Dich wollte ich eigentlich nie wieder küssen - Lotte Römer - E-Book

Dich wollte ich eigentlich nie wieder küssen E-Book

Lotte Römer

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Beschreibung

Eine Reise ans türkisblaue Mittelmeer: Der neue Liebesroman von Bildbestseller-Autorin Lotte Römer! „Es ist, als würde zwischen uns Strom fließen, wenn wir einander ansehen. Das war früher schon so und es hat sich kein Stück verändert.“ Yunas Reise nach Dalmatien vor fünfzehn Jahren hatte schwerwiegende Folgen, denn dort, in einem kleinen, idyllischen Häuschen direkt am Meer, hat sie ihr Herz verloren. Kein Mann konnte sie danach so berühren wie Milan es getan hat. Jetzt, mit vierzig Jahren, muss Yuna sich der unangenehmen Realität stellen, dass ihr Wunsch nach einer Familie sich nicht erfüllt hat. Gegen ihre Traurigkeit fühlt sie sich völlig machtlos. Auch ihre Arbeit als Autorin liegt brach und sie hat keine Ahnung, wie ihr Leben weitergehen soll. Doch dann öffnet sie ihren Briefkasten und findet völlig unerwartet eine Postkarte von Milan darin vor. Was nun? Soll sie wirklich nach Dalmatien zurückreisen, wo sie so glücklich und zugleich so traurig gewesen war, wie nie wieder in ihrem Leben? Yuna entschließt sich, an den Ort zurückzukehren, wo die Geschichte mit Milan einst begann. Zu Yunas Überraschung lebt er noch immer in dem Haus, wo alles seinen Anfang nahm. Aber er ist nicht mehr der Mann, der er einst war …

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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DICH WOLLTE ICH EIGENTLICH NIE WIEDER KÜSSEN

LOTTE RÖMER

IMPRESSUM

Verantwortlich für die Inhalte ist die Autorin

Coverdesign Rauschgold.de

Verwendetes Bildmaterial:

shutterstock_2362006443

Depositphotos_395801494

Copyright Text: @ Lotte Römer 2024

Alle Rechte vorbehalten

Kontakt:

Lotte Römer / Edith Senkel

Lärchenstr. 15

83233 Bernau

[email protected]

Instagram: https://www.instagram.com/autorin_lotte_roemer/

INHALT

1. Ein letztes Mal

2. Überraschung

3. Schreibblockade

4. Irritiert?

5. Milan war verschwunden

6. Als Wut maskiert Traurigkeit

7. Ich bin Yuna. Mit Y.

8. Ein leerer Fleck

9. Sport ist nicht alles

10. Ich fühl mich nicht wohl

11. Ich versuche, dir nicht wehzutun

12. Ich kann das so nicht mehr

13. Gibt es einen Mann in deinem Leben?

14. Wie sie getanzt hatten!

15. Meine Schreibblockade ist vorbei!

16. Und dann?

17. Durch einen Traum laufen

18. Leonie

19. Hey, schöner Mann

20. Ich vermisse dich

21. Ich will keine Enttäuschung sein

22. Ein Sorgenfresserchen

23. Verzeih mir

24. Epilog - Das Lösungswort

1

EIN LETZTES MAL

Vergangenheit

Ein letztes Mal.

Yuna lag auf dem Rücken und schaute in Milans braune Augen - Bernstein, Sonnenflecken, Karamell. Er erwiderte ihren Blick mit dieser Intensität, die Yuna das Gefühl gab, dass zwischen ihnen beiden Strom durch eine unsichtbare Leitung floss. Diese Verbindung war noch immer da, dachte sie wehmütig, auch wenn sie beide sich in den letzten Tagen innerlich voneinander entfernt hatten, war sie noch greifbar.

Immer, wenn Milan ihr auf diese Weise in die Seele blickte, fühlte sie Hunger. Hunger nach Milan, Hunger nach der Art, wie er sie berührte, wie kein zweiter Mann es je getan hatte, Hunger danach, einfach bei ihm zu sein, so nah, wie es eben ging.

Strähnen schwarzen Haares fielen ihm in die Stirn vor das linke Auge, und Yuna hob ganz automatisch die Hand, um sie ihm zurückzustreichen, damit der Strom weiter fließen konnte. Nichts durfte ihn unterbrechen, nichts ihr diesen Moment rauben. Ihre Hände berührten einander, denn auch er wollte sich die Haare zur Seite schieben.

Ein letztes Mal.

Yuna spürte, wie Tränen hinter ihren Augen brannten, wusste, gleich würden sie ihre Augenwinkel füllen und wie kleine Bäche hinunter zu ihrem Haaransatz laufen, seitlich an den Schläfen entlang. Aber jetzt brannten nur die Augen, als Milan begann, sie zu streicheln und Yuna sah ihn einfach nur an, um sein Gesicht niemals zu vergessen.

Er streichelte erst Yunas Wange, dann den Hals hinunter bis zu ihrem Schlüsselbein, ohne ihren Blick auch nur eine Sekunde loszulassen, als würde er sie zum ersten Mal überhaupt sehen. Ganz erstaunt sah er aus - oder vielleicht auch fassungslos? Dabei war er es gewesen, der ihr gesagt hatte, dass er nicht der Richtige für sie war und er hatte absolut recht damit.

„Ein letztes Mal“, flüsterte er, ohne die Lippen zu bewegen. Er biss sich auf die Unterlippe, ein wenig Blut trat hervor, ein winziges Tröpfchen nur, das Milan geschwind mit der Zungenspitze wegleckte.

Das hier tat weh, es tat auch ihm weh, schoss es Yuna durch den Kopf. Warum nur tröstete sie dieser Gedanke? Es war doch völlig egal, ob auch ihn das Ende schmerzte! Aber irgendwie steckte trotzdem ein wenig Trost in dem Gedanken, diesen Abschiedsschmerz gemeinsam zu tragen.

Milans Hand umfasste jetzt ihre Brust, ganz zart, ganz zart nur. Wie automatisch schlossen sich Yunas Augen. So konnte Yuna seine Berührungen noch deutlicher spüren, wollte das Gefühl in sich einbrennen, um es niemals zu vergessen.

Ihre Hände wanderten hinauf zu seinem Hals und zogen ihn zu sich heran. Sie schloss die Arme um Milan, strich seine Wirbelsäule hinunter. Da war das Muttermal auf seiner Schulter, ein Stück weiter links die Stelle, an der ein anderes herausgeschnitten worden war, die Naht eine kleine Narbe hinterlassen hatte, die runden Schulterblätter, die Taille, die ein scharfes V mit dem Rücken bildete. Milans Haut war wie eine Landkarte, auf der Yuna jede Straße kannte, jede Abzweigung.

„Ein letztes Mal“, flüsterte jetzt Yuna, bestätigte ihn, als müsse sie die Worte auch von sich selbst laut hören, damit sie die furchtbare Wahrheit zu fassen kriegte.

Als sein Körper sich vorsichtig auf sie schob, mit der ihm eigenen Sanftheit ihr Einverständnis einholen wollte, Yunas Blick zur Bestätigung erneut suchte, schlang sie sofort ihre Beine fest um Milans Po.

Dieser Hunger! Sie hatte solchen Hunger und sie wusste, sie würde nicht satt werden, sie würde vielleicht für immer hungrig sein, und da spürte sie, wie die Tränen sich in ihrem Haaransatz verloren. Längst hatte sie ihr Gesicht an Milans Hals vergraben. Er roch nach Pinien und Meer - wie ein Sommermorgen, hatte sie gesagt und Milan hatte gelacht, vor einer gefühlten Ewigkeit war das gewesen, am Anfang dieses anderen Lebens, das heute endete.

Ein letztes Mal. Die Worte blitzten in ihrem Kopf auf wie eine Leuchtreklame, in riesigen, grellen Buchstaben, ein letztes Mal, ein allerletztes Mal.

Sie sog den Duft von Milans Haut ein, als könne sie den Duft auf diese Weise konservieren, als könne es ihr gelingen, nie wieder auszuatmen.

Aber Yuna wollte zugleich auch Milan küssen. Verzweifelt stieß sie den Atem aus, ein kleines Stöhnen entrang sich ihr, keines der Lust, nein, Verlust war es, was sie spürte. Yuna löste sich ein kleines Stück, suchte mit ihren Lippen nach den seinen. Sie wollte Milan schmecken, Pfefferminz und Zigaretten.

Dann spürte sie Milan in sich und die Welt verschwand zum allerletzten Mal, bevor sich ihre Wege für immer trennen würden.

2

ÜBERRASCHUNG

Gegenwart

„Überraschung!“, schrie es Yuna entgegen. Ihr gesamter Freundeskreis hatte sich vor ihrer Wohnungstür versammelt, da waren Kim und Mario, das glückliche Paar mit den vier Kindern. Da war Sandra, die sich letztes Jahr von ihrer Partnerin Marina getrennt hatte, die jeder im Freundeskreis geliebt hatte - die aber Sandra nicht mehr geliebt hatte. Sandra kaute noch immer sehr an der Trennung und kam erst langsam wieder aus ihrem Schneckenhaus. Deshalb war es noch besonderer, dass sie auch da war.

Da waren Thomas und Silke, deren Sohn bereits erwachsen war, weil sie ihn sehr jung bekommen hatten, sowie Lisbeth, Beate und Antonia, mit denen Yuna gemeinsam eine Yoga-Klasse besuchte, und das bereits seit vielen Jahren. So waren aus Sportpartnerinnen Freundinnen geworden, die sich wöchentlich trafen.

Am lautesten von allen schrie aber selbstredend Justine - natürlich! Yuna musste wider Willen grinsen. Das war mal wieder typisch für ihre Schwester, die jetzt in eine dieser Party-Tröten pustete, die mit ihrem schrägen Ton Tote wecken konnten.

Die kleine Gruppe stand gemeinsam vor ihrer Wohnungstür und Justine streckte Yuna mit ihrer freien Hand eine riesige Champagnerflasche entgegen.

Mario, der Italiener war und, wie er sagte, bekannt für die beste Pizza in ganz Südbayern, hielt einen riesigen Stapel Pizzakartons in den Händen, der ihm bis unters Kinn reichte. Es duftete herrlich.

Justine strahlte über das ganze Gesicht, als hätte sie selbst Geburtstag, so sehr freute sie sich über die gelungene Überraschung zum Geburtstag ihrer Schwester.

„Jetzt schau mal nicht so erschrocken drein und lass uns in dein Wohnzimmer!“ Ihre Schwester lachte Yuna an, reichte den Schampus an Sandra weiter und breitete die Arme aus. „Und überhaupt: Komm her, Schwesterherz, lass dich drücken!“

Schicksalsergeben ließ Yuna sich von Justine umarmen und sich einen Kuss auf die Wange drücken, obwohl sie eigentlich kein Bisschen in Partylaune war. Danach küsste Justine sie gleich noch zwei weitere Male.

„Von Mama und Papa“, sagte sie dazu. Ihre Eltern befanden sich aktuell auf einer Florida-Rundreise, um herauszufinden, ob sie dort einen Altersruhesitz kaufen wollten.

„Herzlichen Glückwunsch zum vierzigsten Geburtstag, meine Liebe!“, rief jetzt Sandra, und wie auf Kommando begannen alle, Happy Birthday zu singen. Thomas brummelte seinen tiefen Bass dazu und für den Moment fühlte Yuna sich wohl, umgeben von so vielen Freunden. Immerhin war sie nicht ganz alleine.

Dabei hatte sich der ganze Tag angefühlt, als würde die Zahl Vierzig bedrohlich über Yunas Kopf schweben und sie auslachen. Die Hälfte ihres Lebens war vorbei. Das hier war ein Einschnitt, der klare Beweis dafür, dass Yunas Lebenszeit unerbittlich fortschritt.

„Endlich bist du eine von uns“, rief Sandra und fiel Yuna lachend um den Hals. Die große Flasche Schampus hielt Sandra dabei noch immer in der Hand. Er fiel fast runter, aber Lisbeth war mit einem kleinen Satz nach vorne zur Rettung des prickelnden Getränks zur Stelle.

Sie trug eine ihrer Sportleggins und sah aus, als wäre sie auf dem Weg zum Gym oder käme geradewegs von dort - wie immer. Yuna hatte Lisbeth stets um ihre perfekte Figur beneidet, obwohl die noch mal gut fünf Jahre älter als sie selbst war.

„Kommt alle rein“, sagte sie und ein bisschen freute sie sich jetzt doch über den spontanen Überfall, der sie zunächst ein wenig überfordert hatte. Dabei hatte sie sich schon gewundert, dass sie den ganzen Tag über nur von Luca, ihrem alten Studienfreund, etwas hörte. Der lebte in Freiburg, also so weit weg, dass er sie nicht mal eben schnell besuchen konnte.

Außerdem hatte ihr Justines Mann Ludger geschrieben, der als Pilot an diesem Tag in New York gelandet war und daher nicht persönlich gratulieren konnte, wie er schrieb.

Als alle in der Wohnung waren, feierten sie so locker und unbeschwert, wie man eben unter alten Freunden feierte. Auch die drei Yoga-Freundinnen waren schon bei Yunas dreißigstem Geburtstag, einer großen Party in einem örtlichen Gasthaus mit herrlichem Gastgarten, dabei gewesen. Alle kannten einander, was für eine angenehm unbeschwerte Stimmung sorgte.

Yuna aß viel zu wenig Pizza, trank viel zu viel Sekt und als Silke und Thomas eine Karaokemaschine hereinholten, wurde der Abend schnell noch fröhlicher. Die Maschine spielte die Musik laut, so laut, dass Irmgard, die Nachbarin von Yuna, irgendwann auch noch vor der Tür stand, um nach dem rechten zu sehen, wie sie sagte.

Yuna allerdings vermutete eher, dass Irmgard sich alleine fürchterlich gelangweilt hatte. Die Nachbarin war seit dem Tod ihres Mannes alleinlebend und wie Yuna mitbekam, hatte sie viel zu selten Besuch. Kurzerhand ernannte Yuna sie also zum Ehrengast ihrer Party und zog sie in ihre Wohnung. Wie sich herausstellte, sang sie eine für eine siebenundsiebzigjährige Frau erstaunliche Version von Nothing else matters, die alle Geburtstagsgäste laut jubeln ließ, so dass Irmgard wie ein junges Mädchen errötete.

Es wurde ein rundum gelungener Abend, den sie niemals hätte missen wollen, rückwirkend betrachtet. Es war ein Abend wie ein Rausch gewesen, mit dem sie noch dazu nicht gerechnet hatte. Aber die Gäste waren alt, wie Mario beim Abschied scherzte und kurz nach Mitternacht waren alle außer Justine gegangen und hinterließen ein Chaos aus Gläsern, Tellern und leeren Chipstüten, das ihre Schwester anfing zu beseitigen, sobald auch Irmgard sich wortreich verabschiedet hatte.

Yuna ließ sich müde aufs Sofa fallen und landete prompt mit dem Hintern auf einer ungeöffneten Packung Schokoladenkekse. Sie zog sie hervor und warf sie auf den Couchtisch. Mit einem Mal war es ganz still und die aufgeheizte Stimmung löste sich in nichts auf. Justine hatte schon einen Teil des Geschirrs in die Küche gebracht und kam jetzt zurück. Sie ließ sich neben ihrer Schwester aufs Sofa fallen und goss sich den letzten Rest Schampus in eines der herumstehenden Gläser ein.

In Yunas Ohren rauschte es leise - eine Nebenwirkung der Musik. Ein wenig fühlte es sich an, als würde Yuna wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Sie war so müde, dass sie das Gefühl hatte, ihre Knochen bestünden aus Blei.

Jetzt war sie also vierzig. Es kam ihr wie ein Meilenstein vor, aber keiner, den sie sich herbeigesehnt hatte, sondern vielmehr eine unvermeidbare Markierung auf ihrer Lebensstrecke.

Seit Tagen beschäftigte sie dieser dämliche Geburtstag, nahm viel zu viel Raum ein und verhinderte, dass sie auch nur ein einziges Wort zu Papier brachte.

Vierzig. Halbzeit. An diesem Gedanken hatte sie schon am Vormittag genagt, bereits seit Tagen hatte ihr vor diesem Geburtstag gegraut, der jetzt, drei Minuten nach Mitternacht, vorbei war.

Und doch hatte sich alles verändert. Jetzt, wusste sie, würde sie nicht mehr Mutter werden, ihr größter Lebenstraum würde sich nicht erfüllen. Den ganzen Tag schon hatte sie in dem Bewusstsein gelebt, dass sie am Leben gescheitert war.

„Alles gut, große Schwester?“ Justine legte ihrer Schwester den Arm um die Schulter und küsste sie feucht auf die Wange. Ihr dunkles Haar tanzte wie elektrisiert um ihr Gesicht herum, als würde die Karaokemaschine noch immer laufen.

Yuna strich sich ihre glatten Haare mit den mittlerweile gefärbten Strähnen aus der Stirn. „Ich bin einfach nur müde.“

Aber so leicht ließ Justine sich nicht abspeisen. Sie kannten einander, waren seit vielen Jahren nicht mehr nur Schwestern, sondern Freundinnen.

Justine war eine Person, die Sonne im Herzen trug, immer ein Lächeln auf den Lippen hatte und die mit ihrer emphatischen Art alle Menschen für sich gewann. Allerdings war sie auch erschreckend hartnäckig.

„Erzähl’s der Justine“, forderte Justine Yuna jetzt auch auf und verwendete damit einen geflügelten Ausdruck aus ihrer Kindheit. Damals war es andersrum gewesen und Yuna als die große, ältere Schwester hatte, wenn Justine weinte, auf diese Weise nach dem Grund gefragt.

Vielleicht war es die Vertrautheit, die die Redewendung schuf, vielleicht der ungewohnte Alkohol, der Yunas Zunge lockerte und sie verraten ließ, was sie schon so lange, ja, jahrelang, beschäftigte.

„Ach, irgendwie schaue ich auf die letzten Jahre zurück und das macht mich melancholisch.“

Justine sagte nichts. Sie hatte schon immer gewusst, wann Schweigen die bessere Wahl war.

„Ich hab irgendwie das Gefühl, um mein Leben betrogen worden zu sein. Oder vielleicht habe ich mich auch selbst darum betrogen.“

„Wie bitte?“

„Ach, lass gut sein.“ Ein wenig schämte sich Yuna für die Gefühle, die sie seit Jahren umtrieben, genau genommen besonders in den letzten fünf Jahren, als es langsam ernst geworden war und die sprichwörtliche biologische Uhr immer lauter zu ticken begonnen hatte.

„Yuna. Mit mir kannst du doch reden. Wenn nicht mit mir, mit wem denn dann?“

Yuna seufzte. Warum sollte sie es eigentlich nicht laut sagen? Sie schleppte ihre Bürde schon so lange mit sich herum und jetzt gerade war sie angetrunken genug, um frei zu sprechen. „Ich hätte mir einfach so sehr eine Familie gewünscht. Weißt du, ich dachte immer, dass ich irgendwann nicht mehr allein bin. Ich dachte, ich würde mal ein Kind haben. Irgendwie war ich mir ganz sicher, dass ich nicht mein Leben lang allein sein würde.“

„Aber du hast doch mich! Du bist doch nicht allein!“, protestierte Justine. Sie beugte sich vor, griff nach der Kekspackung, die auf dem Tisch lag, und riss sie auf. Dann reichte sie sie Yuna, die gedankenverloren zugriff.

„Das ist was andres. Du hast auch noch deinen Ludger.“

„Na ja, aber …“

Yuna schüttelte den Kopf. „Nichts Aber. Wann habt ihr geheiratet? Vor einem Jahr? Ich bin sicher, dass der Nachwuchs bei euch quasi schon auf dem Weg ist.“

Tatsächlich wurde Justine rot.

„Siehst du!“ Yuna konnte nicht vermeiden, dass in ihrer Stimme ein Vorwurf lag. Gleichermaßen schnell wie schuldbewusst biss sie in den Keks in ihrer Hand. Sie wollte ja, dass Justine glücklich war.

„Aber du gehörst doch zur Familie“, wandte Justine ein. „Du wirst dann die Patentante, die meine Kinder so furchtbar verwöhnt, dass wir uns ganz schrecklich deswegen streiten.“

Erneut schüttelte Yuna den Kopf. Sie versuchte, den süßen Speisebrei in ihrem Mund zu schlucken, verschluckte sich und hustete. Justine klopfte ihr auf den Rücken.

„Geht’s?“

Yuna nickte. „Aber weißt du, deine Familie ist eben deine Familie, nicht meine. Dabei ist es ganz egal, wie sehr ich Tante werde. Ich hatte mir das immer gewünscht: Einen Mann, ein oder zwei Kinder, ein geborgenes Leben. Stattdessen verkomme ich hier drin zu einer einsamen Frau mittleren Alters, die den ganzen Tag am Computer sitzt.“

„Das klingt fürchterlich verbittert und ehrlich gesagt tatsächlich ein wenig nach einer Midlife-Krise.“

„Ach was“, gab Yuna zurück. Sie legte den Keks zurück in die Schachtel, angebissen, wie er war.

„So schlimm?“ Plötzlich stand Sorge in Justines Gesicht geschrieben.

„Na ja. Ich weiß schon, dass es mir objektiv gut geht, aber ich merke halt auch oft, wie einsam ich bin.“ Yunas Magen krampfte sich für einen Moment zusammen. Ihr Herz schlug viel zu schnell.

„Ach, Yuna.“ In Justines Stimme lag Mitleid, und auch das konnte Yuna nur schwer aushalten.

„Keine Ahnung, vielleicht übertreibe ich ja auch. Ich weiß nur, dass ich das Gefühl habe, die letzten Jahre sind einfach an mir vorbeigezogen.“ Yuna schaute sich um. Weiße, moderne Möbel, klare Linien, wenig Schnickschnack. Sie war niemand, der Souvenirs sammelte. An den Wänden hingen Bilder in hellen, mediterranen Tönen. Es gab eine Fotowand gegenüber, von der ihr ihre Freunde entgegenlachten. Yuna hatte damit bleibenden, schönen Erinnerungen Raum geben wollen, aber in diesem Moment kam es ihr vor, als würden alle Freunde, inklusive der frisch getrennten Sandra, ein erfolgreicheres Leben führen als sie selbst.

Justine strahlte ihr von ihrem Hochzeitsfoto entgegen. Sie hatte ein Festtagsdirndl angehabt und ihr Glück stand in ihren Augen geschrieben, während Ludgers Blick stolz auf seiner frischgebackenen Ehefrau ruhte.

Da war ebenfalls ein Bild von Kim und Mario. Sie hielt die neugeborene Giovanna, die mittlerweile auch schon vier Jahre alt war, im Arm. Mario hatte den Arm um Kim gelegt, ganz stolzer Vater. Yuna war nicht bei der Taufe gewesen, angeblich wegen Migräne, aber eigentlich, weil sie es nicht ertrug, so viel von dem Glück bei anderen zu sehen, während es ihr selbst ganz und gar verwehrt geblieben war. Auch wenn sie den beiden ihr Glück natürlich gönnte, sah Yuna mit zunehmendem Alter immer mehr, dass ihre Träume sich nicht erfüllt hatten. Sie war allein geblieben, ohne feste Beziehung. Und damit war klar, dass sie auch kinderlos blieb, obwohl ihre sprichwörtliche biologische Uhr nicht nur tickte, sondern regelrecht Alarm schlug.

„Versteh mich nicht falsch. Ich freu mich drauf, wenn ich Tante werde. Es ist nur nicht mein Lebenstraum gewesen, Tante zu werden, sondern deine und meine Kinder gemeinsam spielen zu sehen, einen Mann zu haben, der mich abends, wenn ich heimkomme, in den Arm nimmt und … stattdessen bin ich eine einsame Schriftstellerin und habe nicht mal eine Katze.“

„Weil du allergisch auf Katzenhaare reagierst“, erinnerte sie Justine.

„Zugegeben. Ich will nur sagen, dass mein Leben sich ganz anders entwickelt hat, als ich es mir erhofft habe.“

„Dafür bist du aber beruflich erfolgreich.“

„Ja. Weil ich sonst nichts habe.“ Yuna wusste, dass das nicht stimmte. Sie liebte ihren Beruf. Aber trotzdem spürte sie gerade eine tiefe Verzweiflung. Da half ihr auch nicht, dass sie sich ihren Traum vom Schreiben verwirklicht hatte und heute von ihren Büchern leben konnte. Sie hätte ihre Arbeit als Autorin sicher nicht für eine Familie aufgegeben, aber dass das Schreiben ihr Hauptaugenmerk im Leben war, entsprach eben nicht Yunas Vorstellung von Glück.

„Das wusste ich nicht.“ Justine griff nach ihrer Hand. Sie flüsterte fast.

„Ich habe jetzt auch ein wenig übertrieben, was die Schreiberei angeht“, räumte Yuna ein. „Außerdem rede ich sonst nicht gern über mein Alleinsein, keine Ahnung, warum ich jetzt damit anfange. Vielleicht löst da der Alkohol meine Zunge. Ich meine, es ändert ja nichts an meinem Leben, wenn ich dir Sorgen bereite.“

„Von wegen! Vielleicht ändert es eben doch was.“ Justines hellgrüne Augen blitzten. Sie sah aus, als ob sie etwas im Schilde führen würde.

Yuna stand auf. „Lass du mal. Ich bin nicht so bedürftig, wie ich gerade aussehe. Morgen ist alles wieder gut.“ Sie log. Und sie wusste es. „Na komm, lass uns mal noch ein wenig aufräumen und dann gehen wir schlafen, hm?“

Sie griff sich ein paar Sektkelche und war auch schon auf dem Weg in Richtung Küche. Mechanisch öffnete sie die Klappe der Geschirrspülmaschine und räumte die Gläser ein. Dann griff sie nach einem Spüllappen, wusch ihn aus und machte sich auf den Weg zurück ins Wohnzimmer. Der Esstisch konnte eine gründliche Reinigung vertragen, bevor sich die Abdrücke der Gläser als runde Male im Holz verewigten. Da war sie spießig.

Mechanisch führte sie die Bewegung aus, ging ins Wohnzimmer und begann, gleichmäßig den Tisch zu wischen.

Eins hatte sie in den letzten Jahren gelernt: Egal wie man sich fühlte, ob man sich wünschte, man könne die Zeit anhalten oder ob man am liebsten zurückspulen wollte: Das Leben ging einfach immer weiter.

3

SCHREIBBLOCKADE

Gegenwart

Yuna stand auf. Yuna kochte Kaffee. Yuna räumte die Spülmaschine aus. Yuna ging spazieren. Yuna putzte ihr Wohnzimmer. Yuna saß am Schreibtisch. Yuna ging ins Bett. Yuna schlief schlecht. Yuna kochte Kaffee. Yuna räumte die Spülmaschine aus. Yuna putzte ihr Badezimmer. Yuna ging spazieren. Yuna saß am Schreibtisch. Yuna ging wieder ins Bett. Die Tage flossen dahin, aber Yuna schrieb nicht.

Und das war nicht gut, nein, überhaupt nicht gut.

Sie saß jetzt schon seit vier, fünf Tagen immer wieder am Schreibtisch und schrieb keine Zeile. Manchmal einzelne Worte, das ja. Dann löschte sie sie wieder. An der Stelle, wo sonst ihre Fantasie wilde Purzelbäume schlug, war nichts als Nebel.

Das war besorgniserregend. Yuna rückte den Schreibtisch unter das Fenster, aber das half nichts. Sie schnappte sich ihren Laptop und ging hinaus in den Garten, aber auch das half nichts. Als sie an diesem Morgen aufgewacht war, war der Druck, endlich ein paar Worte zu finden, die sich zu stimmigen Sätzen formen ließen, so groß, dass sie nach dem Kaffeekochen und dem Spülmaschine ausräumen, einen Block und einen Stift mit auf ihren Spaziergang nahm. Das war der Nachteil, wenn man einen kreativen Beruf ausübte: Man musste zu jeder Zeit kreativ sein und hatte Abgabetermine, die man nicht so einfach verschieben konnte.

Hot Girl Walk. So nannte Yuna ihren täglichen Spaziergang ironisch, bei dem sie normalerweise einfach in den Wald hinausging und ihre Gedanken sortierte. Wieder einmal beglückwünschte sie sich dazu, direkt am Waldrand zu wohnen. Die Stille zwischen den Bäumen, die herrlich frische Morgenluft, ihre gleichmäßigen Schritte, das alles beruhigte sie, schaffte Platz in ihrem zu vollen Kopf. Trotzdem bekam auch der Wald es im Moment nicht hin, dass die Schwere, die sie fühlte, sich verzog. Sie lief ihren Lieblingsweg am kleinen Bach entlang, indem sie im Sommer bei großer Hitze auch schon gebadet hatte, an der einzigen Stelle, die tief genug dafür war. Sie bückte sich und steckte ihre Hände in das weiche Moos. Yuna liebte das Gefühl auf der Haut, aber auch das half ihr heute nichts.

Das Leben fühlte sich wie eine zähe, schwere Masse an und sie hasste dieses Gefühl. Sie hasste es, weil es ihr so unfair vorkam dem Leben gegenüber. Schließlich konnte sie vom Schreiben leben, ja, war finanziell gut abgesichert. Die Schreiberei war immer ihr Traum gewesen und ihr mit einer Mischung aus viel Hingabe an den Beruf und der Prise Glück, die es dafür brauchte, auch gelungen war. Sie hatte gute Freunde, die an ihrem Geburtstag mit Pizzen vor der Tür standen und Justine, die beim Karaoke „Du gehörst zu mir“ in ihre Richtung schmetterte. Objektiv betrachtet war sie nicht einsam. Aber ihr Leben war so verdammt anders wie das, welches sie sich immer erträumt hatte. Und der kleine Notizblock in ihrer Hosentasche noch immer leer, fügte sie hinzu. Dabei war das Schreiben das, was sie wirklich erfüllte. Sie liebte es, Geschichten zu erzählen, die andere Menschen glücklich machten, und sie liebte es, anderen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Aber vielleicht fand sie gerade ihr eigenes Lächeln so schwer, dass sie einfach nichts zu geben hatte.

Statt des kleinen Blocks zog sie ihr Handy aus der Tasche. Yuna setzte sich auf einen Baumstamm und begann zu tippen.

Hey, Justine, hast du heute Zeit?

Ich dachte schon, du würdest nie fragen. Gehen wir zum Asiaten heute Mittag?

Unbedingt! Danke.

Dafür nicht. Smiley.

Das war Justine. Sie machte nie einen Smiley hinter ihre Nachrichten. Sie schrieb das Wort. Yuna musste unweigerlich grinsen. Wie dankbar sie für ihre Schwester war, besonders auch dafür, dass sie so ein gutes, offenes Verhältnis hatten. Yuna steckte ihr Handy zurück in die Gesäßtasche ihrer Jeans.

Für heute würde sie sich vom Schreiben freisprechen, würde den Vormittag mit der Beantwortung von E-Mails verbringen und ein wenig Werbung für den letzten Roman machen, den sie veröffentlicht hatte. Das war auch Arbeit, die getan werden musste, und wenn Yuna heute unkreativ war, dann war sie das eben, dachte sie trotzig.

Sie konnte sich ja außerdem mal wieder bei ihrer Freundin Franziska melden. Die war auch Autorin und hatte möglicherweise einen Tipp gegen Schreibblockade, die gefürchtetste aller Schriftstellerkrankheiten, von der Yuna vermutlich gerade heimgesucht wurde.

Langsam ging Yuna weiter. Sie würde ihren Hot Girl Walk, der mittlerweile eher ein Frau-im-mittleren-Alter-Spaziergang war, jetzt einfach gemütlich beenden und dann noch mal frischen Kaffee aufsetzen. Yuna dachte an den gebratenen Tofu mit Zitronengras und Gemüse. Ihr lief jetzt schon das Wasser im Mund zusammen. Manchmal, dachte sie bei sich, musste man sich vielleicht einfach dazu zwingen, sich auf positive Dinge zu fokussieren, statt in Selbstmitleid zu versinken.

Sie konnte ihre Situation jetzt jedenfalls nicht ändern, auch dann nicht, wenn sie wilde Maßnahmen ergriff, und in den vergangenen Tagen waren ihr so manche verrückte Ideen gekommen: Ein Umzug in eine Wohngemeinschaft, ein neuer Job, der Bau einer Zeitmaschine, die ihr half, ihr Leben auf Anfang zu stellen (haha). Man kam wirklich auf allerlei gedanklichen Sondermüll, wenn man sich so down fühlte, wie Yuna es gerade tat. Da reichte eine runtergefallene Lieblingstasse schon, um in Tränen auszubrechen. Aber heute würde Yuna das nicht zulassen, entschied sie, als sie aus dem Wald hinaus ins Sonnenlicht trat. Heute würde sie ihre Schwester treffen, gut essen und sich nicht unterkriegen lassen.

Yunas Schritte wurden länger in direkt proportionalem Verhältnis zu der neuen Entschlossenheit, die sie in sich aufkeimen spürte.

Zurück bei ihrem Haus angekommen, machte Yuna noch den obligatorischen Umweg am Briefkasten vorbei. Zwei Rechnungen, ein Schreiben von ihrem Stromanbieter und einen Modekatalog zog Yuna aus dem Kasten. Dann vergewisserte sie sich mit einem Blick, ob das alles war. Nein, noch nicht. Erneut langte sie in den Briefkasten und fischte eine Postkarte hervor, ein kitschiges Ding mit einem Smiley und einer vierzig drauf. Na, da hatte jemand ihren Geburtstag um ein paar Tage verschlafen. Sie hatte keine Ahnung, wer das gewesen sein konnte. Vielleicht, dachte sie, kam die Post von ihrem Verlag. Manchmal war das gängige Praxis. Aber eine solche Geschmacklosigkeit zu verschicken, sah ihrer Lektorin gar nicht ähnlich. Sie musterte erneut das Motiv. Aber nett, dass man an sie dachte, ermahnte sie sich, war es auf jeden Fall. Während Yuna die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung ging, drehte sie die Karte um und wäre fast ins Stolpern gekommen. Mit der Karte noch in der Hand hielt sie sich am Treppengeländer fest und verknitterte so das lachende Gesicht, das die Karte zeigte.

In keinem Universum hätte sie damit gerechnet, jemals wieder von ausgerechnet ihm zu hören.

„Heute wird die Baka von Luka sechsundneunzig Jahre alt und ich habe an eine Vollmondnacht am Strand gedacht. Erinnerst du dich noch? Happy Birthday. Milan"

4

IRRITIERT?

Gegenwart

„Was ist denn mit dir heute los? Kämpfst du immer noch mit …“ Justine machte eine kreisförmige Bewegung mit ihrer Gabel, „schlechten Gedanken?“

„Midlife-Krise. Sag es nur.“ Yuna hatte ihr Essen kaum angerührt. Die Postkarte von Milan ging ihr nicht aus dem Kopf. Woher hatte er ihre Adresse überhaupt? Und warum schrieb er ihr ausgerechnet jetzt, wo ihr gerade das Leben weh genug tat, auch ohne eine Karte von ihm?

„Sorry.“ Justine sah aus wie früher, wenn Yuna sie dabei ertappte, dass sie sich aus ihrem Kleiderschrank das neue Shirt geliehen hatte.

„Muss dir nicht leidtun“, beruhigte sie Yuna und trank einen Schluck von ihrem Ingwertee.

Das kleine asiatische Restaurant befand sich direkt an der Hauptstraße. Die ganze Decke des Raumes war mit Kirschblüten aus Plastik abgehangen und verlieh dem Restaurant einen rosa Schimmer. Man speiste stilvoll von Steingut-Tellern, und selbst mittags war hier viel los, weil das Essen einen sehr guten Ruf genoss und das Lokal außerdem direkt neben einem Gymnasium war. Sogar die Schüler kamen und holten sich leckere asiatische Gerichte zum Mitnehmen.

„Außerdem ist das nicht der Grund, warum ich grüble.“

„Ist es nicht? Ich war mir ganz sicher, dass du deswegen noch mal mit mir reden wolltest.“ Die gebackene Ente, die Justine bestellt hatte, schmeckte ihr sichtlich gut.

„Ursprünglich war es das auch. Ich hab mich die letzten Tage fürchterlich unwohl gefühlt“, gestand Yuna. „Aber dann habe ich diese Postkarte im Briefkasten gefunden und jetzt bin ich total irritiert.“

„Irritiert? Warum das denn?“

Yuna hatte Justine noch nie von Milan erzählt. Sie hatte überhaupt niemandem von ihm erzählt. Genauso, wie sie auch ihre Schreibblockade für sich behalten hatte. Denn für die schämte sie sich. Ihr Leben lang hatte sie behauptet, ihr Beruf wäre ein Handwerk. Jetzt stellte sie fest, dass ihr ihr Handwerk unmöglich gelingen konnte, weil ihre Kreativität krank geworden war.

„Die Postkarte ist von jemandem, den ich früher mal kannte.“ Großartig. Sie wurde rot wie ein Teenie.

„Definiere früher“, verlangte Justine.

„Erinnerst du dich noch an meine Europareise? Es wird jetzt ungefähr fünfzehn Jahre her sein.“

„Klar.“ Justine versuchte, Reis mit den Stäbchen zu ihrem Mund zu befördern, es misslang ihr allerdings nachhaltig, so dass sie ungeduldig zu ihrer Gabel griff.

„Damals bin ich nicht so wirklich weit gekommen.“

Justine lachte. „Ich weiß. Du hast dich ewig in der Sonne braten lassen.“

„Ja. Genau. Nur dass ich nicht nur in der Sonne gebraten habe, sondern jemanden kennengelernt. Ich war viel am Meer, habe am Strand gesessen und geschrieben und eben Zeit mit einem Mann verbracht. Er heißt Milan. Wegen ihm bin ich so lange dort in Starigrad geblieben. Genau genommen in Seline, aber ich will mal nicht Haare spalten.“

„Du hast dort einen Urlaubsflirt gehabt?“ Justine lachte. „Das sieht dir heutzutage überhaupt nicht ähnlich. Aber wenn ich recht überlege, warst du damals ein ziemlich unbeschwerter Mensch, oder? Immer auf ein Abenteuer aus.“

„Ja, so könnte man das wohl sagen.“ Yuna war die junge Frau von damals heute sehr fremd. Sie war längst über sie hinausgewachsen. Ehrlich gesagt konnte sie sich nicht einmal daran erinnern, wann sie zuletzt ein Gedicht oder einen emotionalen, persönlichen Text verfasst hatte.

„Und dieser Milan hat dir geschrieben? Na, auf den musst du ja ganz schön Eindruck gemacht haben.“ Justine spießte ein Stück Pilz auf und tunkte ihn in die extra bestellte süßsaure Sauce.

„Eigentlich nicht. Ich meine, ich habe seit so vielen Jahren nichts von diesem Mann gehört. Genau genommen, seit ich abgereist bin.“

Jetzt wurde Justine ernst. „Ist er irgendwie krank geworden oder so was? Warum hat er sich nicht mehr gemeldet?“

„Na ja. Unser Abschied lief nicht gerade positiv ab, und zumindest damals war er nicht krank. Die Postkarte trifft aber auch nicht wirklich eine Aussage dahingehend. Sie trifft eigentlich gar keine Aussage. Vielleicht irritiert sie mich deswegen so.“

„Vielleicht.“

„Ich meine, wer macht denn so was? Nach so langer Zeit einem Urlaubsflirt zu schreiben?“ Das Wort Urlaubsflirt schmerzte immer noch, als Yuna es aussprach, aber das ließ sie sich nicht anmerken. Dass Milan sich überhaupt noch daran erinnerte, wann ihr Geburtstag war - nämlich am Tag des Geburtstages der Großmutter seines besten Freundes Luka - kam ihr überraschend vor.

Geschickt beförderte sie ein Stück Tofu in den Mund, das heute irgendwie überhaupt nicht schmecken wollte. Sie hätte Hühnchen bestellen sollen.

„Ich hab ja schon gesagt, dass ich denke, du hast einen bleibenden Eindruck hinterlassen.“ Justines Teller war leer und sie legte Messer, Gabel und die Stäbchen nebeneinander darauf, bevor sie ihn ein wenig von sich wegschob.

„Ach, du wieder!“ Yuna konnte das nicht so positiv sehen. Die letzten Momente mit Milan waren einfach nur fürchterlich gewesen, so schmerzhaft, dass sie nie wieder daran gerührt, ja nicht einmal Justine davon erzählt hatte.

„Warst du denn in diesen geheimnisvollen Mann verliebt?“, fragte Justine neugierig nach.

Yuna schob ihren halb vollen Teller von sich. Sie brachte keinen Bissen mehr runter.

Sie kannte die Antwort auf Justines Frage. Sie wusste nur nicht, ob sie es schaffte, ehrlich zu sein. Aber das hier war Justine und nicht irgendjemand. „Milan war wie ein Wunder. Er war wie ein Leuchtstreifen am Horizont. Um es kurz zu sagen: Ja, ich war sehr verliebt. Auch oder obwohl er ganz anders als ich war. Er hatte ganz andere Vorstellungen vom Leben als ich, weißt du.“

Justine nickte ernst.

„Aber wenn er mich angeschaut hat, hatte ich das Gefühl, wirklich gesehen zu werden.“

„Das klingt sehr nach meinem Ludger.“ Justine klang wehmütig.

Jetzt musste Yuna wider Erwarten lachen. Nach einem Ludger. Ja, Ludger war ein Schatz. Aber er war auch ein spießiger Flugkapitän, dessen gestreifte Kurzarmhemden so legendär waren, dass der ganze Freundeskreis sich an seinem dreißigsten Geburtstag einen Spaß daraus gemacht hatte, in ebensolchen Kurzarmhemden zu seiner Feier zu kommen. Allerdings liebte er Justine wirklich und von Herzen. Und das war für Yuna allemal genug, um ihn zu ihrem einzigen Lieblingsschwager zu ernennen. Als Mann allerdings war er nicht ihr Fall und Milan, der abenteuerliche, ungebundene, freiheitsliebende Milan, war das Gegenteil eines Ludgers. Jedenfalls war er es damals gewesen, dachte Yuna. Wer wusste schon, ob aus ihm nicht zwischenzeitlich ein Ludger geworden war?

„Wirst du ihn denn jetzt dann wiedersehen, diesen Märchenprinzen?“

„Was?“ Justines Frage traf Yuna wie ein Blitz.

„Na, jetzt wo ihr wieder in Kontakt seid.“

„In Kontakt kann man das ja wohl kaum nennen. Es ist nur eine Postkarte.“

Justine zuckte mit den Schultern. „Ich dachte nur. Weil du ja ungebunden bist. Du hättest schließlich nichts zu verlieren, wenn du mal in den Urlaub fährst, oder? Nach Dalmatien zum Beispiel.“

„Ich war schon ewig nicht mehr in Dalmatien.“

„Sag ich doch.“

„Das ist doch völlig abwegig. Ich meine, warum sollte ich dorthin fahren?“

„Gegenfrage: Warum nicht? Es hat dir dort schließlich gefallen, oder?“

Yuna trank einen weiteren Schluck ihres Tees. Herrlich scharf war der.

Ja, warum eigentlich nicht? Hatte sie Angst davor, Milan wiederzusehen? Die Karte hatte eine deutsche Briefmarke gehabt. Vermutlich lebte er nicht einmal mehr in Dalmatien, sondern war alt und vernünftig geworden, heimgekehrt, sozusagen.

„So ein Tapetenwechsel wäre vielleicht genau das, was du jetzt brauchst“, warf Justine ein und riss Yuna aus ihren Gedanken.

Die felsige Landschaft rund um Seline, Zadar mit seiner herrlichen Altstadt und der wunderschönen Lage direkt am Meer - vielleicht wäre das wirklich genau richtig. Yuna hatte sich in Dalmatien schließlich unglaublich wohlgefühlt und jetzt war gerade die Jahreszeit, zu der sie damals dort gewesen war.

Und tatsächlich klang ein Tapetenwechsel wahnsinnig gut, Justine hatte wieder einmal recht. Außerdem konnte Yuna von überall aus arbeiten, es brauchte nur einen Laptop und wo der stand, war völlig egal. Noch dazu war damals ein ganzer Gedichtband entstanden, den sie später auszugsweise in Literaturzeitschriften veröffentlichen hatte können.

„Darüber muss ich nachdenken“, sagte Yuna dennoch vorsichtig.

Es kam ihr geradezu unerhört vor, dass sie in Gedanken schon dabei war, die Koffer zu packen, wie sie es als junges Mädchen direkt nach Abschluss ihres Studiums getan hatte. Sie wusste insgeheim, dass sie schon zu Ende gedacht hatte. Sie würde nach Seline fahren und für ein paar Wochen so tun, als wäre sie noch einmal jung und unbeschwert. Schließlich war sie jemand, der nichts zu verlieren hatte, dachte sie mit etwas Bitternis. Und das Gefühl, das der Gedanke an einen Urlaub in ihr auslöste, ließ etwas in ihr aufblühen. Sie konnte es nicht genau greifen, vielleicht war es die Erinnerung an das Gefühl von Abenteuer und Entdeckerdrang, das sie so sehr geliebt hatte, als sie vor Jahren dort in Dalmatien gewesen war. Kein anderer Urlaub hatte diese Gefühle in ihr geweckt, die damals bei ihrer ersten größeren Reise in ihr aufgekommen waren.

„Erinnerst du dich noch?“, hatte Milan gefragt. Jahrelang hatte sie sich nicht erinnert. Dafür war sie eigentlich auch ganz dankbar gewesen. Aber jetzt, wo Milan ihre Erinnerungen angestoßen hatte, erinnerte sie sich ganz genau, viel genauer, als sie eigentlich wollte.

Aber wenn Milans dämliche Postkarte ihr dabei half, den Kopf nicht mehr in den Sand zu stecken, war sie wenigstens für etwas gut gewesen. Vielleicht fand sie ja sogar ihre Worte wieder.

5

MILAN WAR VERSCHWUNDEN

Vergangenheit

Yuna und Milan standen einander gegenüber. Sie spürte noch den Nachklang der Intimität, die sie in der Nacht miteinander geteilt hatten, zum letzten Mal. Sein Duft, das wusste Yuna, klebte an ihrer Haut und sie würde heute nicht duschen, um Milan länger bei sich zu behalten. Die ganze Nacht hatte sie sich an ihn geklammert, hatte Körperkontakt gesucht, wollte nicht weg von ihm. Jetzt stand sie da und vermisste ihn schon, bevor sie weg war.

„Ach, Yuna“, sagte Milan leise. Die Haustür stand schon offen, Milan stand im Haus, Yuna draußen, getrennt nur von seiner Türschwelle. Eigentlich hatte sie schon lange gehen, sich schon lange abwenden, schon lange in ihrem Auto sitzen wollen und doch stand sie noch immer Milan gegenüber, schob ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ so den Strom fließen, noch ein einziges Mal.

Yuna konnte Milans Blick nicht einschätzen. Milan stand einfach da, an den Türrahmen gelehnt, während in Yuna dieser Sturm tobte, den ein Abschied für immer von einem geliebten Menschen mit sich brachte. Mit aller Kraft schob sie ihre Gefühle hinter den rationalen Gedanken, dass sie mit Milan nur im Urlaub glücklich sein konnte. Er war kein Mann fürs Leben, er war ein Mann für abenteuerliche Zeiten.

„Ich könnte dir ja mal schreiben “, sagte Milan leise. Das Zögern in seiner Stimme blieb Yuna nicht verborgen.

„Oh nein, lass, bitte“, erwiderte Yuna daher schnell und legte Milan kurz die Hand auf die noch immer nackte, behaarte Brust.

Milan sah für einen Moment aus, als hätte Yuna ihn geschlagen. Aber er fing sich schnell wieder, und sein Gesicht zeigte ein schmales Lächeln. Yuna hörte das Meer plätschern, einen Vogel, der einen lauten Pfiff ausstieß und ein vorbeifahrendes Auto, dessen Motor gleichmäßig vor sich hin brummte. Und sie sah Milan lächeln und wusste, dass sich dieser Ausdruck auf seinem Gesicht für immer in ihrem Verstand einbrennen würde, wie ein Brandzeichen, das für alle Zeit auf der Haut zu sehen war, würde sein letztes Lächeln eine ewige Narbe in ihr bilden.

Ohne das Lächeln zu erwidern, wandte sie sich ab. Sie verabschiedete sich nicht. Das Auto war weitergefahren und das Brummen seines Motors verschwamm mit dem Plätschern der kleinen Wellen, die auf den Strand trafen. Yuna schaute aufs Meer hinaus, suchte etwas von der Beruhigung, die sie sonst oft verspürte, wenn ihr Blick auf das weite Wasser fiel. Aber da war nichts. Die Brandwunde schmerzte zu sehr, während sie langsam über den Hof zu ihrem Auto ging.

Sie dachte an Milan und daran, dass es sicher auch gut war, dass sie ging ... Knackte er nicht so furchtbar mit den Zehen, dass es sie manchmal geschüttelt hatte? War es nicht ganz und gar nervtötend, wenn er sein Bein an die Brust zog, am Esstisch sitzend, weil er es kaum aushielt, die Füße unter dem Tisch zu halten, seinen Körper für dreißig Minuten einmal nicht zu bewegen? War nicht seine Nase ein klein wenig zu groß geraten und war Milan nicht ganz sicher ein Mensch, der niemals, aber wirklich niemals einen Platz in ihrem Alltag hätte finden können? Drum ging sie schließlich, nicht wahr? Weil Milan einfach nicht passte, so einfach war das. Mit einem Mal spürte Yuna unbändigen Zorn in sich aufwallen wie eine Tsunamiwelle, einen Zorn, gegen den sie sich nicht zur Wehr setzen konnte.

„Weißt du was, es war überhaupt nicht so sehr besonders, das mit uns, es war eigentlich gar nichts“, schrie Yuna und wandte sich um. „Es war nichts weiter als ein Urlaubsflirt.“

Sie war kurz davor, sich übergeben zu müssen, all die Emotionen einfach auszukotzen, die in ihrem Inneren miteinander kämpften: Wut, Verwirrung, Frustration, da war so viel, das keinen Platz in ihr zu haben schien.

Sie dachte an ihr letztes Mal. Hatte sie sich geirrt, als Milan sich auf die Lippe biss? War es nur ein Reflex gewesen, von Lust geleitet, nicht von seinem Schmerz?

Yuna konnte gar nicht anders. Sie wollte Milan ein letztes Mal sehen. Mit einer schnellen Bewegung wandte sie sich um und schaute zurück zu dem kleinen Häuschen, in dem sie die letzten Wochen verbracht hatte, in dem sie aus jedem Glas, von jedem der wenigen Teller gegessen hatte, wo sie im Bett gelegen und hinauf an die rissige Decke geschaut hatte, Milans Arme fest um sich gelegt. Sie wollte umkehren, zurücklaufen, ihm sagen, dass alles, was sie gerade gerufen hatte, Blödsinn war, dass sie nur nicht sicher war, dass ihre Entscheidung, zu gehen, richtig war, dass sie ihn nicht, nein, auf keinen Fall verletzen wollte.

Schließlich war ihre Wut nichts weiter als die Maske der Traurigkeit, die sich dahinter verbarg.

Aber Milan stand nicht mehr im Türrahmen. Milan war verschwunden.

Yuna würgte.

Er hatte sich einfach umgedreht und war zurück in das Leben gegangen, das er vor ihrer Begegnung geführt hatte. Sie stolperte, blieb stehen, fiel fast über ihre eigenen Füße und hielt nur mit Mühe das Gleichgewicht. Ein Urlaubsflirt, dachte sie, ein kleiner Urlaubsflirt war es, mehr nicht, beschwor Yuna sich. Aber alle Beschwörungsformeln dieser Welt halfen ihr nicht dabei, einen klaren Gedanken zu fassen.

Als sie bei ihrem Auto war, aufschloss und einstieg, betete sie darum, dass ihre alte Rostlaube auf Anhieb ansprang. Sie hatte Glück. Immerhin ihr Auto verhielt sich solidarisch.

Kupplung drücken, Rückwärtsgang einlegen, sanft aufs Gas - das Auto machte einen Sprung nach hinten und Yuna drückte erschrocken auf die Bremse.

Betäubt zog sie die Handbremse an, atmete tief ein und wieder aus. Dann fuhr sie langsam auf die Straße hinaus und gab Gas. Aber ihr Zustand war keinesfalls dafür gemacht, am Straßenverkehr teilzunehmen.

Längst hatte die Traurigkeit die rotglühende Maske der Wut abgelegt und lag jetzt tiefblau vor ihr, ein See ohne Boden, sie selbst Nichtschwimmerin. Da konnte man jederzeit von so einer Traurigkeit verschlungen werden, nicht wahr?

Yuna schrie auf, ja, brüllte ihren Kummer in die Enge ihres kleinen Autos hinein, während sie den Wagen halb blind vor Tränen auf der Küstenstraße entlang steuerte.

---ENDE DER LESEPROBE---