Eisblumenverliebt: Nordseeroman - Lotte Römer - E-Book

Eisblumenverliebt: Nordseeroman E-Book

Lotte Römer

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Beschreibung

Wintersonne, Strand und Meer - der neue Nordsee-Liebesroman von Bestsellerautorin Lotte Römer! Nach ihrer Trennung lebt Helena alleine mit ihrem Hund. Schnell realisiert sie, dass bisher ihr Ex-Partner alle handwerklichen Aufgaben im Haus übernommen hat. Jetzt ärgert Helena allerdings gewaltig, dass sie nicht mit Bohrmaschine und Werkzeugkasten umgehen kann. Das muss sich ändern! Also entscheidet sie sich kurzerhand, ihre handwerklichen Fähigkeiten zu verbessern. Ihre Lernergebnisse hält sie in kurzen Videos fest, die sie online stellt, um auch andere Frauen zu unterstützen. Nie hätte sie erwartet, dass ihr Kanal viral geht! Unter den Fan-Mails, die sie erreichen, ist auch eine von Nordlicht Ole. Schnell haben Helena und Ole intensiven Briefkontakt und sie entschließt sich, ihn auf der idyllischen Nordseeinsel Nortrum zu besuchen. Als begeisterte Eisbaderin kommt Helena der Inselwinter gerade recht! Bei ihrer ersten Begegnung mit dem attraktiven Ole kribbelt es dann auch gehörig in ihrem Bauch. Doch Ole tut so, als wäre ihm Helena noch nie begegnet. Bereut er am Ende seine überstürzte Einladung? In jedem Fall wirken all die vertrauten Mails plötzlich wie eine einzige Lüge.

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EISBLUMENVERLIEBT

LOTTE RÖMER

IMPRESSUM

Verantwortlich für die Inhalte ist die Autorin

Coverdesign Rauschgold.de

Verwendetes Bildmaterial:

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Copyright Text: @ Lotte Römer 2024

Alle Rechte vorbehalten

Kontakt:

Lotte Römer / Edith Senkel

Lärchenstr. 15

83233 Bernau

[email protected]

Instagram: https://www.instagram.com/autorin_lotte_roemer/

INHALT

Prolog

1. Ich wollte Johnny nicht heiraten

2. Bauchmassage?

3. Definiere Fan!

4. Seemann Pit

5. Papperlapapp

6. Letj Dekopot

7. Wild, rau und wunderschön

8. Moin, Helli!

9. Ist das nicht ein wenig hart?

10. Die Liebe verursacht Irrungen und Wirrungen

11. Wen findet ihr?

12. „Pft.“

13. Die Inselmänner sind was Besonderes

14. Was machst du denn hier?

Epilog

Bücher von Lotte Römer

PROLOG

„Es tut mir leid, Helli. Ich wünschte, ich könnte bei dir bleiben. Aber ich muss einfach gehen.“ Johnnys Stimme klang rau. Man hörte weniger den Worten, die er sprach an, wie er sich fühlte, als dem Klang seiner Stimme. Johnny war kein Mann vieler Worte, er war ein Mann der Taten. Seine Hände formten Skulpturen, drückten das aus, was er mit Sätzen oft nicht zu formulieren vermochte. Wir saßen nebeneinander auf meinem Sofa, schauten uns an, während wir Tee tranken und miteinander sprachen. Schon oft haben wir so gesessen und geredet.

Ich konnte mich noch genau erinnern, wann seine Stimme zuletzt so wie gerade eben geklungen hatte. Das war ein Jahr her. Damals hatte seine Tochter Lilly ein Baby bekommen, die kleine Jane.

„Ich bin Großvater“, hatte Johnny da gesagt, mich angelächelt und dabei ausgesehen wie ein kleiner Junge, der das größte Weihnachtsgeschenk unter dem Christbaum gefunden hatte, wie jemand der Zeuge eines Wunders geworden war. Stattdessen war es allerdings ein Foto gewesen, das Lilly ihm von der kleinen Bohne, wie Johnny das Baby während der Schwangerschaft seiner Tochter immer genannt hatte, ihm auf sein Handy schickte, welches winzig klein wirkte in seinen riesigen, schwieligen Händen. Jane Bean hieß sie deshalb auch, das kleine Menschlein, eben wegen ihm, dem Großvater in der Ferne, dem man, während er das Foto betrachtete, ansah, wie dringend er das neugeborene Enkelkind im Arm halten wollte. Aber zwischen ihm und der kleinen Jane lag nicht weniger als ein Ozean.

Johnny war ein sehr junger Großvater, in seinem Alter hätte er leicht noch Vater werden können. Wir waren beide - jeder für sich - sehr jung Eltern geworden, eine Tatsache, die uns immer verbunden hatte. Schließlich waren wir erst in unseren frühen Vierzigern.

Seine Freude über das kleine Enkelkind war aber trotzdem - oder gerade deshalb - riesig.

Damals schon hatte ich geahnt, dass die Geburt dieses neuen Erdenbürgers etwas verändern würde. Johny war halb verrückt vor Liebe gewesen - und ich hatte es ihm angesehen.

„Ich weiß“, antwortete ich ihm deshalb jetzt leise. Johnny hatte gekämpft, für mich, für uns, ein Jahr lang. Aber er hatte am Ende gegen sich selbst verloren, gegen sein Heimweh und seine Liebe zu Lilly und Jane Bean. Da war der Abstand zwischen dem Süden Bayerns und Amerika einfach zu groß.

Und natürlich verstand ich ihn, schließlich wäre es mir mit Frida nicht anders gegangen. Die Vorstellung, dass ein ganzer Ozean zwischen mir und meiner Tochter läge, war unerträglich. Da musste ich verstehen, dass es Johnny genauso ging. Ich schaute in sein trauriges Gesicht und legte meine Hände an seinen weichen, lockigen Bart, der ihm immer so ein verwegenes Aussehen gab, dass ich auch nach fünf Jahren noch süchtig danach war, meine Hände auf seine Wangen, auf diesen Bart zu legen. Ich zog Johnny zu mir heran und küsste ihn ganz sanft.

Während des letzten Jahres hatte auch ich einen stummen Kampf mit mir ausgefochten, hatte zwischen mich und meiner Liebe zu Johnny einen Sicherheitsabstand gebracht, um nicht daran zugrunde zu gehen, falls er seinen Kampf verlor.

„Ich versteh dich.“ Ich sprach ganz leise, als wäre ich kurz davor, mich in Luft aufzulösen.

Heimweh zu haben, zurück nach Amerika, zu seiner Tochter und der Enkelin zu wollen, weil Videotelefonate nicht das Gleiche waren wie einen geliebten Menschen im Arm zu halten und die ersten Schritte seines Enkelmädchens live mitzuerleben - was könnte daran verwerflich sein?

Und Johnny konnte sich regelmäßige Besuche in Amerika nicht leisten. Er war Bildhauer, ein Künstler, der von wenigen Auftragsarbeiten im Jahr von der Hand in den Mund lebte. Mich hatte das immer beeindruckt, diese freie Art, seine eigene Leidenschaft zu leben.

Aber jetzt führte genau dieses unabhängige Leben dazu, dass es keinen weiteren Weg mehr für uns beide gab. Denn ich war hier verwurzelt, wo Frida lebte, wo ich meine Tochter großgezogen hatte, die gerade flügge wurde.

„Thank you!“ Johnny und ich küssten einander. Unsere Münder kannten sich. Sie kannten sich fröhlich und leidenschaftlich, wild und sanft, zärtlich und voller Lust. Dieser aber war ein trauriger Kuss, einer von denen, die wehtaten und an den ich mich ein Leben lang erinnern würde, weil er mich innerlich zerriss.

Aber in mir war keine Wut, während ich meine bebenden Lippen auf die seinen drückte, denn wie könnte ich einen Mann dafür hassen, dass er seine Tochter und seine Enkeltochter von ganzem Herzen liebte?

1

ICH WOLLTE JOHNNY NICHT HEIRATEN

„Sprich: Er ist ausgezogen.“ Frida saß mit mir im Wohnzimmer, die Beine auf dem Sofa, wie früher, als sie noch hier gewohnt hatte. Sie kam gerade von ihrem Urlaub mit Kai zurück und natürlich hatte ich Frida davor nicht erzählt, dass Johnny in dieser Zeit abreisen würde. Jetzt war er schon seit zwei Wochen weg und in mir drin fühlte es sich erstaunlich friedlich an.

„Du sagst, Johnny und du seid noch im Kontakt?“ Man sah Frida regelrecht an, wie sie versuchte, die einzelnen Puzzleteile zu einem Bild zusammenzusetzen, während mein Dackel Nugget seinerseits versuchte, auf das Sofa und damit Fridas Schoß zu klettern.

„Ja, wir telefonieren manchmal“, erwiderte ich.

Natürlich war das schwer zu erklären: Dass wir uns getrennt hatten, uns aber am Flughafen zum Abschied noch mal mit einer alten Zärtlichkeit küssten, dass wir jetzt dabei waren, Freunde zu werden. Aber ich - und sicher auch Johnny - hatten diese Veränderung kommen sehen. Wir hatten im Vorfeld viel geredet, ein Jahr lang. Wir waren keine Teenager mehr, unsere Beziehung war ruhig und realistisch gewesen.

„Ihr versteht euch also noch gut?“ Frida pustete sich eine Strähne ihres schulterlangen roten Haares aus dem Gesicht. Natürlich hatte sie Nugget dabei geholfen, hochzuklettern, und mein tierischer Weggefährte hatte sich zufrieden auf ihren Oberschenkeln eingerollt.

„Doch, ja, wir verstehen uns gut“, antwortete ich Frida.

„Warum bist du nicht mit nach Amerika gegangen? Du hättest ihn heiraten können, wäre doch einfach gewesen.“ Meine Tochter trank die Apfelschorle, die ich ihr angeboten hatte, direkt aus der Flasche, in großen, gierigen Schlucken, als käme sie direkt vom Sport. Dabei war es, vermutete ich, mehr die Aufregung und die Sorge um mich.

„Ich wollte Johnny nicht heiraten. Und ich wollte nicht nach Amerika. Er dagegen hat dort seine Jane Bean und seine Tochter. Also haben sich unsere Wege einfach getrennt.“ Ich zuckte mit den Schultern, nahm einen Schluck Wasser aus meinem Glas. „Manchmal spielt das Leben einem eben einen kleinen Streich.“

Eher hätte ich mir die Zunge abgeschnitten als meiner unabhängigen Frida zu sagen, dass ich langfristig auch keinen Ozean zwischen ihr und mir ertragen hätte. Das war einfach - nein. Ein großes Nein mit Ausrufezeichen. Nein!

„Ich würde Kai nicht einfach so verlassen.“ Frida sprach im Brustton der Überzeugung. Kai war ihre große Liebe. Sie kannten sich schon, seit Frida dreizehn war - und war ich erst geschockt gewesen, dass sie so früh bereits Kontakt zu einem Jungen hatte, stellte sich Kai als wahrer Traummann heraus. War Frida ein Matheass und konnte ihm mit Nachhilfe helfen, war er ein Lateingenie. Die beiden hatten einen ähnlichen Humor und nach kürzester Zeit saßen sie miteinander auf dem Sofa wie zwei alte Leute und lästerten über die jeweilige Netflix-Serie, die sie sich gemeinsam reinzogen, wie sie so schön sagten. Kai und Frida waren wie zwei ineinandergreifende Zahnräder. Gemeinsam liefen sie wie eine perfekt geölte Maschine. Noch dazu schaute Kai Frida noch immer an wie am ersten Tag: Als könne er gar nicht fassen, dass eine so tolle Frau wie Frida sich in ihn verliebt hatte. Das, was ich vor über zehn Jahren als Schwärmerei abgetan hatte, hatte sich zu einer tiefen Liebe entwickelt.

„Liebling, das mit Kai und dir ist der Traum eines jeden Menschen, glaub mir das. Kai ist ein Lottogewinn.“

Frida grinste breit. „Ich weiß. Das sagt jeder.“

„Johnny und ich hatten eine supertolle Zeit miteinander, das ist ganz anders. Dass er jetzt weg ist, ist zwar nicht schön, aber ehrlich gesagt auch keine riesige Katastrophe, weil wir beide wussten, dass dieser Tag möglicherweise kommt“, versuchte ich es erneut zu erklären.

Ich schaute mich in meinem gemütlichen Wohnzimmer um. Nichts hatte sich hier verändert. Das half sicher auch dabei, dass ich mich zwar manchmal allein fühlte, aber nicht unwohl.

Johnny hatte kaum etwas mitgenommen. Zwanzig Kilo Übergepäck war nicht viel, wenn man sein Leben zusammenpackte, aber mehr hatte Johnny nicht gehabt. Seine wichtigsten Werkzeuge hatte er mitgenommen, den Rest an befreundete Künstler verkauft. Ein paar Dinge hatte er in meine kleine Werkstatt im Keller gebracht, die ich kaum jemals betrat. Johnny war dennoch der festen Auffassung, dass ich einen Hammer und ein seltsam aussehendes winziges Teil, das man brauchte, um Heizkörper zu entlüften, ganz unbedingt in meinem Kellersammelsurium benötigte.

Völlig ohne Überleitung fragte ich Frida: „Sag mal, kannst du eigentlich Reifenwechseln?“

„Wie bitte?“ Sie hatte gerade noch mal getrunken, jetzt stellte sie ihre Apfelschorle auf den Tisch.

„Na, Reifenwechseln, am Auto. Ich hab gestern in der Werkstatt angerufen, aber die können mir gerade keinen Termin anbieten. Und es soll in Kürze kalt werden. Ich hab wirklich keine Lust, dass ich auf dem Weg zur Arbeit einen Unfall baue.“

Frida schüttelte den Kopf. „Ne, das macht Kai.“

„Bei mir hat das immer Johnny gemacht.“ Ich kam mir total bescheuert vor. Johnny hatte in den letzten Jahren die Glühbirnen ausgewechselt, gestrichen, sich um mein Auto gekümmert und die Waschmaschine repariert, während ich mich einfach nur auf ihn verlassen hatte.

„Ärgert dich das nicht?“, fragte ich Frida.

„Was denn?“

„Na, dass du keine Ahnung von solchen Dingen hast.“

„Hast du doch auch nicht“, argumentierte Frida und zuckte mit den Schultern.

„Das stimmt. Aber das macht es doch nicht richtiger! Ich dachte, du gehörst einer neuen, emanzipierten Generation an.“

Frida grinste. „Für mich klingt es gerade eher so, als würdest du einer neuen, emanzipierteren Generation angehören wollen.“

„Vielleicht.“ Seit Johnny ausgezogen war, hatte ich schon mühsam gelernt, wie ich mein Wasser abstellen konnte, wie ich den Scheibenwischer an meinem Auto austauschte und wie ich eine Lampe - nicht nur eine Glühbirne - neu installieren konnte. Jedes Mal war ich stolz auf mich gewesen wie Oskar, aber keine dieser Aufgaben hätte ich ohne einen Videochat mit Johnny hinbekommen. Irgendwie war das Leben an mir vorbeigezogen, ohne dass ich mich mit Handwerklichem je groß befasst hatte. Jetzt ärgerte ich mich darüber, dass ich diesen Kompetenzbereich so lange hatte schleifen lassen.

„Ich habe in letzter Zeit ein paar Dinge gemacht, die ich noch nie getan habe, weißt du. Und ich war danach jedes Mal total stolz, wenn ich es geschafft habe.“

Frida runzelte kurz die Stirn. „Also verstehen kann ich das schon.“

„Siehst du! Ich meine, fängt Emanzipation nicht bei den Winterreifen an?“

Meine Tochter lachte laut auf und Nugget hob unwillig den Kopf, um Frida prüfend anzusehen. Frida legte ihm eine Hand auf den Kopf. „Mama, du bist unvergleichlich.“

„Na ja, ich meine, ich hab einfach keinen Termin in der Werkstatt bekommen.“

„Kai könnte doch …“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, bitte nicht. Versteh mich nicht falsch, Schatz, ich weiß, er würde das machen. Aber dann bin ich schon wieder abhängig von jemandem und lerne nie dazu.“

„Hm.“ Frida klopfte sich mit dem Zeigefinger gegen die Lippen. Schon seit Kindertagen war das ihre Denkerpose. Dann richtete sie sich auf und warf ihre Beine über die Sofakante, so dass sie aufrecht dasaß.

„Wie wäre es, wenn wir Kai fragen, ob er mit uns beiden Reifen wechselt? Dann können wir es beim nächsten Mal selbst. Wir könnten die Aktion ja filmen oder so.“ Frida lachte, aber dann stutzte sie.

„Das wäre doch überhaupt eine total witzige Idee!“

„Was wäre eine witzige Idee? Reifenwechseln mit Mutti?“ Ich fühlte mich nicht ganz ernst genommen.

„Nein. Blödsinn. Aber das mit dem Filmen, das würde ich total gut finden.“

„Also ich weiß nicht recht.“

„Doch, Mama, genau das braucht die Welt!“ Frida war total begeistert und dem Dackel wurde die ganze Aufregung zu viel. Unwillig verließ er ihren Schoß wieder und rollte sich am anderen Ende des Sofas zu einer kleinen Dackelkugel zusammen.

„Wie bitte?“, hakte ich nach. „Warum braucht das die Welt?“

„Schau, du bist sicher nicht die einzige Single-Frau, die sich noch nie mit handwerklichen Dingen beschäftigt hat, oder? Nicht umsonst hat die Werkstatt keine Termine frei, meinst du nicht?“

„Vielleicht“, musste ich zugeben. Natürlich waren sicher auch Männer unter den Reifenwechsel-Kunden, aber womöglich in der Minderzahl. Vielleicht war ich nicht die einzige Frau, die sich darüber ärgerte, sich mit solchen praktischen Dingen nie beschäftigt zu haben.

„Da wäre es doch großartig, wenn es jemanden gäbe, der Handwerk für Frauen erklärt, in Worten, die Frauen auch verstehen.“

„Die Frauen verstehen? Denkst du, Frauen sind dumm?“ Das war ja die Höhe!

Frida rollte ihre Augen nach oben, genervt wie in ihren Teenie-Jahren. „Natürlich nicht! Aber wenn ich mich noch nie mit einer Sache beschäftigt habe, brauche ich vielleicht ein wenig mehr Erklärung oder andere Worte? Ich meine, ich kann jetzt nur von mir ausgehen, aber ich habe eine deutliche Hemmschwelle, wenn es darum geht, zum Hammer zu greifen.“

Da hatte sie natürlich recht. Dazu kam, dass meine eigene handwerkliche Hilflosigkeit mich frustrierte und ich gern Abhilfe schaffen wollte. War es nicht schon genug, wenn man nur einer Handvoll Frauen mit so einem Video zu einem wintersicheren Auto verhelfen konnte?

„Lass uns das doch probieren“, bettelte Frida. „Mein Kanal läuft schließlich auch ganz gut. Es macht überhaupt nicht viel Arbeit, so einen YouTube-Channel einzurichten. Dann laden wir das Video hoch und fertig. Ich meine, es ist nicht schwierig, weißt du.“

Tatsächlich kannte Frida sich mit den sozialen Medien gut aus. Als Werbekauffrau war sie in der Firma, in der sie arbeitete, mit Social Media betraut worden. Das hatte dazu geführt, dass sie privat angefangen hatte, Schminkvideos online zu stellen. Überwiegend schminkte sie sich selbst Masken mit Theaterschminke, was schon seit ihrer späten Kindheit eine ihrer großen Leidenschaften gewesen war.

Frida begründete ihre Begeisterung für dieses Hobby damit, dass sie es eben liebte, in andere Rollen zu schlüpfen. Mittlerweile arbeitete sie ehrenamtlich bei der örtlichen Theatergruppe und schminkte dort die Schauspieler vor ihren Auftritten und auch in der Karnevalszeit kamen die Nachbarn und ließen sich von Frida schön machen.

„Vermutlich erreichen wir eh nur eine Handvoll interessierter Frauen“, fragte ich skeptisch. Dass meine hübsche Tochter vor die Kamera trat, war eine Sache. Aber ich? Ich sah erste Falten im Spiegel.

„Das reicht doch. Meinst du nicht? Selbst wenn wir nur ein paar Leute für die Videos begeistern können, ist das doch schon eine Hilfestellung für die Zuschauerinnen. Außerdem wäre es schön, mal was Neues auszuprobieren, oder? Du kannst nicht immer nur Eisbaden.“

Ich verstand den Seitenhieb meiner Tochter durchaus. Sie fand schon eine ganze Weile, dass mein Leben zwischen meinem Buchhaltungsjob in der Steuerkanzlei und meiner Leidenschaft für das Schwimmen ein wenig öde war. Da änderte meine Freude am Eisbaden im Winter auch nichts daran. Jetzt, wo Johnny weg war, musste ich ihr sogar recht geben. Ich las viel und die letzten Wochenenden hatte ich hauptsächlich mit Nugget gesprochen, weil ich auch viel Zeit im Homeoffice verbrachte.

„Außerdem sollte man für seine Anliegen einstehen. Das hat mir meine Mutter beigebracht.“

Stimmt. So hatte ich Frida erzogen. Trotzdem blieb ein letztes bisschen Skepsis in mir zurück.

„Ich brauch da Bedenkzeit.“

Der Gesichtsausdruck meiner Tochter verriet ihre Unzufriedenheit mit meinen Worten. Sie war stur, so einfach würde sie diese Mission jetzt nicht aufgeben.

Ich dachte weiter nach. „Was, wenn mich jemand erkennt und ich mich blamiere vor der Kamera?“

Frida zuckte mit den Schultern. „Ist doch egal. Es geht doch nur darum, einen Versuch zu wagen. Ich find die Idee total klasse. Außerdem wäre das was, das wir gemeinsam machen könnten und wir schneiden peinliche Szenen einfach raus.“

Was mich am Ende überzeugte - keine Ahnung. Vermutlich die Aussicht auf Zeit mit Frida. Denn zugegebenermaßen vermisste ich es manchmal, unter Menschen zu sein. Jedenfalls vereinbarten wir einen Termin für einen Videodreh.

* * *

„Fantastisch, einfach fantastisch!“ Meine Freundin Biggi klatschte aufgeregt in die Hände. Ich hatte ihr und Jana gerade das erste Video auf meinem Kanal „SelbstistdieHelli“ vorgeführt.

„Wie bist du denn auf die Idee gekommen, so was zu machen? Und wer hat das überhaupt gefilmt?“, wollte Jana wissen.

Wir waren gerade bei unserem wöchentlichen Eisbadetreffen am Baggersee gewesen und saßen jetzt, wie jede Woche Samstagmorgens, beim Bäcker direkt am Kreisverkehr, weil es dort die besten Teilchen gab. Meines war mit Kirsch und Streuseln und ein Gedicht, Biggi aß ein Linzer Auge, während Jana sich ein Stück Mohntorte genehmigte. Eisbaden machte hungrig.

Wir fingen immer dann damit an, raus an den Baggersee zu fahren, wenn alle anderen damit aufhörten. Biggi besaß außerdem eine große Gefriertruhe voll Eiswasser, die mitten auf ihrer Terrasse stand - sie war regelrecht fanatisch, was die Vorteile des Eisbadens anging - so dass wir uns im Sommer regelmäßig bei ihr zu Hause trafen und in ihre Kühltruhe stiegen.

Heute allerdings war das Eisbad am See kürzer ausgefallen, weil meine beiden Freundinnen es kaum erwarten konnten, dass ich ihnen mein erstes Video zeigte.

Ich umriss jetzt auf Biggis Frage hin kurz, wie die Idee entstanden war, dass es auch ein feministischer Ansatz gewesen war, der uns dazu bewogen hatte, mit den Videos anzufangen und mal zu schauen, ob es für ein solches Videoformat ein Publikum gab. „Und am nächsten Tag stand Frida mit Kai und Kamera vor der Tür.“

Kai hatte mir an einem meiner vier Reifen demonstriert, wie man einen Wechsel vornahm. Er hatte das Auto mit mir aufgebockt, indem er mir ausgiebig den Wagenheber erklärte, hatte mir gezeigt, wie ich die Schrauben löste, den Reifen mit einem gezielten Tritt locker trat, weil er sich über das Jahr ein wenig festgesetzt hatte, wo ich Schmierfett anbringen musste, bevor ich den Winterreifen montierte. Es gab viel, was ich noch lernen konnte, so viel war klar. Die schweren Reifen machten mir ordentlich zu schaffen, schließlich war ich eher klein. Und wenn ich auch nicht das zarteste Persönchen war, so war ich in jedem Fall nicht wahnsinnig kräftig.

„Ich sag euch, beim Montieren des Reifens hab ich mich gefühlt, als hätte ich zwei Hände und ordentlich Muskulatur zu wenig.“ Ich lachte.

„Das sagst du ja im Video“, sagte Biggi. „Also, dass es mühsam ist und hilft, den Fuß unterzulegen, weil der Reifen dann auf der richtigen Höhe ist.“

„Sehr gut aufgepasst“, meinte Jana und Biggi verdrehte die Augen. Die zwei Frauen waren miteinander zur Schule gegangen und immer, wenn sich die Gelegenheit ergab, wies Jana Biggi auf ihren Ruf als Streberin hin. Dabei war Jana heute die erfolgreiche Geschäftsfrau, während Biggi zwei Kinder hatte, Zwillingsmädchen, die gerade an die weiterführende Schule gewechselt waren. Sie kümmerte sich leidenschaftlich um die Mädchen, die sie mit Mitte dreißig noch bekommen hatte: zwei absolute Wunschkinder. Aber niemand hätte zu Schulzeiten geglaubt, dass die wenig schulbegeisterte Jana es war, die mal erfolgreich eine Kunstgalerie führen und dass Biggi sich einem Leben mit Kindern widmen würde.

„Wenn unsere Helli so ein tolles Video macht, schau ich eben gerne genau hin.“ Biggi klang ein wenig pikiert. „Außerdem will ich es jetzt auch mal ausprobieren, das mit dem Reifenwechseln. Mich hast du überzeugt, dass das jeder mit ein wenig Übung schaffen kann. Außerdem tut es den Mädchen sicher gut, wenn sie mal ihre Mutter bei so was sehen.“

„Das freut mich“, antwortete ich - und es freute mich tatsächlich. „Ich wünschte, meine Mutter hätte mir so was als junge Frau gezeigt.“

„Wie viele Menschen haben sich das Video denn eigentlich jetzt schon angeschaut?“, nuschelte Jana mit vollem Mund. Wie von Zauberhand hatte sich ihr Stück Mohntorte bereits in Luft aufgelöst und nur ein paar letzte Krümel verrieten, dass sie überhaupt je Kuchen auf dem Teller gehabt hatte.

„Hm.“ Tatsächlich hatte ich gar nicht geschaut. Am gestrigen Abend waren es einundvierzig Zuschauer gewesen. Da war ich schon mehr als zufrieden gewesen. Ich nahm mein Handy in die Hand, aktualisierte die YouTube-Seite und konnte nicht glauben, welche Zahl ich da sah. Ich schnappte nach Luft. Über tausend Menschen hatten dem Video einen Like gegeben. Über Nacht!

„Das ist ja nicht zu glauben!“ Fassungslos machte ich einen Screenshot und schickte ihn an Frida.

„Jetzt sag doch!“ Biggi beugte sich zu mir herüber, um einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen.

„Über eintausend Likes, das bedeutet, dass noch viel mehr Leute sich das Video angesehen haben. Also mehr, als ich je zu träumen gewagt hätte.“

Von Frida kam die Antwort blitzschnell durch den Äther, ein Smiley, ein erhobener Daumen und nur ein Satz: Hab ich es nicht gesagt?

Ich legte mein Handy weg. „Wenn das so weitergeht …“

„Du musst die Kommentare lesen“, riet Jana. „Und dein Kirschstreuselteilchen essen.“

„Ja und ja“, antwortete ich. Vor lauter Aufregung hatte ich überhaupt keinen Hunger mehr. Das war ja ein voller und vor allem unerwarteter Erfolg!

„Ich fände ein Video über Lampenmontage gut, das könntest du als nächstes machen!“ Biggi prostete mir mit ihrem Macchiato-Glas zu. „Weißt du, ich hätte im Bad so gern eine neue Lampe, aber du kennst ja meinen Benjamin. Er ist entweder unterwegs oder unterwegs.“

Biggis Mann Ben war tatsächlich wenig da. Als Vertreter bei einem großen Klimaanlagen-Hersteller war er europaweit im Einsatz, oft in südlichen Gefilden, und entsprechend wenig da. Gerade expandierte sein Arbeitgeber auch noch nach Thailand, so dass er in diesem Monat überhaupt nicht zu Hause sein würde.

„Ihr meint also, ich soll noch ein Video machen?“

„Das fragst du noch? Ich meine, tausend Likes, über Nacht!“ Jana klang ehrlich entrüstet. „Am Ende wirst du noch eine dieser Influencerinnen.“

„Haha, sehr witzig.“

„Im Ernst. Ich glaube, es gibt da einfach Bedarf. Schau dir Biggi an.“ Jana deutete auf ihre Freundin, die mit perfekt manikürten Nägeln gerade das letzte Stückchen ihres Linzer Auges in den Mund steckte, selbstredend mit einer damenhaften, grazilen Bewegung. In ihrem perfekten Outfit sah sie weder wie eine Eisschwimmerin noch wie eine Frau aus, die sich selbst eine Lampe montierte. Jetzt nickte Biggi eifrig. Eigentlich war sie sich nämlich mit Jana meistens einig.

„Ich bin genau deine Zielgruppe!“

Ich konnte gar nicht anders, ich musste einfach lachen. Aber sie hatte ja recht: Für Frauen wie Biggi, nein, für alle Frauen, korrigierte ich mich, war mein Video einfach nur perfekt. Vielleicht war es an der Zeit, mich ein wenig für mich selbst zu freuen, dass ich so eine gute Idee gehabt hatte.

2

BAUCHMASSAGE?

„Ist das ein Mistwetter, oder?“ Ich sperrte meine Haustür auf. Der Regen hatte Nugget und mir ordentlich in die Gesichter gepeitscht. Schließlich hatte ich den Spaziergang abgebrochen. Der Hund hatte viel zu sehr gezittert, als dass ich ihm die Witterung weiter zumuten hatte wollen. Er kam in die Jahre. Fraglos wurde er zu alt für solche Eskapaden. Wieder einmal dachte ich daran, dass ich ihm eines dieser albernen Hundemäntelchen kaufen sollte. Nugget schaute mich ganz vorwurfsvoll an, als er klatschnass im Flur stand.

„Warte, ich hol ein Handtuch.“ Als würde er mich verstehen, lief Nugget voraus ins Badezimmer. Ich nahm extra ein frisches Frottiertuch aus dem Regal, weil ich wusste, dass er den Duft mochte, denn immer, wenn mein Bett frisch bezogen war, lag Nugget unter der Decke. Vorsichtig wickelte ich seinen langen Körper in das Handtuch und rubbelte ihn sanft trocken. Als ich fertig war, drehte er sich um und zeigte mir seinen Bauch.

„Bauchmassage?“, fragte ich nur und er begann, mit dem Schwanz zu wedeln. Das war eines der Wörter, die er kannte. Ich hatte noch nicht mal meinen Regenmantel ausgezogen, widmete mich aber trotzdem erst einmal dem Hund, der sich auf dem weichen Badezimmerteppich auf den Rücken gedreht hatte, um mir seinen Bauch zu präsentieren.

Schließlich war Nugget wieder versöhnt, und ich saß mit einer Tasse Tee und meinem Laptop auf dem Sofa, während er sich in seinem Körbchen zusammenrollte.

Mittlerweile war Video Nummer drei veröffentlicht worden und Frida hatte mir noch am späten Abend eine Nachricht geschickt. „Läuft immer besser! Die Menschen lieben dich! Wenn das so weitergeht, werde ich noch neidisch!“ Viele Ausrufezeichen, dazu Tausend bunte Herzen, jedenfalls gefühlt.

Außerdem hatte Johnny mir am frühen Morgen geschrieben und gemeint, er könne auf keinen Fall besser Reifenwechseln als ich, geschweige denn Akkubohren. Wir waren noch in Kontakt, schon wegen Nugget, dessen Wohl auch Johnny weiterhin am Herzen lag. Der Dackel war unser gemeinsamer Hund gewesen und die erste Woche nach Johnnys Abreise war Nugget nicht müde geworden, das Herrchen zu suchen.

Der Tee auf dem kleinen Sofatisch dampfte und jetzt war ich neugierig, wie viele Leute das aktuelle Video mittlerweile angeklickt hatten.

Biggi hatte längst ihre Lampe aufgehängt und mich daraufhin stolz angerufen. Einer der vielen positiven Kommentare war von einer Frau gewesen, die sprichwörtlich geschrieben hatte, dass ihr ein Licht aufgegangen sei, was ich total süß gefunden hatte. Aber das war nicht der einzige positive Kommentar gewesen, nein, nur einer unter vielen. Ich konnte kaum glauben, was da gerade passierte.

Ich musste einfach wissen, ob das dritte Video wieder so viel Zuspruch fand. Frida hatte ein sehr schönes Standbild kreiert, wie hieß das noch gleich im Fachjargon? Thumbnail, hatte Kai das genannt, glaubte ich mich zu erinnern.

Man sah mich, mit dem Bohrer in der Hand, in die Kamera strahlen.

„Auf geht’s!“, stand in großen Buchstaben neben meinem Kopf. „Von Frauen für Frauen!“

„Akkubohren leicht gemacht - SelbstistdieHelli zeigt euch, wie es geht!“, war der Titel des Videos, der unter dem plakativen Foto den kleinen Film beschrieb.

Eigentlich war ich mit meinem Anblick ganz zufrieden. Mit meinen dunklen, kurzen Haaren und dem asymmetrischen Haarschnitt wirkte ich noch nicht so alt, wie ich mich manchmal fühlte. Wobei - mein Altersgefühl hatte ich ja nur wegen Frida. Wer erwachsene Kinder hatte, war in der Regel aber auch älter als ich. Ich dagegen hatte Frida schon mit achtzehn bekommen und war jetzt dreiundvierzig.

Das Foto zeigte mich mit einem strahlenden Lächeln. Ja, ich sah durchaus glücklich aus.

Gerade wollte ich mich in die Kommentare vertiefen, denn die zu lesen war mir längst ein neues Hobby geworden, als mein Festnetztelefon klingelte.

„Grotte?“, meldete ich mich.

„Ich bin’s!“

„Frida! Ich hab grade an dich gedacht und wollte schauen, wie viele Leute schon unser Video angeschaut haben.“

„Deshalb rufe ich an. Mama, wir gehen viral! Das Reifenwechselvideo wird immer noch ständig angeklickt und das Video von gestern ist in die YouTube-Trends eingestiegen.“

„Ist es das?“ Mein Herzschlag beschleunigte sich. Mit so was hätte ich niemals gerechnet!

„Das ist total großartig, du wirst sogar ein wenig Geld mit den Videos verdienen, ist das nicht super?“

„Geld?“

„Na klar. Deswegen haben wir doch die Werbung vor dem Video geschaltet und … ach egal. Ich erspar dir die Details. Aber sag, hast du schon eine Idee für das nächste Video?“ Frida klang aufgeregt.

Ich hatte tatsächlich eine. In den letzten Tagen war ich ein paar Mal draußen an meinem Gartentisch vorbeigegangen und hatte festgestellt, dass er dringend geschliffen und neu gestrichen gehörte. Allerdings war ich mit dem Schleifgerät überhaupt nicht vertraut. Das musste ich dringend ändern.

„Ich dachte, ich mach meinen Gartentisch wieder flott.“

„Klingt prima. Veranstaltest du dann eine Grillparty für all die, die dich auf deinem Weg so liebevoll unterstützt haben?“

„Frida, du kannst jederzeit zum Essen kommen, das weißt du.“

„Klar weiß ich das. Aber du könntest auch noch Biggi und Tina einladen.“

„Sie heißt Jana. Und außerdem wird es gerade rasend schnell Winter - von wegen Grillparty.“

„Sorry.“ Man hörte auf Fridas Seite der Leitung etwas klirren, vermutlich räumte sie zeitgleich, während sie mit mir telefonierte, auch noch den Geschirrspüler ein - oder aus. Sie war ein geborenes Multitasking-Talent.

„Jedenfalls fände ich das sehr nett. Du könntest deinen neuen Nebenjob feiern. Übrigens musst du möglicherweise auch noch ein Gewerbe beim Finanzamt anmelden, aber diese langweiligen Dinge erkläre ich dir, wenn wir uns zum Drehen treffen.“

„Okay.“ Das auch noch. Wobei: Bürokram lag mir gut, schließlich arbeitete ich in einer Steuerkanzlei und mochte meinen Job dort auch.

„Jetzt gehst du aber erst mal an den Rechner und schaust nach, was alles passiert ist - quasi über Nacht.“ Frida lachte, gefolgt von einem weiteren lauten Klirren und einem unterdrückten Fluch. Vielleicht war sie weniger perfekt im Multitasking, als ich dachte.

„Ja, das wollte ich eh gerade machen. Ich ruf dich dann zurück, okay?“

„Super. Und überleg gleich mal, wann du Zeit für den nächsten Dreh hast.“

„Ist gut.“ Der Bildschirm meines Laptops war wieder schwarz. Ich erweckte das Gerät aus dem Koma. Neunzigtausend Aufrufe! Das war … eine kleine Sensation. Ich konnte es nicht fassen. Das stand da wirklich! So viele Leute hatten mir dabei zugesehen, wie ich mit einem Akkubohrer hantierte. Langsam scrollte ich durch die Kommentare.

„Weiter so, klasse Video!“

„Ich bin neunundfünfzig und habe heute zum ersten Mal einen Akkubohrer benutzt, danke für das tolle Video!“

„Du dürftest auch mal bei mir bohren! LOL“

Ich verdrehte die Augen. Frida hatte mich schon darauf vorbereitet, dass auch solche Kommentare mit dabei sein würden.

„Liebe Helli, du veränderst mein Bild von mir als Frau, und dafür werde ich dir immer dankbar sein.“

„Ich bin Soraya und fünfzehn. Gerade renoviere ich mein Kinderzimmer. Könntest du auch ein Video zum Malern machen? Danke, deine Soraya“

Das wollte ich mir merken. Malern! Das hatte ich tatsächlich schon so oft gemacht, dass ich es aus dem FF beherrschte, und mein Flur verdiente eh einen neuen Anstrich.

Ich gab allen positiven Kommentaren ein Herzchen. Die Zahl 90 000 schwebte über mir und hüllte mich ein, ohne dass ich sie greifen konnte. Ich erinnerte mich an einen Zeitungsartikel, in dem gestanden war, dass Flensburg um die neunzigtausend Einwohner hatte, aber das half mir auch nicht dabei, die Zahl zu greifen zu bekommen.

Ich öffnete mein Mail-Postfach. Die Lieferung eines Online-Versandhandels stand unmittelbar bevor, mein Chef schickte mir ein paar Aufgaben für Freitag, das war mein Homeoffice-Tag, und Jana cancelte das Eisschwimmen für diese Woche. Vermutlich war ihr das gerade dann eingefallen, als sie an ihrem PC Platz genommen hatte - sonst hätte sie mir auch eine Nachricht aufs Handy schicken können.

Frida hatte mir ein zweites E-Mail-Konto angelegt, das auch unter den Videos als Kontakt angegeben war. Es gab einen einzigen Posteingang: „Glückwünsche und Hochachtung“ von einem Ole Jansson.

Ich klickte auf den Namen und die E-Mail öffnete sich.

* * *

„Sehr geehrtes Fräulein Helli,

ich habe Ihr Video gesehen und bin voll der Bewunderung. Als jemand, dem eher kleine und feine Arbeiten liegen, muss ich Ihnen sagen, dass ich Ihr handwerkliches Geschick als großes Geschenk empfinde.

Sagen Sie, sind Sie schon immer so ein Talent im praktischen Bereich gewesen? Solche Frauen wie Sie sind hier auf Nortrum selten zu finden, vielleicht habe ich mich deshalb so sehr über Ihr Video gefreut. Auf jeden Fall haben Sie einen regelmäßigen Zuschauer gewonnen. Vielleicht könnten Sie auch mal etwas zum Thema Holzbearbeitung machen? Wissen Sie, durch die Meeresluft verwittern meine Holzmöbel auf der Terrasse schneller, als ich Ihnen das Wort Holzmöbel schreiben kann.

Herzliche Grüße, verbindlichst,

Ihr Ole Jansson“

* * *

Ich musste grinsen. Dieser Ole Jansson war mit Sicherheit über siebzig. Verbindlichst! Fräulein! Seine Sprache war ja geradezu antik angehaucht. Ich stellte mir einen alten Mann mit Schnauzbart vor, der mühsam im Zweifingersystem diese E-Mail an mich getippt hatte. In jedem Fall verdiente der alte Mann eine Antwort.

* * *

„Lieber Herr Jansson,

danke für Ihre freundliche Nachricht. Ich darf Ihnen mitteilen, dass bereits mein nächstes Video vom Holzschleifen handeln wird. Meine eigenen Gartenmöbel werden seit Jahren mit Bootslack gestrichen, weil der über eine besonders hohe Haltbarkeit verfügt.

Ach, und nein, ich habe mich nicht schon immer mit handwerklichen Dingen befasst. Aber kürzlich hat sich meine Lebenssituation verändert und ich habe für mich entschieden, dass ich das als Gelegenheit auffassen will, mich im handwerklichen Bereich weiterzuentwickeln.

Beste Grüße,

Ihre Helli“

* * *

Kurz hatte ich überlegt, noch ein „verbindlichst“ hinzuzufügen, aber da wäre ich mir doch sehr albern vorgekommen.

Gerade als ich das Mailprogramm verlassen wollte, ertönte noch mal ein Signalton. Eine weitere Mail war auf meinem neuen Account eingegangen. Es handelte sich um die Anfrage einer bekannten Firma, die Schlagbohrer herstellte. Ob ich an einer Kooperation interessiert sei?

Schön langsam nahm der Versuch YouTube Ausmaße an, mit denen ich niemals gerechnet hätte!

* * *

„Liebe Helli,

wenn ich Sie so nennen darf. Ihr letztes Video, das mit dem Schleifgerät, hat mich wirklich inspiriert. Meine Gartenmöbel erstrahlen regelrecht in neuem Glanz. Auch als Mann darf man sich durchaus daran erfreuen, Neues zu lernen. Schließlich gehe ich gerade mal auf die fünfundvierzig zu, da ist es noch für nichts zu spät, nicht wahr?

Jedenfalls: Erlauben Sie mir zu sagen, dass ich ihr Video sehr genossen habe. Ihre unkomplizierte Art, Dinge zu erklären, Ihr gepflegtes Äußeres, Ihr Schlusswort, das schon jetzt zu Ihrem Markenzeichen geworden ist - toll!

Beim nächsten Mal, wenn ich mit einer Tasse Rooibostee auf meiner Terrasse sitze und mir den Nordseewind um die Nase wehen lassen werde, schicke ich Ihnen einen guten Gedanken.

Ihr

Ole“

* * *

„Lieber Ole,

hoffentlich hat der Tee Ihnen gut geschmeckt auf ihren neu glänzenden Möbeln. Eigentlich richtet sich mein Kanal an Frauen, aber wenn SelbstistdieHelli zu SelbstistderOle führt, ist mir das natürlich auch sehr recht. Toll, wenn wir alle miteinander Neues lernen.

Irgendwie hatte ich Sie ganz falsch eingeschätzt und gedacht, dass Sie schon älter wären. Ich würde mich freuen, wenn Sie meinen Videos treu blieben!

Ihre

Helli“

* * *

„Liebe Helli,

ich bin ein Mann in den besten Jahren, wenn ich das so sagen darf. Beruflich fertige ich Schmuck aus Treibholz und arbeite halbtags in der Gemeinde von Nortrum. Vermutlich finden Sie das wahnsinnig langweilig. Aber glauben Sie mir, ich bin interessanter, als man denkt, und auch meine Heimatinsel ist immer einen Besuch wert!

Übrigens habe ich unserem Inselhandwerker, Jarick, meine Terrassenmöbel gezeigt. Ich versuche gerade, ihm Schach beizubringen, allerdings scheint das ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen zu sein. Jedenfalls meinte er, ich hätte die Arbeiten höchst professionell verrichtet. Als ich ihm dann noch gesagt habe, dass er meine Wohnzimmerlampe nicht mehr austauschen muss, weil ich das jetzt selbst kann (ich hab ihr Video zu dem Thema entdeckt!), hat er ein ganz schön langes Gesicht gemacht. Ich glaube, es wäre gar nicht in Jaricks Sinne, wenn ich Ihre Videos hier auf der Insel zu sehr publik machen würde. Am Ende würde der Mann noch arbeitslos!

Mein Tee war übrigens köstlich. Ich muss zugeben, dass ich eine Schwäche für Kluntje und Mandelgebäck habe, deshalb habe ich mir neben einer dicken Wolldecke gegen die frische Inselluft auch ein paar selbst gebackene Kekse zum Tee gegönnt.

Sagen Sie, haben Sie eigentlich schon mal ein Hochbeet angelegt? Wäre das nicht auch ein wunderbares Thema?

Ihr

Ole“

* * *

„Lieber Ole,

das mit dem Hochbeet, kann ich mir fürs Frühjahr wirklich gut vorstellen, danke. Vielleicht schaffe ich es bis dahin, das Holzgerüst für das Beet sogar selbst zu bauen. Ich glaube, das wäre eine richtig tolle Idee. Dafür muss ich allerdings selbst noch ein wenig dazulernen. Wissen Sie alles, was ich in den Videos zeige, habe ich mir erst kürzlich angeeignet. Es hat mich einfach geärgert, dass ich mich immer als so unfähig empfunden habe, und jetzt will ich versuchen, selbstständiger im handwerklichen Bereich zu werden.

Im Frühjahr zeigen Sie mir dann ein Foto von Ihrem Hochbeet, ja?

Viele Grüße

Helli“

* * *

„Liebe Helli,

jetzt bewundere ich Sie noch mehr. Ich dachte, Sie wären schon immer ein Genie an der Stichsäge. Dabei sind Sie jemand, der sich die Dinge, die ihr wichtig sind, hart erarbeitet. Das, muss ich sagen, schätze ich sehr. Ich selbst habe mir ja mit meinem Schmuck aus Strandgut auch einen Traum erfüllt. Es macht mir einfach riesigen Spaß. Sie mögen jetzt denken, dass ich dann wirklich gut mit schwerem Gerät umgehen können müsste, nicht wahr? Aber das meiste, was ich mache, braucht Draht, eine Zange und eine Extraportion Liebe zum Detail. Wenn ich dann ein Teil fertig habe und zum Verkauf ins Inselcafé bringen kann, bin ich immer glücklich. Es ist schön, wenn jemand, der Gast auf der Insel ist, ein echtes Stück von ihr mitnimmt und sich so für immer an Nortrum, diese kleine, wunderschöne Perle erinnert.

Sagen Sie, Helli, was macht Sie glücklich?

Herzlich und verbindlich,

Ihr Ole“

* * *

Ich lächelte und starrte auf die Zeilen des Fremden, las die Mail ein weiteres Mal. In den letzten Tagen war der Kontakt zwischen uns nicht abgerissen. Er schien ein netter Mann zu sein, freundlich und aufgeschlossen, vielleicht ein wenig einsam, nur ein wenig, so wie ich selbst. In jedem Fall brachte er die Zeit auf, immer wieder auf meine Mails zu antworten. Es schien mir sogar, als wolle er unser Gespräch gezielt am Laufen halten.

Wie er wohl aussah? Gepflegt, dachte ich und musste ein weiteres Mal innerlich grinsen.

Ich wechselte vom Mailprogramm ins Internet und suchte nach seinem Namen. Tatsächlich gab es eine Internetseite der Gemeindeverwaltung von Nortrum und ich klickte darauf. Es gab fünf Gemeindemitarbeiter, einer davon war tatsächlich Ole Jansson. Er schaute offen und freundlich in die Kamera und sah aus, als käme er direkt aus Schweden mit seinen hellen Haaren und den Sommersprossen. Eine schmale Nase, schmale Lippen und ein strahlendes Lächeln, das seine hellblauen Augen zum Blitzen brachte. Das raue Inselklima stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ole war ein Mensch, den man sofort mochte, den ich sofort mochte. Ich ertappte mich dabei, dass ich ihn anschaute und schon wieder lächelte. Seine Haare wirkten, als hätte der Wind sie frisch zerzaust, obwohl sie kurz geschnitten waren. Wie groß er wohl war?

Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken.

„Hi Mama, ich bin’s.“

„Frida! Wie schön.“

„Was machen wir diese Woche für ein Video? Ich hab mir extra morgen Vormittag freigehalten.“

Der Samstag hatte sich wie automatisch zu unserem Drehtag entwickelt. Mittlerweile waren wir bei Video Nummer sechs und der Zulauf war immens.

Fast noch schöner für mich war aber, dass Frida und ich jetzt ein gemeinsames Projekt hatten und es beide genossen, die Zeit miteinander zu verbringen. Ich schaffte es mittlerweile, dank Fridas Hilfe, meine Videos fast perfekt zu schneiden, den Rest machte Frida.

---ENDE DER LESEPROBE---