Wellenwinter - Lotte Römer - E-Book
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Wellenwinter E-Book

Lotte Römer

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Beschreibung

Wärmend wie ein Becher Weihnachtspunsch in der kalten Jahreszeit Sanftes Wellenrauschen, glitzernde Schneeflocken und funkelnde Lichter. Auf Norderney hofft Marie nach einer Trennung Abstand von ihrem Leben daheim zu gewinnen. Als sie von einer kleinen Glasmanufaktur erfährt, erkennt die gelernte Glasbläserin, wie sehr der Beruf, den sie vor Jahren aufgeben musste, ihre Leidenschaft geblieben ist. Dass in der Manufaktur dringend Hilfe gebraucht wird, ist für Marie das größte Glück. Ganz in ihrem Element, kreiert sie filigrane Kunstwerke. Und auch in ihr Liebesleben kommt frischer Wind, als sie den attraktiven Arne kennenlernt. Doch die Begegnungen mit ihm verlaufen stürmisch. Kann sich Marie dennoch all ihre Träume auf der idyllischen Nordseeinsel erfüllen?

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Seitenzahl: 367

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Zum Buch

Arne ist fest auf Norderney verwurzelt, sein Herz gehört der Nordseeinsel ebenso wie seiner Familie und seinen Hunden. Nur einer Frau wird er es nie wieder schenken. Nachdem seine letzte Beziehung schmerzhaft gescheitert ist, hat er der Liebe endgültig abgeschworen. Doch als er der Glaskünstlerin Marie begegnet, gerät sein eiserner Entschluss ins Schwanken. Darf er es wagen, an eine glückliche Zukunft mit ihr zu glauben? Wird sie ihm verzeihen, wenn sie herausfindet, was er ihr verschwiegen hat?

Zum Autor

Lotte Römer hat viele Leidenschaften, unter anderem Bücher, Berge und das Meer. Beim Joggen an den malerischen Stränden Norderneys oder während sie die majestätischen Ausblicke der Alpengipfel genießt, entstehen die Ideen für ihre herzerwärmenden Liebesromane. Dann nimmt sie die Leserinnen und Leser mit auf die Reise und verleitet sie zum Träumen.

Auch wenn einige Schauplätze real existieren, sind alle handelnden Personen und die Handlung in dieser Ausgabe frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

© 2021 by Lotte Römer © 2021 by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb. Covergestaltung von Hauptmann & Kompanie, Zürich Coverabbildung von Jorg Greuel / Getty Images, mahey, effective stock photos, PinkPueblo / Shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749950874

www.harpercollins.de

Widmung

Für meinen Vater, wegen der siebten Welle und aller folgenden und vorherigen wilden Momente.

1. Kapitel

Es war herrlich still hier draußen im Wald. Marie schaute sich um. Weiß, wohin sie schaute. In den letzten Jahren hatte die Landschaft um diese Zeit immer eher graugrün und trostlos ausgesehen. Dieses Mal allerdings versprach der Dezember eine wirklich stimmungsvolle Vorweihnachtszeit. Der Schnee knirschte unter Maries dicken Winterstiefeln. Sie hatte sich den roten Schal bis zur Nase hochgezogen, war in eine warme Daunenjacke gehüllt, trug weiche Wollhandschuhe und auf dem Kopf eine Pudelmütze. Die Zweige der Bäume wurden von der dicken Schneeschicht nach unten gedrückt, sodass der Weg ein wenig wie ein weißer Tunnel wirkte. Noch immer schneite es, und glitzernde große Flocken fielen lautlos zu Boden. Marie atmete die klare Winterluft tief ein – wunderbar! Sie nahm sich vor, heute noch den Adventskranz aufzubauen und ein paar ihrer Weihnachtskugeln ins Wohnzimmerfenster zu hängen. Sie hatte sie damals während ihrer Ausbildung zur Glasbläserin selbst geblasen und hielt sie in Ehren. Dieses Jahr war Marie auch ziemlich spät mit der Weihnachtsdeko dran, denn der erste Advent näherte sich schon. Dabei liebte Marie die Vorweihnachtszeit, und dass es sogar geschneit hatte, war wie die Kirsche auf der Sahnehaube ihrer ganz persönlichen Weihnachtstorte. Nach dem erfolgreichen Schmücken abends würde sie sich einen Glühwein mit frischen Orangen sowie lecker duftenden Zimtstangen kochen und sich dann auf dem Sofa einkuscheln. Ihr Geheimnis war eine Prise gemahlener Nelken. Die gaben dem Glühwein immer sein besonderes Aroma.

Marie streckte die Hand aus, und eine große Schneeflocke landete auf ihrer Handfläche, wo sie sofort zu einem feuchten Nichts schmolz. Niemand sonst war unterwegs. So früh am Morgen gehörte dieses Winterwunderland Marie ganz allein. Der See lag da wie ein Spiegel, ganz glatt. Die Stille, die über der Szenerie lag, gab es nur, wenn es so stark schneite wie in diesen Augenblicken, weil der Schnee jedes Geräusch schluckte. Marie liebte diese einzigartigen Momente, in denen die Natur scheinbar vollständig zur Ruhe kam.

Wo war eigentlich King Lui?

Suchend drehte Marie sich um. Der schokobraune Labrador trottete gelassen hinter ihr her. Ja, mittlerweile sah man ihm sein Alter an, es ließ sich nicht mehr leugnen. Er wurde behäbig, und aus dem wilden, verspielten Weggefährten war ein besonnener, gemütlicher Begleiter geworden.

»Na, komm, mein Großer!« Als Lui hörte, dass er angesprochen wurde, hob er den Kopf und wedelte mit dem Schwanz, um dann mit der exakt gleichen Behäbigkeit weiterzulaufen wie schon zuvor. Nachdem er Marie erreichte, drückte er seine Flanke gegen ihr Bein – eine klare Aufforderung dafür, dass es einer Kuscheleinheit bedurfte.

Marie kraulte ihm den Kopf. »Du bist mein Bester!«

Das Schwanzwedeln verstärkte sich noch. Lui schaute zu Marie auf. Seinem treuherzigen Blick hatte Marie noch nie etwas entgegensetzen können. Sie lächelte und streichelte ihn erneut.

»Na, komm«, wiederholte Marie und ging langsam weiter. Wenn man zu lange stand, wurde einem nur kalt. Es schneite nun mehr. Auf Luis braunem Rücken blieben die ersten Flocken liegen. Sicher sah Marie auch schon ein wenig aus wie ein Schneemann. Sie bückte sich und formte einen Schneeball.

»Schau, Lui! Möchtest du das Bällchen haben, hm?« Sie zeigte den Ball ihrem Hund, dann warf sie ihn zwischen die Bäume in den kleinen Wald, den sie gerade durchquerten. Lui schaute hinterher, bewegte sich aber kein Stück in die Richtung, in die Marie den Ball geschleudert hatte. Marie seufzte.

»Komm, ein bisschen gehen wir noch«, meinte Marie. Früher waren sie kilometerweit gelaufen – und das nicht nur im Flachen. King Lui war ein toller Bergsteiger gewesen, kein Gipfel war vor ihm sicher. Marie hatte ihn nach seiner Welpenzeit überallhin mitgenommen. Doch mit zwölf Jahren schienen diese Tage vorbei zu sein. Das war durchaus ein ordentliches Alter für einen Labrador. Trotzdem fiel es ihr schwer mit anzusehen, dass Lui langsam alt wurde.

Entspannt spazierte Marie weiter durch die zauberhafte Winterlandschaft und genoss die Ruhe, die das Schneegestöber mit sich brachte. Zu Hause würde es damit eh vorbei sein. Sie schaute auf die Uhr. Ein paar Minuten hatte sie noch, bevor sie und Lui umkehren mussten. Das war der Vorteil an ihrer Arbeit im Büro von Chris, ihrem langjährigen Lebenspartner: Es kam nicht darauf an, exakt pünktlich zu sein. Hauptsache, die Aufgaben waren am Ende des Tages erledigt. Für Marie war es wichtig, sich an den Vorteilen ihres Jobs festzuhalten, denn sie war fürwahr kein Papiertiger. Aber was tat man nicht alles für die Liebe? Deshalb saß sie in dem Zimmer über der Werkstatt, schrieb Rechnungen und Kostenvoranschläge, telefonierte mit den Kunden von Chris’ Schreinereibetrieb und kümmerte sich um die Lohnzahlung für seine drei Angestellten. Es war nicht ihr Traumjob, doch es war praktisch – und King Lui konnte immer mit.

Wieder blickte Marie sich nach ihrem Hund um. Der war mitten auf dem Weg stehen geblieben und schaute hinter ihr her. »Lui?«

Als Antwort bellte er kurz. Nur ein einziger kleiner Kläffer, doch Marie kannte ihren Hund gut genug, um zu wissen, dass er beschlossen hatte, den Spaziergang zu beenden. Sie seufzte und ging zu ihm zurück. »Was ist denn?«

Lui jaulte leise und schüttelte sich. Schneeflocken stoben nach allen Seiten davon.

»Sollen wir zurück zum Auto?«

Es war, als hätte Lui jedes von Maries Worten verstanden. Er drehte sich um und trottete los. Nicht gerade euphorisch, das nicht, aber zielsicher lief er den Weg entlang, den sie gekommen waren. Während sie auf den Wagen zugingen, konnte Marie ihre Fußspuren von vorhin kaum noch erkennen. Der Schnee breitete sich wie eine Decke über der Landschaft aus – auch auf die Windschutzscheibe von Chris’ Auto hatte sich schon eine dicke Schicht des zauberhaften Weiß gelegt.

»Na, komm. Du darfst ausnahmsweise neben mir sitzen. Aber wir verraten es nicht dem Herrchen, ja?« Der Wagen war ohnehin – als Handwerkerauto – nicht supersauber. Dennoch mochte Chris es nicht besonders, wenn der Hund vorn saß. Angeblich konnte er das riechen, allerdings nur in den Fällen, wo er definitiv wusste, dass Lui auf dem Beifahrersitz gethront hatte. Jenseits dieser Gelegenheiten war seine Nase deutlich unsensibler, vor allem wenn Marie noch ein Handtuch auf den Sitz legte – und das würde sie heute tun. Zum Glück hatte sie daran gedacht, sonst wären sie zu Hause leicht von den nassen Pfotenspuren zu überführen gewesen, und das wollte Marie vermeiden. Gewusst wie, dachte sie und grinste, während sie die Beifahrertür öffnete, das dicke Handtuch vom Boden im Fußraum nahm und auf dem Polster ausbreitete. Eigentlich müsste King Lui hinten in seiner Box Platz nehmen, doch die Fahrt dauerte nur ein paar Minuten, und er hasste die Hundebox wie die Pest. Noch dazu hatte Marie das Gefühl, dass ihm die Kälte überhaupt nicht bekam. Sobald sie die Heizung voll aufgedreht hätte, würde Lui bestimmt schnell warm werden.

»Hopp!« Marie klopfte mit der flachen Hand auf den Sitz. Schwerfällig hob Lui die Vorderpfoten, setzte zu einem kleinen Sprung an und verlor dabei das Gleichgewicht. Beherzt griff Marie zu und half ihrem Labrador hoch, der ihr dankbar über die Hand schleckte. Heute war wohl wirklich nicht sein bester Tag, stellte sie besorgt fest und strich ihm erneut über den Kopf. Morgen würde es sicher wieder besser sein, in letzter Zeit war öfter deutlich geworden, dass der Hund an körperlichen Einschränkungen litt. Es war aber dann immer wieder aufwärts gegangen.

Vorsichtig schloss Marie die Beifahrertür und stieg dann selbst ins Auto. Sie genoss einen weiteren Blick in Richtung des Sees, über dem das Flockenmeer fröhlich tanzte. Demnächst würde sie in die Berge gehen, beschloss sie. Es war wunderbar, in einer Almhütte am Kachelofen zu sitzen und dem Schneetreiben vor dem Fenster zuzuschauen. Laut Wetterbericht würde es noch die ganze Woche immer wieder schneien. Da hatte sie gute Chancen, sich mal ein paar Stunden nach Feierabend freizuschaufeln. Es war egal, wenn es dann dunkel wurde. Schlittenfahren machte auch am Abend noch Spaß. Das würde sie Chris nachher sofort vorschlagen. Wann hatten sie zuletzt zusammen etwas unternommen? In den letzten Wochen fanden sie neben der Arbeit und Chris’ Verpflichtungen als Fußballtrainer kaum noch Zeit für sich als Paar. Klar war Marie froh, dass die Schreinerei brummte und Chris mit seiner eigenen Werkstatt ordentlich verdiente. Aber die gute Auftragslage hatte zur Folge, dass Chris viel mehr Stunden in der Werkstatt verbrachte als sonst – und wenn er dann nach Hause kam, fiel er total erschöpft aufs Sofa. Sie vermisste die Phasen, in denen sie zumindest die Wochenenden freihatten und gemeinsame Stunden genießen konnten.

Doch womöglich, dachte Marie bei sich, war das nach so vielen Jahren auch normal. Jeder ging seiner Wege, man wurde selbstverständlich füreinander. Es war auch nicht so, dass sie überhaupt keine Zeit miteinander verbrachten. Schließlich sahen sie sich in der Arbeit und schliefen auch jede Nacht im selben Bett. Es waren viel mehr die Genussmomente, die ihr fehlten. Zum Glück hatte sie Lui und ihre Bücherwelten, in die sie floh, sonst hätte sie sich häufig einsam gefühlt.

Nach den Feiertagen, hatte Chris gesagt, würde es wieder besser werden. Im Augenblick arbeitete Chris an einem riesigen Bücherschrank mit Glastüren und sogar kleinen Schnitzereien für einen Kunden, der den Schrank seiner Frau zu Weihnachten schenken wollte. Hier im Chiemgau war das gar nicht ungewöhnlich. Es gab viele Kunden, die bereit waren, für ein besonderes Möbelstück etwas tiefer in die Tasche zu greifen.

Marie nahm sich vor, Chris auf jeden Fall um einen Ausflug zu bitten, und zwar gleich für Sonntag; das war in zwei Tagen. Sicher war es ihm möglich, da mal eine Ausnahme zu machen und ein paar Stunden für sie zu reservieren. Zu zweit war so eine Unternehmung einfach schöner. Und vielleicht konnte auch Lui mit, wenn es ihm besser ging.

Als sie sich anschnallte, klingelte plötzlich ihr Handy, das sie in der Mittelkonsole abgelegt hatte. Schnell hob sie es ans Ohr, während sie den Motor anließ, damit es im Auto warm wurde. »Hallo?«

»Ach, Marie, schön, dass ich dich erreiche!«

Es schien allerdings schlagartig noch kälter im Auto zu werden, kaum dass Marie die Stimme ihrer Mutter erkannte. »Hallo«, wiederholte sie bloß.

Seit ihre Mutter Edeltraud aus dem Chiemgau weggezogen war, hatte sich ihr Verhältnis deutlich verschlechtert.

»Wie ist es bei euch? Kannst du es glauben, hier schneit es!« Wie immer überhörte Maries Mutter den kühlen Ton ihrer Tochter und begann einfach ein Gespräch. »Das ist wirklich selten auf Norderney, musst du wissen. Die Insulaner sind ganz aus dem Häuschen, weil es wegen des Meeresklimas nicht so oft vorkommt. Alle Inselkinder sind auf der Straße und bauen Schneemänner. Na, vielleicht nicht alle, aber doch schon eine ganze Menge, und es sieht wunderschön aus. Der Strand ist weiß, stell dir das mal vor.«

In ihrer Begeisterung fiel Edeltraud gar nicht auf, dass Marie außer ihrer nüchternen Begrüßung noch nichts gesagt hatte. Stattdessen ergoss sich ein regelrechter Wortschwall über Marie. »Ich geh später mal raus zur Weißen Düne, da setze ich mich dann ans Feuer und genieße eine heiße Schokolade mit Schuss«, ließ die Mutter Marie noch wissen, und Marie kam nicht umhin, daran zu denken, wie sie früher mit ihrer Mama hinauf auf die Alm gewandert war und dort von ihrem gemütlichen Platz am Kachelofen hinaus in den Schnee geschaut hatte. Ihre Eltern waren es gewesen, die ihr die Schönheit des Voralpenlandes gezeigt hatten, erinnerte sich Marie. Umso unverständlicher fand sie es, dass ihre Mutter der Gegend einfach den Rücken gekehrt hatte!

»Ich habe überlegt, ob du und Chris vielleicht über die Feiertage kommen wollt? Ich habe hier immer ein Plätzchen für euch, und es gibt auch einen Hundestrand für King Lui. Ihr könntet mal sehen, wie ich hier so lebe, und die Insel erkunden.«

Edeltraud hatte ihre Tochter schon häufig eingeladen, aber Marie war noch kein einziges Mal darauf eingegangen. Sie war davon überzeugt, dem Wind, dem platten Land und der Einschränkung, die eine so kleine Insel wie Norderney bedeutete, rein gar nichts abgewinnen zu können.

»Du, ich muss jetzt leider auflegen, die Arbeit ruft.« Der Satz platzte ohne jeden Zusammenhang aus Marie heraus, einfach so, mitten in den mütterlichen Monolog hinein, und brachte Edeltraud schlagartig zum Schweigen.

»Ach so.« War da Enttäuschung zu hören? Marie war sich nicht sicher.

»Sag mir wenigstens noch, wie es dir geht, Mariechen.« Mariechen! Meine Güte. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt und sehr sicher kein Mariechen mehr, sondern eine sehr erwachsene Marie!

»Alles prima. Aber ich hab noch immer keine Lust auf deine schnöde Insel. Außerdem wartet das Büro auf mich – und Chris.« Das mit der Arbeit war zwar gelogen, aber das wusste ja Edeltraud nicht.

»Ist gut, mein Schatz.«

Deutlich hörte Marie die Enttäuschung und Resignation in der Stimme der Mutter. Marie rief sie nie an. Sie war immer kurz angebunden und vermied es, wenn möglich, Kontakt zu ihrer Mama zu haben. Wie lange lebte sie schon auf der Insel? Eineinhalb Jahre, vielleicht zwei? Ja, das musste ungefähr hinkommen. Es war kurz nach dem Tod ihres Vaters gewesen. Seit dieser Zeit hatte Marie sich sehr von ihrer Mutter zurückgezogen.

»Wenn du möchtest, ruf mich doch mal die Tage an, wenn es besser passt. Ja?«

»Mach ich. Aber gerade hab ich alle Hände voll zu tun.«

»Natürlich. Ist gut.« Eine kurze Pause entstand. Marie wollte sich schon verabschieden. »Ach ja, ich hab dir ein Päckchen geschickt. Nur dass du dich nicht wunderst. Es müsste heute oder morgen ankommen. Ich dachte, es könnte dir gefallen.«

»Okay. Danke«, sagte Marie widerstrebend. Sie hatte schon einige Male versucht ihrer Mutter abzugewöhnen, dass sie ihr Dinge schickte. Mittlerweile hatte sie aufgegeben und aß zum Frühstück Sanddorngelee, trank Ostfriesentee und hatte die kleine Möwe aus Holz ins Bad neben das Waschbecken mit dem Stöpsel, auf dem ein Strandkorb abgebildet war, gestellt. Wäre ja auch schade, die Sachen ungenutzt wegzuwerfen. Außerdem – aber das hätte sie gegenüber ihrer Mutter nie zugegeben – liebte sie Brötchen mit Butter und Sanddorngelee so sehr, dass sie selbst welches nachgekauft hatte, sowie das erste geschenkte Glas leer gewesen war.

»Wir hören uns dann mal«, fügte Marie vage hinzu. »Ich muss jetzt wirklich los.«

»Okay. Hab es schön heute, Mariechen.« Mit diesen Worten legte die Mutter auf. Ihren letzten Satz sagte sie exakt so, seit sie Marie das erste Mal im Kindergarten abgegeben hatte. Hab es schön heute, Mariechen. Manche Dinge schienen sich nie zu ändern.

Marie zog sich die dünnen Wollhandschuhe aus. Mittlerweile war es schon fast angenehm warm im Wagen. Sie legte den Gang ein und rollte langsam los. Vielleicht war es glatt, bei dem Wetter wäre das kein Wunder.

Aufmerksam saß King Lui neben Marie und schaute aus dem Fenster – ganz so, als ob er der Fahrer wäre. Marie lächelte.

Ihre Gedanken schweiften zu dem Päckchen, das ihre Mutter zur Post gebracht hatte.

Vielleicht befand sich darin Geleenachschub, dachte Marie, und ihr Magen knurrte. Sie überlegte, noch schnell heimzufahren, um einen Happen zu frühstücken. Eigentlich hatte sie ohne Zwischenstopp zur Arbeit gewollt, das tat sie nach dem Gassigehen so gut wie immer. Ihr reichte morgens in der Regel ein schneller Kaffee aus der Büromaschine. Aber heute war sie nicht nur hungrig, sie merkte auch, dass ihre Socken nass waren. Offenbar waren ihre Stiefel nicht mehr wasserdicht. In jedem Fall brauchte Marie trockene Füße, bevor sie sich an den Papierkram setzte, sonst würde sie sich noch eine Erkältung holen, und das war das Letzte, was sie brauchte. Sie setzte den Blinker.

Langsam bog Marie in die Hofeinfahrt zu dem Haus ein, in dem sie mit Chris wohnte. Das kleine Zuhäusel, das zu einem Bauernhof mit Milchwirtschaft gehörte, war einst von den Großeltern der Vermieterfamilie bewohnt worden, bevor der Großvater verstarb und die Oma ins Heim gekommen war. Marie hatte sich auf den ersten Blick in das Haus verliebt, das sich am Ortsrand befand, umgeben von einem herrlichen Bauerngarten. Jetzt, mit all dem Schnee auf dem Dach, wirkte ihr Heim wie ein Hexenhäuschen und strahlte bis in die Fensterritzen Gemütlichkeit aus. Damals hatte Chris Bücherregale für Marie im Wohnzimmer eingepasst, hatte den Tisch aus einem einzigen Baumstamm gefertigt, außerdem hier und da weitere Kleinigkeiten verändert, die die Möblierung des Hauses zu einem richtigen Unikat machten. Marie kam an jedem einzelnen Tag gern heim, versank in ihrem Lesesessel oder kuschelte sich mit Chris auf das Sofa. Auch jetzt spürte sie sofort diese Behaglichkeit, die sie nur zu Hause empfand.

Die weißen Flocken bedeckten mittlerweile auch hier die Straße und versprachen damit ein Schneechaos. Grundsätzlich waren die Räumdienste im Voralpenland auf Schneetreiben eingerichtet. Trotzdem war es jedes Jahr wieder so, dass der erste Schnee eine Überraschung zu sein schien, mit der niemand gerechnet hatte. Gegen Mittag hatten sie das Problem dann in der Regel im Griff, und alles ging seinen gewohnten Gang. Als Marie den Wagen parkte, sah sie keine Reifen- oder Fußspuren in der Nähe der Garage. Sie runzelte die Stirn. War Chris noch da? Um diese Zeit war er doch schon längst in der Schreinerei? Hatte er verschlafen? Oder war er zu Fuß gegangen? Bei der Haustür bemerkte sie Abdrücke, die waren allerdings schon wieder so zugeschneit, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Er hatte doch sonst keine Angst vor dem Schneetreiben, ja, eher im Gegenteil. Die verschneite Fahrbahn verleitete ihn eher zur Unvernunft. Gegen einen Drift hatte er meistens nichts einzuwenden, was dann regelmäßig zu einem Kreischen bei Marie führte und Chris breit grinsen ließ.

Vielleicht hatte er verschlafen, überlegte Marie, ja, ziemlich wahrscheinlich sogar!

Als Marie aufgestanden war, hatte Chris sich nämlich einfach noch mal umgedreht. Oje. Schnell stieg sie aus dem Auto, lief um den Wagen herum und öffnete Lui die Tür, der schwerfällig auf den Boden sprang. Dann war Marie auch schon unterwegs zum Eingang.

»Na, komm schon, Lui! Oder willst du im Garten bleiben?« Während sie sprach, kramte sie schon nach dem Hausschlüssel in ihrer Jackentasche. Sie warf einen Blick zurück über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass der Labrador auf dem Weg war.

Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. In diesem Moment begann Lui zu knurren. Erstaunt schaute Marie zu ihrem Hund hinunter, der einen Schritt vorgetreten war und vor ihr stand. Noch immer knurrte er und diesmal sogar ein wenig lauter. Nun war Lui kein aggressiver, sondern momentan eher ein müder Hund, was Marie aufhorchen ließ.

»Was ist los, mein Junge, hm? Na, komm!« Sie wollte den Labrador vorsichtig in die Wohnung schieben, doch er stand starr da, den Blick fest auf einen Punkt bei der Garderobe gerichtet.

Plötzlich sah Marie, was er da anstarrte: Da lag ein Paar Winterstiefel im Flur, hellblau mit Fell und goldenen Nieten an der Seite. Schrecklich kitschige Dinger, fand Marie. Später würde sie sich fragen, wie sie so begriffsstutzig hatte sein können. In diesem Augenblick jedoch verstand Marie gar nichts.

Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und stellte sie neben die blauen. Danach hängte sie ihre Jacke auf, legte die Handschuhe an ihren vorgesehenen Platz und setzte die Mütze ab. Den Schal ließ sie um. Das tat sie oft. Sie mochte es, einen warmen Hals zu haben. Das fühlte sich so angenehm kuschelig an. Marie besaß eine ganze Kollektion bunter Schals.

Anschließend beugte sie sich zu Lui hinunter. »Ist gut, bist ja ein braver Hund! Möchtest du so einen Kauknochen, hm?«

King Lui schien jedes Wort zu verstehen. Er beruhigte sich und wedelte fröhlich mit dem Schwanz. Dann drängte er in Richtung Küche.

Marie schlüpfte noch schnell in ihre Hausschuhe, da hörte sie es: ein Kichern aus dem Wohnzimmer, durch die geschlossene Tür. Und in dieser Sekunde war ihr alles klar. Es fiel ihr sprichwörtlich wie Schuppen von den Augen. Sie schnappte nach Luft und starrte auf die Tür. Jetzt hörte sie Chris. Sein ruhiges, warmes Lachen, das sie immer so an ihm gemocht hatte. Chris war mit einer Frau zusammen. Er war mit ihr im Wohnzimmer, ihrem Wohnzimmer. Die Art, wie er lachte, die Art, wie sie kicherte, ließ keine falschen Schlüsse zu.

Marie überlegte nicht lange. Sie stürmte auf die Wohnzimmertür zu und riss sie mit einem einzigen Schwung auf. Der Anblick, der sich ihr bot, würde sich für immer in ihr Hirn einbrennen. Chris war nackt, die Frau hatte nichts als einen BH an. Sie saß auf ihm, ihre dunklen, langen Haare fielen auf seine Brust. Marie sah die Fremde zunächst nur von hinten, bis sie herumfuhr, sich die Decke schnappte, unter der Marie es sich schon so oft mit einem Buch gemütlich gemacht hatte, und sich damit verhüllte. Es handelte sich um die Torhüterin der hiesigen Fußballdamenmannschaft, die Chris trainierte. Plötzlich war Marie klar, warum sein Trainerjob ihn in letzter Zeit so dermaßen beansprucht hatte.

Als Marion von Chris herunterglitt, lag er einen Moment so da, wie Gott ihn erschaffen hatte, völlig von der Situation überfordert, ehe sein Verstand einsetzte. Schnell griff er sich ein Sofakissen und drückte es sich vor seine Körpermitte.

Marie schluckte schwer, einmal, zweimal, dann war der Kloß in ihrem Hals so klein, dass sie wieder sprechen konnte. »Na, Chris, hast du heute mal ein Tor geschossen?«

Ihr Ton war genau richtig! Sie würde nicht in Tränen ausbrechen, nicht jetzt! Sie würde nicht vor ihm zusammenbrechen. Sie ließ Chris nicht antworten, sondern wandte sich an Marion. »Ich glaube, du gehst besser, sobald du deine Klamotten gefunden hast. Dein Ehrgefühl brauchst du gar nicht erst zu suchen, ich bin sicher, das taucht so schnell nicht wieder auf.« Marie stand ganz aufrecht da, ihre Lippen umspielte ein sehr schmales Lächeln, das nichts mit Wärme oder Fröhlichkeit zu tun hatte.

»Marie«, versuchte Chris etwas zu sagen, doch Marie hob ihren Zeigefinger und brachte ihn mit dieser Geste zum Verstummen.

»Versuch es gar nicht. Wirklich, lass es einfach.«

Chris sackte in sich zusammen und schwieg. Wie armselig er aussah in diesem Moment mit dem Kissen vor seinem besten Stück, während Marion noch immer die Decke um sich raffte und einen weiteren Schritt zurücktrat.

»Du solltest außerdem zur Arbeit. Bücherschrankbauen für die Münchner Schickeria, erinnerst du dich? Oder hast du noch zu wenig Blut im Hirn?« Zugegeben: Das war ein Tiefschlag. Doch wo Marie eben gerade noch nichts gespürt hatte, flammte Wut auf wie eine Feuersbrunst. Und es ging in diesem Augenblick wohl kaum um ihr eigenes Niveau.

»Ich werde jetzt in die Küche gehen und Lui füttern. Wenn ich damit fertig bin, seid ihr beide aus meinem Blickfeld und diesem Haus verschwunden, habt ihr das verstanden?« Es war schwer, die Contenance zu wahren. Maries Augen brannten wie das Feuer ihrer Wut. Lange würde es ihr nicht mehr gelingen, sich zusammenzureißen. Aber auf keinen Fall wollte sie mit Marion in einen Topf geworfen werden, die ihre Tränen schon längst nicht mehr zurückhalten konnte und nur noch eifrig nickte, während sie weinte.

»Na, dann sind wir uns ja einig.« Mit diesen Worten machte Marie kehrt und rannte fast in die Küche hinüber, wo Lui brav neben seinem Napf auf sie und den versprochenen Kauknochen wartete. Sie schaffte es, die Tür leise hinter sich zu schließen.

Als Marie ihren Hund sah, der seit Jahren ihr treuer Gefährte war, verlor sie die Fassung. Sie kniete sich vor ihren tierisch besten Freund und umarmte ihn. Trockene Schluchzer entrangen sich ihrer Kehle, und der Labrador leckte ihr über die Wange. Er hielt ganz still, ließ sich von Marie halten und wartete geduldig ab, bis sich der erste Gefühlssturm in seinem Frauchen ein wenig legte. Danach schleckte er ihr erneut über die Wange, und Marie wischte sich die Tränen von dem Gesicht, die sich am Ende nun doch ihre Bahn gebrochen hatten. Sie war so wütend, so tieftraurig und zugleich so über alle Maßen verletzt, dass sie zu keinen klaren Gedanken mehr fähig war. Wie in Trance öffnete sie die untere Schublade des Schrankes und holte einen der Kauknochen hervor, die sie neben dem Trockenfutter lagerte, das King Lui so gern fraß. Angestrengt lauschte sie dabei hinaus in den Flur, wartete darauf, dass die Haustür endlich ins Schloss fallen möge. Sie wollte nichts mehr, als allein zu sein. Der Schmerz, das spürte sie, war ein Stachel, der so tief saß, dass er bis in ihr Herz reichte. Wieder begann sie zu weinen, ganz leise, obwohl sie am liebsten laut schreien wollte. Aber diese Blöße würde sie sich nicht geben. Marion sollte nichts bei ihren Fußballerfreundinnen erzählen können, das Marie irgendwie diskreditierte, und auch Chris würde nie, nie mehr wissen, was Marie gerade fühlte. Sie war fertig mit ihm!

Lui hatte sich mit seinem Knochen unter den Küchentisch verzogen und kaute energisch darauf herum, während Marie ihr Ohr gegen das kühle Holz der Küchentür presste. Schließlich hörte sie Chris und Marion flüsternd in den Flur kommen, vernahm das Geräusch, das der Reißverschluss an Chris’ Jacke beim Zuziehen machte, und wie die Haustür mit einem leisen Rumms geschlossen wurde.

Endlich allein! Marie lehnte sich gegen die Küchentür und schluchzte laut auf. Endlich konnte sie ihrem Kummer freien Lauf lassen. Sie rutschte an der Tür hinunter, bis sie mit dem Hintern auf dem kalten Fliesenboden hockte. Fest umschloss sie mit ihren Armen ihre Beine und legte die Stirn auf die Knie.

Ihr ganzes Leben, alles, was sie dafür geopfert hatte, um mit Chris zusammen zu sein, war ihm am Ende nichts wert gewesen. Kurz hob sie den Kopf, schaute zu der großen, regenbogenfarbenen Glaskugel am Küchenfenster, in der sich das Tageslicht brach und die den Raum mit bunten Lichtpunkten erfüllte. Es war ein einzigartiges Kunstwerk aus Maries eigener Hand, eine Erinnerung an vergangene Zeiten.

Marie schluchzte auf und umklammerte sich selbst noch ein wenig enger. Sie hatte so viel für dieses Leben aufgegeben – und jetzt war alles einfach vorbei!

2. Kapitel

Marie überlegte, ob es ihr wohl guttäte, mit jemandem zu sprechen. Sie hatte das Bedürfnis, ihren Schmerz in Worte zu fassen, ihr Leid zu klagen, wollte über Chris schimpfen und sich darin bestätigen lassen, was für ein mieser Verräter an ihrer gemeinsamen Zukunft er war. Überraschenderweise fiel ihr tatsächlich ihre Mutter als Erstes ein, auch wenn sie diese Idee sofort wieder verwarf. War das genetisch, dass man an den Menschen dachte, der einen zuerst im Leben getröstet hatte, der einen gefüttert, gewickelt und bei Fieber einen feuchten Waschlappen auf die Stirn gelegt hatte? Doch bevor sie Edeltraud anrief, sprach sie lieber mit ihrem Hund. Schließlich war nichts mehr so wie früher, und ihre Mutter hatte sie im Stich gelassen, noch dazu in einer Zeit, in der man als Hinterbliebene zusammenhielt. King Lui hatte sich ganz nah an sein Frauchen gedrückt, tröstend und wärmend.

Marie fror erbärmlich. Sie zitterte am ganzen Leib. Warum nur hatte Chris sie überhaupt aus Murano zurückgeholt – zugegeben, vor fünf Jahren –, wenn er sie dann vernachlässigte und sie am Ende verließ? Immerhin hatte sie sich in Italien als Glasbläserin selbst verwirklichen können. Er hatte gewusst, wie glücklich sie dort gewesen war.

Nun saß sie allein bei ihrem Hund, und ihr fiel niemand ein, mit dem sie telefonieren konnte. Maries Leben war so mit dem von Chris verwoben, dass sie zwar einen gemeinsamen Freundeskreis hatten, aber Marie keinen Menschen hatte, der ganz klar auf ihrer Seite stehen würde. Sie hatte, wie ihr in diesem Augenblick schmerzhaft bewusst wurde, ihre wenigen eigenen Freunde und Freundinnen aus Schulzeiten für die Beziehung mit Chris, die Schreinerei und seine Kumpels vernachlässigt. Ihre Freundin Antonia beispielsweise war nach Paris gezogen, um sich eine Zukunft als Konditorin aufzubauen. Viel zu schnell war der Kontakt damals nach der Abschiedsparty eingeschlafen. Dabei hatten sie sich so gut verstanden. Der Alltag, die Arbeit, Gassi gehen mit King Lui – es hatte so viele Ausreden gegeben, um sich nicht zu melden. Nun bereute Marie es bitter, dass sie nie Zeit für Antonia gefunden hatte. Ihr war so kalt allein.

In Venedig, dachte Marie, hatte sie nie gefroren. Natürlich wurde es im Winter auch in Murano frisch, es war allerdings eine Kälte, die nicht bis in die Knochen kroch, wie sie es daheim in den Bergen tat. Im Alpenraum saß die Kälte tiefer, fühlte sich härter und unbarmherziger an. Marie hatte irgendwo gelesen, dass in Murano die Durchschnittstemperatur im Januar nachts bei guten vier Grad lag, was deutlicher wärmer als zu Hause in Bayern war.

Aber das eigentlich Entscheidende war wohl eine Art innere Wärme, die Venedig mit seinen umliegenden Inseln Marie vermittelt hatte. Vielleicht war es auch die Tatsache, dass sie ohnehin die meiste Zeit am Feuer gestanden hatte, wenn sie ihre Kunstwerke geschaffen hatte, und ihr Körper somit fast immer gut durchwärmt worden war. Ja, schon allein die Erinnerungen, die beim Gedanken an die schwimmende Stadt wach wurden, schienen dafür zu sorgen, dass die Kälte etwas verschwand.

Sie war damals so oft an der Glaskathedrale Santa Chiara vorbeigegangen, einer ehemaligen Kirche, in der heutzutage das Glasbläserhandwerk den Touristen und Touristinnen nahegebracht wurde, hatte ihre Nase in die Wintersonne gehalten und dabei an ihre Mutter gedacht, die ihr von Venedig – genau genommen von Murano – im Winter abgeraten hatte. Dabei war es genau zu dieser Jahreszeit wunderschön. Denn dann waren da nicht die Urlaubermassen, die Murano im Sommer überrannten, doch es waren noch genug Menschen unterwegs, um die Plätze und Kanäle zu beleben. Die Sonne schien oft, denn die Winter in Murano waren eher trocken. Gut, das musste Marie sich eingestehen, in der frühen Adventszeit hatte sie damals schon manches Mal an Schnee gedacht, aber man konnte nicht alles haben, nicht wahr?

Die meiste Zeit hatte sie ohnehin in der Werkstatt verbracht. Nachdem die Glasbläserei in Rosenheim, in der sie ihre Ausbildung absolviert hatte, hatte schließen müssen, hatte sie nichts so vermisst wie ihren Beruf. Auf Schnee zu verzichten war ein Klacks für sie gewesen, wenn sie dafür an einem Gasbrenner arbeiten konnte und an jedem einzelnen Tag etwas Neues dazulernte. Obwohl sie sich in ihrer Ausbildung für die Fachrichtung Christbaumschmuck entschieden hatte, konnte sie auch viel über Kunstglasgestaltung lernen. Nach bereits acht Wochen in Murano hatte Marie schon ganz gut Pferde- und Katzenfiguren hinbekommen. Da Mio ihr immer etwas Neues gezeigt hatte, verfeinerte sich ihre Technik immer mehr. Der alte Glasbläser, eine Koryphäe seiner Zunft, bei dem sie ihren Praktikumsplatz ergattert hatte, war stets geduldig und freundlich geblieben, hatte ihr alles erklärt und war immer gut aufgelegt gewesen.

Marie hatte damals gedacht, dass sie nach einem weiteren Monat auf der venezianischen Insel bestimmt guten Gewissens die von ihr angefertigten Figuren zum Verkauf anbieten könnte. Ihre Gravuren hatten sich ohnehin sehen lassen können, und Mios wohlwollendes Lächeln hatte sie darin bestärkt.

Marie hatte die Werkstatt geliebt, sie hatte noch nie so viele Glasrohre auf einem Haufen gesehen, in allen erdenklichen Farben. Mio hatte immer exakt gewusst, wie das Glas auf Druckluft oder Sauerstoff reagierte, welche Temperatur wann wie richtig war und wie er das Glas zu drehen hatte, damit genau die Form herausgearbeitet wurde, die er erzielen wollte. Seine ruhige Hand hatte Marie genauso sehr fasziniert wie sein gütiges Lachen, das auch dann immer erklungen war, wenn sie ein Pferd gefertigt hatte, das sich auf die seltsamste Art verrenkte und das somit völlig unbrauchbar war.

Marie hatte ihr neues Leben in ihr Herz geschlossen. Ja, sie war zu dem Zeitpunkt schon mit Chris zusammen gewesen, aber sie war auch erst Anfang zwanzig gewesen und ehrgeizig. Das Glasblasen war nicht nur ihr Beruf, es war ihre Leidenschaft gewesen, wie Chris’ Passion Holz war. So wie er eben nicht aus seiner Werkstatt konnte, hatte sie ebenfalls ihrer Leidenschaft folgen wollen. Da war es doch ganz selbstverständlich gewesen, eine Fernbeziehung zu führen? Schließlich war es nicht für immer, nicht wahr? Ihr Aufenthalt bei Mio war auf ein viermonatiges Praktikum ausgelegt gewesen. Dass er schon angedeutet hatte, Marie gern zu behalten, hatte sie weder zu Hause erzählt, noch hatte sie sich selbst eingestanden, wie gern sie sein Angebot hatte annehmen wollen. Vorerst war Murano nichts weiter als Glück auf Zeit. Einzig dass King Lui nicht bei ihr sein konnte, hatte für Marie einen harten Schlag bedeutet. Dass der Hund bei ihren Eltern gut aufgehoben gewesen war, hatte sich nur als schwacher Trost erwiesen. Ihr Vater hatte Lui geliebt und hatte lange Gassirunden mit ihm unternommen. Zugegeben, es wurde beschwerlicher für ihren Vater, der schon seit Jahren mit seiner Arthritis zu kämpfen hatte, aber er war hartnäckig mit dem Labrador rausgegangen und hatte, wie Marie glaubte, dabei Spaß gehabt.

Im Nachhinein kam Marie die Zeit in Murano vor wie die glücklichste in ihrem Leben, obwohl sie in einem kleinen, möblierten Zimmer gewohnt hatte. Sie schaute zu der Glaskugel im Küchenfenster und streichelte gedankenverloren über den Kopf des Hundes. Wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie nicht auf Chris und ihre Mutter gehört hätte? Schmerzliches Bedauern mischte sich unter ihre fassungslose Traurigkeit, weil Chris sie betrogen hatte. All ihre Träume hatte sie in Chris’ Büro begraben. Und jetzt saß sie so einsam in ihrer Küche, dass sie nicht einmal eine eigene Freundin hatte, die sie anrufen konnte!

Marie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und erhob sich vom Fußboden. Sie brauchte dringend eine dicke Strickjacke und einen heißen Tee, um zumindest ihren Körper wieder ein bisschen aufzuwärmen. Sie hatte sich noch nie zuvor so allein gefühlt wie in diesem Augenblick.

Marie stand im Wohnzimmer, ihre Hände um eine Tasse Tee gelegt. King Lui hatte sich vor dem Holzofen aufs Parkett ausgesteckt, während sie ins Feuer starrte. Sie wollte sich nicht auf das Sofa setzen. Zu frisch war die Erinnerung an Marion und Chris, die sich auf ihrer Couch wälzten. Marie pustete auf ihr heißes Getränk und nahm vorsichtig einen kleinen Schluck. Sie schmeckte den teuren Chai gar nicht, den sie in dem neuen Teeladen in Rosenheim gekauft hatte. Es hätte auch nur Wasser sein können, das sie da trank, ihr war alles egal. Was sollte sie denn jetzt tun? Sie sah hinüber zu der zerwühlten, dunkelroten Decke auf dem Sofa. Ein paar der Kissen befanden sich auf dem Boden. Eine Flasche Sekt und zwei Gläser standen auf dem kleinen Tisch, obwohl es erst auf Mittag zuging. Schon wieder begann Marie zu weinen. Es war eine Weile her, seit Chris und sie miteinander eine Flasche Sekt geköpft hatten. Früher war das gang und gäbe gewesen, sich ein Feuer anzuzünden, sich miteinander unter eine Decke zu kuscheln, wohl wissend, was später kommen würde, und es einfach zu genießen. Jetzt genoss Chris mit Marion.

Achtlos trank Marie erneut einen Schluck Tee und hätte fast die Porzellantasse runtergeworfen, weil sie sich die Zunge verbrannt hatte. »Verdammt!«, rief sie laut. Am liebsten hätte sie die Tasse achtlos auf den Boden gepfeffert, aber natürlich tat sie das nicht. Stattdessen stellte sie sie auf den Couchtisch, neben die Sektflöten. An einer davon klebte noch dunkelroter Lippenstift.

Der Tee half nicht. Marie war noch immer eiskalt. Sie schloss den obersten Knopf ihrer Strickjacke, als ihr Handy klingelte. Es war wohl der Automatismus der zuverlässigen Büroangestellten, der sie ganz selbstverständlich das Smartphone hochnehmen ließ. Ihre Mutter! Marie wusste aus Erfahrung, dass die so schnell nicht aufgeben würde. Hatte die etwa bis auf ihre Insel gespürt, dass bei ihrem Kind etwas nicht in Ordnung war? Oder warum meldet sie sich nach dem Gespräch von vorhin ausgerechnet jetzt schon wieder? In der Vergangenheit hatte Edeltraud Ablinger so manches Mal behauptet, dass sie von einer gewissen inneren Unruhe erfasst wurde, wenn es ihrer Tochter nicht gut ging. Das mochte Einbildung sein oder auch nicht. Doch eins wusste Marie: Verdächtig oft rief ihre Mama genau dann an, wenn tatsächlich etwas aus dem Lot geraten war.

Resigniert drückte sie auf den Knopf mit dem kleinen, grünen Hörer. »Hallo, Traudl.«

»Kind, kannst du nicht wieder Mama zu mir sagen?«

Marie ignorierte die Frage und schwieg. Sie hatte aufgehört, ihre Mutter Mama zu nennen, als die nach dem Tod ihres Vaters abgehauen war. Ja, abgehauen! So sah Marie das nach wie vor, da mochte die Mutter noch so oft von ihrem Asthma und der Nordseeluft sprechen, die ihre Gesundheit so deutlich verbessert hatte. Aus Maries Sicht war es noch immer nicht nachzuvollziehen, warum ihre Mutter sie verlassen hatte, und sie hatte seitdem nur noch Traudl zu ihr gesagt, auch wenn sie sie in Gedanken immer noch ihre Mama nannte. Marie war sich im Klaren darüber, dass sie damit Distanz zu ihrer Mutter herstellte, doch sie konnte den Groll einfach nicht abschütteln.

Es war Edeltraud, die schließlich wieder das Wort ergriff. »Wie geht es dir? Ich musste einfach noch mal anrufen. Du warst vorhin so kurz angebunden, und ich hatte jetzt irgendwie ein komisches Gefühl.«

Marie dachte kurz darüber nach, ob sie lügen sollte, entschied sich dann allerdings dagegen. Es war eh schon alles egal, fand sie. Außerdem würde ihre Mutter es früher oder später ohnehin erfahren. Da konnte sie genauso gut erzählen, was passiert war. »Ich habe gerade vor einer Stunde Chris rausgeworfen, weil er mit Marion …« Marie ließ den Satz in der Luft hängen. Sie brachte es nicht fertig auszusprechen, dass sie Chris in flagranti erwischt hatte.

»Wie bitte? Chris hat dich betrogen? Ist das dein Ernst?« Ihre Mama konnte es eindeutig genauso wenig fassen, wie Marie es schaffte, den Anblick von Chris mit der anderen Frau in seinen Armen zu verarbeiten.

»Natürlich ist das mein Ernst. Über so was macht man echt keine Witze.«

»Oh Gott. Das ist ja echt Mist.« Ihre Mutter redete nicht um den heißen Brei herum. Wenn etwas Mist war, war es Mist.

»Das kann man laut sagen.« Marie setzte sich auf den Boden vor dem Schwedenofen und ließ sich das Gesicht von der Glut wärmen. Sie klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter, öffnete die Klappe und legte noch ein Holzscheit nach.

»Schneckchen, es tut mir sehr leid.« So hatte ihre Mutter sie als kleines Mädchen genannt: Schneckchen. Ein weiteres Kosewort aus alten Zeiten zu hören, war seltsam tröstlich.

»Was tust du denn jetzt?«

Marie seufzte. »Keine Ahnung. Ich hab wirklich keine Ahnung. Unser ganzes Leben ist ja miteinander verwoben. Die Arbeit, das Haus, der Hund … Ich weiß es wirklich nicht.«

»Du weißt ja, wo du mich findest, wenn du mich brauchst. Du kannst jederzeit …«

»Danke.« Marie ahnte, was ihre Mutter sagen wollte. Die Tochter war stets auf Norderney willkommen. Obwohl ihre Mutter es eben erst vorgeschlagen hatte, kam es Marie so vor, als läge das Gespräch vom Morgen schon Tage zurück, so viel war in der Zwischenzeit passiert.

Aber allein deshalb, weil Lui nicht gern stundenlang Auto fuhr und sie ihren Hundeopa auf keinen Fall zurücklassen würde, kam das nicht infrage. Er war schließlich der Einzige, der immer für sie da war. Marie sah zu, wie die Flammen an dem frischen Holzscheit leckten. Gleich würde auch das frische Scheit lichterloh brennen.

»Ich wollte es dir nur anbieten. Mir ist durchaus bewusst, dass du nicht viel vom Flachland hältst. Auch wenn ich sicher bin, dass du das unterschätzt.«

»Bitte, Traudl, lass es gut sein. Ich habe gerade echt andere Probleme als Friesentee und Seeluft.« Marie spuckte die Worte fast aus. Sie war eigentlich wütend auf Chris, doch es fiel ihr zunehmend schwerer, ihrem Zorn nicht einfach freien Lauf zu lassen.

»Ist ja gut, ist ja gut.« Edeltraud Ablinger klang wie die Ruhe selbst.

Marie schwieg nur.

»Das hätte ich nie von Chris gedacht.« Traudl klang ehrlich entsetzt.

»Ich auch nicht, ganz und gar nicht.« Und das stimmte. Marie hatte wirklich geglaubt, mit Chris alt zu werden.

»Ich dachte, du würdest mit Chris alt«, sprach Traudl tatsächlich Maries Gedanken aus.

»Ja.«

»Er war immer so fürsorglich und zuvorkommend. Und verlässlich auch, das hat mir immer besonders gefallen«, zählte Edeltraud die Vorzüge des soeben verlorenen Schwiegersohns in spe auf.

Marie war das Gespräch plötzlich viel zu viel. Es führte, so empfand sie es jedenfalls, ihr noch mehr vor Augen, wie sie sich in Chris geirrt hatte. Das brauchte sie in diesem Moment ehrlich nicht. Damit konnte sie einfach nicht gut umgehen, neben Wut und Traurigkeit.

»Ich mochte ihn immer so gern«, fuhr ihre Mutter fort. »Ich dachte, er passt gut auf dich auf.«

Marie wollte wirklich aufhören, über Chris zu sprechen. Sie wollte plötzlich sehr dringend mit sich selbst allein sein.

»Es tut mir leid, Traudl, aber ich möchte wirklich nicht weiter über Chris reden. Das verstehst du sicher. Außerdem muss ich echt mal dringend mit Lui raus.« Es war eine Notlüge. Doch Marie würde anfangen zu weinen, wenn sie diese Unterhaltung nicht sofort beendete. Lui, der inzwischen auf seinem Hundebett neben dem Sofa lag, hob den Kopf und schaute Marie empört an. Er schien sagen zu wollen, dass er für heute genug gelaufen war. Danach legte er seinen Kopf zurück auf seine Pfoten und schloss die Augen.

»Ist ja gut, wenn du nicht drüber sprechen willst.« Ihre Mutter klang ein wenig verschnupft. Doch sie fing sich schnell. »Aber melde dich, ja? Bitte!«

Nein, vermutlich nicht, dachte Marie bei sich. Was konnte ihre Mama schon tun, von so weit weg? Marie spürte ihre eigene Einsamkeit mit einem Mal noch deutlicher.

»Es geht schon. Ich schaff das.« Marie hörte selbst, dass sie schon überzeugter geklungen hatte.

»Bist du sicher?« Wenn ihre Mutter eins war, dann hartnäckig.

»Mhm«, antwortete Marie deshalb nur unbestimmt. »Du, Traudl, ich muss echt. Lui ist schon ganz unruhig.« Marie warf einen Blick auf den schlafenden Labrador. Ein bisschen bekam sie ein schlechtes Gewissen ihrer Mutter gegenüber. Allerdings war es wahnsinnig anstrengend, sich zusammenzureißen und so zu tun, als wäre Chris’ Betrug kein Weltuntergang für sie, und sie würde es locker wegstecken.

»Aber du meldest dich?«, vergewisserte Traudl sich erneut.

»Natürlich. Bis bald mal.« Endlich, endlich konnte sie das Telefonat beenden. Das Holz knackte leise, während die Flammen um es herumzüngelten.

»Nein, ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob ich das schaffe. Ich fühle mich nämlich ganz fürchterlich einsam, friere bis auf die Knochen und bräuchte dich jetzt wirklich bei mir. Aber du musstest ja ans andere Ende von Deutschland ziehen und mich alleinlassen«, sagte sie laut in das leere Wohnzimmer hinein. Das Holzscheit brannte lichterloh, und Marie blieb reglos vor dem Ofen sitzen, bis nur noch glühende Kohlen von dem Holz übrig waren.

3. Kapitel

Marie las in einem Buch, fasziniert flog sie von Zeile zu Zeile des Liebesromans. Ihre Mutter hatte ihn ihr geschickt. Das war der Inhalt des Päckchens gewesen, nicht, wie Marie angenommen hatte, Sanddorngelee. Eigentlich mochte Marie Liebesromane überhaupt nicht. Diese Geschichten wurden niemals wahr. Deshalb hatte sie das Buch auch erst mal achtlos auf dem Küchentisch liegen lassen.

Für einen Ausflug auf meine Insel. Deine Mama

Das war der Text auf der Karte, auf der weißer Sandstrand, Wellen mit weißen Schaumkrönchen und eine Möwe abgebildet waren. Zugegeben, eine süße Karte. Aber in ihrer Stimmung hatte Marie wirklich keine Lust auf Liebesgeschichten gehabt.