasus’ Blick zur Projektion meines Gesichts – und der ungezügelte Hass, der mir aus seinen Augen entgegenschlug, ließ keinen Zweifel daran, wen er meinte. »Ich an Eurer Stelle würde mich eher an die langjährigen Freunde Eures Geschlechts halten und mir gut überlegen, wie ich zurückerlangen könnte, was mir abhandengekommen ist.«

»Ich danke Euch für Euren Rat, Senator«, entgegnete Tyrus. »Wenn Ihr wieder einmal Ratschläge für mich habt, kommt doch persönlich vorbei.«

Darauf lächelte Pasus nur. Würde er persönlich im Chrysanthemum erscheinen, würde er sich in Tyrus’ Hände begeben. »Ich stehe Eurer Majestät stets zu Diensten. Solltet Ihr an meiner Sicht der Dinge interessiert sein, besucht mich doch in meinem Territorium.«

Auch Tyrus lächelte. Er würde Pasus niemals besuchen.

Mit dem Ende der Übertragung atmete Tyrus erschöpft aus, zog erneut das Zepter aus seinem Gürtel und studierte es frustriert.

»Er weiß es. Und wie dreist er ist! Salivar ist noch nicht einmal bestattet, und Pasus will sich schon die Hand meiner Cousine krallen.«

»Das können wir nicht zulassen«, sagte ich.

Als mächtigstes Mitglied des Helionikerlagers im Senat und Herr über Reichtümer, wie sie kaum ein anderer Grande besaß, war Pasus ohnehin eine ernstzunehmende Bedrohung. Sollte er nun auch noch Devineé heiraten, die Thronfolgerin, würde Tyrus nach höchstens einer Woche unter mysteriösen Umständen aus dem Leben scheiden.

»Natürlich lassen wir es nicht zu«, erwiderte Tyrus und packte das Zepter, als wollte er es zerquetschen.

Als ich seinen Blick suchte und beobachtete, wie sich ein Schatten über sein Gesicht legte, sah ich am Horizont schon die Katastrophe aufziehen. Tyrus stopfte das Zepter zurück in seine Halterung, und dort würde es wohl erst einmal bleiben.

»Tyrus«, sagte ich.

Geistesabwesend blickte er mich an.

»Ist es nicht langsam so weit?«, fragte ich.

»Was meinst du?«

»Lass mich diejenigen töten, die dir gefährlich werden können.« Denn das – nur das – konnte ich für ihn tun. Diese eine einzigartige Gabe hatte ich zu bieten. Mitleid war mir von Natur aus fremd, und wer sich gegen Tyrus stellte … Ich hatte schon Sidonia verloren. Einen weiteren Verlust könnte ich nicht ertragen. »Als Erstes deine Cousine.«

Tyrus trat dicht vor mich und nahm mein Gesicht zwischen die Hände. »Nein, Nemesis.«

»Aber –«

»Du bist nicht meine Diabolic. Ich werde nie wieder von dir verlangen, mir als Diabolic zu dienen. Ja, wir mussten einen Rückschlag hinnehmen. Aber ich werde eine Lösung finden.«

Das behauptete er, aber hatte er auch nur den kleinsten Ansatz einer Lösung? Eben nicht.

Deshalb wartete ich, bis Tyrus endlich von der Müdigkeit übermannt wurde. Als Mensch brauchte er eine Menge Schlaf, ich dagegen nur sehr wenig.

Ich hatte mich entschlossen, auf eigene Faust hinter die Gründe für Tyrus’ schwache Position zu kommen. Ein bestimmter Bewohner des Chrysanthemums kannte die Antwort, und ob er wollte oder nicht, er würde damit herausrücken.

4

 

Das winzige Raumschiff Penumbra war ein fester Bestandteil des Chrysanthemums und das alleinige Reich der Priester im Dienst der Kaiserfamilie. Eine längst verschiedene Herrscherin, die Kaiserin Avarialle, hatte es den Hütern des Glaubens vor langer Zeit gestiftet.

Eigentlich durfte ich das Schiff nicht betreten, doch als ich den Dienern am Eingang einen eindeutigen Blick zuwarf, verzichteten sie lieber darauf, mich davon abhalten zu wollen. So stürmte ich in den heiligen Zufluchtsort – und fand mich in einem Korridor aus transparenten Wänden wieder, überwuchert von einem Wust dichter Kletterpflanzen, aber mit Blick auf die hellen Sterne des Kosmos.

Hinter diesem Gang aus Sternenlicht und ungezähmter Natur gelangte ich in einen weitläufigen Garten, der offenbar von liebevoller Hand gepflegt wurde und nicht von Servbots. Die exakt geschnittenen Büsche sahen aus, wie man sich in alten Zeiten die Sterne vorgestellt hatte, als Kreise mit einem Kranz aus spitzen Strahlen.

In der Mitte starrte eine gigantische Kristallstatue auf die grüne Pracht hinab, ein Riese mit nackten Füßen, deren Knöchel mir bis zur Hüfte gingen.

Ich ließ den Blick langsam an den Kristallmassen hinaufwandern und auf seinem Gesicht verharren: eine breite Nase, Augen mit schweren Lidern, das Haar topfartig am Schädel platt gedrückt.

Es war ein überraschend gewöhnlicher Anblick, mal abgesehen von der stattlichen Körpergröße.

Doch genau so wurde der Interdikt, der Hohepriester des Helionismus, stets dargestellt. Angeblich handelte es sich um einen unsterblichen Menschen, der in einer Sternensphäre im Transsaturn-System residierte – in der sogenannten Geheiligten Stadt.

In unserer Kindheit hatte Donia mir immer wieder von ihm erzählt, zunächst voller Ehrfurcht, später aber, als sie ein bisschen älter wurde, mit leisem Zweifel.

»Bin ich ein sehr schlimmes Mädchen, wenn … wenn ich mir nicht so sicher bin, ob es den Interdikten wirklich gibt?«, hatte sie manchmal mit bebender Stimme gefragt.

Donia war selbstverständlich kein schlimmes Mädchen, und deswegen erschien es mir nur logisch und gerecht, an der Existenz dieses Unsterblichen zu zweifeln.

»Kein Respekt vor den Stätten des Glaubens«, sagte eine Stimme hinter mir. »Aber von dir war nichts anderes zu erwarten.«

Fustian nan Domitrian ging an mir vorbei zur Statue, einen Öltiegel und ein schmelzseidenes Tuch in den Händen.

»Dass eine Kreatur wie du wagt, diesen geweihten Ort zu betreten … wenn mich nicht alles täuscht, hat dich der heilige Kosmos doch erst heute für deinen mangelnden Respekt zurechtgewiesen?«

»Eben deswegen«, sagte ich, während der Priester die Riesenzehen der Statue salbte, »suche ich Euch auf, Vicar.«

»Unserem jungen Kaiser ist doch nichts geschehen?«

Ich beobachtete ihn genau. »Keine Sorge«, zischte ich. »Tatsächlich wollte er sich ohnehin mit Euch unterhalten. Aber ich wollte Euch zuerst sprechen. Unter vier Augen.«

Fustian musterte mich verächtlich. »Und wieso?«

»Weil Tyrus zu häufig Gnade walten lässt«, antwortete ich mit meinem schönsten Lächeln. »Im Gegensatz zu mir.«

Mitten in der Bewegung erstarrte Fustians Hand über den Zehen der Statue. Sein Blick ging an mir vorbei.

»Denkt Ihr darüber nach, Hilfe zu rufen?«, fragte ich. »Hängen Eure Untergebenen denn nicht an ihrem Leben? Wären sie wirklich so dumm, sich zwischen uns zu werfen?« Ich schüttelte den Kopf. »Vergesst es. Hier und heute stelle ich die Fragen, und Ihr antwortet mir. Und solltet Ihr nicht den Mund aufmachen, werde ich Euch zum Reden bringen. Was das angeht, verfügen Kreaturen wie ich über eine bemerkenswerte Begabung.«

Der Priester zitterte. Ich konnte seine Angst spüren, beinahe riechen, und irgendwo tief in mir jubelte ich darüber. Zu diesem Zweck war ich geschaffen worden. Mit jeder Faser meines Raubtierkörpers sehnte ich mich danach, diesem alten Mann, der sich mir entgegengestellt hatte, noch mehr Angst einzujagen.

Fustian hatte von den Riesenfüßen abgelassen und presste sich nun an die Statue, als suchte er Schutz beim Interdikten, der doch nur aus starrem Kristall bestand. »Der Zorn des Lebendigen Kosmos ist über die Heliosphäre hereingebrochen, nicht mehr und nicht weniger! Daran kannst du nichts mehr ändern, Monster, ob du mich nun in Stücke reißt oder nicht!«

»Es war also Zufall, dass ausgerechnet jetzt, da Eure Ablösung als Vicar Primus droht, die vollbesetzte Heliosphäre von einem Stern versengt wurde – Eure potenzielle Nachfolgerin eingeschlossen?« Ich senkte die Stimme. »Schwer zu glauben, dass eine höhere Kraft auf diese Weise in unsere Angelegenheiten eingreifen sollte.«

Fustian wurde blass. »Du unterstellst mir, ich hätte die Katastrophe herbeigeführt?«

»Ich unterstelle, dass Ihr mir bald die Wahrheit sagen werdet – sobald ich Euch nacheinander die Fingernägel und die Zähne herausgerissen habe.«

Im selben Moment täuschte ich einen Angriff an.

Kreischend schreckte Fustian zurück. »Ich hatte nichts damit zu tun!« Er hielt sich die Hände vors Gesicht. »Das Zepter! Es lag am Zepter!«

Er wusste also Bescheid. Er wusste wirklich Bescheid.

Mein Blut kochte hoch, und etwas in mir wollte mich dazu treiben zuzuschlagen, zu attackieren. Langsam umkreiste ich Fustian und hielt die Wut, die immer noch in mir aufflammte, in Zaum. Als ihm klar wurde, dass ich ihm noch gar keine körperlichen Schmerzen zufügte, sanken seine Hände wieder herab.

»Erklärt es mir. Auf der Stelle.«

Fustian atmete einige Male ein und aus und sammelte Mut. »Das ist nicht für deine Ohren besti–«

»Trotzdem werdet Ihr es mir erzählen!«, brüllte ich ihn an. »Entweder sofort oder danach.« Als ich ihm näher auf die Pelle rückte, stolperte er rückwärts gegen die Statue.

»Wisst Ihr eigentlich, dass Pasus Euch hintergangen hat?«, fragte ich – das war eine glatte Lüge, aber sollte Fustian darauf eingehen, würde sich meine Theorie bestätigen … »Er berichtete uns, Ihr hättet ihn auf das Zepter angesprochen. Ich weiß, dass Ihr mit ihm in Kontakt steht.«

Fustian sah mich fassungslos an. »Er hat es gewagt, mein Vertrauen zu missbrauchen?«

Soso. Pasus hatte tatsächlich auf etwas angespielt, worüber dieser Mann informiert war.

Ich nickte nur und verzog ansonsten keine Miene.

Fustians Mund klappte auf. »Ich trage nur einen kleinen Teil der Verantwortung. Es ist nicht meine Schuld.«

»Ich höre.«

»Bitte tu mir nicht weh.«

»Solange Ihr mir erzählt, was Ihr wisst, sollte das nicht nötig sein«, sagte ich und wich ein paar Zentimeter zurück. Die körperliche Einschüchterung hatte gewirkt, nun musste ich ihm etwas Luft zum Atmen geben.

Immer noch zitternd griff Fustian hinter sich und legte die Finger auf den nackten Fuß der Statue, als ob sich darin eine geheimnisvolle Kraftquelle befand. »Unsere Raumschiffe sind allesamt uralt. Kümmert man sich nicht ständig um ihren Erhalt, verfallen sie ganz von allein. Ich habe keinen Sabotageakt verübt. Die … die Tragödie, die sich heute augenscheinlich ereignet hat, muss auf den Willen des heiligen Kosmos zurückgeführt werden«, sagte er – sprach aber schnell weiter, die Augen weit aufgerissen, als ich wieder einen Schritt näher trat. »… und darauf, dass das Kaiserzepter nicht allein durch Domitrianerblut auf einen neuen Herrscher eingestellt werden kann. Eine weitere Voraussetzung ist die Zustimmung der Glaubensgemeinschaft.«

»Soll heißen: Eure Zustimmung.«

»Nicht nur meine! Die der ganzen Gemeinschaft. Und … und …«

In diesem Augenblick richteten sich die Sterne um uns herum zufällig in einer präzisen Konstellation aus, oder womöglich war es das Chrysanthemum selbst, das seinen Winkel im Weltall an eine Gravitationsschwankung des Sechs-Stern-Systems anpasste … So oder so traf plötzlich ein Lichtstrahl die Statue und ließ ihren Kopf über uns in einem gespenstischen Schimmer aufscheinen, ein Leuchten, das durch ihre Kristalladern nach unten floss und sich überall zu farbenfrohen Prismen auffächerte.

Fustian nan Domitrian fuhr herum und bestaunte die Statue, und es war, als entfachte ihr Strahlen neuen Mut in seinem Herzen. Sein Gesicht hellte sich auf, er lächelte beglückt und sank auf die Knie. Da wusste ich, dass ihn nichts mehr erschrecken konnte.

Als ich die Statue des Interdikten betrachtete, spürte ich ebenfalls den Hauch einer anderen Welt. Eine große Ruhe legte sich über mich. Die Intensität, mit der das Licht auf uns herabschien, war kaum zu begreifen, es war wie eine übersinnliche Erfahrung oder ein kurzer Blick in ein fremdes Universum.

Kurz darauf verschob sich der fein justierte Winkel der Sterne wieder, und unvermittelt war der Zauber verflogen. Doch Fustian lächelte noch immer, ein Glimmen in den Augen, beseelt vom blinden Glauben eines Fanatikers.

»Nemesis dan Impyrean«, sagte er verträumt, »ist es nicht erstaunlich, dass sich dieses kostbare Schauspiel, das nur wenige Male im Monat zu beobachten ist, gerade jetzt ereignet hat, da du mich hier beehrst? Vielleicht will mir unser Lebendiger Kosmos damit die Erlaubnis erteilen, selbst einem Wesen wie dir dieses Geheimnis unseres Glaubens zu offenbaren. Ich will seiner Aufforderung nachkommen – nicht aus Angst, sondern aus Pflichtgefühl.«

Redet es Euch nur schön, Vicar, dachte ich zornig, sagte aber: »Fahrt fort.«

Vor meinen Augen flimmerte noch immer das Licht der Statue, als Fustian sich lächelnd zu voller Größe aufrichtete, durchdrungen von überirdischem Glück.

»Mir wurde die Ehre zuteil, eine Diode der Treue zu tragen.« Fustian drehte die Handfläche nach oben und spreizte die Finger. »Implantiert wurde sie mir einst von einem betagten Priester, der sie selbst von einem ergrauten Glaubensbruder empfangen hatte. Besteigt ein neuer Kaiser den Thron, müssen wir, die wir die Dioden hüten, unsere mehrheitliche Zustimmung zu seiner Herrschaft mit den vorgegebenen Worten signalisieren.«

Ich studierte Fustians Handfläche genau. »Und wie viele gibt es davon?«

»Das weiß ich nicht. Wir sind Hunderte, vielleicht Tausende – wer kann das schon sagen? Wir alle müssen unsere Stimmen vereinen und die Herrschaft des neuen Kaisers gutheißen. Jede dieser Stimmen ist nur ein Tropfen in einem weiten Meer. Wenn ich es dir demonstriere, ersparst du mir dann die körperlichen Schmerzen?« Fustian presste die Hände aneinander und sprach: »Mögen die ungezählten Sterne unserem neuen Kaiser ihren Segen erteilen.«

Ich blickte mich um. Müsste nicht noch irgendetwas passieren? Doch der Alte sah mich bloß mit leuchtenden Augen an.

»Damit ist es vollbracht, eine Stimme hat ihr Einverständnis erklärt. Doch ihr benötigt so viele mehr. Wie viele es sind und welche genau, das weiß niemand. Es gibt nur einen Weg, sich die Unterstützung der Geistlichkeit zu sichern. Ihr müsst die Ursache ihrer ablehnenden Haltung aus der Welt schaffen.« Dabei blickte Fustian mir fest ins Gesicht, denn ich war eben jene Ursache. »Sag du es mir, Nemesis dan Impyrean, wie viele Priester werden es wohl gutheißen, dass der Kaiser mit einer Kreatur, der nicht einmal der göttliche Funke unseres Lebendigen Kosmos innewohnt, den Bund der Ehe eingehen will? Zumal er in aller Offenheit weitere ketzerische Absichten bekundet hat … wie viele Stimmen werden sich zur Unterstützung dieses Herrschers erheben?«

Kaum welche. Oder gar keine. Am liebsten hätte ich den alten Priester erdrosselt, aber davon hätten wir auch nichts gehabt.

Fustian lächelte noch zufriedener. »Liebst du unseren jungen Kaiser? Dann bring ihn dazu, den Tatsachen ins Auge zu sehen und auf den rechten Weg zurückzukehren. Und dann geh deines Weges und lass ihn in Frieden über das Imperium herrschen. Andernfalls hat sich heute nur die erste in einer langen Reihe von Tragödien ereignet.«

»Tyrus ist klug. Er kann auch ohne Zepter herrschen.«

»Tyrus ist Domitrianer«, erwiderte Fustian. »Und worin besteht die Macht der Domitrianer? In der Macht über das Kaiserzepter und all die Maschinen, die es in seinem Namen steuert. Ohne Zepter ist Tyrus kein Kaiser. Ohne Zepter ist er nur ein junger Bursche, der dem falschen Mädchen verfallen ist.«

5

 

In den zwei Wochen seit seiner Krönung hatte Tyrus keine Sekunde geruht.

Nach so vielen Jahren, in denen er aus purem Überlebensinstinkt sein wahres Wesen hinter gespieltem Wahnsinn oder irgendeiner anderen Maskerade verborgen hatte, nach so viel vergeudeter Zeit, war er endlich am Ziel angelangt – und stürzte sich kopfüber in tausend Vorhaben.

Nun, da er endlich Herrscher über die Galaxie war, platzte er vor Ungeduld.

Es tat nichts zur Sache, wie lange er am Vorabend auf den Beinen gewesen war, stets stand er um 0600 auf. Anders als früher blieben ihm keine zwei Stunden für seinen täglichen Sport, doch wann immer es ihm möglich war, verausgabte er sich zumindest in einer Trainingsstunde. Er widmete sich den ersten Aufgaben bereits beim Frühstück, hörte sich die eingegangenen Nachrichten an, ließ fernen Provinzen neue Anweisungen zustellen und verteilte die anstehenden Besprechungen über den Tag. Während er von Bots für seinen Auftritt bei Hof herausgeputzt wurde, las er Berichte von Beratern oder zeichnete Sendungen für die entlegensten Gebiete des Imperiums auf. Schließlich sollten alle darüber aufgeklärt werden, dass sie von einem wahrhaftigen Kaiser regiert wurden, nicht von einem Irren aus dem Reich der Gerüchte.

Darauf folgten Stunden um Stunden zäher Verhandlungen mit Grandiloquay, die ihm ausnahmslos irgendwelche Zugeständnisse entlocken wollten, und mit seinen ungeduldigen luminarischen Verbündeten, die ihrem Planeten Vorteile sichern wollten. Auch etliche gesellschaftliche Ereignisse brachte Tyrus in seinem Kalender unter, allerdings weniger zur Unterhaltung als aus praktischen Gründen – vor allem waren sie für ihn eine Gelegenheit, seine Beziehungen am neuen Kaiserhof zu stärken.

Wurde ihm bei derartigen Anlässen ein Rauschmittel angeboten, nahm er immer dankend an, statt das Geschenk abzulehnen – streckte dann aber meist unauffällig einem Medbot seinen Arm hin, damit dieser das Gift in seinem Körper unschädlich machte. Natürlich ohne dass der großzügige Spender es bemerkte. Mit wem er sich auch unterhielt, jeden Gesprächspartner analysierte er aufmerksam, lächelte dabei aber stets so charmant wie ein dekadenter junger Aristokrat.

Täglich trafen Hunderte Nachrichten und Einladungen von diversen Grandiloquay ein, die Tyrus um eine Audienz oder einen Gedankenaustausch ersuchten, andere forderten alte Versprechen von seinen Vorgängern ein oder wollten Schulden eintreiben, die Randevald im Namen aller Domitrianer angehäuft hatte.

Bald ließen sie Tyrus nicht einmal während seines Frühsports in Frieden. Eine ganze Schar von Grandiloquay, die körperliche Anstrengung im Grunde mieden und ihre Muskulatur lieber durch Bots wachsen ließen, waren plötzlich geradezu süchtig nach Leibesertüchtigung. In Sachen Rauschmittel interessierte sich dieser Teil der Hofgesellschaft seit Neuestem nur noch für Steroide und Amphetamine, und all die Granden und Grandeén wetteiferten darum, wer die beste Hochschwerkraftkammer auf seinem Schiff einrichten ließ, um sich dort zu verausgaben. Parallel erblühte jedoch der Handel mit Antigravbändern, was das Trainingskonzept wiederum ad absurdum führte.

Ein Glück, dass Tyrus mir die Hera