Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Didrik ist eigentlich ein Träumer und am liebsten allein mit sich und seinem Klavier. Aber dann verliebt er sich Knall auf Fall, zum ersten Mal in seinem zwölf Jahre jungen Leben - und ist plötzlich kaum noch wiederzuerkennen!"Empfindsam und voller Einfühlungsvermögen ... ein vierlversprechendes, originelles Debüt." - Uppsala Nya Tidning"Sehr wirkungsvoll erzählt, spannend und komisch." - Sydsvenska DagbladetChristina Herrströms Jugendbücher, hierunter auch Ebba und Didrik, sind bereits schwedische Klassiker, die immer wieder neue Leser und Leserinnen finden.AUTORENPORTRÄTChristina Herrström ist eine schwedische Autorin von Büchern und Filmmanuskripten. Ebba und Didrik und Wenn aus Prinzen Frösche werden sind alle als Serien filmatisiert. Christina hatte früher ihre eigene Rockband, lebt aber heute als freie Schriftstellerin.-
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 171
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Lindhardt & Ringhof
»Beeil dich!« ruft Mama hinter Didrik her, der aus der Küche auf den Flur stürmt.
»Nun mach schon«, sagt Didrik, während er seine kleine Schwester Ebba beiseite schiebt, die auf seinen Schuhen steht und sich im Flurspiegel bewundert. Didrik hüpft in seine Schuhe und wirft sich die Jacke über.
»Es ist schon spät!« ruft Mama und flitzt ins Badezimmer. Papa rennt die Treppe hinunter, wobei er sich gleichzeitig das Hemd zuknöpft.
»Seid ihr noch nicht weg? Ihr kommt zu spät!«
»Ja, ja, tschüs zusammen!« schreit Ebba, schmeißt sich die Schultasche über die Schulter und verschwindet.
»Und du?« fragt Papa und schaut Didrik an, der seine Jacke erst halb angezogen hat. Er hat plötzlich, mitten in der ganzen Hektik, innegehalten, und ein verträumter Ausdruck tritt in seine Augen. Abwesend starrt er seinen Vater an, ohne ihn zu sehen.
Genau in diesem Augenblick geschieht nämlich etwas, was Didrik öfter passiert – besonders, wenn er es eilig hat, zur Schule zu kommen. Er wird von einer unwiderstehlichen Sehnsucht ergriffen. Er muß Klavier spielen! Es ist, als würde ihn etwas mit einem großen Magneten in sein Zimmer ziehen, wo das Klavier thront. Mit stierem Blick geht er zur Tür, stößt sie auf und stolpert über seine offenen Schnürsenkel zum Klavier, vor dem er sich mit einem glücklichen Seufzer niederläßt. Er beginnt zu spielen, schließt die Augen und singt leise für sich selbst: I love you, I love you, I love you not only in my dreams . . . Das ist bisher sein bestes Lied. Er möchte es endlos spielen. Aber Papa erscheint, die Schultasche schwingend, und stört ihn. »Didrik! Dazu hast du jetzt keine Zeit, du mußt zur Schule!«
Didrik blinzelt und murmelt etwas, dann zieht er sich den zweiten Teil der Jacke über, bindet seine Schuhe zu und trollt sich.
Er tritt sein Fahrrad im Takt. I love you, I love you, I love you not only in my dreams . . . Er kann es kaum erwarten, wieder zu Hause zu sein. Den ganzen Nachmittag wird er Klavier spielen.
Es ist kurz vor den Sommerferien, und der Staub auf dem Schulhof wirbelt in hellen Wolken auf, als Didrik mit seinem Fahrrad ankommt. Am Fahrradständer wartet Tova. Ihre Augen leuchten, als sie Didrik sieht.
»Hallo!« sagt sie, und ganz oben auf ihren Wangen erscheinen rote Flecken.
»Tja«, antwortet Didrik, wirft sich die Tasche über die Schulter und geht zum Schuleingang. Tova folgt ihm sofort. Vom ersten Moment an, als ihre Blicke auf Didrik gefallen waren, war sie verliebt in ihn. Jetzt steht sie jeden Morgen am Fahrradständer und wartet. Wenn er nicht kommt, läßt sie den ganzen Tag den Kopf hängen. Aber meistens kommt er, und dann strahlt sie wie eine Löwenzahnblume in der Sonne.
»Was machst du nach der Schule?« fragt sie hoffnungsvoll.
»Klavier spielen«, sagt Didrik. »Und dabei muß ich meine Ruhe haben.«
Didrik sitzt in der Klasse direkt vor Tova. Sie kennt jedes einzelne Haar auf seinem Kopf, so genau hat sie ihn studiert. Manchmal beugt sie sich nach vorn, um Didriks Duft einzuatmen – auch wenn das, was am stärksten riecht, das Waschmittel ist, mit dem sein Pullover gewaschen wurde. Ab und zu merkt Tova, daß Didrik geistesabwesend wird; dann scheint es, als höre und sehe er nicht, was um ihn herum geschieht. Und wenn die Lehrerin ihn dann etwas fragt, muß Tova ihm die richtige Antwort zuflüstern.
Zum Unterrichtsende hat die Klasse eine sogenannte »stille Stunde«. Ruben steht vorn an der Tafel und stellt Rätselfragen, wobei er voll Entzücken zu Tova hinüberschielt.
Didrik hört nicht zu. Er sitzt mit dem Kinn in der Hand da und schaut zerstreut auf den Schulhof. Der Sommerwind raschelt in den Bäumen, und die Sonne scheint durch die Blätter hindurch. Didriks andere Hand liegt auf der Tischplatte, seine Finger bewegen sich ununterbrochen. Vor seinem inneren Auge sieht er die Tasten, und im Kopf hört er sein Lied: I love you, I love you . . .
Ruben setzt sich wieder auf seinen Platz, seine Bewegungen sind so gelenkig wie die eines Hundebabys. »Also, wie ist es, will jemand anders uns jetzt unterhalten?« fragt die Lehrerin und läßt ihren Blick über die Klasse wandern. »Ich lasse euch jedenfalls nicht laufen, bevor es klingelt!« Sie sitzt mit einer Pobacke auf dem äußersten Rand des Pults und säubert sich die Fingernägel. Sie trägt ein rosa Sommerkleid, ihre Haare sind spröde vom zu häufigen Blondieren, und auf den Augenlidern liegt etwas zu viel Lidschatten. Sie versucht, sich auf alle möglichen Arten hübsch zu machen, ohne zu begreifen, daß ihre Anstrengungen ganz unnötig sind. Ihre Person umgibt nämlich ein Hauch von Güte, der allein sie schon hübsch wirken läßt. Ab und zu streichelt sie ihren ringlosen Ringfinger.
Jetzt legt sie ein stämmiges Bein über das andere.
»Gibt es hier denn wirklich keinen, der zu unserer Unterhaltung beitragen kann?«
Da zerstört Tova Didriks friedliche Gedanken. »Ich weiß was!« schreit sie. »Kann Didrik nicht Klavier spielen?«
Didrik möchte am liebsten im Erdboden verschwinden.
»O nein . . . Heißt es nicht ›stille Stunde‹?« protestiert Ruben und sinkt in seiner Bank zusammen.
»Eine hervorragende Idee. Das machst du doch sicher, Didrik«, sagt die Lehrerin und klatscht in ihre kleinen Hände.
»Ächz, stöhn«, sagt Alexander und versinkt genauso tief wie Ruben in seiner Bank. Sie stecken die Köpfe zusammen, schielen zu Didrik hinüber und kichern.
»Bitte, bitte, Didrik!« bettelt Tova.
»Tutti lulli Didrik!« äfft Ruben nach.
»Ja, komm her«, lockt die Lehrerin. »Spiel eines deiner eigenen Lieder.«
Die Lehrerin ist goldig, und in ihren Augen glänzt es. Didrik fühlt sich gezwungen, das zu tun, worum ihn die Frauen bitten. Widerwillig schält er sich aus seiner Bank, von Rubens und Alexanders höhnischen Blikken begleitet.
Die Lehrerin zieht ihn mit ihrem warmen Lachen nach vorn zum Klavier, und als er angekommen ist, sagt sie: »So, jetzt seid ihr leise und hört Didrik zu. Ich habe inzwischen rasch etwas zu erledigen.«
»Versprochen!« ruft Ruben mit leuchtenden Augen. Didrik ist blöderweise gezwungen, dort zu bleiben, wo er ist. Vor sich hat er ein Klassenzimmer voller gleichgültiger Gesichter.
Die Lehrerin steht in der Tür. »Ich bin gleich zurück. Ich muß nur ein Telefongespräch führen«, sagt sie und hebt warnend einen Finger. »Willst du anfangen, Didrik?«
Didrik räuspert sich und massiert seine Finger. Schließlich beginnt er. I love you, I love you, I love you not only in my dreams . . . singt er und spürt, wie seine Wangen heiß werden.
Nun schließt die Lehrerin die Tür hinter sich. Sobald aber das Klappern ihrer Absätze nicht mehr vom Flur widerhallt, bricht das Chaos aus. Ruben zwängt sich aus seiner Bank, reißt Tovas Lineal an sich und legt auf den Bänken ein Trommelsolo hin. Er erklimmt mit einem Satz das Lehrerpult, wippt herausfordernd auf den Zehenspitzen und übertönt Didrik mit einer eigenen Nummer.
Die ganze Klasse, ausgenommen Tova, lacht sich halbtot über Ruben, wie der in seinem gestreiften Hemd und seiner Sackhose einen Rocksong zum besten gibt. Yeah, yeah, baby, rock me, rock me, baby . . . heult er. Er schwenkt die Hüften und stampft auf dem Pult herum, daß die Stifte durcheinanderwirbeln. Er bekommt den Reservevorrat der Lehrerin an Radiergummis zu fassen und bombardiert damit seine grölenden Klassenkameraden . . . bis es plötzlich klingelt und das Klassenzimmer in Windeseile seinen wilden Inhalt ausleert. Nur Didrik sitzt immer noch hinterm Klavier. Ooh – ooh – yes I love, how I love, I do love youuuuu . . .
Dann ist es still. Für einen Augenblick ist es im Klassenzimmer mucksmäuschenstill. Danach raschelt es am Klavier, und Didrik steht auf.
»Hach, bist du toll«, seufzt Tova glücklich. Sie sitzt auf ihrem Platz und strahlt Didrik an. Er fällt wieder auf den Stuhl hinter dem Klavier zurück.
»Kann ich heute mit zu dir kommen?«
»Nein, ich will Klavier spielen«, antwortet Didrik.
»Nur ganz kurz. Ich verspreche auch, leise zu sein. Bitte!«
»Nein, geht nicht. Mein Vater hat die Papageienkrankheit«, sagt Didrik schnell.
»Ist das ansteckend?« fragt Tova erschrocken.
»Man kann nie wissen.«
Da schaut Ruben zur Tür herein.
»Tova, komm schon! Du sollst mit uns Brennball spielen, du bist in meiner Mannschaft.«
Tova bleibt in ihrer Bank sitzen, den Blick auf Didrik geheftet.
»Tova!« drängelt Ruben. Aber Tova bleibt eisern sitzen. Ruben schnauft ungeduldig und verschwindet.
»Tschüs dann«, sagt Didrik zu Tova und sammelt seine Siebensachen zusammen. Sie verfolgt jede kleinste Bewegung von ihm. Er hebt die Hand zu einem Winken, nickt ihr kurz zu und geht. Erst als er verschwunden ist, gibt sie die Hoffnung auf. Rasch steht sie auf und rennt nach draußen zu Ruben und den anderen.
Didrik wirft das Fahrrad auf den Gartenweg, zieht den Schlüssel aus der Tasche und öffnet die Haustür. Niemand ist zu Hause. Er schleudert die Schuhe von den Füßen, daß sie in verschiedene Richtungen fliegen, wirft die Schultasche in eine Ecke, nimmt sich nicht einmal Zeit, die Jacke auszuziehen, reißt die Tür zu seinem unaufgeräumten Zimmer auf. Erst als er beim Klavier angekommen ist, beruhigt er sich.
Und in dem Augenblick, als Didriks Hände die Tasten berühren, geschieht etwas Phantastisches: Aus dem klobigen, plumpen Möbelstück mit Rissen im Lack dringen die reinsten, klarsten Töne. Diese Töne vereinigen sich zu langen Melodien, die bis unters Dach klingen. Didrik spricht mit dem Klavier, indem er mehrere Tasten anschlägt, und das Klavier antwortet Didrik, indem es seine verborgenen Töne klingen läßt. So kann Didrik sich stundenlang mit dem Klavier unterhalten. Er spielt leidenschaftlich und singt laut, denn im Haus ist niemand, der ihn hören könnte. I love you, I love you, I love you . . .
Da fliegt die Tür auf, und herein rauscht Ebba, ihr Freundschaftsbuch in der Luft schwingend.
»Wo kommst denn du her?« faucht Didrik.
»Ich wohne hier«, antwortet Ebba, legt sich auf den Fußboden und schlägt eine Seite ihres Freundschaftsbuches auf. »Ich muß dich was fragen.«
Die einzige Möglichkeit für Ebba, ihren Bruder zu treffen, besteht darin, sich ihm aufzudrängen. Sie wird nie in sein Zimmer eingeladen. Er erzählt ihr nie etwas.
»Mußt du unbedingt hier sein?« fragt Didrik gequält.
»Ich hab’ keine Lust, alleine drüben zu sitzen«, antwortet Ebba. »Nun hör mal, was ist deine Lieblingsfarbe?«
»Blau«, seufzt Didrik. Ebba schreibt »blau« in ihr Freundschaftsbuch. Didrik klimpert lustlos weiter.
»Dein Lieblingssänger?«
»Stevie Wonder«, antwortet Didrik.
»Das kann ich nicht schreiben, sag mir jemand anderen.«
»Auf keinen Fall«, protestiert Didrik.
»Weißt du, daß er blind ist?« fragt Ebba.
»Mmh.«
»Du kannst nicht so gut spielen wie er – und dabei auch noch mit geschlossenen Augen!« ärgert Ebba ihn.
Didrik starrt seine jüngere Schwester an. Dann kneift er die Augen zu, legt die Hände auf die Tasten und spielt. Ebba betrachtet zweifelnd ihren Bruder, wie der versucht, die richtigen Tasten zu treffen. Plötzlich reicht es ihr, sie klappt das Freundschaftsbuch zu, schiebt sich den Stift hinters Ohr und geht.
»Tschüs, ich verstehe sowieso nichts davon«, sagt sie und wirft die Tür hinter sich zu.
Erleichtert spielt Didrik weiter. Und nun geschieht es wieder. Wenn er in Ruhe und Frieden spielen kann, ist es, als hörte die Zeit auf zu existieren. Der Klavierschemel wird zu einem fliegenden Teppich und erhebt sich hoch in den Himmel, um über den Wolken zwischen herrlichen Winden zu tanzen . . .
Unverhofft wird die Tür erneut aufgerissen. Didrik erwacht aus seinen Träumen und wird unsanft auf die Erde zurückgeholt. Diesmal steht Papa in der Tür.
»Was machst du?« fragt er, und er sieht dabei müde aus.
»Klavier spielen«, antwortet Didrik.
Papa seufzt. Im Arm hält er eine Tüte mit Lebensmitteln. »Vielleicht kannst du mir statt dessen helfen, Essen zu machen?«
Didrik bleibt auf seinem Klavierschemel sitzen. »Ich spiele«, wiederholt er.
»Ich bin der Meinung, daß du damit jetzt mal aufhören solltest, Didrik«, sagt Papa freundlich.
Didrik hockt regungslos auf dem Schemel und atmet heftiger. Warum läßt man ihn nie in Ruhe Klavier spielen?
»Du klimperst ja doch nur. Wenn du wenigstens deine Lektionen üben würdest! Weißt du, was mich deine Klavierstunden kosten?«
Didrik kann nicht einmal mehr seufzen. Sein ganzer Protest besteht in einem ungeduldigen Gesichtsausdruck. Papas Bedingung dafür, daß sie das Klavier behalten, besteht darin, daß Didrik Unterricht nimmt und »ordentlich« zu spielen lernt, das heißt nach Noten. Aber Didrik möchte viel lieber das spielen, was ihm selbst einfällt. Er hat schon mindestens 10 Lieder verfaßt, doch es zählen anscheinend nur die Klavierstunden. Papa erklärt, »das Geklimper« sei »uninteressant«, und redet immer mal wieder davon, das Klavier zu verkaufen. Er findet, daß Didrik genausogut Fußball spielen könnte.
»Du solltest rausgehen und was Vernünftiges tun. Na los!« sagt Papa aufmunternd.
Didrik sitzt stumm da und starrt auf die Klaviertasten. Seine Backen röten sich. Papa merkt nichts davon, er dreht sich um und geht in die Küche. »Ich bin heute etwas früher nach Hause gekommen, weil ich das Mittagessen machen will. Ich werde dazu ein eigenes Curry herstellen! Wußtest du, daß Curry nicht ein Gewürz ist, sondern eine Mischung aus einer ganzen Menge verschiedener Stoffe? Das habe ich auch nicht gewußt, aber jetzt habe ich gelernt, wie man es macht. Willst du sehen, wie man Curry herstellt?«
Papa baut alle Zutaten in der Küche auf, glücklich wie ein Kind. »Kommst du?« fragt er und bindet sich die Schürze auf dem Rücken zu.
In Didriks Zimmer ist es immer noch still.
»Didrik?« ruft Papa. »Na, jetzt brauchst du doch nicht mehr sauer zu sein. Hilf mir lieber!« sagt er vergnügt, während er auf Didriks Zimmer zugeht.
Er öffnet die Tür. Das Zimmer ist leer.
»Was?«
Das Fenster steht offen. Didrik hat sich davongemacht.
Didrik springt den Hügel hinunter. Vor lauter Wut und Ärger läuft er ganz schnell. In seiner Brust spürt er einen dumpfen Schmerz. Warum müssen sie immer meckern, wenn er spielt? Warum darf er darüber nicht selbst entscheiden? Eines Tages, wenn er groß genug ist, wird er allein über sich bestimmen. Dann wird er spielen, so lange er will, und niemand darf ihm dabei reinreden! Aber bis dahin dauert es noch lange, unendlich viele Jahre und Tage.
Didrik überquert den Marktplatz und läuft weiter in Richtung Meer. Am Meer liegt eine Wiese, die von Steinen und Bootsschuppen eingefaßt ist. Die meisten Schuppen sind verlassen, aber in dem einen oder anderen findet sich noch ein kleines Boot. Es gibt einen speziellen Schuppen, zu dem Didrik geht, wenn er seine Ruhe braucht. Manchmal geht er dorthin, weil er glücklich ist, manchmal, weil er traurig ist. Er kann stundenlang dort sitzen und das Meer betrachten, wie es sich ununterbrochen bewegt. Dann ist es, als flössen Meer und Himmel durch ihn hindurch und machten ihn wieder stark. Zu diesem Schuppen ist er jetzt unterwegs.
Doch vorher muß er am Fußballplatz vorbei. Dort spielen Ruben, Alexander, Tova und die anderen Brennball. Tova macht gerade eine Freirunde, und ihre Mannschaft mit Ruben an der Spitze spornt sie lautstark an. Didrik hofft, daß er unbemerkt vorbeikommt. Er hat keine Lust, mit irgend jemandem zu reden. Aber Tova entdeckt ihn genau in dem Augenblick, als sie die Freirunde beenden soll. Ihre Augen beginnen zu strahlen, und sie rennt direkt auf Didrik zu.
Ruben rauft sich die Haare und schreit: »Tova! He, was machst du? Spinnst du? Komm zurück!«
Tova hört die Proteste nicht. Mit glühenden Wangen läuft sie zum Gitter, das den Fußballplatz umgibt.
»Didrik!« ruft sie. »Spielst du mit Brennball?«
Didrik geht außen am Gitter entlang, Tova läuft innen und wirft ihm Blicke zu.
»Bist du nicht gerade eine Freirunde gelaufen?« fragt er.
»Ja, aber das interessiert mich sowieso nicht mehr. Was machst du? Kann ich mitkommen?«
»Nein«, antwortet Didrik, ohne sie anzusehen. »Ich will meine Ruhe haben.«
Tova drückt sich ans Gitter und umklammert mit ihren Fingern die großen Drahtmaschen.
»Didrik . . .« bittet sie, und ihre Augenbrauen tanzen wie unruhige Vögel auf der Stirn. Aber Didrik reagiert nicht. Er geht einfach weiter.
»Didrik, bist du traurig?« fragt Tova. Ihre Stimme klingt zärtlich.
»Nein! Ich habe Zahnschmerzen!« faucht Didrik.
»Tschüs!«
»Tova!« schreit Ruben, daß seine Stimme umkippt.
»Komm endlich, Tova!«
Aber sie bleibt stehen und sieht zu, wie Didrik verschwindet.
»Didrik!« ruft sie.
»Tova!« ruft Ruben.
Didrik geht hinunter zur Wiese. Die Sonne glitzert im Meer, und der Himmel ist hoch und blau. Aber Didrik marschiert wütend vor sich hin, die Augen auf den Boden gerichtet.
Plötzlich hört er durch den Wind einen sonderbaren Gesang. Er bleibt stehen, legt eine Hand über die Augen und blinzelt. Ein fremder Mann steht bei Didriks Schuppen und singt etwas, das nach Oper klingt. Er breitet seine Arme mit leidenschaftlichen Gesten aus und wirft den Kopf hin und her, daß die dünnen Haare hinter den Ohren flattern. Dann, mitten in einer dramatischen Stelle, entdeckt der Mann Didrik.
»Aha! Ich sehe dich! Ich sehe dich! Komm nur her!«
Didrik geht vorsichtig auf den Mann zu. Dessen strahlender Blick verdunkelt sich, und nun betrachtet er Didrik unter gerunzelten Augenbrauen.
»Wer bist du?« fragt er schroff.
»Didrik Reng«, antwortet Didrik.
Sie sehen einander einen Moment lang an, dann streckt der Mann seine Hand aus und gibt sie Didrik.
»Kai Husell. Angenehm. Nun, wer bist du, Freund oder Feind?«
»Von wem?« fragt Didrik verwirrt.
»Natürlich von mir«, sagt Kai Husell.
»Freund«, erklärt Didrik.
»Und wie steht’s mit Euterpe?« erkundigt sich Kai Husell, und seine Augen blitzen und funkeln.
»Wer ist das?« fragt Didrik.
»Mein lieber Freund!« ruft Kai Husell und schüttelt den Kopf. Dann beugt er sich dicht zu Didrik hinunter. »Euterpe ist eine der neun Musen und die Beschützerin der Musik! Mit ihr stehe ich in Verbindung.«
»Wie denn?« fragt Didrik.
Kai Husell lacht ein leicht spöttisches Lachen. »Ich öffne meine Sinne; ich lasse meine Zunge wie ein schlaffes Steak im Mund liegen, atme tief ein, hisse mein Gaumensegel und lasse mich mit Euterpes bezaubernden Ideen füllen. So wird aus meinen vibrierenden Stimmbändern liebliche, göttliche Musik geboren!«
»Ach ja?« sagt Didrik.
Kai Husell streckt sich, faltet die Hände unter seinem kleinen Bauch, öffnet den Mund sperrangelweit und läßt zwei Töne aus seinem Rachen tanzen. »LA LAAAA . . . Nun ja, ich habe meistens ein wenig Probleme mit dem Gaumensegel«, entschuldigt er sich und schiebt seinen Schlipsknoten zurecht. »Außerdem neige ich dazu, die Kiefer zu verkrampfen. Ich müßte häufiger entspannen üben . . .«
Kai Husell läßt das Kinn bis zur Brust hängen, schiebt die Zunge über seine hängende Unterlippe und entspannt sein ganzes Gesicht. Dann beginnt er, den Kopf von einer Seite zur anderen zu schaukeln, wobei er im Kreis geht.
»Blö blö blö blö blö blö blööööö . . . ich soll Zunge und Kinn einfach nur hängen lassen . . . blö blö blö . . . so sollte ich immerzu reden, aber meine Frau hält nichts davon . . . blö blö blö blö blö . . . versuch du auch mal!« fordert er Didrik auf.
»Blö blö blö blö blö . . .« sagt Didrik mit einem gewissen Zweifel in der Stimme.
Kai Husell ist begeistert. »Genau! Genau so! Vielleicht bist du ein Naturtalent!«
Aber auf einmal wird er wieder ernst. Er setzt sich mit gedankenvoller Miene hin und bringt eine Thermoskanne zum Vorschein. Er gießt Tee in einen Becher, nickt Didrik auffordernd zu und schenkt ihm auch eine Tasse ein.
»Meine Frau«, sagt er. »Meine Frau, sie versteht mich überhaupt nicht. Sie fängt an zu weinen, wenn ich zu Hause singe. Dann wirft sie mit Gegenständen nach mir. Sie sagt . . . sie sagt, daß sie sich von mir scheiden lassen will, wenn ich nicht aufhöre zu singen. Ich glaube, sie ist eifersüchtig auf Euterpe und auf mein Talent. Kannst du dir etwas Hemmenderes für ein Genie vorstellen?«
Kai Husell sieht Didrik mit wehmütigen, ernsten Augen an. Didrik schüttelt teilnahmsvoll den Kopf.
»Darum singe ich meine Liebeslieder eben für die Möwen«, fährt Kai Husell fort.
Die Möwen, die über ihren Köpfen kreisen, stoßen spöttische Schreie und Gelächter aus.
»Aber eines Tages«, fährt Kai Husell fort, »eines Tages werde ich für die Massen singen. Du!« ruft er aus.
»Willst du meine Interpretation des Erlkönigs hören?«
»Ja . . .« sagt Didrik.
Kai Husell zuckt zusammen. »Willst du das? Oh, willst du das wirklich?«
Er stellt sich in Positur, um zu singen. Den Rücken kerzengerade, die Hände unterm Bauch gefaltet, den Blick auf den Horizont gerichtet, atmet er tief und sperrt den Mund auf. Und dann singt er. Das ist, als würde seine gesamte Gestalt von einer wunderbaren Kraft durchströmt. Er wirft den Kopf zurück und sieht vollkommen unbezwingbar aus. Plötzlich, mitten im Gesang, hört er auf und verbeugt sich tief. Didrik applaudiert.
»Danke, danke, Didrik, danke! Endlich jemand, der Ohren hat! Obwohl du nicht gemerkt hast, daß ich Roccos Arie aus Beethovens Leonore gesungen habe, weißt du,