Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In ihrem früheren Leben als Heilerin von Stonehenge nahm ER Agnes alles: Liebe, Freundschaft und das nackte Leben. Diesmal soll es anders enden, schwört sie. Denn im heutigen London trifft sie wieder auf IHN. Wiedergeboren als Chef eines Pharmaunternehmens, verantwortlich für einen tragischen Medikamententest und mysteriöse Todesfälle im Dunstkreis seiner Person. Von seiner Schuld ist Agnes überzeugt. Also setzt sie alles auf eine Karte, um ihn zu überführen. Koste es, was es wolle.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 597
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Petra K. Gungl
Diabolisches Spiel
Roman
Ausgewählt durch Claudia Senghaas
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2016
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Gail Johnson – Fotolia.com
und © natalyon – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4876-8
Gewidmet meiner Mutter, meiner Großmutter, und allen Großen Müttern, die da waren und noch kommen
Im März2006 endete ein Medikamententest in London mit einer Katastrophe. Angeregt von diesem Ereignis entstand vorliegender Roman, dessen Inhalt, handelnde Personen, Unternehmen, Konzerne sowie Firmennamen in keinerlei Zusammenhang mit den betroffenen Menschen und Unternehmen jenes Unglücks stehen. Alle Personen, Unternehmen, sowie die Handlung des Romans, sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich lebenden oder verstorbenen Menschen beziehungsweise mit real existenten Konzernen und Unternehmen wäre Zufall und von der Autorin nicht beabsichtigt.
Der Weltenbaum im Nebel steht,
vergessen von den Heiden,
die Wurzeln tief in die Hölle dehnt,
wohlan sie Feuer weiden,
dort wo der Göttin Spinnrad dreht,
im ewigen Kreislauf aller Zeiten.
Der Stamm so gewaltig,
kein Mann ihn kann umfassen,
nächst der Brunnen Mimirs mächtig,
vermag der Wesen Geist in die Weisheit einzulassen,
in das Haus der tausend Türen,
die doch alle zu der einen führen.
Eine Ziege äst in der Esche Zweige,
über die Welt sich diese breiten,
der Götter Gericht unter ihrer Neige,
bereit das Schicksal beständig anzuleiten.
Doch geheim bleibt deren Ratschlag Schluss,
und das Leben, für uns, ein dunkler Fluss.
Verlässlich mästet das Euter der Ziege,
die Tapferkeit von Odins Krieger.
Schenkt Mut, auf dass der Träumer siege,
und aufersteht, während die Herde verharrt im Fieber.
Getragen von des Adlers Schwingen,
wird er das Lied der Ahnen singen.
Vier Hirsche weiden um des Baumes Weide,
verlockt durch der Knospen Süße.
Herrscher des Hains, Befruchter der Erde,
Diener der Göttin Gelüste,
erwarte die Seelen, die den Weltenbaum,
im Rad des Lebens erschaun.
Und Weisheit ist der Mühe Lohn,
Erkenntnis wird zur Pflicht,
dem Reisenden Verhöhnung drohn,
im engen Dorf der Seinen.
Denn Angst erzeugt, wer Wahrheit spricht,
wer frei in Wort und Taten.
Welch Meisterstück ist ein Mann,
wie edel von Verstand, […]
und dennoch, für mich,
was ist diese Quintessenz des Staubs?
(William Shakespeare, Hamlet, 2. Akt, Szene 2)
»Ich will die volle Prämie.« Das Gesicht des Mannes, der so vehement sein Recht forderte, war rot angelaufen. »Das Antigen CD28 als Target anzusteuern ist allein meine Idee gewesen.« War der Edinburgher Mikrobiologe an und für sich eine nichtssagende Erscheinung, hatte er sich nun in eine Comicfigur verwandelt: Von Natur schmächtig standen zudem seine karottenfarbigen Haare wirr vom Kopf ab, und die blassen Augen drohten aus den Augenhöhlen zu ploppen. Walter Bernty kostete es seine ganze Kraft, nicht lauthals über diesen Wicht zu lachen. Nicht, weil er George respektierte oder dessen Gefühle schonen wollte, sondern weil er hierher in das Zimmer seines Mitarbeiters gekommen war, um ihr gemeinsames Problem endgültig aus der Welt zu schaffen. »Inklusive die offizielle Bestätigung als Forschungsleiter – Ulysses verdankt ihr mir allein«, nagte dieser weiter an Walters Beherrschung.
Der Ausblick aus dem Bürofenster auf die London Bridge, die sich über die Themse streckte, kühlte den Lachreiz als auch die unterschwellige Verärgerung hinlänglich ab. Als er sich wieder George zuwandte, waren jegliche Spuren dieser kontraproduktiven Emotionen aus seinem Gesicht gewischt.
»Mein Freund«, begann er mit Kreide in der Stimme, »wir können über alles reden. Sieh her, was ich dir als Friedenspfand mitgebracht habe«, dabei hob er die Hand, die bislang eine Flasche hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte, »einen Original Cardhu Special Reserve, 1982 destilliert.« Walter genoss die Reaktion seines Gegenübers. Kein schottischer Mann konnte sich der Versuchung dieses Whiskys entziehen, schon gar nicht George. Der starrte mit offenem Mund auf die noch verschlossene Flasche und schluckte.
»Wo hast du diesen Tropfen her? Der ist für das Königshaus gemacht worden.«
»Tja, mein Lieber, es ist eben ein Fläschchen auf der Geburtstagsparty unseres guten Prinzen William übrig geblieben«, zwinkerte Walter George zu, gewohnt, seinen Charme waffengleich einzusetzen. »Habe sie mir für einen besonderen Anlass aufgehoben. Aber du weißt vielleicht, wie das mit den besonderen Anlässen ist: Mal sind es zu viele Leute, für die reicht die eine Flasche nicht, dann sind es bloß ein paar Geschäftspartner, von denen du dir den edlen Tropfen nicht aussaufen lassen willst. Alleine ist es nicht feierlich genug, man braucht einen Zweiten, um den Genuss teilen zu können.« Walter ließ sich behäbig auf dem nächsten Stuhl nieder und streckte die Beine von sich. »Wir beide haben ein großartiges Medikament entwickelt, das jetzt vor seiner Testung steht – deswegen ist heute der perfekte Anlass. Also, wo sind die Gläser?« Der Satz war noch nicht gänzlich ausgesprochen, da hatte George bereits den Schrank nächst dem Schreibtisch geöffnet. Ein Klirren von Flaschen, ein Fluchen, und ein paar Sekunden später standen zwei Whiskygläser auf der einzigen freien Stelle der Schreibtischplatte.
»Schenk ein«, forderte George energisch. »Aber dass ich mit dir einen hebe bedeutet nicht, dass ich auf mein Geld verzichte.« Er ließ die Flasche nicht aus den Augen.
Sorgfältig, mit der gebührenden Hochachtung vor dem edlen Destillat, löste Walter die Versiegelung am Flaschenhals, zog den Korken bedächtig aus der Öffnung und hielt seine Nase über den aufsteigenden Alkoholnebel: Eine Idee von Honig kam ihm in den Sinn, schon nahm er jene dezente Apfelnote gepaart mit Birne wahr, die den vollmundigen Duftkörper abrundete und entdeckte zu guter Letzt einen geheimnisvollen Hauch von Rauch. »Fantastisch«, murmelte er und fragte sich, wieso er gerade diese Flasche für sein Treffen mit George ausgewählt hatte. Golden wie flüssiger Waldhonig ergoss sich der Whisky in die Gläser, und das glockenhelle Gluckern klang wie Musik in Walters Ohren. George ergriff eines der Gläser und ließ sich in den Bürosessel fallen.
»Auf Ulysses, für die einen die Heilung aller Autoimmunerkrankungen«, hob Walter sein Glas, »für uns der Goldesel, der SARFUR zum Marktherrscher macht.«
»Auf meine Prämie«, gab sich George angriffslustig und erwiderte die Geste.
»Von mir aus.« Walter wollte sich auf die Schenkel schlagen vor Vergnügen, dass George genauso reagierte, wie er es berechnet hatte.
»Meinst du das ernst?«, stammelte dieser, als traute er seinen Ohren nicht. Sein Mund stand offen, und die Hand mit dem Glas hing vergessen in der Luft.
»Lass uns erst mal trinken«, griente Walter sein bestes Hailächeln. »Reden können wir immer noch.« Die Männer verstummten. Wie Synchronschwimmerinnen nach dem Auftauchen aus dem Wasserbecken hielten sie mit identischem Gesichtsausdruck ihr Glas gegen die Lichtquelle an der Decke, bestaunten die goldene Farbe, holten es wieder zur Nase, sogen scharf den Alkoholdunst in die Köpfe und lächelten ob der berauschenden Wirkung. Erst dann führte jeder sein Glas an die Lippen und nahm den ersten Schluck zu sich. Die Zungen badeten in der Flüssigkeit, die ohne zu brennen ihre reichen Aromen verströmte. Wie Öl rann sie die Kehlen hinab, wärmte auf ihrem Weg die kalten Innenräume der Rivalen. Ein Schmatzen und ein Stoßseufzer indizierte den Gipfel des höchsten Genusses, den zwei heterosexuelle Männer gemeinsam erleben konnten. In die Rückenlehne gesunken, die Augen für eine weitere Sekunde geschlossen, schwelgten sie in der ganzkörperlichen Reaktion auf den Whisky, bis die Sensation allmählich abebbte.
»Mann, ich bin dir echt dankbar für diesen Schluck«, gab George widerwillig zu. »Wenn ich darf, schenke ich mir einen zweiten ein.« Walter zuckte unmerklich mit den Augenlidern, gab sich jedoch jovial und machte Anstalten, ihm die Flasche hinüberzuschieben. »Seit Nadine mich verlassen hat, ist das mein einziger Trost«, fügte George zu seiner Rechtfertigung hinzu. »Nicht, dass du mich für einen Säufer hältst …«
»Dafür ist das Zeug schließlich da«, winkte Walter ab. »Ich schenke dir nach, und du holst die Ulysses-Unterlagen«, er ließ den Blick demonstrativ über Schreibtisch und Ablageflächen schweifen, »falls du sie in diesem Saustall findest.« Ordnung gehörte nicht zu Georges Prioritäten. Der Schreibtisch war übersät von Papieren, Fachzeitschriften und Büchern, aus denen unzählige Spickzettel lugten. Am Boden stapelten sich Bücher, die in den überfüllten Regalreihen an der Wand keinen Platz mehr gefunden hatten. Umgestürzte Stapel hatten sich zu Bergen ausgewachsen, zerknüllte Papierkugeln lagen, wütend durch den Raum geschossen, auf Regalen, Boden, Kasten und Fensterbank. Dazwischen standen leere Colaflaschen und verkrustete Kaffeebecher.
»Wieso hast du es eigentlich Ulysses genannt? Alle anderen haben eine Buchstaben-Zahlenkombination«, weigerte sich George sowohl auf die Beleidigung zu reagieren als auch der Anweisung Folge zu leisten. Walter verschränkte die Arme vor der Brust. Solange George nicht tat, was er verlangte, würde er nicht nachschenken. Verärgern durfte er ihn allerdings auch nicht. Gut. Dann ging das Spiel eben weiter.
»Weil die Entwicklung so verdammt kompliziert und langwierig war wie der Joyce-Roman. Hab’ ihn nie zu Ende gelesen.«
»Banause«, spottete George und wirkte erfreut, eine weitere Schwäche an Walter entdeckt zu haben. »Wir sollten trotzdem noch nicht in Phase 1 gehen – die Tests an den Makaken entwickeln sich nicht wie ich es mir vorstelle … ein weiterer Durchgang mit Ratten …«
»Du weißt, was jeder Tag länger kostet?«, herrschte Walter ihn an. »Wir haben alles auf Ulysses gesetzt, wenn wir jetzt nicht bald ins Verdienen kommen, geht die Firma pleite. Die Tests mit den Affen sind in Ordnung.«
»Ich brauche mehr Datenmaterial für die Berechnung der Dosis, es ist nicht abzusehen, wie das menschliche Immunsystem auf unser genetisch hergestelltes Immunglobulin reagiert …« Walter winkte genervt ab und kämpfte seinen Ärger nieder.
»Du hast die Ergebnisse von den Studien an menschlichen Zellen, Ratten und Affen. Alles was vorgeschrieben ist.« Es war definitiv an der Zeit, sein Vorhaben voranzutreiben. »Wird das noch was mit Nadine?«, wechselte er einer Eingebung folgend das Thema. Das war die Achillesferse des verklemmten Schotten und er würde ihm hierbei keinesfalls in die Augen sehen wollen. Erwartungsgemäß kniff George die Lippen zusammen und drehte sich samt Sessel zur Ablage hinter sich. Mit dem Rücken zu Walter kramte er zwischen Stapeln von Ordnern.
»Ich versuche, sie zu einer Versöhnungsreise nach Mauritius zu überreden«, antwortete er und gab sich vergeblich Mühe, zuversichtlich zu klingen. »was glaubst du, was das alles kostet: Fünfsternhotel, Businessclassflug, Tauchausrüstung und all der Schnickschnack, den sich Frauen wünschen. Romantik, Luxus, das volle Programm …« Während Walter Georges Rücken fixierte, griff er nach dessen Glas, goss kräftig Whisky nach und ließ einige Tropfen aus einer schmalen Phiole dazu hineinfallen. Die Phiole verschwand in Walters Laborkittel, und ein selbstzufriedenes Lächeln machte sich im Gesicht des Geschäftsführers breit. Dann streckte er erneut die Beine von sich und machte es sich bequem, so gut das in einem Designer-Metallstuhl eben ging.
»Das hätte dir früher einfallen müssen, du Geizkragen. Klassefrauen muss man was bieten.«
»Na, wenn du das sagst«, fauchte George und zog eine Mappe aus dem Stapel, »wie vielen Frauen lügst du gleichzeitig das Blaue vom Himmel herunter?« Er warf Walter die Mappe hin, bedacht, die Whiskygläser nicht vom Tisch zu fegen. »Ich war wenigstens immer ehrlich zu Nadine, habe sie geliebt. Aber was zählt das schon.« Resignation machte sich in Georges Gesicht breit, zusammengepresste Lippen, wässrige Augen. Gott, das Weichei würde gleich losheulen, unterdrückte Walter mühsam den Impuls, seine Gedanken laut auszusprechen.
»Tja«, prostete Walter seinem Mitarbeiter zu, nahm einen großen Schluck und griff nach den Unterlagen. »Ich bekomme übrigens eine neue Projektleiterin aus Österreich. Eine Top-Frau. Die wird deinen Job hier übernehmen«, sagte er über den Rand des Glases und weidete sich an Georges schreckensweiten Augen. »Keine Panik – hey, du wirst Bereichsleiter. Was sagst du?« Georges Kopf kippte misstrauisch zur Seite. Er kannte Walter Bernty zu lang, als dass er sich so leicht von ihm hätte blenden lassen, das wusste Walter. Ungeduldig blickte er auf das unberührte Glas vor George. Immerhin musste er sich nicht mehr allzu lange mit dem Kerl herumschlagen, das war ein gewisser Trost.
»Ich will als Forschungsleiter auf die Einreichunterlagen und die volle Prämie«, blaffte George. »Was ist – gibst du mir dein Wort?« Nervös griff er nach seinem Glas und stürzte den Whisky hinunter. Noch bevor Walter antworten konnte, hatte sich George nachgeschenkt und einen weiteren Schluck nachgeschickt. Walter sah förmlich, wie der Alkohol das Selbstvertrauen seines Assistenten stärkte. »Du kannst mich mal, Walter«, zischte der noch angriffslustiger als zuvor, »entweder ich krieg’ was ich will oder deine Frau bekommt dieses MMS, du weißt schon, worauf sie sehen kann, wo du deine Pipette hineinsteckst, wenn der Arbeitstag hart wird …«
»Okay, sag’ ich«, fiel Walter ihm ins Wort. Besagtes Foto kannte er nur zu gut, George hatte es ihm vorausschauend geschickt. Im Lustrausch hatte er auf das Abschließen der Verbindungstür zum Besprechungsraum vergessen, ein gottverdammter Fehler. Er hasste Fehler. Und wenn Walter eines noch mehr hasste, als Fehler zu machen, dann waren das Personen, die ihm seine Fehler vor Augen hielten. »Zufrieden?«
George verschlug es die Rede. Ganz offensichtlich hatte er mit einem zähen Kampf gerechnet.
»Okay? Einfach so?«, erwiderte George verblüfft. »Na dann … danke.« Linkisch prostete er Walter zu. »Danke auch für den Whisky. Kann mich nicht erinnern, jemals so einen edlen Tropfen getrunken zu haben.« Schließlich lachte George erleichtert auf und merkte kaum, wie der Boden zu schwanken begann, zu groß war die Erleichterung, seine Sache durchgeboxt zu haben.
»Das glaube ich dir gern«, erwiderte Walter und beobachtete die weiteren Auswirkungen des Whiskys auf seinen Assistenten. Die Augen verloren den Fokus, der Muskeltonus nahm rapide ab. Erst nachdem George das dritte Glas ausgetrunken hatte und es ihn eigentlich noch nach einem vierten verlangte, bemerkte dieser endlich selbst seinen angegriffenen Zustand.
»Der Whisky hat’s aber verdammt in sich. Mann, der kann was.« Er rieb sich über Stirn und Augen. »Bin müde – besser, wir machen Schluss, sind sowieso wieder mal die Letzten im Institut. Hast du …« Die Zunge konnte die erwünschten Worte nicht formulieren, schwer und faul lag sie in seinem Mund. Aus unerfindlichen Gründen stemmte sich der Schotte an der Schreibtischkante hoch, doch die Beine trugen ihn nicht. Hätte Walter ihn nicht umsichtigerweise aufgefangen, George wäre der Länge nach am Boden aufgeschlagen. Jetzt lag er in Walters Armen und rührte sich nicht. Der Atem ging flach, die Augen waren geschlossen. Der kleine Mann wog fast nichts, Walter hatte keine Mühe, ihn in der gewünschten Position bäuchlings über die Sessellehne zu legen. Hastig lief der Mediziner zur Tür und versperrte sie. Im Zurückgehen lockerte Walter den Hosenbund, spürte seine Bauchmuskeln zucken und war über die auftretenden Darmgeräusche einigermaßen erstaunt. Er dachte daran, auf die Toilette zu gehen, doch zuerst musste diese Sache erledigt werden. Flink löste er Georges Gürtelschnalle, zog Hose und Unterwäsche herunter, bis er schließlich auf Georges nackten Hintern blickte. Lächelnd besah er sein Opfer. »Du dachtest, du hast Macht über mich, George.« Walter standen Schweißperlen auf der Stirn und das Hemd klebte nass an den Achselhöhlen. Obwohl er sich dazu berechtigt fühlte, sein Vorhaben zu vollenden, befiel ihn eine Unsicherheit – Skrupel? »Eine spannende Erfahrung, nichts weiter«, stieß er vehement zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. Irritiert von der Gefühlswallung bemühte sich Walter mit all seiner Verstandeskälte um einen klaren Kopf. »Das ist Macht.« Mit geschlossenen Augen fühlte er dem Gesagten hinterher und fand, was er suchte. »Berauschend wie guter Whisky. Dein Körper, dein Leben in meiner Hand.« Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Aus der Brusttasche zog er Einweghandschuhe, die er mit der Sorgfalt eines Chirurgen überstreifte. Die Finger bewegten sich virtuos in der Luft, ehe sie im Laborkittel nach der Spritze samt der dazugehörigen Injektionsnadel griffen. Routiniert steckte er die Nadel auf die Spitze, nahm die Schutzkappe ab und zog reichlich Luft an. Ausreichend für eine Embolie, nickte er dem Gerät in seiner Hand anerkennend zu. In aller Ruhe griff er in Georges Gesäß und spreizte die Pobacken auseinander, bis die bläulichrote Haut des Afters hervorquoll und mit ihr der faulige Geruch von Gedärm und Fäkalien.
»Dachte ich’s mir doch, Hämorriden«, schmunzelte Walter zufrieden. »Solltest nicht am Klo Zeitung lesen.« Die Nadel durchdrang die Vene. Walter drückte die aufgezogene Luft hinein wie eine Schutzimpfung – dorthin, wo kein Leichenbeschauer nachsehen würde. Dann setzte er die Spritze ab, lockerte seinen Griff und sah zu, wie sich der After zusammenzog. Schließlich kleidete er George sorgfältig an, platzierte ihn am Schreibtisch, sodass er gut abgestützt vornüber gelehnt sitzen blieb.
Beim Verlassen des Büros zögerte Walter an der Tür. Er hielt die Ulysses-Akte unter dem Arm geklemmt, die Whiskyflasche samt den Gläsern in der Hand und blickte über die Schulter zum Schreibtisch, betrachtete den verdienstvollsten Mitarbeiter, den er jemals gehabt hatte.
»Schlaf gut, George, ich wünsche dir einen endlos schönen Traum von Mauritius. Das mit Nadine wäre soundso nichts mehr geworden.«
Bezweifle, dass in Sternen Feuer sei,
Bezweifle, dass die Sonne sich bewege,
Befürchte in der Wahrheit Lügerei,
Doch niemals zweifle, dass ich Liebe hege.
(Hamlet, 2. Akt, Szene 2)
Licht leuchtete orangerot durch die Lider und die Luft war erfüllt von der feuchten Frische des Donaustroms. Die Stille des Augenblicks war das Knistern kleiner Wellen, die über den feinen Schotter strichen.
Die junge Frau lag in ihren Kleidern nahe der Wasserlinie, die Zehen in den nassen Steinen vergraben, die Arme über dem Kopf auf das Haar gelegt, das den Kopf gleich einem dunklen Strahlenkranz umrahmte. Ihre Gesichtszüge waren entspannt, die Haut blass. Es war ein langer harter Winter gewesen.
»Das ist ein Traum. So schön kann die Wirklichkeit niemals sein«, flüsterte sie, besorgt, die Schallwellen ihrer Worte könnten die Illusion zerstören. Was gewesen war, lag weit hinter ihr, was bevorstand, existierte noch nicht. Kein Schmerz und keine Freude wühlten sie auf. Jeder Muskel, jede Zelle ihres Körpers war in stiller Zufriedenheit versunken, keine Erinnerungen störten diesen Zustand. Zeit fühlte sich anders an, war nicht länger zerteilt, sondern glitt wie die Sonne über dem Himmelsbogen dahin. Sie hätten sich am Meer befinden können, so blau waren Himmel und Wasser. Weit weg schien jeder Alltag, hier auf der Insel, wie die Wiener das Überschwemmungsgebiet an der neuen Donau liebevoll nannten. Die Donauinsel war zu einem einzigartigen Naherholungsgebiet geworden, wo von Schwimmen, Skaten, Radfahren, Drachensteigen bis Essen, Tanzen und Feiern alles möglich war. Träumen und Sonnenbaden eingeschlossen.
Langsam tastete ihre Hand den Radius des Arms ab. Kleine Steinchen klebten sich an die Haut, rieben sich an Größeren ab, waren kalt, manchmal scharfkantig, meist warm und rund. Dann fanden die Finger andere Finger, warm und weich, größer als die ihren und an den unteren Gliedern behaart. Die Finger begrüßten einander, verschränkten sich, streichelten liebevoll über die Haut des anderen und blieben irgendwann ineinander ruhen.
»Das Leben kann auch so sein, Agnes«, sagte eine Männerstimme bestimmt, sein Körper rollte näher zu ihr.
»Pass auf dein Bein auf!«, warnte sie, aber der Mann verzog zeitgleich sein Gesicht zu einer Grimasse. »Ach Siebert …«
»Wieder vergessen«, stöhnte er und ließ sich wieder zurück auf den Rücken sinken. Sein rechtes Bein war von der Hüfte bis zum Knöchel einbandagiert und steckte in einer Leinenhose. Der Schmerz ließ seinen Atem stoßweise kommen, wenngleich er bemüht war, ihn zu verbergen. Agnes hatte sich bereits aufgesetzt und über ihn gebeugt.
»Du musst dich von mir verwöhnen lassen«, ermahnte sie ihn, blickte so streng als es ihr möglich war drein. »In ein paar Wochen, wenn du fit bist, darfst du dich revanchieren.« Sieberts Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, und seine Arme zogen sie an seine Brust. »Worauf du dich verlassen kannst«, raunte er nahe ihrem Ohr und küsste ihr Haar. Sein Herz schlug kräftig und deutlich hörbar. Dankbarkeit durchströmte Agnes mit jedem Schlag. Erst vor wenigen Wochen war Siebert noch im Koma gelegen. Die Ärzte hatten keine Prognosen für seine Genesung abgeben wollen. Die offene Fraktur des Oberschenkels war gut versorgt worden, bloß der Patient war nach der Narkose nicht aufgewacht. Agnes hatte Tag für Tag an seinem Bett verbracht, mit ihm gesprochen, leise gesungen, Geschichten erzählt und über Träume berichtet. Nichts davon schien ihn zu erreichen, dennoch hatte Agnes an sein Erwachen geglaubt. Er war ihr Mann – und das, obwohl sie einander erst wenige Wochen vor dem Unglück begegnet waren.
Ersehnt und gefunden, durch alle Leben, durch alle Zeiten. Früher hätte sie solche Worte und Gefühle für puren Kitsch gehalten, etwas, das es vielleicht in der rosaroten Welt einer Barbara Cartland gab, aber nicht in der Realität einer vernunftbetonten Juristin. Hätte sie es nicht am eigenen Leib erlebt, es gesehen, gefühlt und mit jeder Zelle gewusst – nun, es gab einiges mehr, dass sie niemals für möglich gehalten hätte.
Am Krankenbett hatte sie sein Gesicht beobachtet und dabei stets das Piepsen des Monitors in den Ohren gehabt. Wo war er, fragte sie sich, in einem Traum gefangen? Sie selbst hatte besondere Träume. Ob Fluch oder Segen dahintersteckte, war noch nicht entschieden, doch hatten diese Träume von einem vergangenen Leben erzählt, von einer vergessenen Kultur. Damals waren Siebert und sie spirituelle Meisterinnen gewesen – und ein Liebespaar. Sie hatte im Traum die Meisterinnen um Hilfe gebeten und Hilfe erhalten. Wildrose, Anis und Koriander, Fenchel, Kardamom in Jojobaöl. Mit dem Duft der Vergangenheit hatte sie ihn zurückgeholt.
Seitdem waren die Wochen dahingeflogen. Siebert erholte sich, konnte bald mit Krücken gehen und das Spital verlassen.
Der Unfall hatte ihre Zuneigung vertieft – der Unfall, der keiner gewesen war. Keiner von ihnen hatte bislang gewagt, diese Nacht, in der ein Jeep Siebert angefahren hatte, zu erwähnen. Während der Gedanke daran für Agnes unerträglich war, fehlte Siebert jede Erinnerung an die verhängnisvolle Nacht. Nur eine Ahnung mahnte ihn wohl, es nicht genauer wissen zu wollen. Doch wer von uns hört schon auf seine Ahnung – diese innere Stimme, die meist recht hat und dennoch unbeachtet vor sich hin murmelt.
»Erzähle es mir. Was war in dieser Nacht los?«
Agnes hielt den Atem an. Warum jetzt – warum diesen perfekten Augenblick zerstören? Ein umständliches Räuspern brachte Agnes’ belegte Stimmbänder in Sprechbereitschaft.
»Du hast nie gefragt«, wich sie aus. Er zögerte mit seiner Antwort.
»Wenn ich daran denke, wird mir …«, er zögerte, brummte ungehalten, »… ach, es ist wie ein schwarzes Loch. Dort hinzuschauen, ist beängstigend.«
»Und jetzt geht es – das Hinschauen?«, fragte Agnes.
»Hier«, seine Hand deutete dabei aufs Wasser, »geht es.«
»Lass mich nachdenken, wo ich anfange.« Agnes’ Augenbrauen zogen sich zusammen. Eine verwickelte Geschichte. Dort, wo sie gearbeitet hatte, waren drei Menschen ermordet worden. Ihr Ex-Freund Norman war der ermittelnde Kriminalinspektor gewesen und hatte ihr das Leben zur Hölle gemacht. Zuletzt wollte er ihrer Freundin Megan die Morde anhängen. Doch Agnes war eine List eingefallen, wie sie den Mörder aus der Reserve locken konnte. Der Köder war sie selbst gewesen. Norman, vor vollendete Tatsachen gestellt, hatte wohl oder übel mitspielen müssen, um sie vor dem drohenden Angriff zu beschützen. Aber das wusste Siebert alles noch.
»Es war der Abend, an dem das Frühlingsfest in der Firma war. Ich dachte, die Frau, die ich verdächtigte, würde im Festtrubel versuchen, mich zu vergiften. Das tat Michelle aber nicht. Später zog ich mich sogar in mein Zimmer zurück, um ihr eine gute Gelegenheit zu bieten.« Siebert sog scharf Luft ein. Ehe er etwas einwenden konnte, fuhr Agnes fort. »Schließlich konnte ich darauf vertrauen, dass Norman in der Nähe war und mir helfen würde.« Sie atmete tief durch, versuchte, die Enge in ihrer Brust zu lösen. Vergeblich. »Nichts passierte, und ich wollte heim. In der Tiefgarage ging dann alles schnell und langsam zugleich. Ein Motor heulte auf, Räder quietschten, ich starrte in Scheinwerfer, jemand gab mir einen heftigen Stoß, und dann knallte mein Kopf gegen ein parkendes Auto. Alles wurde schwarz um mich herum. Irgendwann kam ich wieder zu mir und sah eine Gestalt am Asphalt liegen. Regungslos.« Für einen Moment stieg die Übelkeit unerträglicher Angst in ihr auf. Ein tiefer Atemzug half weiterzusprechen. »Das warst du … wie tot bist du dagelegen.« Ihre Brust hob sich und kämpfte gegen die Enge an. »Ich konnte nicht schreien, nicht weinen, mich nicht bewegen …« Den Blick starr auf die Lichtreflexe der Wasseroberfläche geheftet, saß sie jetzt aufrecht vor ihm. »Ich denke, du wolltest in dieser Nacht nicht untätig bleiben und hast in der Garage auf mich gewartet. Mit dem Stoß von der Fahrbahn weg hast du mir das Leben gerettet. Der Jeep hat dich an meiner statt mit dem Wildfänger aufgegabelt, dir den Oberschenkel zertrümmert. Nur weil du dich instinktiv abgerollt hast, konntest du den Aufprall überleben.«
Die Stimme versagte ob der Enge in ihrer Kehle. Ihre Hand schob sich über die brennenden Augen. Siebert zog sie an sich, hielt sie stumm im Arm. Ihre Wimperntusche würde Spuren auf dem Sweatshirt hinterlassen. Dumm, woran man in solchen Situationen dachte. Siebert hatte regungslos ihren Worten gelauscht, jetzt räusperte er sich.
»Haben sie den Fahrer? Ist es der Mörder?«
»Ich weiß nicht«, antwortete sie mechanisch und wusste, das war eine Lüge. Sie hatte die Wahrheit gesehen, war in die Erinnerungen der Mörderin eingedrungen. Vollkommen bedeutungslos – Telepathie wurde vor Gericht bestenfalls belächelt. Schlimmstenfalls stecken sie mich in die Klapsmühle, biss sich Agnes bei dem Gedanken auf die Lippe. Fakten zählten. »Angeklagt haben sie Dr. Karin Tolf, aber die war es nicht. Zumindest nicht im Jeep. Michelle Schoff saß drin.«
»Du weißt das?«
»Ja.«
»Woher?« Agnes zuckte mit den Schultern und schwieg. »Kannst es nicht beweisen«, schloss Siebert messerscharf.
»Exakt.«
Er drückte sie fester an sich. Das genügte ihm für den Augenblick.
Wie geordnet sich doch zwei Juristen unterhalten konnten, ohne über Gebühr emotional werden zu müssen.
»Agnes?«
»Ja?«
»Da ist etwas, was ich dir endlich sagen muss«, brach Siebert irgendwann das Schweigen. Agnes rückte etwas von ihm ab, musterte sein Profil, das energische Kinn mit dem Grübchen, das sie besonders liebte, die kräftigen Augenbrauen und die gewölbte Stirn. Sein Haar war kurz geschnitten, an den Schläfen begann es silbern zu glänzen. Sexy, fand sie, gerade weil er erst 30 war. Und erst die Lippen. Die drei Fältchen in der Mitte der Unterlippe faszinierten sie, erinnerten an die Weichheit seiner Küsse, an die Kraft und Energie, mit der er sie liebte. Da war auch schon wieder dieses verräterische Kribbeln im Unterleib, das jedes mal einsetzte, sobald sie ihn auch nur in Gedanken berührte. Was sonst als eine Liebeserklärung konnte jetzt erfolgen.
»Wegen meines langen Krankenstands wäre ich beinahe von meiner Anwaltskanzlei gekündigt worden.«
»Was?«, entfuhr es Agnes, schnappte völlig überrumpelt nach Luft.
»Ich habe nichts erzählt, weil du schon genügend Sorgen hast. Natürlich haben sie eine Ersatzkraft für mich engagieren müssen, jetzt ist eigentlich kein Platz mehr für mich. Glücklicherweise hat man mir kürzlich die Stelle bei der Partnerkanzlei in London angeboten.«
»Glücklicherweise …« Agnes konnte sich nicht bewegen und starrte unablässig auf die drei Fältchen der Unterlippe. Sie bewegten sich wieder, formten Worte.
»Ich wollte schon lange hinüber. Allerdings war das, bevor ich dich kennenlernte. Jetzt kann ich mich natürlich nicht mehr richtig darüber freuen.«
Das waren Neuigkeiten – endlich hatte sie ihren Traummann gefunden, und er ging nach England?
»Was soll das?« Seine Miene verdüsterte sich bei ihrem Ausruf. Anscheinend verhielt sie sich genauso, wie er es erwartet hatte. Schuldbewusst biss sie die Zähne zusammen und verstummte.
»Ich habe mich umgehört, ob in einer anderen Kanzlei was frei ist, aber zurzeit sieht es nicht gut aus. Wenn ich meinen Job behalten will, muss ich nach London. Der Ausbildungskredit ist noch längst nicht abbezahlt.«
»Wie lange?«, fragte Agnes und versuchte, die aufkeimenden Verlustängste unter Kontrolle zu bekommen. Er warf einen flachen Donaukiesel über die Wasseroberfläche. Drei Mal päppelte er auf, ehe er endgültig unterging.
»Der Kredit?«
»London«, knurrte sie ungeduldig und hielt den Blick starr auf eine Gruppe Schwäne gerichtete, die von der anderen Seite auf das Ufer zu schwammen.
»Ein Jahr. Mindestens …«, er zögerte. »Eher zwei«, fügte er dann verhalten hinzu.
»Oh Gott«, stöhnte sie und schob sich sogleich die Hand vor den Mund. Sie wollte es ihm nicht verderben. War das das Ende ihrer Romanze? Die großartigen Gefühle nur eine Illusion? Verstand und kühles Überlegen waren gefragt. Sie musste ihn gehen lassen – genug, dass sie selbst keinen Job mehr hatte, denn bei BabyStar, dem Wiener Institut für künstliche Befruchtung und Forschung, hatte sie gleich nach dem Unglück gekündigt. Wie hätte sie Michelle Schoffs Gegenwart auch weiter ertragen können?
Die Schwäne drehten ab. Weiter oben warfen Kinder Brotkrumen ins Wasser. »Ich will nicht, dass du deine Arbeit wegen mir verlierst. Schon gar nicht, wenn du so gerne nach London willst. Also fährst du. Was ist schon ein Jahr?« An zwei Jahre konnte und wollte sie vorerst nicht denken. Immer einen Schritt nach dem anderen. »Wir haben es fast 30 Jahre ohne einander ausgehalten, da wird ein weiteres Jahr nicht so dramatisch sein.« Der Versuch, die Sache mit Humor zu nehmen, war ein kompletter Fehlschlag. Sieberts Miene blieb genauso düster wie sie sich fühlte. »Außerdem gibt es Billigflüge, da kann ich oft zu dir und du zu mir fliegen. Es wird irgendwie gehen«, versuchte Agnes Mut zu fassen. Sieberts gesunder Fuß scharrte im Kies.
»Hey, ich fahre nicht ohne dich. Das ist es mir nicht wert. Ich dachte, du kommst einfach mit … jetzt, wo du keinen Job hast, was hindert dich?« Agnes sah überrascht auf. Alles hinter sich lassen, die Morde, die Freunderlwirtschaft, den ganzen Wahnsinn, der sich hinter der spießigen Fassade der Normalität abspielte … aber wie sollte ein solches Unterfangen finanziert werden? Keinesfalls von Siebert. Eine Agnes Feder würde sich nicht von einem Mann aushalten lassen und Bezieherinnen von Arbeitslosenunterstützung durften nicht ins Ausland. Außerdem waren da noch ihr betagter Vater, das renovierungsbedürftige Haus am Riederberg und der riesige Garten zu versorgen.
»Es geht nicht. Wenn ich drüben keinen Job habe, dann kann ich nicht mit.«
»Dann suchen wir dir einen.«
»Das ist nicht einfach, das weißt du.«
»Wir sind EU-Bürger«, hielt er ihr entgegen. »Sonst irgendwelche Argumente, die dagegen sprechen?«
Agnes verdrehte die Augen. Als ob die Jobs in London nur auf Miss Agnes Feder warteten!
»Wann musst du im Londoner Büro anfangen?«
»Nächsten Monat.«
»WAS?«, schrie Agnes auf. Welche zynische Schicksalsmacht schenkte ihr den Seelenpartner, nur um ihn gleich im nächsten Augenblick aus ihrem Leben zu entfernen? Ihr Gesichtsausdruck verstärkte sichtlich Sieberts Gewissensbisse.
»Bitte sei nicht bös’ auf mich.« Seine Hände umfingen ihr Gesicht wie ein kostbares Gefäß. »Ehrlich, ich weiß es definitiv erst seit letzter Woche. Hab’ einfach nicht gewusst, wie ich es dir sagen soll.« Damit zog er sie an sich und presste seinen Körper gegen den ihren. Küsse drückten sich auf ihr Haar, bis Agnes über die Melodramatik der Situation lauthals lachen musste.
»Schluss! Du zerquetschst mich!«, protestierte sie, und seine Arme entspannten sich etwas. »Wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Ich glaube nun mal an die Vorsehung – jetzt hat sie Gelegenheit, sich zu beweisen. Wir finden einen Weg. Es ist nur …«, sie stockte, als sein Blick mit ihrem verschmolz und das Feuer in ihrem Bauch jede Zelle in flüssige Schokolade verwandelte. Wie sollte sie jemals wieder ohne diesen Gefühl auskommen können – wer konnte schon Schokolade widerstehen? Mit Sicherheit nicht Siebert – und sie selbst schon gar nicht.
Ich muss nach England, das wisst Ihr wohl?
(Hamlet, 3. Akt, Szene 4)
Die Birken trugen das frische Grün des Frühsommers. Ungestüm zappelten die Blätter im Wind, freuten sich wie Kinder über das unbeschwerte Leben. Der Himmel strahlte in seinem tiefsten Blau, und Bauschwolken zogen hoch über den Wipfeln der Fichten. Nahe der Birkengruppe stand ein Holzschuppen, verwittert und baufällig. Der Frost hatte die Teerpappe vom Dach gefressen, und eine Reparatur ließ sich wohl nicht länger aufschieben. Ein vor Jahren gefällter Baumstamm lag unweit der Tür und diente Agnes als Bank. Der Korb neben ihr war mit Holzscheiten gefüllt, die sie abends zum Feuermachen brauchte. Der diesjährige Frühling war zwar wundervoll warm und sonnig, doch hier am Berg, inmitten des Wienerwaldes, wurde es des Nachts ungemütlich feucht. Seufzend überblickte Agnes ihren Garten. Die alten Buchen berührten den Himmel, die Nussbaumblüten standen unauffällig von den Ästen ab. Selbst das alte Haus mit seiner einstmals weiß getünchten Holzveranda maßte sich Jugendlichkeit an. Mauerkatze, Schlingknöterich und das rosa blühende Goldgeißblatt, welches in die filigranen Holzverzierungen der verwitterten Veranda seine Triebe geschlungen hatte, bildeten eine üppig grüne Fassade und gaben dem Haus ihrer Mutter und Großmutter die einstige Leichtigkeit zurück.
»Hatschi!«, explodierte es förmlich aus Agnes, und das Zwitschern der Amseln verstummte. »Verdammter Schnupfen«, murrte sie und drückte die Nase ins Taschentuch. Die Augen waren verschwollen, die Nasenflügel vom oftmaligen Putzen rissig. Jedes Härchen auf ihrem Körper tat weh, als würden sie von einem Dämonenheer in sadistischer Langsamkeit einzeln aus der jeweiligen Pore herausgezogen. Vom Haus drang das Klappern von Geschirr herunter. Die gute Theres war nach wie vor in der Küche am Werken. Unwillkürlich musste Agnes lächeln. Ihre Schulfreundin war ihr so vertraut wie eine Schwester, die es sich nicht hatte nehmen lassen, mit frischen Lebensmitteln samt einem Genesungsessen zu ihr zu kommen. Thereses Gestalt erschien auf der Veranda. Der Wind erfasste den blonden Pagenkopf und zerzauste die ordentliche Frisur. Kaum hatte sie Agnes entdeckt, fuhr ihre Hand winkend in die Höhe.
»Ich gehe dann!«, rief sie.
Agnes spürte einen frostigen Schauer über den Rücken rieseln. Der Tag war viel zu schnell vergangen – Theres würde gehen, Platz machen für Siebert, der sich verabschieden kam … Entschlossen umklammerte Agnes den Griff des Korbs und stapfte den Hang Richtung Haus hinauf. Es nutzte nichts, diesen Nachmittag musste sie überstehen. Irgendwie ging es doch immer weiter.
»Nessi, ich hab dir die Suppe und das Hühnchen in den Kühlschrank gestellt. Für morgen bist du versorgt«, empfing Theres sie auf der Terrasse. »Iss was, verstanden? Du bist mager wie eine streunende Katze!«
»Du musst los?«, fragte Agnes, obwohl sie die Antwort kannte. Ein Motorengeräusch ließ sie zusammenzucken. Auch Theres hatte es gehört und deutete mit dem Kopf zum Gartentor.
»Er ist da«, stellte sie fest und umarmte Agnes, als wollte sie ihr damit Kraft spenden. »Du schaffst das schon.«
»Was sonst«, seufzte Agnes und machte sich frei. Mitgefühl machte die Angelegenheit nur schlimmer. »Danke für das Essen und deine Gesellschaft – du bist die Beste.«
»Wir hören uns morgen, ja?« Theres zwinkerte ihr aufmunternd zu und wandte sich zum Gehen. Siebert kam den Gartenweg entlang, einen Strauß Rosen in Händen. »Hallo, Siebert!«, rief sie ihm zu, »viel Spaß, ihr beiden!«
Agnes sah ihre Freundin hinter Siebert verschwinden – ihrem großen, breitschultrigen Freund, der sich für zwei Jahre nach London verabschiedete.
»Hey, du«, grüßte er vorsichtig.
»Keine Sorge, ich heule nicht – meine Augen sind vom Schnupfen verschwollen«, versuchte Agnes, die Situation aufzulockern – und scheiterte kläglich. Linkisch hielt Siebert ihr die Rosen entgegen.
»Für dich.«
»Lass uns reingehen«, erwiderte Agnes mit einem Stoßseufzer, der alle Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit aus ihrem Körper vertreiben sollte. Doch dafür hätte sie stundenlang durchgehend seufzen müssen. Stattdessen vergrub sie die Nase in den Rosen und verzog keine Miene, als sich ein Dorn in ihren Daumen bohrte. Ein Blutstropfen wölbte sich über der Einstichstelle. Sieberts Hand auf ihrer Hüfte schob sie über die Türschwelle.
»Hier ist meine Adresse in London, ich wohne fürs Erste in einem Hotel.« Siebert legte einen Zettel auf die Kommode und beobachtete Agnes, wie sie Rose für Rose in eine Vase steckte.
»Was hängt denn hier alles rum?«, ließ er seinen Blick durch die Küche schweifen. Vor den Fenstern zur Veranda hingen büschelweise Kräuter an Haken und hatten die Gardinen verdrängt, ja selbst an den Schränken waren Kräuter zum Trocknen befestigt.
»Brennnessel, Gundelrebe, Schlüsselblume …«, zählte Agnes auf, »… was halt so anfällt im Frühling.«
»Und das trinkst du alles als Tee?«
»Ich mache auch Kräuterauszüge, Tinkturen oder koche damit«, antwortete Agnes, ohne ihre Rosen aus den Augen zu lassen. »Brennnesselsuppe, sehr lecker.«
»Klar«, kam es wenig überzeugt von ihm. Als Agnes den prächtigen Strauß am Küchentisch platzierte, schien Siebert Mut zu fassen.
»Ich werde nicht über Nacht bleiben, mein Flug geht morgen um sieben.« Agnes ließ sich auf die Bank sinken.
»Gut. Nicht, dass du dir meinen Schnupfen einfängst«, tat sie leichthin und fühlte sich elend. Alle Energie war aufgebraucht, die Arme und Beine verweigerten jeglichen Dienst, vielleicht auch, weil sich ihr Herz wie ein kleiner Hamster in den letzten Winkel verzog, anstatt munter seiner Arbeit im Laufrad nachzukommen. Unwillkürlich presste sie ihre Hand gegen die Brust und schloss die Augen.
»Ich habe für dich einen Flug gefunden, der nur 99 Euro kostet. In drei Wochen schon«, fuhr Siebert fort, die Stimme schuldbewusst, die Unterlippe trotzig vorgeschoben. Agnes musste einfach lächeln, kaum dass sie die Augen zu ihm hob. Wie sehr würde sie diesen energischen Mund vermissen, die drei Fältchen mittig der Unterlippe, das Grübchen am Kinn, die laubfarbene Iris seiner Augen. Braun, Gold, Grün. Sie musste diese Augen unbedingt malen, für sich auf Leinwand bannen, damit sie nie verloren gingen.
»Darf ich ein Foto machen, zum Abschied?«, platzte sie mit ihrem Gedanken heraus. »Eine Nahaufnahme von deinen Augen.«
»Zuerst kommst du mal in meine Arme, wo du hingehörst, Nessi.« Damit zog er sie auf seinen Schoß und hielt sie einfach nur fest. »Ich vermisse dich jetzt schon.« Doch mit der Berührung strömten seine Aufregung, Vorfreude und Begeisterung zu ihr, erfüllten sie auf traurige Weise, selbst wenn sie die Aufbruchstimmung nur zu gut verstehen konnte. Dezent entzog sie sich dem Hautkontakt.
»Ich will dich nicht anstecken.«
»Keine Sorge, mich kann nichts aufhalten«, grinste er sie an, und Agnes wusste, dass das stimmte. Dieser dynamische Anwalt startete voll durch und begann ab morgen seine internationale Karriere.
*
Wasser plätscherte in die Wanne, was in der Stille des Hauses einem dröhnenden Wasserfall gleichkam. Es war kein Licht im Bad aufgedreht, nur einige Kerzenstumpen um die Wanne herum erhellten den Raum. Agnes hatte sich ihrer Kleidung entledigt und einen Bademantel übergezogen, war zurück in die Küche gegangen und hatte heißes Wasser über die Thymianblätter gegossen, die in einem Stoffsäckchen in der Teekanne hingen.
»Bäh! Thymian«, maulte sie vor sich hin. An diesem Abend gab es wohl keine Frau im Land, die schlechtere Laune hatte. Siebert war vor ein paar Minuten erst gegangen. Hatte sich ihr kaum genähert, aus Rücksicht auf ihre Erkältung.
»So verdammt anständig, dieser Mann«, murrte sie. »Gott, wie ich meine Rotznase hasse!« Sie warf den Topflappen in die Ecke. Für Wochen getrennt und nicht mal Abschiedssex – schlimmer ging’s nicht. Die Sehnsucht quetschte das Herz jetzt schon zu Brei. Das Atmen fiel ihr schwer, nicht nur weil die Nase komplett verstopft war. Ein tonnenschwerer Stein lag ihr auf der Brust. Irgendwie musste sie aus dieser Stimmung herauskommen. »Ich brauche etwas Stimmungshebendes – Melisse vielleicht?«, setzte sie ihr Selbstgespräch fort.
In dem Fundus von ätherischen Ölen fand sich rasch das gesuchte Fläschchen, und das unterste Regal barg sogar noch ein Säckchen Salz vom Toten Meer, welches sie ebenfalls herausholte. Etwas zufriedener ob des unerwarteten Fundes goss sie einiges von dem Salz in eine Porzellanschale und tropfte Melissenöl dazu. Der an Zitronen erinnernde Duft schaffte es tatsächlich durch die angeschwollenen Nasenschleimhäute und ließ sie ein klein wenig die Mundwinkel anheben. Der darauffolgende Seufzer löste ein paar Spannungen in der Brust, wenngleich sich Tränen in den Augenwinkeln sammelten, als wäre Lächeln schmerzhaft.
»Weinen verboten«, entschied sie, weil heulen half gar nichts. »Krankheit und Trauer sind Energieräuber – zum Teufel mit ihnen. Ich brauche eine Perspektive, irgendetwas, worauf ich mich freuen kann.« Aber es fiel ihr nichts ein. So rührte sie die Salzkristalle mit dem eigens dafür geschnittenen Haselstäbchen, vermengte Salz mit Öl, das Harte mit dem Weichen, tauchte ein ins Rascheln der Kristalle.
Irgendwann fiel der Blick auf die Teekanne, in der die Thymianblätter ihre Wirkstoffe freigaben. Intensiver Krautgeruch breitete sich mit dem Anheben des Deckels aus und mit ihm die Erinnerung an die Mutter, ihre Fürsorge für die kleine Agnes, damals, als alles noch heil war.
In der einen Hand die Porzellanschale und in der anderen die Teekanne brachte Agnes die Badeingredienzien zur Wanne, die randvoll war. Erste Pfützen bildeten sich auf dem Fliesenboden. »Chaosfrau!«, schimpfte sie, stellte die Schale ab, drehte die Hähne zu, zog den Stöpsel heraus und ließ ein paar Liter Wasser aus. Nebenher warf sie ein Handtuch auf die Lachen am Boden. »Alles unter Kontrolle.« Kaum war der Abfluss wieder verschlossen, ließ Agnes den Tee ins Badewasser fließen; beobachtete, wie sich gelbe Schwaden ausbreiteten, und sog den intensiven Kräutergeruch ein.
So wirst du ganz schnell wieder gesund, hörte sie ihre Mutter sagen, sah deren Gesicht auf der gekräuselten Wasseroberfläche. Mit lockerer Hand streute sie Meeressalz darüber und rührte durch das sonnengelbe Nass; noch fühlte sie die Kristalle zwischen den Fingern, die rasch dahinschmolzen. Der Duft der Melisse schenkte dem des Thymians eine neue, leichtere Note. Unbemerkt hatte sich mit der Bereitung des Badewassers ihre Stimmung gewandelt. Der Trennungsschmerz stand nicht länger im Vordergrund ihres Denkens. Etwas, das sich wie Müdigkeit anfühlte, machte sich breit: ein übermächtiges Bedürfnis nach Ruhe. Sie zog den Bademantel aus und stieg in die Wanne, die sie muschelgleich aufnahm. Irgendwie würde es weitergehen… Was einem bestimmt ist, bleibt nie aus, flüsterte die Mutter in ihr Ohr und Agnes nickte mit geschlossenen Augen.
Die Schuld derart erfüllt von blindem Argwohn steht,
dass, den Verrat befürchtend,
sie sich selbst verrät.
(Hamlet, 4. Akt, Szene 5)
Am Türschild stand in dicken Lettern: Dr. Wolfgang Brum. Agnes zögerte, ihre Fingerknöchel gegen die Holzfurniertür zu schlagen. Jetzt war sie froh über ihren Entschluss, vor diesem Termin noch bei Schönbichler in der Wollzeile vorbeigeschaut zu haben, wo die Betreiberin dieses altehrwürdigen Teegeschäftes sie mit einer Teeverkostung und mehreren Probepäckchen verwöhnt hatte. Beim Gedanken an das Beisammensein mit dieser geradezu verwandten Teefreundin gelang es Agnes zu lächeln und die aufsteigende Abscheu flaute ab. Es war einige Wochen her, seit sie das letzte Mal bei in der Wiener City gewesen war, und dieser Tag barg keinerlei angenehme Erinnerung.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!