Diabolische Machenschaften - Conny v. Beek - E-Book

Diabolische Machenschaften E-Book

Conny v. Beek

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Beschreibung

Der vierte Advent in Annaberg-Buchholz im Herzen des Erzgebirges: die Schwibbögen leuchten, auf dem Weihnachtsmarkt herrscht geschäftiges Treiben und unzählige Besucher zelebrieren die Bergparade. Doch plötzlich wird die besinnliche Stimmung zerschlagen. Zum Höhepunkt der Parade bricht Chaos auf dem Kirchplatz aus – zwei Menschen und ein Hund sterben. Smilla Frerichs, Kriminalhauptkommissarin aus dem Norden, tritt in dieser Nacht ihren Dienst in der historischen Bergstadt an. Als Ortsfremde stellt sie sich den Herausforderungen des tückischen Falls und der Skepsis der Einheimischen.

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Seitenzahl: 439

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Diabolische Machenschaften

Conny v. Beek

Diabolische Machenschaften

Erzgebirgskrimi

fischer krimi

Für Sturzel

Inhalt

Vorbemerkung

Intro

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Nachwort

Vorbemerkung

Auch wenn manche Details in diesem Buch wie Ortsangaben, Namen und Aussehen von Personen oder Bäckereifilialen an den wirklichen Gegebenheiten angelehnt sind, handelt es sich dennoch um eine fiktive Geschichte mit mal mehr oder weniger fiktiven Akteuren und Schauplätzen. Was an diesem Buch der sogenannten Realität entstammt, liegt bei Ihnen, herauszufinden.

Intro

Die Drohne eines renommierten mitteldeutschen Fernsehsenders erhebt sich von ihrem Standort am Rande des kleinen Marktplatzes im Herzen des Erzgebirges. Wie von Geisterhand gesteuert schwebt das mit der neuesten Kameratechnik bestückte Flugobjekt langsam empor und zeichnet dabei die atemberaubendsten Bilder von der über zehn Meter hohen Peremett vor ihr auf. Die vierstöckige Weihnachtspyramide inmitten hölzerner Marktbuden ist das Wahrzeichen des überschaubaren, aber dennoch weit über die Grenzen der Gebirgsregion hinaus bekannten Weihnachtsmarktes. In hochauflösender Nahaufnahme fängt die Kamera die in althergebrachter Tradition handgeschnitzten Holzfiguren mit kunstvoller Bemalung für die Zuschauer zu Hause in ihren warmen Stuben ein: stolze Söhne und Töchter der Stadt, Wünschelrutengänger, Häuer, Schmelzer und Posamentiererinnen in altüberlieferten Trachten als eine Hommage an die vom Silberbergbau und Posamentierhandwerk geprägten Geschichte dieser Kleinstadt.

Oberhalb der Marktbudendächer prangt der figürliche Abschluss der Peremett. Es ist ein Kranz aus musizierenden Engeln in langen weißen Gewändern. Und über deren Köpfen rotiert das große Flügelrad rhythmisch im Kreis. Vorbei an den Holzflügeln der Peremett erhebt sich die Drohne weit über den kleinen Marktplatz und bietet den Fernsehzuschauern im ganzen Land einen einmaligen Ausblick auf das weihnachtliche Treiben unter ihr.

Die rechteckige Platzanlage ist gesäumt von drei- bis vierstöckigen Wohn- und Geschäftshäusern aus dem 16. und 18. Jahrhundert. Im Untergeschoss der historischen Markthäuser befinden sich liebevoll eingerichtete kleine Ladenzeilen, Cafés und Restaurants. Die in den unterschiedlichsten Pastellfarben harmonisch aufeinander abgestimmten Bauten sind von spitz zulaufenden Satteldächern mit traditionellen dunkelbraunen Biberschwanzdachziegeln bekrönt. Zahlreiche kleine und in Schnee eingehüllte Dachgauben ragen wie Sahnebaiser aus ihnen hervor. Der romantische Eindruck von einer kleinen, historisch geprägten Altstadt, die im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Städten von Kriegszerstörungen fast unberührt ist, wird nur noch von den unendlich vielen Lichtern gesteigert, die das Städtchen zu dieser besonderen Jahreszeit in einen warmweißen Glanz hüllen. Denn in wirklich jedem der zahlreichen kleinen, die Fassaden der Häuser gliedernden Sprossenfenster und in jeder noch so winzigen Dachgaube erstrahlen die in meisterlicher Handwerkskunst gearbeiteten hölzernen Schwibbögen. Mit Liebe zum Detail geschnitzt wurden die mit regionalen Bildmotiven wie Bergmännern, klöppelnden Frauen, Berghütten oder Kirchen von ihren Besitzern voller Stolz auf den Fensterbrettern platziert und erleuchten die Dunkelheit.

Hoch oben über dem Marktplatz fängt die Drohne die rustikalen hölzernen Weihnachtsmarktbuden ein, inmitten denen ein fast dreißig Meter hoher und über und über mit funkelnden Lichtern behangener Tannenbaum emporragt. Zwischen den mit Tannengirlanden, roten Schleifen, Lichterketten und Herrnhuter Sternen geschmückten Holzhäuschen drängen sich in dicke Winterjacken eingemummelte Marktbesucher. Neben handgemachten Holzschnitzereien, geklöppelten Deckchen, Töpferwaren und Wollsocken sind es gerade die kulinarischen Leckereien wie Glühwein, Pizzaleberkäse oder die altbewährte Waffelspezialität dieser Region mit weißer Schlagcreme, die sie hierhergelockt haben.

Der Duft von Weihnachtsgebäck gemischt mit einer Note von Anis und Zimt liegt in der Luft. Der Marktplatz erstrahlt in einem warmen Lichtermeer. Von oben aus dem Himmelreich gleiten sternförmige Kristalle herab und bedecken den Platz und seine Buden mit einer flauschigen Schneedecke. Im Hintergrund erklingen leise die Töne regionaler Weihnachtsmusik und umgeben die Menschen mit einer Aura der Besinnlichkeit, einer fast himmlischen Atmosphäre, die unerschütterlich scheint.

Einige Weihnachtsmarktbesucher richten ihre Blicke nach oben und erfreuen sich an dem Tanz der herabrieselnden Schneeflocken. So auch der Kameramann des renommierten mitteldeutschen Fernsehsenders und Pilot der Drohne, Bodo Radtke, der wegen seiner Halskette aus Haizähnen auch unter dem Namen »Sharky« bekannt ist. Bodo befreit seine Nase aus dem dicken Wollschal vor seinem Kinn und reckt sie zum Himmel. Seine langen blonden Surferlocken wippen getrieben von dem aufkeimenden kalten Ostwind vor seinem Gesicht auf und ab. Bodo nimmt einen tiefen Zug von der eisigen Gebirgswinterluft. Die Kälte schmerzt in seinen Lungen. Dennoch verfolgt er verträumt das tänzerische Treiben der herabschwebenden Schneeflocken.

»Alles scheint perfekt«, murmelt Bodo leise in seinen dicken Schal hinein.

Kapitel 1

Monika »Moni« Pinkert schaut nach oben. Aus dem pechschwarzen Nichts über ihr fallen mehr und mehr weiße Kristalle herab und legen sich auf ihrem Gesicht nieder. Spielerisch und unvorhersehbar scheinen sie immer wieder ihre Richtung zu ändern, zu springen und zu wirbeln, von den eiskalten Windböen des Abends getragen, um dann wieder lieblich und sorgenfrei herabzugleiten. Für einen kurzen Augenblick verliert sich Moni in ihren Gedanken, fühlt sich als Teil dieses himmlischen Ereignisses. Welch zauberhafter Anblick. Sie fühlt sich so leicht und unbeschwert, als würden sie die Flöckchen und der Wind tragen. Dann sieht Moni über ihre Schulter hinunter ins hell erleuchtete Tal. Sie lässt ihren Blick zu den im Lichterglanz der Häuser nur schemenhaft erkennbaren Bergketten schweifen, die die Kleinstadt zu allen Seiten säumen. Moni liebt diesen Anblick zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter. Und aus diesem Grund empfindet sie ihre Arbeit hier oben als Traumjob. Denn allein dieser macht es ihr möglich, Tag für Tag in den Genuss dieser einzigartigen Aussicht zu kommen. Hier oben hat sie sich immer frei gefühlt. Umgeben von der Ruhe und der Reinheit der Gebirgsluft konnte sie den Stress des Alltags unten im Tal leicht hinter sich lassen. Es war, als würde sie jeden Morgen in einer Welt fernab von den territorialen Zwängen einer eingeschworenen und mürrischen Gebirgsbevölkerung aufwachen.

Es erscheint ihr unvorstellbar, irgendwann einmal nicht mehr jeden Tag zusammen mit ihrer Familie hier oben über den Dächern der historischen Kleinstadt in Abgeschiedenheit den Tag zu starten und am Abend wieder ausklingen zu lassen. Und ein weiterer positiver Nebeneffekt ihrer Arbeit hier oben ist, dass es nur wenigen und schon gar keinen unangemeldeten Besuch gibt. Denn kaum einer nimmt die Strapazen des langen Aufstieges ohne triftigen Grund auf sich. Ja, man kann sagen, Moni liebt ihre Arbeit über den Dächern der Stadt. Und wie jedes Jahr zu diesem besonderen Fest ist Moni auch heute wieder auf die Plattform hinabgestiegen, während sich ihre Familie unten im Getümmel der Menschen verliert. Nicht nur aufgrund ihrer beruflichen Verpflichtungen, die sie zum Höhepunkt der sich unten abspielenden Bergparade zu erfüllen hat, sondern vor allem auch, um diesen einmaligen Ausblick auf das jährlich stattfindende Spektakel im Zauber des Lichterglanzes in aller Abgeschiedenheit zu beobachten. Und wenn es dann auch noch zu schneien beginnt und sich eine weiße Watteschicht auf den Dächern der Stadt und den umliegenden Bergen niederlegt, dann erscheint dieses Ereignis in ihren Augen perfekt.

Moni hält das eiskalte Eisengitter der Brüstung mit ihren Fingern fest umschlungen. Wie gern ist sie immer die schmalen Arkadenbögen der Eisenstangen mit ihren Fingerspitzen entlanggefahren und ließ ihre Gedanken einfach abschweifen. Verzaubert vom Tanz der Kristalle über ihr verfällt sie wieder dieser Leichtigkeit. Doch dieser Zustand dauert kaum drei Sekunden an, bis sie die Realität wieder fest im Griff hat. Sie darf sich nicht ablenken lassen, nicht jetzt! Sie muss sich konzentrieren! Ihre Gedanken drehen sich um ihren Mann und ihre beiden Kinder, um all die schönen Weihnachtsfeste, die sie zusammen gefeiert haben. Immer wieder keimt die eine quälende Frage in ihr auf: Soll das jetzt alles vorbei sein?

»Nein, das soll es nicht! Moni, reiß dich zusammen! Du schaffst das!« Mit bebender Stimme spricht sich Moni Mut zu; Mut, der mit jedem Atemzug immer kleiner wird und sich in der Ferne des Gebirges in Rauch aufzulösen scheint.

Die Drohne wird von Bodo »Sharky« Radtke ein letztes Mal über den historischen Marktplatz und schließlich nach einem kurzen Abstecher in die angrenzende und von Menschen überfüllte Fußgängerzone in die Große Kirchgasse gelenkt. Von hier schwebt sie langsam den Kirchberg hinauf. Die Kamera des hochsensiblen Flugobjektes fängt das aufgeregte Treiben der unzähligen Besucher aus Einheimischen und Tagestouristen ein, die sich zu beiden Seiten der schmalen Straße aus Kopfsteinpflaster den gesamten Anstieg hinauf tummeln. Sie pilgern entweder in die kleinen, weihnachtlich geschmückten Lädchen entlang der Straße, um zwischen den hier angebotenen Kunstwerken echt erzgebirgischer Holzkunst zu stöbern, oder bibbern bereits seit Stunden eng aneinander gedrängt in den ersten Reihen hinter dem Absperrgitter. Und je später der Nachmittag wird, desto mehr Menschen versammeln sich oben auf der Bergkuppel vor der sich imposant zwischen den kleinen Bürgerhäusern der Stadt erhebenden spätromanischen Kathedrale. Dabei haben sowohl Groß als auch Klein stets dasselbe Ziel, den alljährlichen Höhepunkt der erzgebirgischen Vorweihnachtszeit in Form der traditionellen Bergparade mitzuerleben.

Bereits in der Ferne kann man sie hören, die Trommelschläge, die den Marsch angeben und vom zunehmenden eisigen Ostwind durch die Gassen getragen werden.

Auch Mario Lippmann blickt nach oben, den aus dem pechschwarzen Himmel tanzenden Schneekristallen entgegen.

»Glück auf, mein Freund!«, Thomas Bretfeld legt seine Hand auf Marios Schulter und tut es ihm gleich. »Es zieht ein eiskalter Ostwind auf. Wir können nur hoffen, dass uns die Spucke nicht beim Blasen festfriert«, lachend zwinkert er Mario Lippmann zu und positioniert sich dann innerhalb seiner in Reih und Glied aufgestellten Kameraden.

Mario Lippmann und Thomas Bretfeld kennen sich bereits seit Kindesbeinen an, als ihre Väter sie zum festen Bestandteil der Berggrabebrüderschaft von Thermalbad Wiesenbad machten. Und so wie eine Brüderschaft für die Ewigkeit zusammenschweißt, so wird auch diese Freundschaft – das wissen sie beide – ein Leben lang halten.

Es ist eine feste Tradition, dass die Mitglieder der zahlreichen Bergbauvereine des Erzgebirges jedes Jahr zum vierten Advent für die Bergparade zusammenkommen. Egal welche Altersklasse, egal welches Geschlecht, alles ist vertreten und alle erfüllen voller Stolz ihre Pflicht und würdigen so im Rahmen dieser Parade das Erbe, das diese Region einst so wohlhabend und bedeutungsvoll machte.

Mario schaut derweil noch immer schweigend in den Himmel hinauf. Schließlich seufzt er tief auf, zurrt aus dem schwarzen Bergkittel seiner Bergmannshabit eine knittrige Falte und prüft ein letztes Mal den Sitz seines Gezähes. Er hat bereits seinen ihm zugewiesenen Platz inmitten der Bergbrüder eingenommen. Sein Freund steht direkt hinter ihm. Es kann nur noch wenige Sekunden dauern, bis es auch für sie losgeht und ihr Trupp voranschreitet. Die basstönigen Trommelschläge geben bereits den Takt vor. Mario und Thomas setzten ihre Trompeten an ihre vor Kälte zitternden Lippen an. Und dann ist es endlich so weit! Der Marschbefehl ist erteilt, die Blasinstrumente spielen die Hymne ihrer Berggrabebrüderschaft, und die Bergmänner und -frauen setzen im militärischen Rhythmus einen Fuß vor den anderen.

Kapitel 2

Die Redaktion des renommierten mitteldeutschen Fernsehsenders mit Sitz in der bevölkerungsreichsten Stadt Sachsens schaltet von den Luftbildaufnahmen der über dem Kirchplatz schwebenden Drohne zur Bodenkamera inmitten des Getümmels auf dem Weihnachtsmarkt. Zwei breit grinsende Gesichter mit strahlendem Zahnpastalächeln fixieren mit ihren Blicken das rote Aufnahmelicht.

»Glück auf, ihr lieben Zuschauer, und herzlich willkommen zur diesjährigen Bergparade hier im Herzen des Erzgebirges«, der Moderator Wolfgang Thörner macht eine lange rhetorische Pause, bevor er fortfährt: »Sag, liebe Marie, freust du dich auch so sehr wie ich, ein weiteres Mal bei diesem atemberaubenden Spektakel dabei sein zu dürfen?«

Voller Enthusiasmus stößt Wolfgang Thörner seinen Glühweinbecher gegen den von seiner Co-Moderatorin Anne-Marie »Marie« Lüder. Diese lacht hysterisch auf und nimmt einen kräftigen Schluck aus dem ihrigen.

»Selbstverständlich, Wolfgang! Es gibt doch nichts Schöneres, als jedes Jahr wieder inmitten dieser ach so traumhaften Kulisse aus schmuck hergerichteten Buden und funkelnden Lichtern, die überall in den Fenstern erstrahlen, zu stehen. Und dann noch der himmlische Duft frisch gebackener Waffeln und Glühwein und im Hintergrund die prächtige Peremett. Wolfgang, schau doch, wie schmuck das Teil dieses Jahr wieder ist. Ich kann mir keinen schöneren Ort vorstellen, an dem ich heute sein wollen würde«, sagt die Co-Moderatorin mit sarkastischem Unterton und nimmt erneut einen großen Schluck ihres Glühweins.

»Du sagst es, Marie! Und schau, da hinten fährt schon der nächste Bus mit hochbetagten Seniorentouristen ein. Keiner möchte dieses einzigartige Spektakel verpassen!«

»Ganz genau, Wolfgang! Und auch unsere Zuschauer vor dem Fernseher zu Hause fiebern diesem Ereignis zum vierten Advent jedes Jahr aufs Neue gespannt entgegen. Einfach schmuck ist es hier, Wolfgang, einfach schmuck«, wieder vertieft Marie ihre Nase in ihrem Trinkbecher, »der Nächste ist dann aber ordentlich mit Schuss!«, ruft sie dem im wenige Meter entfernten Glühweinstand arbeitenden Schankwirt zu und ergänzt betörend mit der Hüfte schwingend: »Sonst friere ich mir hier noch mein zuckersüßes Hinterteil ab.«

Beschämt schaut der hinter den Moderatoren stehende Oberbürgermeister der Kleinstadt Annaberg-Buchholz mit gesenktem Kopf auf seine neuen, sündhaft teuren, rehbraunen Winterstiefel an seinen Füßen, sein unter einer knallgrünen, von Mutti handgestrickten Wollmütze verborgenes Haupt kratzend. So sehr er die Bergparade normalerweise auch genießt und so sehr sein Städtchen diesen Touristenauflauf aus finanzieller Sicht dringend notwendig hat, so sehr graust es ihm jährlich ebenso vor den beiden großstädtischen und hochnäsigen Moderatoren.

Es stimmt, das erzgebirgische Völkchen ist von ganz spezieller Natur, es ist mürrisch, vielleicht sogar ein bisschen zäh und nicht unbedingt leicht zu handhaben. Und dann noch dieser Dialekt, der für Außenstehende dem Strohhalm-Blubbern in einem vollen Milchglas gleicht. Und ja, die Parade ist eine Tradition, die sich Jahr für Jahr auf immer gleiche Weise wiederholt und Kulturbanausen wie eine eingestaubte Abfolge von über Jahrzehnten einstudierten Abläufen und Choreografien erscheinen muss, die dem halbwegs aufmerksamen Besucher nichts Neues mehr zu bieten hat. Aber verdammt noch mal, es ist sein kleines verschrobenes Bergvölkchen und seine um jeden Cent in der Stadtkasse kämpfende Kommune. Und er darf die Sticheleien der Großstädter nicht länger einfach so hinnehmen. Er muss etwas sagen, er muss dieses Jahr endlich einmal Rückgrat beweisen und den beiden hochnäsigen Moderatoren Parole bieten. Roland Schmidtchen zieht seine Schultern zurück und nimmt eine vor Selbstbewusstsein – nicht strotzende, sondern eher flackernde – Haltung ein.

Er spricht sich leise Mut zu: »Du schaffst das, Schmidtchen! Du bist der Oberbürgermeister und damit Oberhaupt der Stadt!«, und atmet tief durch, sein Körper und Geist – sprudeln kann man nicht sagen, aber sie zucken vor Tatendrang.

Doch anstatt sich zu behaupten, verharrt er in seiner nach hinten überstreckten und unbequemen Haltung. Sein Mut reicht nicht aus, ist eigentlich schon wieder vollständig verflogen. Vielleicht schafft er es im nächsten Jahr, tröstet sich Schmidtchen.

Monis Finger halten das filigrane Eisengitter noch immer fest umschlossen. Ihre Hände sind kalt. Eiskalt! Vorhin konnte sie noch die eisigen Windströmungen an ihren Fingerspitzen spüren, konnte fühlen, wie ihre Haut unter der Last der Kälte immer spröder wurde und schließlich blutend aufriss. Doch jetzt scheinen sie wie an die Brüstung festgefroren. Moni spürt keine Kälte mehr an ihnen, weder die herabfallenden Schneeflocken, die durch die letzte verbliebene Körperwärme unter ihrer Haut kleine Tröpfchen bilden, noch den Ostwind, der ihre Fingerknöchel wie scharfe Eisblitze streift. Es ist, als hätte ihr fester Griff das Blut und damit auch das Leben aus ihnen herausgepresst. Dennoch hält Moni das Gitter weiterhin fest umschlungen.

In der Ferne hört sie die Trommeln und Trompeten der herbeimarschierenden Bergmänner und -frauen. Sie hört, wie die Menschenmassen am Straßenrand ihnen begeistert zujubeln. Die Parade hat fast ihren Höhepunkt erreicht. In Moni keimt ein kleiner Funken Erleichterung auf. Nicht mehr lange, dann kann sie sie sehen, schließlich hat sie von hier den besten Ausblick auf die Stadt. Sehnlichst wartet Moni auf den Moment, wenn die Bergmänner und -frauen die Große Kirchgasse heraufmarschieren, um auf dem Platz vor der Kathedrale das Finale einzuleiten. Ungeduldig fiebert sie dem Augenblick entgegen, wenn die Menschen auf dem Kirchplatz den achtundsiebzig Meter hohen Kirchturm hinaufblicken und dem krönenden Abschluss der Parade, einem minutenlangen Glockenspiel, lauschen. Aber in diesem Jahr werden sie vergeblich darauf warten.

Die Regenrinne der sich in direkter Nachbarschaft zur Kathedrale befindenden Pension und Gaststätte »Zum alten Glöckner« scheppert laut.

»Hast du das gehört, Hubert?«

»Was denn, Manuela?«

»Na, das Scheppern draußen vor der Tür!«

»Ich höre kein Scheppern! Ich höre nur das Trommeln und Trompeten der herbeimarschierenden Bergleute.«

Beide warten zwei Takte und horchen.

»Da ist es doch wieder! Es scheppert da draußen!«

Hubert und Manuela Lieberwirth, Inhaber der seit Generationen familiengeführten Pension, eilen – so schnell es ihre Leibesfülle und ihr gemütliches Wesen zulassen – durch ihre urige und zu dieser Jahreszeit stets gut besuchten Gaststätte, die in ihrer gutbürgerlichen Küche regionale Köstlichkeiten anbietet, vor die Tür.

»Schau, dort oben, Hubert! Die Regenrinne ist aus der Verankerung gerissen. Wie ist das denn nur passiert?«

Hubert raunzt und zuckt mit den Schultern: »Hm, keine Ahnung, so was passiert halt, das Haus ist alt. Ich repariere es morgen, wenn es hell ist.«

Mario Lippmann und Thomas Bretfeld sind mit dem Bergmannszug in die Große Kirchgasse eingebogen und marschieren den Berg hinauf zur Kathedrale. Der eisige Wind streift ihre vollbärtigen Gesichter. Ihre Hände bibbern vor Kälte. Dennoch springen ihre Finger mit einer schieren Leichtigkeit über die Ventile ihrer Trompeten. Unentwegt fallen immer größere, im Schein der Festbeleuchtung glitzernde Eiskristalle herab und verhüllen die Kleinstadt zunehmend unter einer pulvrigen Schneedecke.

Doch die Last, die Mario Lippmann in sich trägt, wird immer größer, sie scheint ihn fast zu erdrücken. Seine Schritte werden mit jedem Meter, den er sich der Kirche nähert, schwerer. Zahlreiche Fragen beherrschen seine Gedanken. Was soll er tun? Gibt es vielleicht doch einen anderen Ausweg? Hat er vielleicht nicht alle Möglichkeiten in Betracht gezogen? Nein, es gibt keinen anderen Ausweg. Oder vielleicht doch? Vielleicht braucht es nur noch etwas mehr Zeit? Nein, er hat keine Zeit mehr. Er muss handeln, und zwar schnell. Es bleibt ihm keine andere Wahl. Er muss sich jetzt zusammenreißen, für seine Zukunft, für die Zukunft seines Ortes, genau genommen für die Zukunft der gesamten Region.

Die beiden Moderatoren des renommierten mitteldeutschen Fernsehsenders haben Oberbürgermeister Schmidtchen derweil in ihre Mitte geholt.

Beherzt schlägt ihm Wolfgang Thörner auf die Schulter: »Herr Oberbürgermeister, die Parade erreicht in Kürze ihren Höhepunkt. Es haben sich mittlerweile fast alle Bergmänner –«

»Vergiss nicht die Bergfrauen!«, unterbricht ihn seine Co-Moderatorin.

»Natürlich nicht, Marie! Es haben sich also mittlerweile fast alle Bergmänner und Bergfrauen oben auf dem Kirchplatz versammelt. Oberbürgermeister Schmidtchen, sagen Sie uns und den Zuschauern, was wird uns denn in diesem Jahr dort oben Großartiges erwarten?«

Roland Schmidtchen erhebt seinen Kopf mit der knallgrünen Wollmütze und schaut beklommen in die direkt auf sein Gesicht zielende Kamera vor ihm.

Zögerlich beantwortet er die Frage: »Die Bergparade ist an einen festen und traditionellen Ablauf gebunden. Schon immer endet sie oben auf dem Kirchplatz mit Bergmannsreden und den schönen Klängen unserer Kirchenglocken.«

»Darauf erheben wir den Glühwein, Wolfgang«, Marie Lüder hält ihre Tasse in die Kamera, »dieses Spektakel wollen wir und die Zuschauer auch in diesem Jahr auf keinen Fall verpassen. Deswegen geben wir an dieser Stelle ab an die Regie, die Sie zu Hause mit den einzigartigen Luftbildern dieser schmucken Zeremonie beglücken wird.«

Marie Lüder und Wolfgang Thörner drücken sich von beiden Seiten fest an den bedröppelt dreinschauenden Oberbürgermeister Schmidtchen. Ein letztes Mal strahlt das Zahnpastalächeln der Moderatoren in die Linse und … Kamera aus!

Aus dem Pechschwarz des Himmels senkt Bodo »Sharky« Radtke die Drohne langsam hinab zum Geschehen auf dem Kirchplatz. Bergmänner, Bergfrauen und Zuschauer drängen sich nun dicht an dicht auf dem kleinen Platz auf dem Bergplateau zwischen den historischen Wohn- und Geschäftshäusern.

Und mitten unter ihnen befindet sich Mario Lippmann. Die anfänglichen Zweifel des Trompeters scheinen wie verflogen, er fühlt sich in diesem Augenblick bereiter als je zuvor. Tatendrang und Entschlossenheit beherrschen jetzt sein Gemüt.

Die Klänge der Blasinstrumente schallen weit bis über die Kirchturmspitze hinaus und umgeben so auch Moni. Noch immer klammert sie sich an die eiskalten Streben des filigranen Eisengitters. Ihre Finger spürt sie schon lange nicht mehr, die Kälte und ihr fester Klammergriff haben sie jeden Gefühls beraubt. Der Moment, auf den sie die ganze Zeit so sehnlichst gewartet hat, steht unmittelbar bevor. Es sind nur noch wenige Sekunden, bis alle zu ihr hinaufschauen werden. Halte durch, Moni, halte durch!

Hubert und Manuela Lieberwirth treten erneut vor die Tür ihrer Pension. Die Besucher ihrer Gaststätte sind bereits in der Menschenmasse verschwunden und auch sie wollen sich das Ereignis vor ihrer Haustür nicht entgehen lassen. Alle fiebern gespannt dem Höhepunkt der Bergparade entgegen. Doch tut dies keiner so sehr wie Moni, die es vor Spannung fast zu zerreißen scheint. Mehr denn je sehnt sie sich in diesem Jahr das Finale herbei.

Oberbürgermeister Schmidtchen hat sich mittlerweile von den Klammergriffen der Moderatoren befreit und eilt ächzend die verwinkelte und zu dieser Jahreszeit tief finstere Nebengasse – denn während Marktplatz, Fußgängerzone und Große Kirchgasse in einem himmlischen Lichterglanz erstrahlen, werden die Nebenstraßen wegen harter kommunaler Sparmaßnahmen sträflich vernachlässigt – vom Marktplatz hinauf zum Kirchplatz. Dabei kommt er auf der sich auf dem Kopfsteinpflaster niedergelassenen frischen Schneeschicht immer wieder ins Straucheln. Er hat Mühe, sich auf seinen wackligen Beinen zu halten. Völlig außer Atem stützt er sich mit seinen – passend zur Wollmütze – in knallgrünen Fausthandschuhen gekleideten Händen auf eine blecherne Mülltonne, die vor einem verwahrlosten Stadthäuschen vergessen wurde und seinen Weg kreuzt.

»Verdammt noch mal«, flucht Schmidtchen wütend in sich hinein, »kann man denn nicht einmal zur Weihnachtszeit diesen Schandfleck in den Innenhof verbannen?«

Schmidtchen hält einen kurzen Moment inne, atmet schwer und tief ein, spürt, wie sich seine Lungen aufgrund der einströmenden Eiseskälte schmerzhaft zusammenziehen, und versucht Kraft für den letzten Teil des steilen Anstieges zu schöpfen. Doch plötzlich verspürt er, wie aus dem Nichts, einen festen Hieb in seine Rippen. Schmidtchen jault auf, kommt erneut ins Straucheln, schwankt von einer Seite auf die andere und fällt schließlich wie ein nasser Sack in das weiche Schneebett unter ihm. Lautstark reißt er dabei die verbeulte Mülltonne mit sich. Sich auf dem Boden windend schaut er die dunkle Gasse hinunter und versucht den Übeltäter ausfindig zu machen. Aber er kann nur noch einen schwarzen Schatten erkennen, der wenige Meter unterhalb des verwahrlosten Häuschens vom rechtsseitig abzweigenden Scheißhausgassl verschlungen wird. Beschwerlich richtet sich Schmidtchen wieder auf. Frustriert tritt er gegen die leere Blechtonne, schaut auf der Suche nach dem Übeltäter ein letztes Mal in die dunkle Gasse und hastet dann kopfschüttelnd weiter den Berg hinauf zur Kathedrale.

»Dieses störrische Bergvölkchen«, knurrt er dabei immer wieder in sich hinein, »dieses störrische Bergvölkchen.«

Marie Lüder und Wolfgang Thörner haben unterdessen einen festen Platz am Glühweinstand eingenommen und feiern feuchtfröhlich den Abschluss ihrer – wie jedes Jahr – herausragenden Moderation. Bodo »Sharky« Radtke konzentriert sich dagegen nur noch auf die noch immer über den Köpfen der Menschenmasse auf dem Kirchplatz kreisenden Drohne. Gekonnt lenkt er sie um den erhabenen Kirchturm der spätromanischen Kathedrale und lässt sie anschließend langsam und andächtig für ein paar hochauflösende Nahaufnahmen zum Kirchplatz hinuntergleiten. Den dunklen Schatten an der grauen Kirchturmmauer bemerkt er dabei nicht.

Aufgeschreckt von einem dumpfen Surren hinter sich blickt Moni über ihre Schulter. Was war das? Spielt ihr ihr Gehirn schon einen Streich? Verliert sie jetzt völlig den Verstand? Sie schaut auf ihre Hände, blau vor Kälte, rot vor Anstrengung. Mehr und mehr kommt in ihr das Gefühl der Erschöpfung auf. Moni hat bis jetzt gekämpft. Aufgeben kam für sie nicht infrage, aber nun muss sie erkennen, dass sie ihre Kräfte verlassen. Und mit ihnen die Zuversicht, die sie die ganze Zeit tapfer hat durchhalten lassen.

Da ist es wieder, dieses Surren.

»Ich verliere den Verstand«, bibbert Moni, »es ist so weit.« Ein letztes Mal schaut Moni hinauf in den pechschwarzen Himmel über ihr mit den unzähligen tanzenden Schneeflocken. Dann schließt sie ihre Augen. Sie spürt es nicht, sie kann es nicht mehr spüren, aber langsam lösen sich ihre Hände vom Eisengitter, Finger für Finger, Finger für Finger …

Währenddessen schlittert Oberbürgermeister Schmidtchen um die Ecke des letzten Hauses der Nebengasse, die zum Kirchplatz hinaufführt, und steht atemlos vor dem Chor der Kathedrale. Seine Rippen schmerzen ihm noch immer vom Seitenhieb. Er versucht den Schmerz abzuschütteln, glättet seinen Mantel, streicht über seinen lädierten Hintern, auf den er vorhin wegen der Rempel-Attacke gefallen war, und prüft, ob der zerknitterte Zettel mit den Worten seiner Weihnachtsansprache sich noch immer in seiner Brusttasche befindet. Erleichtert stellt er fest, dass er noch da ist. Erhobenen Hauptes und sicheren Schrittes schreitet er nun den langen Seitenweg der dreischiffigen Hallenkirche aus dem 16. Jahrhundert entlang. Im Schatten der imposanten Kirchenmauer gewinnt Schmidtchen Schritt für Schritt an Haltung und Stärke, die Kraft des Bauwerkes scheint auf ihn abzustrahlen und er wandelt sich vom gebeutelten Roland Schmidtchen hin zum stattlichen Oberbürgermeister einer historischen und weltbekannten Kleinstadt. Mit stolzer Brust und von der Musik der Berggrabebrüderschaften beflügelt tritt Schmidtchen, unter dem Jubel der Zuschauer, vor die zum Westportal hinaufführenden Steinstufen des Kirchengebäudes. Für einen kurzen Augenblick hält er noch mal inne. Er blickt den Kirchturm hinauf und – wie viele andere vor ihm an diesem Abend – ins pechschwarze Nichts und dem unentwegten Tanz der herabfallenden Eiskristalle über ihm entgegen.

So besinnlich, denkt er sich, war es zur Bergparade seit Jahren nicht mehr gewesen. Stolzer als in diesem Augenblick könnte er auf seine kleine Bergstadt und die verschrobene Gebirgsgemeinde nicht sein.

Im Getümmel der Bergmänner und -frauen auf dem Kirchplatz vor dem Westportal hat Mario Lippmann seinen Platz eingenommen. Sein Freund befindet sich noch immer in direkter Nähe hinter ihm. Tagelang hat Mario Lippmann sich auf diesen einen Moment vorbereitet, ist jeden einzelnen Schritt immer wieder in seinem Kopf durchgegangen, hat zu Hause im Verborgenen unzählige Male das Szenario durchgespielt. Und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Mario Lippmann löst die Trompete von seinen Lippen. Vorsichtig zieht er ein kleines hölzernes Rohr aus dem rechten Ärmel seiner Bergmannshabit und führt es von der Trompete verdeckt an seinen Mund, immer auf der Hut, dass ihn niemand dabei beobachtet.

Konzentriere dich, Mario, du darfst dir jetzt keinen Fehler erlauben.

Er bemüht sich, das Zittern seiner Finger in der Kälte unter Kontrolle zu bekommen. Mario Lippmann fokussiert sich, fokussiert das Ziel, blendet alles um ihn herum aus und wartet den letzten entscheidenden Augenblick ab, um den finalen Schuss abzusetzen.

Kapitel 3

Ein dumpfer Knall durchfährt die feierliche Atmosphäre auf dem Kirchplatz. Plötzlich herrscht eine angsteinflößende Stille. Die Marschmusik ist verstummt. Die Jubelschreie und das Lachen der feierfreudigen Besucher sind im Keim erstickt. Es ist kein einziges Geräusch mehr zu vernehmen. Das fröhliche Treiben, das diesen Ort eben noch so sehr erfüllte, hat ein unerwartetes Ende gefunden. Die Welt steht still. Einzig die flauschigen Schneeflocken fallen weiterhin unaufhörlich aus dem tiefen Schwarz des Himmels auf die historische Bergstadt herab und werden dabei vom eisigen Ostwind in den Gassen zum Tanz aufgefordert. Spielerisch umgarnen sie die zu Eisskulpturen erstarrten Menschen.

Oberbürgermeister Schmidtchens Blick ist noch immer auf die fünfzehn flach aus Feldsteinen gemauerten Stufen vor dem Hauptportal der Kathedrale vor seinen Füßen gerichtet. Er vermag sich nicht zu bewegen, nicht zu atmen, nicht einmal zu zwinkern. Sein Körper ist versteinert, das Blut in seinen Adern ist bis zum Stillstand geronnen. Ein schmerzhafter Druck liegt auf seiner Brust und schnürt ihm die Luft ab. Die Lebenskraft, die noch vor wenigen Minuten durch seinen Körper floss, ist wie eine Kerze im Sturm erloschen. Und je länger er so dasteht, desto mehr scheinen seine Fußsohlen mit dem steinernen Boden unter ihm zu verschmelzen. Sich von seinem Platz vor dem Kirchenportal hinfort zu bewegen, kommt Schmidtchen gerade wie ein unmögliches Unterfangen vor. Also bleibt er einfach weiter so stehen, in seiner gebeutelten Haltung gefangen, ängstlich und unsicher.

Nur langsam dringen die Laute des aufkeimenden Tumults der allmählich aus der Schockstarre erwachenden Stadt hinter ihm in seine Ohren. Immer deutlicher hallt das Durcheinander in seinem Kopf – vor blankem Entsetzen kreischende Frauen, weinende und ängstlich nach ihren Müttern rufende Kinder, grölende halbstarke Jugendliche und die schockierten Ausrufe gestandener Bergmannsleute.

Doch was ist geschehen? Was hat die himmlische Atmosphäre dieser besinnlichen Vorweihnachtstradition so abrupt zerschlagen?

Noch immer hat Oberbürgermeister Schmidtchen die vor ihm liegenden Steinstufen des Westportals mit seinen Augen fest fokussiert, und mit ihnen auch einen regungslosen Körper. Oder zumindest das, was davon noch übrig geblieben ist.

Die gewaltigen Kräfte des Aufpralls haben die Knochen des zierlichen Korpus zertrümmert, Arme und Beine liegen in surrealer Weise abgespreizt vom Torso, und der Schädel – es lässt sich nur noch vermuten, dass es sich hierbei wirklich um den Schädel handelt – ist wie eine prallgefüllte Wasserbombe zerplatzt. Um den Kopf herum hat sich eine undefinierbare Masse ergossen. Das Gesicht muss förmlich von den Steinstufen durch die gesamte Breite des Schädelknochens hindurchgedrückt worden sein, bis es am Hinterkopf wieder ausgetreten ist und von hier ungebremst das Gewebe des Gehirns in alle Himmelsrichtungen verteilte. Blut dringt aus dem Häufchen aus Fleisch, Knochen und Haut. Es tropft, nein, es fließt regelrecht die Kirchenstufen herab, bis es Schmidtchens Füße umspült.

Angewidert von dem Anblick vor ihm und in Angst um seine neuen, sündhaft teuren, rehbraunen Wildlederwinterstiefel löst er sich ruckartig aus seiner Versteinerung und macht einen großen Satz rücklings, weg von den Stufen. Dabei kommt er ins Straucheln, fängt sich dann aber schnell wieder. Unzählige Gedanken rasen jetzt unkontrolliert durch die Synapsen seines Gehirns, die immer wieder schmerzhaft an seiner Schädelinnenwand abzuprallen scheinen und sich schließlich im bodenlosen Nichts seines Inneren verlieren. Schmidtchen kann keinen klaren Gedanken fassen. Was zum Teufel ist hier geschehen? Am liebsten würde er sich jetzt auf den Boden kauern, die Hände vor sein Gesicht halten und sich so lange dahinter verstecken, bis alles wieder normal geworden ist, so normal, wie es vor wenigen Augenblicken noch gewesen ist. Aber kann es denn überhaupt wieder so normal werden? Was ist, wenn dieses Ereignis nur der sogenannte Flügelschlag eines Schmetterlings war, dessen Folgen für das historische Bergstädtchen eine unaufhaltsame Welle der Zerstörung mit sich bringt?

Oberbürgermeister Schmidtchen stemmt sich gegen den stechenden Schmerz in seiner Brust, schließt seine Augen und holt mehrmals tief Luft. Zögerlich dreht er sich schließlich einhundertachtzig Grad um die eigene Achse, die Augen noch immer fest verschlossen. Die Kathedrale nun im Rücken habend atmet er noch einmal tief in seinen Bauch hinein. Er spürt, wie die Lungenflügel unter dem Einfluss der eisigen Winterluft zu verkrampfen beginnen. Dann nimmt er seinen ganzen Mut zusammen und öffnet langsam seine Augen.

Heftiges innerliches Grauen erfüllt ihn.

Auf dem Kirchplatz vor seinen Füßen offenbart sich Schmidtchen ein Anblick des Horrors, der es ihm kalt den Rücken hinunterlaufen lässt.

Wo man hinsieht – Chaos!

Männer und Frauen rennen und springen wie eine Herde aufgescheuchter Rehe ziellos und fluchtartig umher, als säße ihnen die gezogene Flinte des Jägers im Nacken. Die einst so stattlichen und stolzen Bergmannsleute schwingen von Panik getrieben ihren für die Parade aufpolierten Pickel – ganz gleich, ob sie dabei Passanten oder ihresgleichen verletzen. Eine stattlich anmutende Dame, gekleidet in einem feinen Wollmantel mit großen Goldknöpfen, hält ihre zweijährige Tochter schützend fest in ihren Armen. Mit aller Kraft versucht sie dem kriegsähnlichen Szenario zu trotzen und ihre Stellung in Schmidtchens Nähe zu verteidigen, bis sie von der ziellos umherschwirrenden Drohne am Kopf getroffen wird. Blutend sackt sie zusammen und stürzt samt Kind unsanft zu Boden.

Halbstarke Jugendliche halten ihre Handys in die Luft und drehen mitten aus dem Geschehen heraus sensationshungrig ihre neuesten Posts, um diese auf sämtlichen bekannten Social-Media-Kanälen zu veröffentlichen, immer auf der Jagd nach noch mehr Likes. Eine kleine robuste Senior-Touristin, die erst vor wenigen Stunden voller Vorfreude auf das weihnachtliche Fest von der anderen Seite des Landes mit einer Kaffeefahrten-Gesellschaft angereist war, schlägt – gepuscht von den Unmengen von Adrenalin in ihrem Körper – mit ihrem hölzernen Gehstock auf den kleinen, dicklichen Friedhelm ein. Zeit seines Lebens Sopransänger und wichtigste Stimme im Chor der Stadtkirche, entrinnen Friedhelms Kehle auch im Angesicht der drohenden Lebensgefahr durch die rüstige Senior-Touristin nur die hellsten und klangvollsten Hilfeschreie. In Schmidtchens Ohren klingen sie so lieblich und himmlisch wie das Ave Maria des Gottesdienstes.

Ein Raunzen durchdringt die Schreie, gefolgt von einem zähen Quietschen. Der Blick des Oberbürgermeisters, der noch immer auf seiner Position vor den Kirchenstufen verankert ist und noch immer nicht schlau aus der Situation wird, fällt auf das gegenüberliegende Bürgerhäuschen mit der Apotheke im Erdgeschoss. Dessen Fassade ziert bereits seit Jahrzehnten ein imposanter eiserner Außenschwibbogen mit einem im warmen Lichterglanz erstrahlenden Kranz und traditionellem erzgebirgischen Motiv. Es ist der ganze Stolz des alten und zottigen Apothekers namens Siegfried Troschitz. Unter schwerem Stöhnen neigt sich der eiserne Schwibbogen immer weiter vor und zerrt mit seinem ganzen Gewicht an der Verankerung in der jahrhundertealten Feldsteinwand.

Mario Lippmann ist noch immer fokussiert. Er hat sein Ziel direkt vor Augen. Das schmale Röhrchen hält er weiterhin versteckt hinter seiner Trompete an den Lippen. Der Anblick der vor seinen Augen auf und ab tanzenden Schneeflocken hat eine beruhigende Wirkung auf ihn. Seine Atmung wird flacher, seine Finger ruhiger, das chaotische Treiben um ihn herum blendet er vollkommen aus. Mario Lippmann ist in seine ganz eigene Welt abgetaucht. Da sind nur noch er und sein Gegenüber. Das Chaos um ihn herum kommt ihm sogar noch zugute, denn ihm und seinem Vorhaben gilt momentan keinerlei Aufmerksamkeit. Die aufgescheuchten Rehe rennen panisch umher und scheren sich einzig um ihr nacktes Überleben. Das ist seine Gelegenheit. Jetzt oder nie! Mario Lippmann setzt zu seinem einzigen und finalen Schuss an. Zischschschschsch …

»Achtung!«

Der Schrei des Oberbürgermeisters wird von der Geräuschkulisse auf dem Kirchplatz verschlungen. Er setzt zu einem erneuten Versuch an, doch es ist schon zu spät. Das massive Eisengestell des Außenschwibbogens der Apotheke reißt seine Verankerung aus der verputzten Feldsteinwand des historischen Gebäudes und kracht laut schallend in die Tiefe, direkt in das Getümmel vor dem Apothekenschaufenster.

Das laute Scheppern des Schwibbogens hinter ihm fährt Mario Lippmann durch Mark und Bein. Jede Faser seines Körpers zuckt vor Schreck zusammen. Im finalen Augenblick seines Vorhabens zwingt ihn der menschliche Urinstinkt zu einer abrupten Handlung. Er verliert seinen Fokus und reißt seinen Körper abwehrend herum. Was war hinter ihm geschehen? Angesichts des vor ihm liegenden Eisengestells entweichen ihm schlagartig seine scharfschützengleiche Konzentration und muskuläre Anspannung. Die Eindrücke der Geschehnisse um ihn herum prasseln wie ein heftiger Gewitterhagel auf ihn ein. Panik und Angst steigen in ihm auf. Sein Blick fällt auf das Röhrchen in seiner Hand. Es ist leer. Der lautlose Schuss wurde unbemerkt abgefeuert. Doch wohin? Hatte er sein Ziel getroffen? Hat Mario Lippmann seinen Plan in die Tat umgesetzt? Es fehlt ihm der Mut, sich wieder umzudrehen und der Sache nachzugehen. Langsam lässt er das schmale Röhrchen wieder in den Ärmel seiner Bergmannshabit gleiten und schleicht sich davon.

Siegfried Troschitz tritt vor das Schaufenster seiner Apotheke. Wie in jedem Jahr hatte er das Spektakel der Bergparade von innen heraus beobachtet. Der alte mürrische Mann meidet tunlichst Menschenansammlungen. Insbesondere die vielen Fremden, die von überall her in Scharen mit Bussen und Autos herbeiströmen, um die besinnliche Festtagsstimmung im historischen Ambiente der von Bergen gesäumten Kleinstadt vollgedröhnt mit Glühwein und getrieben von der Konsumgier nach geschnitzter Erzgebirgskunst zunichtezumachen.

Aber Siegfried Troschitz ist auch bekennender Anhänger der Bergmannstradition. Sein Vater hatte seinerzeit in einer Zeche im angrenzenden Ort gearbeitet, bevor diese endgültig geschlossen wurde. Trotz langer Schichten im Dunkeln, hunderte Meter unter der Oberfläche, und trotz körperlicher Höchstbelastung, die ihm in viel zu jungen Jahren Staublunge und Rheuma bescherten, kam sein Vater jeden Abend erhobenen Hauptes nach Hause zu seiner Familie. Und jedes Jahr in der Winterzeit leuchtete ihm ein Schwibbogen im Fenster den Weg zu seinem Haus. Siegfried Troschitz ist stolz darauf, dass seine Familie Teil dieser Tradition ist, die diese Region so sehr prägt. Selbst war er einst engagiertes Mitglied der Berggrabebrüderschaft von Thermalbad Wiesenbad gewesen, doch wegen des zunehmenden Zulaufs junger Halunken in die Vereine und die zunehmende Kommerzialisierung der Bergmannstradition hat er sich schon vor Jahren aus dem aktiven Vereinstreiben zurückgezogen. Nachdem dann auch noch seine Frau von ihm gegangen war, lebt er zurückgezogen in der kleinen Wohnung über seiner Apotheke. Den einzigen Kontakt, den er noch zu pflegen hegt, ist der zu seinen Kunden. Es heißt, er hat sich zu einem störrischen Eigenbrötler entwickelt. Und so wundert es niemanden, dass er der Bergparade nur von dem Schaufenster seiner Apotheke beiwohnt, abgeschirmt vom fröhlichen Treiben in den Straßen und auf den Plätzen. Jetzt aber tritt er vor die Tür auf den Kirchplatz. Der eiskalte Ostwind fegt ihm durch seinen zotteligen Bart und streift seine knollige Nasenspitze. Auf dem Gehweg vor seinem Schaufenster liegt er da, sein Schwibbogen, sein zweieinhalb Meter breiter und eineinhalb Meter hoher Stolz. Und unter ihm begraben ein menschlicher Körper, gekleidet in der Berghabit der Berggrabebrüderschaft von Thermalbad Wiesenbad.

Inmitten der aufgescheuchten Menschenmenge kauert Manuela Lieberwirth auf dem schneebedeckten Boden vor den steinernen Stufen, die zum Hauptportal der imposanten Kathedrale hinaufführen. Mit ihren Armen umklammert sie fest einen reglosen, in sich zusammengefallenen Körper. Liebevoll streicht sie das zottelige braune Haar aus seinen Augen und drückt seinen Kopf fest an ihren vollbusigen Oberkörper. Sie will nach Hilfe rufen, aber ihre Stimme verstummt im kläglichen Schluchzen, und ihr Schluchzen versackt im Lärm um sie herum. Neben ihr steht ihr nach Fassung ringender Mann. Wenn man genau hinschaut, sieht man eine einzelne dicke Träne, die langsam über seine borstige Wange herunterkullert. Der Bergamasker war ihnen in den letzten zwölf Jahren immer ein treuer Begleiter gewesen, stets an ihrer Seite, jeden Tag. Er war das Kind, das sie nie hatten. Der unerwartete Verlust dieses liebevollen Familienmitgliedes wird ein tiefes Loch in ihr Leben reißen.

Kapitel 4

Ein Auszug aus den polizeilich erfassten Augenzeugenberichten der zur Bergparade anwesenden Passanten vermittelt folgende Eindrücke zu den Ereignissen auf dem Kirchplatz:

Helmut Bauer, 66 Jahre, aus Schlettau

»Ja, mei, so was hast de noch nicht gesehen. Da stah ich ganz entspannt mit meiner Bratwurst in der Kirchgasse, da fällt der Schwibbogen ab. Einfach so. Da guckst du, dachte ich, das schöne Teil. Der arme Troschitz dachte ich noch – ich kenn den nämlich, ich hole da immer meine Schwundensalbe –, so kurz vor Weihnachten ohne Schwibbogen am Haus, wie sieht denn das aus! Mei, den hat es richtig getroffen, dachte ich. Und schlacht war der ja auch nicht, ein fettes Teil, schon beeindruckend, da hast de geguckt. Dem muss geholfen werden, dachte ich dann noch, bis Heiligabend zur Mess muss der wieder dran an die Fassade. Dann bin ich nach unten zum Markt runter und hab mir noch eine Bratwurst geholt.«

Kathrin Zorn, 17 Jahre, Halle (Saale)

»Mir läuft es jetzt noch kalt den Rücken herunter, wenn ich an diesen alten zotteligen Mann denke. Der hatte so einen bösen Blick, richtig fies, als würde er die ganze Welt hassen. Zuerst saß er friedlich auf seinem Stuhl hinter der Scheibe, aber dann fuchtelte er ständig mit den Armen herum, ballte die Fäuste und schien zu schimpfen.

Er hatte auch mir etwas zugerufen, aber die Blasmusik der Bergmänner war zu laut, ich konnte ihn nicht verstehen. Ein komischer alter Kauz war das. Dann hörte plötzlich die Musik auf zu spielen und es wurde still. Enttäuschend, diese Parade, dachte ich dann, und bin zusammen mit meiner Familie die Kirchgasse zum Marktplatz heruntergelaufen. Scheint wohl ein Fehler gewesen zu sein, denn danach nahm die Parade oben auf dem Kirchplatz erst richtig Fahrt auf, der Lärm der Feier war bis zum Markt zu hören.«

Sebastian Loch, 25 Jahre, Schwarzenberg

»Ich habe alles mit meinem Handy aufgenommen. Sie können die Videos auf meinen Social-Media-Kanälen sehen. Erst dachte ich, dass wird die typische öde Parade wie jedes Jahr, aber dann – boom – ein fetter Aufprall. Irgendetwas ist einfach vom Himmel gefallen. Direkt neben dem Schnösel von Oberbürgermeister. Ich war der Meinung, ein Meteorit ist eingeschlagen, aber auf meinen Videos sieht es gar nicht aus wie ein Meteorit. Ich bin nicht nachgucken gewesen, denn danach ging es auf dem Kirchplatz richtig ab. Die Leute sind völlig ausgeflippt. Und einer hinter mir hat die ganze Zeit Ave Maria gesungen, war wohl ein sehr gläubiger Mann.«

Wally Meier, 55 Jahre, Mildenau

»Ich stand am Rand der Menschentraube vor der Kathedrale und habe den Bergmannsliedern gelauscht. Ich mag die Musik so gerne hören. So was bekommt man nur einmal im Jahr geboten. Und dieses Jahr war es besonders schön mit dem ganzen Schnee. So eine herrliche Parade hat es schon lang nicht mehr gegeben. Dann war plötzlich Schluss mit der Musik. Als ich die Augen öffnete – ich lausche der Musik nämlich gerne mit geschlossenen Augen, weil ich mich nicht ablenken lassen möchte –, herrschte Chaos auf dem Platz. Die Leute sind umhergerannt, sind übereinander hergefallen, gestolpert und zu Boden gefallen. Was ist hier denn los?, dachte ich und wurde schon ganz panisch. Aber dann hörte ich die lieblichen Klänge des Ave Marias, schloss wieder die Augen und genoss den Gesang.«

Julia Schenker, 41 Jahre, Rostock

»Meine Freundin und ich kommen schon seit Jahren zu dieser Zeit in die Gegend hier. In unserem Urlaub machen wir immer in Grottendorf einen Kurs im Herstellen von Weihrichkarzle, so nennt man das hier, und streifen über die Weihnachtsmärkte auf der Suche nach neuen Räuchermännchen, die sammeln wir nämlich. Außerdem ist die Vorweihnachtszeit hier in den Bergen viel besinnlicher als bei uns an der Küste. Die vielen schönen Lichter in den Fenstern und dann schneit es dieses Jahr auch noch. Volltreffer, dachten wir, alles richtig gemacht. Was oben an der Kirche los war, keine Ahnung, wir waren ja auf Raachermannelsuche unten auf dem Markt. Aber eine schöne Bescherung war das, als plötzlich alle Buden schließen mussten. Jetzt habe ich noch gar kein neues Mannel gefunden. Ich hoffe, die machen morgen wieder auf.«

Linus, 3 Jahre, von gegenüber

»Weißt du, ich war am Fenster in meinem Zimmer. Papa hat mich auf den Arm genommen, damit ich mehr sehen kann. So viele Menschen waren da, die waren überall in den Straßen. Und dann ist ein Engel vom Himmel gefallen. Ich habe es ganz genau gesehen. Papa sagt aber, der ist nicht gefallen, nur ganz steil geflogen. Engel sind nämlich super Flieger. Dann ist Papa mit mir in die Küche gegangen und hat sich ein Bier genommen. Ich habe einen Kakao getrunken.«

Margarete Pfeffer, 59 Jahre, Grottendorf

»Mir ist der Schwibbogen quasi vor die Füße gefallen. Ich stand ja fast daneben, als der herunterrauschte. So ein schöner Schwibbogen, schad drum, um das schicke Teil. Der war echt nicht schlacht, groß war der, und schön hat der geleuchtet. Ein Prachtexemplar dachte ich noch, als ich den Kirchplatz betrat. Und mit der Musik war es dann auch vorbei, die Bergmannsbrüder haben dann nur noch auf sich eingeschlagen. Außer einer, der hat noch ganz lieblich Ave Maria gesungen, das war noch schön.«

Markus Voigt, 39 Jahre, Bielefeld

»Keine Ahnung, was oben auf dem Kirchplatz plötzlich los war. Ich stand mit meiner Familie unten und habe Waffeln gegessen. Auf dem Weihnachtsmarkt war es uns zu voll, da sind wir in eine Nebengasse eingekehrt. Als ich gerade meine Schlagcreme aus der Waffel leckte, kam plötzlich so ein Volldepp von hinten und stößt mich gegen die Hauswand. Die Schlagcreme landete direkt in meinem Gesicht. So eine Sauerei. Meine Kinder haben natürlich herzlich gelacht. Ich wollte den Typen noch zur Rede stellen, aber der war genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. Ein unhöflicher Mensch war das, das war bestimmt ein zorniger Teenager, die kleiden sich doch gerne ganz in Schwarz.«

Zur gleichen Zeit

Zur gleichen Zeit in einer schmalen, dunklen Seitengasse, die vom Marktplatz zur Stadtkirche hinaufführt, legen sich die vom Himmel herabfallenden fluffigen Schneeflocken sanft auf einen neben einer blechernen Mülltonne verborgenen leblosen Körper. Mit jeder weiteren Minute, die der Korpus ungeschützt im Schnee daliegt, entweicht das Leben aus seinen Adern, seine Gelenke werden steif, seine Kraft entschwindet. Wie lange wird er die Kälte und Nässe, in der er gefangen ist, noch aushalten können? Vor der Linse seines Auges ist nur noch Finsternis zu erkennen. Von seiner einstigen Lebendigkeit und Schwerelosigkeit ist nichts mehr verblieben. Einsamkeit und Stille umgeben ihn. Einzig eine hungrige Ratte hat Notiz von dem leblosen Körper genommen und nagt gierig an seinen dürren Beinchen. Aber schmecken will es ihr nicht recht. Teilnahmslos lässt der immer kälter werdende Körper die Nagerattacke über sich ergehen.

Im tiefsten Innern des Denkapparates des kleinen drahtigen und mittlerweile eingeschneiten Körpers sind unzählige Bilder von den strahlenden Lichtern und fröhlichen Menschen der Bergparade gefangen. Aber auch der Anblick von Moni, wie sie tapfer und lebensdurstig das filigrane Eisengitter mit ihren Fingern fest umklammerte und dann doch kraftlos aufgeben musste. Und da war doch auch noch diese schwarze Gestalt, die den Berg hinunter flüchtete. Was hatte es damit nur auf sich? All diese Erinnerungen trägt der reglose Körper in sich, doch teilen kann er sie wohl mit niemandem mehr.

Zur gleichen Zeit liegt Marie Lüder mit deutlich erhöhtem Alkoholpegel in dem schmalen Mendegäßchen neben dem alteingesessenen Unterwäscheladen mit Büstenhaltern und Schlüppern für die gestandene (und vermutlich völlig an Erotik desinteressierte) Frau ab fünfzig eng umschlungen in den Armen des Glühweinstandinhabers – wie jedes Jahr.

Zur gleichen Zeit parkt der schwarze Van des renommierten mitteldeutschen Fernsehsenders am Rande des Marktplatzes, gefüllt mit neumodischer hochsensibler TV-Technik. Im Inneren Bodo »Sharky« Radtke auf der Rücksitzbank liegend. Seinen Kopf auf die vollen blonden Locken gebettet, die Augen weit aufgerissen und die Zunge aus dem Hals hängend. Kein Blut, nur die absurde Erscheinung eines leblosen Surferboy-Körpers inmitten des verschneiten Gebirges.

Zur gleichen Zeit legt sich Wolfgang Thörner in seinem Hotelzimmer zwischen die Laken seines nach Lavendel duftenden Hotelbettes, schließt seine Augen und verfällt in einen tiefen Schlaf. Nicht wissend, dass er heute Abend die Story seines Lebens verpasst.

Kapitel 5

Verträumt beäugt Smilla Frerichs die filigranen und in dem grellen Licht der Wagenbeleuchtung funkelnden Schneeflocken, die sich auf ihrem Weg zur Erde an der Außenseite des Fensters zu ihrer Rechten niedergelassen haben. Fasziniert von der Schönheit und Vergänglichkeit der sich aus Millionen winziger Kristallen zusammensetzenden, prismenförmigen Kunstwerke – jedes für sich ein Unikat –, fühlt sich Smilla in die Kulisse eines Winter Wonderlands versetzt. Durch das Fenster kann sie die fernen Bergwipfel in der Dunkelheit der Nacht nur noch schemenhaft erkennen. Vereinzelt blinken die Lichter der Schwibbögen auf den Fensterbrettern wohlig warmer Bergstuben auf, die im Weiß des tiefen Schnees reflektieren und funkelnde Inseln in die dunkle Berglandschaft zaubern. Aus dem pechschwarzen Nichts des Himmels fallen mittlerweile schier unzählige prächtige Schneeflocken herab. Der eisige Ostwind hat stark zugenommen und den spielerischen Tanz der Flöckchen in ein aufbrausendes Schneemeer verwandelt, dessen Kristallwellen nun unentwegt an die Scheibe neben Smilla peitschen.

Der Anblick vor ihrem Fenster verzückt Smilla, denn die aufbrausenden Schneewehen versetzen sie zurück in ihre Heimat. Eine ostfriesische Kleinstadt im Norden des Landes, deren rote Ziegelhäuser in der schützenden Obhut des saftig grünen Deiches, an dem sich Schafherden in aller Gemächlichkeit sattfressen, seit Jahrhunderten den Wetterkapriolen an der Nordseeküste standhalten. Es ist die Region des Landes, wo ausgebüxte Kühe die Straßen unsicher machen, die morgendliche Fahrt zum Bäcker auf dem Traktor absolviert und zum Kaffee stets eine Tasse Tee getrunken wird. Und in jeder Bude steht allzeit griffbereit eine Flasche Klarer, denn wie allgemein bekannt ist, erwärmt ein Schluck dieses Elixiers Körper und Geist. Und eben darum ist dieses Wässerchen an der rauen Küste, wo man den steifen Brisen aus dem Westen vehement trotzen muss, für das allgemeine Wohlbefinden der Bevölkerung eine unabdingbare Notwendigkeit und ein von der Region untrennbares Kulturgut – ähnlich wie die Sauna in den skandinavischen Gebieten.

Smilla Frerichs denkt zurück an ihre Heimat, an die unkontrollierten Stürme, die die gewaltigen Kräfte des Meeres ordentlich in Wallung bringen und die Wassermassen an die Brandungen peitschen. Dieses Naturschauspiel fasziniert sie bereits ihr ganzes Leben. Rückblickend ist das in diesem Augenblick vermutlich auch das Einzige, was sie hier oben in den Bergen, fernab von der See und ihrem Zuhause, vermissen wird. Dennoch ist eine Rückkehr für sie derzeit ausgeschlossen, viel mehr noch, sie erscheint Smilla momentan undenkbar. Sie musste diese Entscheidung treffen. Sie musste ihr altes Leben hinter sich lassen. Nur so, hofft sie, kann sie die sie seit Monaten heimsuchenden Erinnerungen endlich einmal vergessen oder zumindest in die hinterste Ecke der untersten Gedächtnisschublade ihres Gehirns verdrängen. Es kann für Smilla gerade eigentlich gar nicht weit genug weg sein.

Vertieft in diesen Gedanken fällt Smilla plötzlich ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe neben ihr auf. Sie blickt in zwei müde Augen mit schlaff herunterhängenden Lidern. Auf dem einst so strahlenden Eisblau ihrer Pupillen scheint ein grauer Schleier zu liegen. Ihre volle und kräftige blonde Haarmähne von früher ist heute ausgedünnt und glanzlos. Und ihr hageres Gesicht ist von markant hervortretenden Wangenknochen gezeichnet. Smilla ist die Erschöpfung aus den vergangenen Monaten deutlich anzusehen. Seufzend lässt sie sich in ihrem Sitz zurückfallen und vermeidet während der gesamten restlichen Fahrt jeden weiteren Blickkontakt zu sich selbst.

Eine gute Stunde dauert Smillas Fahrt mit der kleinen roten Regionalbahn und führt sie durch die Täler inmitten der Berge dieser abgelegenen Landschaft im äußersten Osten des Landes. Die Schienen winden sich serpentinähnlich durch die dichten Wälder aus Kiefern, Fichten und Birken und kämpfen sich ihren Weg entlang der Berghänge. Mächtige Felsvorsprünge stoßen bedrohlich aus dem Gebirge hervor und ragen bis auf wenige Zentimeter an die Waggons der Regionalbahn heran. Die kargen und dunklen Felsenwände kontrastieren mit der im Sommer in einem saftigen Grün erblühenden Umgebung, die sich heute, verborgen unter einer dicken Schneedecke, in einem tiefen Winterschlaf befindet.

Ein schmaler Fluss schlängelt sich durch das Gehölz entlang der Bahnschienen, verschwindet schließlich zwischen den Bäumen, um dann auf einer kleinen Lichtung auf der gegenüberliegenden Seite unerwartet wieder hervorzustoßen – mal ruhig und sanft dahingleitend, mal reißerisch und kämpferisch die Felsbrocken im niedrigen Flussbett umspielend. Aus den Tiefen des Gehölzes steigen in unregelmäßigen Abständen steinerne Viadukte empor, die der malerischen Landschaft einen mystischen Charakter verleihen. Auf mächtigen Felsen prangende hochmittelalterliche Burganlagen und in den Tälern angesiedelte historische kleine Bergstädtchen und Siedlungen untermalen das pittoreske Erscheinungsbild. Die zahlreichen warmweißen Lichter in den Fenstern der Häuser schaffen ein Gefühl von wohliger Wärme und Geborgenheit inmitten des Dunkels der Wald- und Berglandschaft. Jeder noch so eiserne Weihnachtsmuffel würde bei diesem Anblick schwach werden und der besinnlichen Stimmung dieser besonderen Jahreszeit machtlos verfallen.

Gemächlich tuckert die Bahn über die schlängelnden Schienen von Ortschaft zu Ortschaft. An den Bahnhöfen, die in der Regel nur über einen Bahnsteig und ein gläsernes Wartehäuschen mit drei eisernen Sitzschalen verfügen, stehen nur selten Fahrgäste, die zu Smilla in den Zug steigen, um diesen dann nur wenige Haltestellen später wieder zu verlassen. Es ist ruhig in den beiden Zugwaggons. Der Schaffner, ein Mann höheren Alters, sitzt direkt hinter der Zugführerkabine im Abteil der 1. Klasse. Seiner Schuhe entledigt, die Füße auf die Sitzreihe vor ihm niedergelegt und die Uniformmütze tief in sein Gesicht gezogen, scheint er von der schweren Last des Jahres bereits zu ruhen.

Smilla tuckert so noch eine ganze Weile mit der Regionalbahn dahin, bis sie endlich in der historischen Kleinstadt namens Annaberg-Buchholz ankommt. Sie streift ihren eigens für die eisigen Temperaturen in den Bergen neu angeschafften Steppmantel mit flauschigem Kunstfellkragen über, greift ihren schweren Koffer und zerrt ihn mit beiden Händen auf seinen vier Rollen über die Rampe der Wagentür auf den menschenleeren Bahnsteig. Die Sirene des Türschließmodus dröhnt laut durch die den Bahnhof umgebene Stille und die Automatiktüren schließen hinter ihr. Behäbig setzt die Regionalbahn wieder zur Fahrt an. Smilla blickt dem matten Licht des allmählich vorantrabenden Zuges noch so lange nach, bis dieser hinter der nächsten Kurve von den Schluchten der Berge verschlungen wird.

Die Zeiger der Bahnhofsuhr stehen auf zehn vor Zwölf. Gleich ist Mitternacht.

Von der besinnlichen Weihnachtsstimmung, die bis vor wenigen Stunden wie ein Zauber über der gesamten Region lag, ist bei Smillas Ankunft nichts mehr zu spüren. Stattdessen vermitteln die Dunkelheit und Stille des Bahnsteiges Smilla eine geisterhafte Atmosphäre. Der eiskalte Ostwind bläst ihr ins Gesicht, so sehr, dass ihre hageren Wangenknochen zu brennen beginnen. Smilla zieht die Kapuze ihres flauschigen Mantels bis tief über die Augen.

Das Bahnhofsgebäude, ein vierstöckiger, weiß verputzter Bau mit breiten vorragenden Seitenflügeln und zurückgesetzter Haupthalle scheint wie verlassen. Lediglich die kleinen warmen Lichter der Schwibbögen in jedem seiner Fenster bieten Smilla eine Lichtquelle in der Dunkelheit. Sie horcht in die Stille hinein. Nichts. Sie nimmt einen tiefen Atemzug von der eiskalten Bergluft. Tausende spitze Eiszapfen bohren sich daraufhin in die Innenwände ihrer Lungen – bildlich gesprochen. Sofort unterdrückt Smilla ihren Drang nach Frischluft und schließt wieder ihren Mund. Ihr Blick haftet an den kleinen flackernden Lichtern in den Fenstern des Bahnhofsgebäudes, die sie in ihren Bann gezogen haben. Für eine kurze Weile darf sich Smilla an diesem Anblick erfreuen, bis die Stille abrupt unterbrochen wird.

Kapitel 6

»Frau Frerichs? Frau Smilla Frerichs?«