Dichter und ihre Gesellen - Joseph von Eichendorff - E-Book

Dichter und ihre Gesellen E-Book

Joseph von Eichendorff

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Beschreibung

Eichendorffs bisher eher unbekannter romantischer Roman: Auf seiner Reise nach Italien, die einige Zwischenstationen und Erlebnisse beinhaltet, lernt Baron Fortunat allerlei interessante Personen sowie Künstler einer Theatergruppe kennen, die er in Rom zufälligerweise wiedertrifft. Zurück in Deutschland kommt jedoch alles anders als erwartet...-

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Joseph von Eichendorff

Dichter und ihre Gesellen

 

Saga

Dichter und ihre GesellenCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1833, 2020 Joseph von Eichendorff und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726642834

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Erstes Buch

Erstes Kapitel

In den letzten Strahlen der Abendsonne wurde auf der grünen Höhe ein junger Reiter sichtbar, der zwischen dem Jauchzen der Hirten und heimkehrenden Spaziergänger fröhlich nach dem freundlichen Städtchen hinabritt, das wie in einem Blütenmeere im Grunde lag.

Er sann lange nach, was ihn hier mit so altbekannten Augen ansah, und sang immerfort ein längst verklungenes Lied leise in sich hinein, ohne zu wissen, woher der Nachhall kam. Da fiel es ihm plötzlich aufs Herz: wie in Heidelberg lagen die Häuser da unten zwischen den Gärten und Felsen und Abendlichtern, wie in Heidelberg rauschte der Strom aus dem Grunde, und der Wald von allen Höhen! So war er als Student manchen lauen Abend sommermüde von den Bergen heimgekehrt und hatte über die Feuersäule, die das Abendrot über den Neckar warf, in die duftige Talferne gleichwie in sein künftiges, noch ungewisses Leben hinausgeschaut.

„Mein Gott“, rief er endlich, „da in dem Städtchen unten muß ja Walter wohnen, mein treuer Heidelberger Kamerad, mit dem ich manchen stillen, fröhlichen Abend auf den Bergen verlebt! Was muß der wackere Gesell nicht alles schon wissen, wenn er fortfuhr, so fleißig zu sein wie damals!“ Er gab ungeduldig seinem Pferde die Sporen und hatte bald das dunkle Tor der Stadt erreicht. Walters Wohnung war in dem kleinen Orte leicht erfragt: ein buntes, freundliches Häuschen am Markte, mit hohen Linden vor den Fenstern, in denen unzählige Sperlinge beim letzten Abendschimmer einen gewaltigen Lärm machten. Der Reisende sprang eilig die enge, etwas dunkle Treppe hinan und riß die ihm bezeichnete Tür auf; die Abendsonne, durch das Laub vor den Fenstern zitternd, vergoldete soeben die ganze, stille Stube, Walter saß im Schlafrock am Schreibtische neben großen Aktenstößen, Tabaksbüchse, Kaffeekanne und eine halbgeleerte Tasse vor sich. Er sah den Hereintretenden erstaunt und ungewiß an, seine Gipspfeife langsam weglegend. „Baron Fortunat!“ rief er dann, „mein lieber Fortunat!“ und beide Freunde lagen einander in den Armen.

„Also so sieht man aus in Amt und Brot?“ sagte Fortunat nach der ersten Begrüßung, während er Walter von allen Seiten umging und betrachtete; denn es kam ihm vor, als wäre seit den zwei Jahren, daß sie einander nicht gesehen, die Zeit mit ihrem Pelzärmel seltsam über das frische Bild des Freundes dahingefahren, er schien langsamer, bleicher und gebückter. Dieser dagegen konnte sich gar nicht satt sehen an den klaren Augen und der heitern, schlanken Gestalt Fortunats, die in der schönen Reisetracht an Studenten, Jäger, Soldaten und alles Fröhliche der unvergänglichen Jugend erinnerte. Fragen und Gegenfragen kreuzten sich nun rasch, ohne eine Antwort abzuwarten. Walter pries vor allem sein Glück, das ihn hier so schnell eine leidliche Stelle hatte finden lassen, es fehlte nicht an größern Aussichten, und so sehe er einer heitern, sorgenlosen Zukunft entgegen. Dazwischen hatte er in seiner freudigen Unruhe bald noch einen Brief zusammenzufalten, bald ein Paket Akten zu binden, bald draußen etwas zu bestellen, beide konnten den alten, vertraulichen Ton gar nicht wiederfinden.

Unterdes war eine alte Frau hereingetreten und fing an, eine altmodische Kaffee-Serviette zierlich auszubreiten und Teller, Gläser und Weinflaschen aufzustellen, wobei sie von der Seite ehrerbietige Blicke auf den vornehmen, fremden Herrn warf, der eine solche Revolution in der einförmigen Junggesellenwirtschaft verursachte. Fortunat aber überschaute am Fenster den heitern Markt, und leise Wehmut flog durch seine Seele über die langsam zersetzende und zerstörende Gewalt der Verhältnisse, wie sie ihm auf Walters treues Gemüt wirksam zu sein schien. – „Laß uns nach guter, alter Art im Freien trinken!“ rief er, sich schnell umwendend, aus, da er die Zurüstungen hinter sich erblickte. Walter hatte Bedenken: das sei hier nicht gewöhnlich, man werde in kleinen Städten zu sehr bemerkt. Fortunat aber hatte unterdes schon unter jeden Arm eine Flasche genommen, und wanderte damit die Treppe hinunter. Walter folgte verlegen lachend, die Alte brachte voll Verwunderung Tisch und Gläser nach, und bald war die ganze fröhliche, funkelnde Wirtschaft unter den Bäumen vor der Tür aufgeschlagen.

Die Sonne war indes untergegangen, und die Dächer und die Gipfel der Berge über der Stadt glühten noch, von denen ein erquickender Strom von Kühle durch alle Straßen und Herzen ging. Kinder jagten sich und schwärmten in den Gassen, die Vornehmen, ihre Hüte nachlässig in der Hand und sich den Schweiß abtrocknend, kehrten, von allen Seiten ehrerbietig begrüßt, von ihren Spaziergängen zurück. Andere traten in bequemen Nachtkleidern mit den Pfeifen vor die Türen und plauderten mit dem Nachbar, während junge Mädchen, kichernd und in lebhaftem Gespräch, Arm in Arm über den Platz schlenderten und neugierig an dem Fremden vorüberstrichen.

Walter ging bei den Erinnerungen an die fröhliche Studentenzeit und bei dem langentbehrten weiteren und reichen Gespräch recht das Herz auf, er hatte gar bald alle Scheu und blöde Rücksicht abgeschüttelt. „Wie glücklich bist du zu preisen“, rief er seinem Freunde zu, „daß dir vergönnt ist, so mit den Vögeln durch den Frühling zu ziehen und die Reise nach Italien nun wirklich anzutreten, die wir in den heitersten Stunden in Heidelberg so oft miteinander besprachen. Das waren schöne Jugendträume!“

„Das verhüte Gott!“ versetzte Fortunat lebhaft, „warum denn Träume? Die Ahnung war es, der erste Schauer des schönen, überreichen Lebens, das gewißlich mit aller seiner geahnten und ungeahnten herrlichen Gewalt über uns kommen wird, wenn wir nur fröhlich standhalten. Wo wären wir denn aufgewacht von den sogenannten Träumen? Was hätte sich denn seitdem verändert? Aurora scheint noch so jung über die Berge wie damals, die Erde blüht alljährlich wieder bis ins fernste tiefste Tal – warum sollte denn unsere unsterbliche Seele, die alle den Plunder überdauert, allein alt werden? Was hindert denn zum Exempel dich, alle den Ballast von Vor-, Neben- und Rücksichten frisch wegzuwerfen und frei mit mir in das offene Meer zu stechen? Reise mit, alter Kumpan!“

Walter faßte lächelnd die ihm dargebotene Rechte. „Was mich eigentlich zwischen diesen Bergen festhält“, sagte er, „das sollst du künftig erfahren. Doch – du magst immerhin lachen – das kann ich außerdem ehrlich sagen: es wäre mir schwer, ja gewissermaßen unmöglich, den einmal mit Ernst und Lust begonnenen Geschäften zu entsagen, die wie ein stiller, klarer Strom in tausend unscheinbaren Nebenarmen das Land befruchten, und mich so von meiner stillen Stube aus in immer wechselndem, lebendigem Verkehr mit den entferntesten Gegenden verbinden.“

Fortunat sah ihn nachdenklich an. „Du meinst es immer brav“, sagte er nach einer Pause, „darum glaube ich dir, wo ich dich auch nicht recht verstehe. Aber in welchem greulichen Rumor lebt ihr Beamte dabei! Keiner hat Zeit zu lesen, zu denken, zu beten. Das nennt man Pflichttreue; als hätte der Mensch nicht auch die höhere Pflicht, sich auf Erden auszumausern und die schäbigen Flügel zu putzen zum letzten, großen Fluge nach dem Himmelreich, das eben auch nicht wie ein Wirtshaus an der breiten Landstraße liegt, sondern treu und ernstlich und mit ganzer, ungeteilter Seele erstürmt sein will. Ja, ich habe schon oft nachgedacht über den Grund dieser zärtlichen Liebe so vieler zum Staatsdienst. Hunger ist es nicht immer, noch seltener Durst nach Nützlichkeit. Ich fürchte, es ist bei den meisten der Reiz der Bequemlichkeit, ohne Ideen und sonderliche Anstrengung gewaltig und mit großem Spektakel zu arbeiten, die Satisfaktion, fast alle Stunden etwas Rundes fertig zu machen, während die Kunst und die Wissenschaften auf Erden niemals fertig werden, ja, in alle Ewigkeit kein Ende absehen.“ „Da rührst du“, entgegnete Walter, „an den wunden Fleck, wenigstens bei mir. Daß ich, aus Mangel an Zeit, zu beiden Seiten die schönen Fernen und Tiefen, die uns sonst so wunderbar anzogen, liegen lassen muß, das ist es, was mich oft heimlich kränkt, und was ich hier nicht einmal einem Freunde klagen kann. Dazu kommt die Abgelegenheit des kleinen Orts, wo alle Gelegenheit und aller Reiz fehlt, der neuesten Literatur zu folgen.“

„Ist auch nicht nötig“, versetzte Fortunat. „Was willst du jedem Phantasten in seine neumodischen Parkanlagen nachschreiten! Das rechte Alte ist ewig neu, und das rechte Neue schafft sich doch Bahn über alle Berge und – wie ich oben bemerkt – auch in diesen Gebirgskessel. Denn wenn ich nicht irre, sah ich vorhin bei dir neben dem Corpus juris die neuesten poetischen Werke des Grafen Victor stehen.“ „Nun“, sagte Walter, „meinen großen Landsmann muß ich doch in Ehren halten, seine Heimat liegt ja kaum eine Tagereise von hier.“ Fortunat sprang überrascht auf. „Da reit ich hin“, rief er, „den muß ich sehen.“ „Geduld“, erwiderte Walter lächelnd, „er ist schon seit mehreren Jahren auf Reisen.“ „Und ich reite doch hin!“ entgegnete Fortunat fröhlich, „wer einen Dichter recht verstehen will, muß seine Heimat kennen. Auf ihre stillen Plätze ist der Grundton gebannt, der dann durch alle seine Bücher wie ein unaussprechliches Heimweh fortklingt.“ Walter schien einem Anschlage nachzudenken. „Wohlan“, sagte er endlich, „wenn du durchaus hin willst, so begleite ich dich, ich bin dort wohlbekannt, und wir bleiben dann um so länger beisammen. Ich muß dir nur gestehen, ich hatte mich eigentlich schon selbst darauf eingerichtet, in diesen Tagen hinzugehen. Hier kann ich dir nicht viel Ergötzliches bieten, und wenns dir recht ist, so reisen wir morgen.“ Fortunat schlug freudig ein.

Walter aber fing nun an, einige Lieblingsstellen aus Victors Werken zu rezitieren, was Fortunat immer störte, weil ein gutes Gedicht keine Stellen, sondern eben nur das gute Gedicht gibt, gleichwie eine abgeschlagene Nase oder ein paar abgerissene Ohren der Mediceischen Venus für Kenner recht gut, aber sonst ganz nichtswürdig sind.

„Du kennst doch Victors Werke? Du liebst ihn doch auch?“ unterbrach sich endlich Walter selbst, da Fortunat schweigend ein Glas nach dem andern hinunterstürzte. „Ich liebe ihn“, sagte dieser, „wie ich ein nächtliches Gewitter liebe, das alles Grauen und alle Wunder in der Brust regt, ich kenne ihn, weil er von den geheimnisvollsten, innersten Gedanken meiner Seele, ja ich möchte sagen, von dem Waldesrauschen meiner Kindheit wunderbaren Klang gibt. – Friede dem großen dunklen Gemüt“, fuhr er sein Glas erhebend, fort, „und freudiges Begegnen mit ihm!“

Die Freunde hatten über dem lebhaften Gespräch gar nicht bemerkt, daß unterdes der Platz allmählich öde geworden war. In der wachsenden Stille hörte man nur noch eine Geige aus einiger Entfernung und dann das einförmige Stampfen von Tanzenden dazwischen herüberschallen. Beides klappte so wenig zusammen, und die Geige wurde so unaufhörlich und entsetzlich schnell gestrichen, daß Fortunat laut auflachte und ungeachtet Walters Einwendungen sogleich dem Tanzplatze zueilte. Der verworrene Klang kam aus einem niedrigen Häuschen, über dessen Tür ein Strohbüschel als Wahrzeichen eines Weinschanks im Nachtwinde hin und her baumelte. Walter war in anständiger Ferne stehengeblieben, während Fortunat durch das Fenster in die seltsame Tanzgrube hineinblickte. Ein langes dünnes Licht, das wie ein Peitschenstiel aus einem eisernen Leuchter hervorragte, warf ungewisse Scheine über das dunkle Gewölbe eines Kellers, an dessen Seitenwänden eingeschlafene Trinker über den langen plumpen Tischen umherlagen. In der Mitte tanzten eifrig mehrere Paare lustigen Gesindels, bald mit den zierlich gebogenen Armen wie zum Fliegen ausholend, bald in den auserlesensten Figuren und Windungen sich nähernd und wieder trennend, bevor sie einander endlich zum Walzer umfaßten. Der dicke Weinschenk ging mit aufgestreiften Hemdärmeln dazwischen herum, ahmte mit dem Munde den Wachtelschlag nach, schnitt den vorübertanzenden Frauenzimmern lächerliche Gesichter oder wagte zuweilen selbst einen künstlichen Sprung. Am auffallendsten aber war der Musikant: ein anständig gekleidetes, lebhaftes Männchen mit einem scharfen, geistreichen Gesicht, emsig in den wunderlichsten Läufern die Geige spielend, während seine Augen mit unverkennbarem Wohlbehagen die Tanzenden verfolgten. Vergebens riefen diese ihm zu, sich zu moderieren, der Unaufhaltsame drehte mit wahrem Virtuosenwahnsinn die Töne, wie einen Kreisel, immer schneller und dichter, die Tanzenden gerieten endlich ganz außer Takt und Atem, es entstand ein allgemeines Wirren und Stoßen, bis zuletzt alle zornig auf den Musikus eindrangen. Dieser erhob sich nun und retirierte besonnen in künstlichen Fechtparaden nach der Tür, immerfort mit dem Fiedelbogen in den dicksten Haufen stoßend. So kam er glücklich auf die Straße heraus, die Schlafmütze des Wirts, die er im Getümmel aufgespießt, hoch auf seinem Bogen. Der lustige Wirt folgte schimpfend und vermehrte den Lärm von Zeit zu Zeit durch das Prasseln von Feuerwerk, das er täuschend mit dem Munde nachmachte.

Jetzt bemerkte der Musikus plötzlich die beiden Freunde auf der Gasse und sah sie mit seinen klugen Augen durchdringend an, während der Wirt, mit der einen Hand seine wilden Gäste in den Keller zurückdrängend, mit der andern ruhig die ihm zugeworfene Schlafmütze wieder auf den Kopf stülpte. Walter war einen Augenblick in Verlegenheit, ob und wie er den ihm unbekannten Fremden anreden sollte, und äußerte endlich seine Verwunderung über diese heillose Fertigkeit auf der Geige. „Kleinigkeit! Kleinigkeit!“ erwiderte der Musikus; „nichts als Taranteln, womit ich die Leute in die Waden beiße und den St. Veitstanz erfinde.“ Mit diesen Worten empfahl er sich, nahm die Geige unter den Arm und schlenderte, noch einigemal furchtsam nach dem Keller zurückblickend, rasch durch die Nacht über den Marktplatz fort.

Fortunat, der bisher kein Auge von ihm verwendet hatte, trat nun schnell auf den Wirt zu, um etwas Näheres über das wunderbare Männchen zu erfahren. „ein Fremder“, sagte der Wirt, „ein Partikülier, wie er sich nennt, mit dem ich schon manchen Verdruß gehabt habe. Er kommt zuweilen in die Stadt, aber immer nur gerade zu mir, und wenn ich reelle Gäste habe, die nach getaner Arbeit ihr Gläschen trinken und vernünftig diskurieren wollen, setzt er sich zu ihnen, und eh ich’s mich versehe, hat er Händel unter ihnen angestiftet und hat dann keine Courage, sie auszufechten. Wenn er recht vergnügt ist, zieht er gar seine verfluchte Geige hervor und spielt tolles Zeug auf. Hol der Teufel alle Phantasten.“

Hiermit kehrte der Wirt wieder in seine Höhle zurück, und die beiden. Freunde bemerkten bei dem hellen Mondenschein, wie der unbekannte Musikus soeben zum Stadttor hinauswanderte. „Ein herrlicher Narr!“ rief Fortunat aus, dem Wanderer noch immer nachsehend. „Laß die Fledermäuse“, erwiderte Wal-

Particulier: Privatmann, Rentner.

ter, „sie geraten uns sonst noch in die Haare. Komm nun nach Haus, es ist schon spät, und ich habe noch alle Hände voll zu tun für morgen.“

Zweites Kapitel

Fortunat und Walter reiten nach Hohenstein, dem Sitz des Grafen Victor. In Gesprächen verloren, verirren sie sich und müssen die Nacht im Walde verbringen.

Wie schön, hier zu verträumen

Die Nacht im stillen Wald,

Wenn in den dunklen Bäumen

Das alte Märchen hallt.

Die Berg in Mondesschimmer

Wie in Gedanken stehn,

Und durch verworrne Trümmer

Die Quellen klagend gehn.

Denn müd ging auf den Matten

Die Schönheit nun zur Ruh,

Es deckt mit kühlen Schatten

Die Nacht das Liebchen zu.

Das ist das irre Klagen

In stiller Waldespracht,

Die Nachtigallen schlagen

Von ihr die ganze Nacht.

Die Stern gehn auf und nieder –

Wann kommst du, Morgenwind,

Und hebst die Schatten wieder

Von dem verträumten Kind?

Schon rührt sich’s in den Bäumen,

Die Lerche weckt sie bald –

So will ich treu verträumen

Die Nacht im stillen Wald.

Im Morgenscheine finden sie ihr Ziel:

Immer tiefer und freudiger stiegen sie von den Bergen in das Blütenmeer, schon hörten sie von fern eine Turmuhr schlagen, zahllose Nachtigallen schlugen überall in den Gärten. Am Ausgang des Gebirges schien ein großes Dorf zu liegen, zerstreute Hügel, dunkle Baumgruppen und ein hohes prächtiges Schloß hoben sich nach und nach aus der verworrenen Dämmerung, alles noch unkenntlich und rätselhaft, wie in Träumen. So waren sie in eine hohe Kastanienallee gekommen, als Walter plötzlich an einem zierlichen Gittertor still hielt. „Sie schlafen noch alle“, sagte er, „wir wollen indes hier in den gräflichen Garten gehen und die Erwachenden überraschen.“

Sie banden nun ihre Pferde an den Zaun und schwangen sich von den steinernen Sphinxen, die den Eingang bewachten, über das Gitter in den Garten hinein. Da war noch alles still und duftig, einzelne Marmorbilder tauchten eben erst aus den lauen Wellen der Nacht empor. Das alte, finstere Schloß im Hintergrunde mit seinen dichtgeschlossenen Jalousien stand wie eine Gewitterwolke über einem freundlichen Nebengebäude, von dem man vor lauter Weinlaub fast nur das rote Ziegeldach sah. Unter den hohen Bäumen vor dem letzteren fanden sie einen Tisch und mehrere Stühle, als wären sie eben erst von einer Gesellschaft verlassen worden. „Da hat sie schon wieder ihre Gitarre draußen vergessen“, sagte Walter kopfschüttelnd. „Wer denn?“ fragte Fortunat – „die schöne Amtmannstochter, von der du mir erzählt hast?“ „Ja, Florentine“, erwiderte Walter; „das ist des Amtmanns Wohnung, und dort oben nach dem Garten hinaus ihre Schlafstube.“ „Du weißt hier gut Bescheid“, entgegnete Fortunat. Walter wurde rot und schwieg verlegen. Fortunat aber ergriff ohne weiteres die auf dem Tische liegende Gitarre, stellte sich vor das bezeichnete Fenster und sang:

Zwei Musikanten ziehn daher

Vom Wald aus weiter Ferne,

Der eine ist verliebt gar sehr,

Der andre wär es gerne.

„Ich bitte dich“, unterbrach ihn Walter, „was singst du da für dummes Zeug!“ „Wart nur, ’s kommt gleich klüger“, erwiderte Fortunat und sang weiter:

Die stehn allhier im kalten Wind

Und singen schön und geigen:

Ob nicht ein süßverträumtes Kind

Am Fenster sich wollt zeigen?

Sein Wunsch ging wirklich in Erfüllung. Ein schönes Mädchen, noch ganz verschlafen, wie es schien, fuhr oben ans Fenster, schüttelte die Locken aus dem Gesichtchen und sah neugierig mit großen, frischen Augen durch die Scheiben. Als sie aber unten einen unbekannten, wohlgekleideten Mann erblickte, war sie ebenso schnell wieder verschwunden. Walter wurde nun in der Tat unwillig, Fortunat aber griff immer lustiger in die Saiten und sang wieder:

Mein Herz ist recht von Diamant,

Ein Blum von Edelsteinen,

Die funkelt fröhlich übers Land

In tausend bunten Scheinen!

Und durch das Fenster steigen ein

Waldrauschen und Gesänge,

Da bricht der Sänger mit herein

Im seligen Gedränge.

Unterdes war es im Hause nach und nach lebendig geworden, Türen gingen auf und zu, im Innern hörte man dazwischen das kräftige Lachen eines Mannes, das immer näher zu kommen schien. Endlich wurde die Haustür von innen geöffnet, und, mit einer langen Pfeife im Munde, stand ein schon völlig angekleideter, großer, starker Mann vor ihnen, dessen gebräuntes, lebenslustiges Gesicht von der Morgensonne hell beschienen wurde. Es war der Amtmann selbst. Er war voller Freude, Walter so unerwartet wiederzusehen, und konnte gar nicht aufhören, über das lustige Ständchen zu lachen, durch das sich Fortunat sogleich in seine entschiedene Gunst gesetzt zu haben schien. Mit schallender Stimme rief er nun alles im Hause wach, es mußten eilig Kaffee und Pfeifen ins Freie herausgebracht werden, sie lagerten sich um den Tisch auf dem grünen Platze vor der Tür, den die beiden Gäste noch vor kurzem so einsam gesehen hatten, und Walter mußte ausführlich ihre nächtlichen Irrfahrten vortragen.

Unterdes war auch die Frau Amtmann dazugekommen. Sie hatte sich vor dem unbekannten Gaste sorgfältig und beinahe festlich angetan und empfing Fortunat mit umständlicher, wortreicher Feierlichkeit. Fortunat, dem bei solcher Gelegenheit unwillkürlich alle Bewillkommnungskomplimente einfielen, die er in seinem ganzen Leben gehört oder auch nicht gehört hatte, konnte nicht widerstehen, mit einem unerschöpflichen Schwalle der auserlesensten Redensarten zu entgegnen, und erweckte dadurch bei der Dame eine nicht geringe Meinung von sich und seiner feinen Lebensart.

„Das ist heute ein rechter Freudentag!“ sagte der Amtmann, „da soll es auch einmal hoch hergehen.“ Er erzählte nun, wie sie heut gegen Abend auch noch ihren jungen Neffen Otto hier erwarteten, der von der fernen Universität zurückkehrte, um sich zu seiner Anstellung vorzubereiten. Die Amtmann ließ mit zufriedener Miene noch einfließen, daß Otto, der Sohn ihrer verstorbenen Schwester, aus Herrn Walters Städtchen sei, daß er schon auf der Schule immer für den Stillsten und Geschicktesten galt und nun ein wahrer Gelehrter geworden sei.

Fortunat bemerkte während dieses Gesprächs, daß sich Walter unterdes verloren hatte. Der Garten, der nun in voller Morgenpracht herüberfunkelte, lockte auch ihn schon lange, und er sagte endlich dem Amtmanne, wie er Walter vorzüglich in der Absicht hierherbegleitet habe, um die Heimat des berühmten Grafen Victor einmal in der Nähe zu sehen. Der Amtmann lächelte. „Ich weiß nicht“, sagte er, „ob Sie auch solcher Meinung sind, aber wenn die andern von dem berühmten, gelehrten Grafen sprechen, denken sie sich ihn immer mit der Zipfelperücke, wie den Hilmar Curas vor seiner Grammatik. Das kann mich immer ärgern. Was da Gelehrter! Zu Pferde muß man den großen Victor sehen, im Walde auf der Jagd, auf dem Felsen, wo allen andern schwindelt – mit einem Worte: Das ist ein rechter Mann! Das Berühmtsein und Versemachen ist nur so Lumpenzeug daneben, wie eine Schabracke auf einem schönen Roß, und er gibt selber nichts darauf. Doch wir sprechen ein andermal mehr davon.“ Er stand nun auf und beschrieb Fortunat die Gänge, die er im Garten einschlagen sollte, um zu den schönsten Punkten zu gelangen, da ihn selbst die Wirtschaftsanordnungen für den anbrechenden Tag in das Haus hineinriefen.

Fortunat wandte sich nun allein in den Garten, wo er zu seinem Erstaunen ringsumher nur architektonische Formen altmodischer Gänge, hohe, feierliche Buchenalleen, Springbrunnen und künstliche Blumenbeete erblickte, von denen dunkelglühende Päonien und prächtige Kaiserkronen glänzten. Es war, als hätte ein wunderbarer Zauberer über Nacht seine bunten Signaturen über das Grün gezogen und säße nun selber eingeschlummert in dem Labyrinth beim Rauschen der Wasserkünste und träumte von der alten Zeit, die er in seine stillen Kreise gebannt.

Schon waren Schloß und Amtmannswohnung hinter Fortunat versunken, als er plötzlich einen wohlgekleideten jungen Mann bemerkte, der an den Marmorstufen eines einsamen Gartenhauses eingeschlafen war. Er wollte umkehren, aber der Schläfer, von dem Geräusch erweckt, fuhr soeben rasch auf, blickte verworren ringsumher und fragte Fortunat, wer er sei. Dieser erzählte nun sein nächtliches Abenteuer und seinen langgehegten Wunsch, diese Gegend einmal zum Angedenken des Dichter-Grafen Victor zu durchstreifen. „Vortrefflich“, erwiderte der andere, „so will ich Sie sogleich herumführen!“ „Kennen Sie den Grafen Victor?“ fragte Fortunat. „Nicht sonderlich“, erwiderte jener, „doch weiß ich eben genug von ihm, um Ihnen hier überall genügende Auskunft zu geben.“

Fortunat nahm das unerwartete Anerbieten dankbar an und betrachtete, als sie nun miteinander weitergingen, mit freudiger Überraschung das schöne, aber etwas bleiche und wüste Gesicht des Unbekannten, über das die Morgenlichter durch das Laub wunderlich wechselnde Scheine warfen. Er äußerte endlich seine Verwunderung über die, wie es schien, absichtlich und sehr sorgfältig festgehaltene Altmodigkeit dieses Gartens. „Der Graf“, entgegnete sein Begleiter, „will es so haben. Buchsbaumene Kindlichkeit! Wie es in seiner Kindheit gewesen, so soll es hier ferner verbleiben, selbst dieselben Blumen müssen jährlich an denselben Plätzen wieder gepflanzt werden wie damals.“ „Er hat recht“, sagte Fortunat, „was soll ein Garten, wenn er nicht ein Gedicht von ganz bestimmtem Klange ist! In diesem einförmigen Plätschern der Wasserkünste, in dieser geisterhaften Symmetrie der Laubwände und stummen Marmorbilder ist eine Wehmut, die einen wahnsinnig machen könnte.“

„Sehen Sie da“, rief Fortunats Begleiter aus, „das Großartige und Kühne dieser Komposition. Ich betrete diesen Ort nie ohne Ehrfurcht vor dem seltenen Genius dieses Dichter-Grafen – oder sagen wir es nur lieber grad heraus: Dichterkönigs! Besonders muß ich Sie hier auf jene leicht geschwungenen Brücken aufmerksam machen. Sie führen, wie Sie sehen, über die Wipfel der Bäume hinweg nach einzeln stehenden, hohen, abgerissenen Felsen hinüber, die mit ihren bunten Gärtchen auf den Gipfeln wie funkelnde Blumenzinnen über Waldeseinsamkeit emporragen. Diesen Einfall hat der liebenswürdige Graf vor dem lieben Gott voraus, er legte diese hängenden Gärten an; das waren die Blocksberge seiner Phantasie. Hier pflegte er als Knabe, wenn ein Gewitter heraufzog, und im Schlosse alles ängstlich durcheinanderlief, vor der unermeßlichen Aussicht zu sitzen, mit den Beinen über dem Abgrunde baumelnd, bis ihm die ersten dicken Regentropfen an die seidenen Strümpfe klatschten.“ „Es freut mich“, erwiderte Fortunat, der, ganz in den Anblick des wunderbaren Grundes versunken, die letzten Worte fast überhört hatte, „es freut mich recht, daß Sie Victors poetische Erscheinung so hoch halten.“

Der Begleiter sah ihn aus den schönen Augen scharf und zweifelhaft an. „Ich bedaure ihn aufrichtig“, sagte er dann, „denn ich halte die Anstellung als Genie für eine der epinösesten in der Welt. Ein anderer stopft sich seine Pfeife, zieht seinen Schlafrock an, setzt sich auf dem Schreibesel zurecht und macht seine Arbeiten ab und geht dann zufrieden in die Ressource, wo er wieder ganz Mensch sein kann. Aber so ein Genie, zumal ein Dichter, kann das Genie gar nicht loswerden; wie ein Spaziergänger, der im Herbst über Feld gegangen, schleppt er die Sonnenfäden seiner Träume an Hut und Ärmeln bis auf die Ressource nach. Ist dort gar das Fenster offen, so sind die Nachtigallen und Lerchen draußen recht wie versessen auf ihn und rufen ihn ordentlich bei Namen, ja zuweilen spielt ihm seine kaum halbfertig gedichtete Geliebte den fatalen Streich und blickt ihn plötzlich aus den Augen irgendeiner albernen Dame an.“ Sie waren in das Felsental hinabgestiegen und an einen einsamen Weiher gelangt, in dessen Mitte sich eine, wie es schien, unzugängliche Insel im frischen Schmuck des Morgentaues spiegelte. „Das war sonst Victors Lieblingsplatz“, sagte der Fremde, „hier hat er den Namen seines ersten Liebchens in die Bäume geschnitten. Das Mädchen ist tot, der Nachen zu der Insel lange zertrümmert und versenkt.“ Fortunat bat den Unbekannten, der ihm wohlbehagte, zu wechselseitiger näherer Bekanntschaft sogleich mit zum Amtmanne hinaufzukommen. Der Fremde entschuldigte sich, er habe zu lange am Brunnen geschlafen und müsse nun schnell wieder weiter. „Sind Sie denn nicht hier aus dem Hause?“ fragte Fortunat erstaunt. Aber jener eilte schon fort, winkte noch einmal mit dem Hute und war bald zwischen den Bäumen verschwunden.

Drittes Kapitel

Als Fortunat wieder die Anhöhe erreichte, traute er seinen Augen kaum. Der schönste Morgenglanz blitzte jetzt über die gezirkelten Rasenfiguren und Tulpenbeete, an den Statuen hingen Mieder, Poschen und Schleier umher, ein frischer Wind ging

epinös: stachlig, kitzlig. I Schreibesel: Schreibstuhl (rittlings!).

Ressource: Erholung, Klub. I Poschen: Taschen

durch den Garten und ließ, die Zweige teilend, bald ein Paar bloße Mädchenarme, bald ein ganzes zierliches Bildchen flüchtig erblicken. Und so glich der Garten mit den bunten Tüchern, die wie Frühlingsfahnen von den Büschen flatterten, mit den funkelnden Strahlen der Wasserkünste und dem heiteren Sonnenhimmel darüber, auf einmal jenen alten Landschaften, wo alle Hecken von schwärmenden Nymphen wunderbar belebt sind. Erstaunt drang er weiter vor, da sah er eine junge Dame in wunderlichem Schmuck, mit Reifrock, Mieder und gesticktem Fächer, vor einem Springbrunnen stehen, sie bespiegelte sich, fröhlich plaudernd, im Wasser, schüttelte lachend die schweren blitzenden Ohrgehänge und sah wieder hinein. Auf einmal wandte sie sich, er glaubte in dem frischen Gesichtchen Florentine, die Amtmannstochter, zu erkennen, die er vorhin am Fenster gesehen. Aber nun erschallte ein lauter Schrei, und aus allen Hecken, in Taffet und Seide rauschend, fuhren erschrocken fliehende Mädchengestalten durchs Grüne, als hätte der Wind Aprikosenblüten umhergestreut.

Fortunat folgte ihnen zu der Amtmannswohnung, wo sie verschlüpft waren. Aber hier hielt ihn neue Verwirrung fest, er fand auch dort alles in lebhafter Bewegung. Aus dem Mörserstampfen im Hause und dem ernstwichtigen Durcheinanderrennen der Mägde, zwischen dem man von Zeit zu Zeit die Kommandostimme der Amtmännin vernahm, schloß er sogleich auf ein großes Kuchenbacken im Innern. Draußen aber auf dem Rasen sah man große Teppiche ausbreiten, Sofas und Polsterstühle ausklopfen, überall wurden die verdunkelnden Doppelfenster ausgehoben, die Morgensonne schien lustig durch das ganze Haus, und einzelne Schwalben kreuzten jauchzend über dem Platze.

Ein langer, hagerer Mann mit dünnem Hals und hervorstehenden Augen schien besonders selig in dem Rumor, man sah ihn überall im dicksten Haufen schreiend, helfend und anordnend. Von diesem erfuhr Fortunat endlich, nicht ohne Müh und wiederholte Fragen, daß die Pachterstöchter aus der Nachbarschaft angekommen und mit Florentinen im Garten den alten gräflichen Hofstaat anprobiert hätten, und daß alle diese Anstalten auf den feierlichen Empfang des heute erwarteten Studenten Otto zielten. Der Mann aber war der Förster des Orts, der früher selbst das Gymnasium frequentiert und seitdem eine wütende Vorliebe für Studenten hatte. Fortunat mischte sich ohne Verzug in das bunte Getümmel, um den Lärm womöglich noch größer zu machen. Dem Förster stellte er vor, wie unerläßlich es sei, den Gefeierten durch ein Triumphtor einzuführen, worauf beide sogleich voll Eifer forteilten, um die nötigen Materialien zu dem neuen Werke herbeizuschaffen. Unterwegs begegneten sie Walter, der soeben mit einem Buche in den Garten ging. „Ich muß mich ein wenig sammeln“, sagte er flüchtig zu Fortunat, „ich freute mich so auf den stillen Tag im Freien, und nun bricht aller Plunder herein.“

Im Garten wurden die Vögel schon still, Florentine und ihre jungen Freundinnen, wieder bequem in ihren gewöhnlichen Kleidern, flüchteten vor der steigenden Sonne aus einem Schatten zum andern, die immer kürzer wurden; jede hatte ein Stück frischen Kuchen in der Hand, sie wußten nicht, was sie in der Hitze anfangen sollten mit der langen Zeit.

Plötzlich versetzte der Knall eines Böllers alles in die größte Verwirrung, aus allen Hecken und Türen stürzten die Erwartenden nach der Richtung hin, wo die Explosion erfolgt war. Dort gewahrten sie schon von fern den Förster am Abhange des Gartenberges, wie er soeben durch ein altes Perspektiv, das er wütend immer länger und länger hervorschob, in die Gegend hinausblickte. Als die andern endlich atemlos und fragend anlangten, warf er auf einmal das Fernrohr fort, ergriff eine neben ihm stehende Lunte und löste zum Schrecken der lautschreienden Damen einen zweiten Böller. Und in der Tat, in demselben Augenblick wurde durch den sich teilenden Pulverdampf zwischen den Kornfeldern am blaugewundenen Strom im Tal ein Reiter in bunter studentischer Tracht sichtbar, der nun auch seinerseits die Harrenden auf dem Berge erblickte und, freudig seinen Hut schwenkend, die Sporen einsetzte. „Otto! Otto!“ rief alles fröhlich durcheinander und winkte ihm mit den Schnupftüchern entgegen. Der Reiter hatte unterdes den Fuß des Berges erreicht, schwang sich vom Pferde, und auf dem nächsten Wege zwischen den grünen Rebengeländern aufsteigend, erschien ein schöner Jüngling von etwas kleiner, zierlich schlanker Gestalt mit einem feinen Gesicht und fast träumerischen Augen.

Aber am Eingange zur ersten Allee wurde er plötzlich durch eine seltsame Erscheinung aufgehalten. Ein schöner Tannenbaum stand dort am Abhang von alters her, wie ein dunkler Ritter auf der Wacht, und ragte mit dem Wipfel bis über die Anhöhe hinauf. Auf einmal rauschte er mit den grünen Kronen und zeigte sein Riesenhaupt mit rotbraunem Gesicht und langem Schilfbart, das Haar phantastisch von wilden Blumen und Eichenlaub umkränzt. „Salve!“ redete das Haupt, die Augen sichtbar bewegend, den erstaunten Studenten an:

Salve! Herr Doktor oder Magister!

Bin ein alter Bursch und haß die Philister,

Bin der Waldmann aus dem Gebirge hier,

Darf nicht näher treten zu dir,

Kann nicht zu dir kommen in Haus und Zimmer,

Trät dort alle den Plunder in Trümmer,

Drum schau ich über die Wipfel hier hinaus;

Und bist du der Alte noch immer,

So lad ich dich wieder in mein grünes Haus!

Da gehn, wie damals, noch mit Gefunkel

Die Quellen verworren durchs kühle Dunkel,

Waldhornklänge und Vögelschall,

Von fern dazwischen der Wasserfall,

Und über uns rauschend die Buchen und Fichten

Erzählen dir wieder die alten Geschichten. –

Doch hast du über Pandekten und Latein

Seitdem vergessen die Sprache mein,

So magst du über deinem Buche hocken und lesen!

Das meine ist doch gescheuter gewesen!

Dann halt ich auf ewig meinen großen Mund,

Wir sehen uns nimmermehr wieder – und –

Und – hier blieb der Gebirgsgeist plötzlich stecken, man hörte eine andere Stimme immer lauter, aber vergeblich soufflieren. Darüber geriet das Haupt nach und nach ins Wackeln, auf einmal kollerte es zwischen den Zweigen auf die Anhöhe herunter, und prasselnd hinterdrein der Förster und Fortunat zu großem Gelächter und Ergötzen der Umstehenden.

Otto stürzte dem schimpfenden, sich abstäubenden Waldmann herzlich in die Arme, dann sah er mit den schönen Augen Fortunat nachdenklich an. „Gott weiß es“, sagte er, „ich verstehe die Waldessprache noch immer, und was ich auch seitdem hinzugelernt habe, sie ist und bleibt doch meine rechte Muttersprache!“ Nun bemerkte er erst die andern in der Allee und fiel jubelnd dem Amtmann und seiner Frau und endlich auch den Mädchen in der Runde um den Hals, die errötend und verlegen sich des Ungestümen nicht erwehren konnten. Aber kein Mensch konnte zu Worte kommen, denn der unermüdliche Förster, der in seinem Eifer gar keine Notiz von der Rührung nahm, hatte insgeheim Pauken und Trompeten herbestellt, die jetzt furchtbar in die Ohren der Damen schmetterten, Böller auf Böller wurde dazwischen gelöst, er selbst aber rührte sehr künstlich die Pauken, auf die er zuletzt hinaufsprang und, Schlägel und Hut hoch über sich in die Luft werfend, unaufhörlich Hurra schrie. Da war der tolle Förster endlich mit seinem Empfange fertig geworden, und noch ganz erhitzt führte er nun mit einer wunderlichen, ungelenken Grandezza die fremden Mädchen nach der Amtmannswohnung hin.

Hier unter den Bäumen standen auf einer altmodischen Kaffeeserviette unzählige kleine chinesische Tassen aufgepflanzt, ein ungeheurer Kaffeekrug dampfte einladend dazwischen, die junge Dienstmagd im Sonntagsputz brachte eine Schüssel mit den in Kuchen gebackenen Namenszügen Ottos herbei und küßte dem neu angekommenen jungen Herrn hocherrötend die Hand. Der Förster, der alte Junggesell, war inzwischen in den vollen Redestrom seiner Feiertagslaune geraten und brachte alle seine alten Jagdspäße und lateinischen Brocken wieder aufs Tapet, worüber die Pachterstöchter jedesmal in ein unmäßiges Lachen ausbrachen. Bald aber nahm Otto die Aufmerksamkeit auschließlich in Anspruch, noch in der vollen Heimatsfreude des ersten Wiedersehens erzählte er von seinem Studentenleben in Halle, er sprach so frisch, und als nun gar der Amtmann die funkelnden Weinflaschen auf den Tisch setzte, glitten alle Gedanken fröhlich mit dem bunten Studentenschifflein am Giebichenstein und den blühenden Kirschgärten die Saale hinab in das gelobte Land der Jugend.

So war unvermerkt der Abend herangekommen, der Förster und die Mädchen hatten sich heimlich ins Haus geschlichen. Otto erzählte noch immer, als plötzlich die Tür sich weit auftat, und bei dem Gewirr einer Geige ein ganzer Hofstaat von Damen und Herren in Reifröcken, Haarbeuteln und altfranzösischen Fräcken sich rauschend herausbewegte. Man erkannte sogleich den Förster unter ihnen, er führte feierlich die jungen Leute vom Tisch den verlegen knicksenden Damen auf, die Geige schwirrte von neuem, und so entspann sich unversehens ein Tanz auf dem Rasen. Jeder sprang, so gut er konnte, und als nun vom Schwung der Reifröcke die Lichter verlöschend flackerten, ergriff der Wirbel endlich auch die Alten am Weintisch, der Förster führte die sich vergebens sträubende Amtmann zu einer Sarabande, jeder der übrigen wählte gleichfalls seine Dame, und es entstand eine wundersame, künstliche Verschlingung, wobei der Förster durch kühne Schwenkungen alles in Erstaunen setzte.

Auf einmal fuhr Florentine aus dem leuchtenden Kreise wie eine Sternschnuppe in den finstern Garten hinaus. Ihre Brust flog über dem knappen, seidenen Mieder, sie atmete erschöpft in der kühlen Nachtluft, dabei blickte sie immerfort nach den Bäumen zurück, als erwartete sie noch jemand. Fortunat bemerkte sie, ihn hatte unter den abenteuerlichen Gestalten nach und nach die Hofluft der alten Zeit unwiderstehlich ergriffen, er folgte rasch dem Mädchen nach, faßte sie zierlich an den äußersten Fingerspitzen und promenierte so feierlich mit ihr auf den geschnörkelten Gängen. Sie ließ ihm lachend die Finger, sah aber immer ungeduldiger zurück. So waren sie in galantem Diskurs an eine einsame Grotte gekommen, noch ein Überbleibsel jenes grillenhaften Schmucks altmodischer Gärten. Bunte Muscheln blitzten im Mondschein von Decke und Wänden, ausgestopfte Reiher und Wasservögel standen mit weitaufgesperrten Schnäbeln auf Kristallriffen umher. „Süßer Gott der Liebe“, sagte Fortunat, „das ist recht eine Grotte zum Schnäbeln, o wären wir doch jetzt zwei Turteltäubchen!“ Sie sah ihn einen Augenblick verschmitzt an, dann drehte sie leise einen verborgenen Kran, auf einmal spritzten alle Schnäbel funkelnde Wasserstrahlen gerade auf Fortunat, und eh er sich noch besinnen konnte, war seine wilde Taube in dem Sprühregen verflogen.

Er schüttelte sich lachend ab, und als er zu der Gesellschaft zurückkam, stand Florentine schon wieder am Tisch vor der Mutter, die ihr besorglich die Locken aus der heißen Stirn strich. Sie hatte die langen Augenwimpern tief gesenkt, denn es tat ihr nun heimlich leid um Fortunats neuen Frack, die flackernden Lichter spielten auf ihrem Gesicht und dem glitzernden Mieder, so sah sie in den rauschenden Wogen von Taffet und bunten Schleifen wie ein Elfchen aus, das aus einer Tulpe guckt. – Walter sah sie lange unverwandt an, dann faßte er Fortunat unter dem Arm und führte ihn rasch in den Garten. „Ist sie nicht wunderschön? o wie bin ich doch glücklich!“ rief er aus und erzählte nun dem Freunde, daß er seit längerer Zeit mit Florentine verlobt sei, daß sie auf den Rat der Eltern nur noch eine bevorstehende Gehaltserhöhung Walters abwarteten und dann in dem Städtchen Haus und Garten mit der Aussicht auf Hohenstein kaufen und dort im Grünen sich für die ganze Lebenszeit miteinander einrichten wollten.

Kaum eine Stunde darauf aber war alles verklungen, aus den Tälern schallte das Zirpen der Heimchen herauf, man hörte nur noch die Kalesche der Pachterstöchter auf dem steinigen Wege durch die Nacht fortrumpeln, in der Ferne zerplatzten einige Leuchtkugeln, die der unermüdliche Förster noch aus seinem Gärtchen warf. – O glückselige, bangsame Einsamkeit, dachte Fortunat, wer es wie Walter über sich gewönne, sich ganz darin zu versenken!

Viertes Kapitel

Fortunat zögert die Abreise hinaus. In des Amtmanns Garten will er Geschichten aufschreiben, aber die Morgenfrühe verlockt zu Ritten ins frische Grün. Zurückgekehrt, streckt er sich ermüdet an den hohen Bogengängen ins Gras.

Er hatte aber noch nicht lange geruht, als er Stimmen neben sich vernahm, an denen er die Amtmann und Walter erkannte, die, ohne ihn zu bemerken, in dem Gange auf und nieder wandelnd, in lebhaftem Gespräch begriffen schienen. „Das kommt bei dem Überstudieren heraus“, sagte soeben die Amtmann, „nichts als Verse im Kopf, Reisen und dergleichen unkluges und kostspieliges Zeug.“ „Ich glaube gar“, rief Fortunat, „die spricht von mir!“ „Beruhigen Sie sich“, hörte er nun Walter entgegnen, „ich werde versuchen, die eigentlichen Absichten dieses verschlossenen, rätselhaften Gemütes zu erforschen.“ „Bei Nacht möchte er spazierengehen“, fing die Amtmann wieder an, „den Tag verträumt er! Und warum verbirgt er sich vor uns?“ Hier verlor sich der Diskurs in der Ferne. Fortunat sprang hastig auf. Sie reden von meinem unbekannten Führer im Garten an jenem ersten Morgen, dachte er, und es fiel ihm aufs Herz, daß er ihn in der Zerstreuung so ganz vergessen hatte.