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Ella macht gerade Abi und ihre beste Freundin Josefin hat schon ihren ersten Job bekommen. Sie sind fast erwachsen, aber warten immer noch darauf, dass das Leben so richtig anfängt. Und sie wollen nicht wie die Eltern werden– beiden Freundinnen ist vor allem eines wichtig: perfektes Aussehen und Männer. Ella und Josefin - beide 17 Jahre alt - sind überzeugt, dass sie ihre Vorstellungen verwirklichen werden. Denn Mit den beiden wohlsituierten Herren aus der High Society im alter von 35 glauben sie die Prinzen gefunden zu haben, die sie in eine rosige Zukunft entführen. Die Geschichte von zwei jungen Frauen, die erfahren müssen, dass sich hinter lautem Quaken oft doch nur ein Frosch verbirgt. Mit großer Erzählkraft zeigt uns Christina Herrström wie sich das junge Leben der beiden Frauen zwischen Erwartung und Wirklichkeit formt. Das Buch wurde ursprünglich als Manuskript für die erfolgreiche schwedische Fernsehserie GLAPPET geschrieben. Als das Buch zur Serie erschien wurde es hoch gelobt und mit Literaturpreisen ausgezeichnet. DIE AUTORIN Christina Yngvesdotter Herrström Schildt ist eine erfolgreiche schwedische Kinderbuch- und Manuskriptautorin. Sie hat unter anderem die Klassiker Didriks Geschichte und Ebbas Geschichte geschrieben. Dazu noch eine Reihe schwedische Filmmanuskripte und Romane.
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Seitenzahl: 346
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Sapere aude
Habe den Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ohne die Leitung eines anderen
Immanuel Kant
»Sei selbstständig!«, sagt Ella.
»Werde nie abhängig!«, sagt Josefin.
Ella nickt. Josefin schreibt es schnell auf den Notizblock.
»Wage es, deine Meinung zu sagen!«
»Wage es, dem Druck zu widerstehen!«
Die Kerze auf dem kleinen Tisch flackert. Die Beine haben keinen Platz und es sitzt sich hart. Auf dem Boden liegen Sand und eine vergessene Schaufel. Die Dunkelheit um das kleine Spielhäuschen wird schwärzer, Balkontüren werden geschlossen und Kinderstimmen hinter Rollos verstummen. Die Fenster in den Hochhäusern hinter dem Park werden eins nach dem anderen hell, die Fernseher werden angeschaltet, die Spülmaschinen angestellt. Es ist Abend. Es ist niemand mehr draußen. Nur Ella und Josefin sind noch im Spielhäuschen. Und niemand findet sie hier.
»Stell Ziele auf!«
»Und setze sie durch!«
Sie haben glühende Gesichter, nicht nur wegen der Kerze, sondern weil sie etwas Großes und Wildes und Starkes und Wunderbares fühlen – innen drin!
»Warte nicht auf die Initiative von anderen!«
»Lass niemanden dich hindern!«, knurrt Ella zwischen den Zähnen hervor.
»Sei du selbst und steh dazu!«
Ella hört einen Moment auf zu schreiben, betrachtet Josefins hohe Stirn und die entschieden zusammengepressten Lippen.
»Wer sind wir ...?«, fragt sie.
Aber die Frage fällt in die große Leere zu den vielen anderen Fragen der gleichen Sorte.
»Man wird uns hören!«, fährt Josefin fort.
»Man wird uns sehen«, sagt Ella und denkt daran, dass sie, als sie noch klein war, immer ihre Stimme aus Protest erhob, obwohl sie es mit Riesen zu tun hatte, und jetzt, wo sie fast erwachsen ist, hat sie angefangen zu schweigen. Warum?
»Wir werden Platz einnehmen!«
»Uns nehmen, was uns zusteht!«
»Wir sind die neuen Frauen!!!«, jubelt Josefin.
»Die wissen, was sie wollen ...«, lächelt Ella siegessicher.
»Die niemand aufhalten kann ...«
»Die niemand ducken kann!!!«
Es kribbelt im Bauch, Unmengen von schäumender, rasender Kraft machen sich frei!
»Wir sind nämlich keine Idioten!«
»Keine blöden Tussis!«
»Die nichts sehen können vor lauter falschen Wimpern!«, blubbert Ella und sie müssen laut lachen beim Gedanken daran. Es gibt solche Frauen! Was sind das bloß für arme Schweine, die geglaubt haben, das Leben würde wunderbar! Ha, wurde es nicht, weil sie es vermurkst haben! Samstags verirren sie sich in den Gängen des Supermarkts, klimpern begeistert mit den falschen Wimpern über die Sonderangebote der Woche und glauben, das sei das Glück! Und ihre dicklichen Männer, deren Bäuche zwischen Hose und Pullover hervorquellen, trinken freitags abends Dosenbier und rülpsen! Und die netten kleinen Kinder in Volanthosen nennen sie blöde Alte! Mehr war nicht! Und das Leben war vorbei! Aber Ella und Josefin werden ihre Träume nicht aufgeben.
»Wage es zu lieben!«, ruft Josefin aus. »Leidenschaftlich! Wage es, das Leben ernst zu nehmen!«
»Freiheit! Selbstständigkeit! Frauenpower!«, flüstert Ella und die Worte scheinen auf einmal eine verborgene Kraft zu haben.
»Kombiniert mit der weiblichen Mystik ... der Schönheit!«, schnurrt Josefin. »Wir werden outstanding sein, Ella!«
Sie schauen sich schweigend an. Das Licht glitzert in ihren Augen.
»Wir werden es schaffen!«, flüstert Ella.
Sie haben sich vorbereitet. Mehr ist nicht nötig. Die niedergeschriebenen Worte, sie sind wie magische Formeln, werden sie beschützen. Josefin klappt den Block zu.
»Wie wollen wir es nennen? Unseren Arbeitsplan fürs Leben?«
»Unser Manifest«, entscheidet Ella. »Wir schreiben es auf rotes Papier!«
»Mit goldenen Buchstaben. Ellas und Josefins Manifest!«
Es soll schön sein. Und haltbar. Josefin nimmt die Kerze.
»Jetzt geht es los.«
Sie bläst die Kerze aus und einen Moment lang ist es ganz schwarz in dem kleinen Spielhaus. Und still. Man hört nur das Brausen der Stadt und ihren Atem. Dann entwirren Ella und Josefin ihre langen Beine und quetschen sich durch die kleine Türöffnung und laufen mit hoch erhobenen Händen über den leeren Spielplatz.
»Jetzt geht es los!!!«, ruft Ella und die Worte hallen zwischen den hohen Häusern, die nichts merken, prallen an den Wänden ab und werden vom erstbesten kalten Wind in die funkelnde Stadt unter ihnen mitgenommen. Sie laufen immer weiter und können nicht stehen bleiben. Es pocht in ihren Muskeln, ihrem Blut und ihren Gliedern, als ob sie Wildpferde wären. Sie laufen auf schlanken, starken Beinen, sie fliegen fast über den Boden in ihren weichen Turnschuhen, und als sie schließlich stehen bleiben müssen, fallen sie sich keuchend und erhitzt in die Arme.
Nichts – nichts – wird sie aufhalten.
Ella überlegt einen Moment. Sie lässt die Scheinwerfer in ihre blauen Augen fallen, während sie über eine Antwort nachdenkt. Das Publikum wartet, atemlos.
»... es ist schon so lange her«, sagt sie. »Diese Zeit ist wie weggeblasen. Nein wirklich, ich erinnere mich an keinen einzigen Menschen mehr ...«
Das Publikum lacht ehrerbietig. Sie verstehen sie. Ist doch klar, dass sie diesem Lebensabschnitt keine große Bedeutung beimisst. Das war doch nur die Startbahn! Seither ist so viel Phantastisches passiert, das war das richtige Leben. Aber vielleicht doch eine von all den Vergessenen aus der unwichtigen Zeit, eine Klassenkameradin, vielleicht Martina, ja, es ist Martina, sie hat gebeten grüßen zu dürfen. Ella weiß nicht mehr, wie sie aussah. Aber sie dankt höflich lächelnd.
»Das ist aber nett, das freut mich, Grüße zurück! Wissen Sie, ich bin zur Zeit nicht so oft zu Hause. Nicht einmal meine Mutter wohnt mehr hier ... sie wohnt jetzt in ... Kalifornien mit ihrem neuen ...«
Es gibt eine traurige Begebenheit in Ellas Leben. Ihr Vater starb, als sie klein war. Deshalb hat ihre Mutter jetzt einen neuen Mann. Sie sind sehr glücklich. Außerdem ist er reich. Und hat Humor. Sein Reichtum ist selbstverständlich nebensächlich.
»Aber ich habe immer gespürt, dass Papa bei mir ist ...«
Das Publikum hält den Atem an. Man muss sie einfach bewundern. Sie ist so heroisch. Der Moderator bringt das Gespräch wieder auf ihr jetziges Leben, das Publikum entspannt sich, sie heben die Gesichter in der Hoffnung, dass ein Funke von dem Wunderbaren, das sie umgibt, auch auf sie herabfallen wird, wie Wunderkerzensterne.
»Ja, in meinem Beruf trifft man so unglaublich interessante Menschen, man sieht so viel, und all die Reisen, und man erlebt so viele spannende Dinge ...!«
Jetzt unterbricht der Moderator mit einer Frage nach ihrer zweiten Karriere, von der man hier zu Hause nichts weiß, der Karriere als Top-Model.
»Ach, das war nur ein Zwischenabschnitt«, haucht sie so lässig, wie nur jemand sein kann, der erlebt hat, wovon alle anderen nur träumen.
»Das war vor allem in ausländischen Modemagazinen. Frankreich, Italien, Schweiz, England, Australien, Deutschland, Spanien, Amerika natürlich ...«
Jetzt wird Ella von der anderen Seite gezeigt. Sie macht sich sehr gut aus dieser Perspektive. Jetzt sieht sie intellektuell aus, obwohl sie über die Liebe spricht.
»Er war ein wunderbarer Mann und Filmpartner! Ja, das war mein letzter Film. Oh nein, wir sind nur Freunde!«
Das Publikum hält wieder die Luft an. Ist das wahr? Konnte er ihr wirklich widerstehen? Und wollte sie ihn nicht haben? Sie wird ein bisschen verlegen, verrät jedoch nichts. Der Moderator erwähnt, dass viele berühmte und begehrte Männer ihren Lebensweg gekreuzt haben.
»Ja, ich habe sie alle geliebt.«
Sie hat neben all ihren Männern gestrahlt und vor allem strahlten sie neben ihr. Und wenn sie sie verlassen hat und weiterschwebte, haben sie alle, völlig am Boden zerstört, beteuert, wie wahnsinnig sie sie geliebt haben.
Jetzt kommt plötzlich eine Archivaufnahme, wir sehen Ella, wie sie aus dem Flugzeug steigt, der Wind ihre langen Haare zerzaust, sie trägt eine Sonnenbrille und eine Menschenmenge ist versammelt. Die Leute jubeln und werfen Blumen.
»Danke, danke, es ist wonderful to be back auf schwedischem Boden und es ist so good to feel das Wohlwollen und die Sympathie der schwedischen Menschen, vor allem nach meinem skandalumwitterten ...«
Ella muss nachdenken. Dem skandalumwitterten was?
»Aufbruch.«
Jetzt sind wir wieder im Studio. Ella blinzelt in den Scheinwerfer, die Show ist zu Ende, jetzt ist der Moment für den wundervollen Blumenstrauß gekommen. Das Mädchen, das ihn hereinbringt, wird rot, der Moderator erhebt sich vom Sofa und den Menschen im Publikum stehen die Tränen in den Augen. Ella ist aufrichtig gerührt und wirft ihrem treuen, schwedischen Publikum Kusshändchen zu.
»I love you! I love you! Ich möchte nur noch ein paar Worte zum Abschluss sagen!«
Das Publikum hält erwartungsvoll die Luft an. Alle verstummen. »Man weiß nie, wohin das Leben einen führt. Wenn ich mich an meine Jugend erinnere, dann denke ich, dass das Leben sehr überraschende Wendungen nehmen kann. Ich möchte deshalb nur sagen ...«
Die Gesichter des Publikums sind wie Blumen, die sich der Sonne zuwenden, und Ella ist sich bewusst, dass sie jedes Wort auf die Goldwaage legen muss. Dann spricht sie. Aufrecht. Ernsthaft.
»Gebt nie die Hoffnung auf!«
Das Publikum steht auf und klatscht so laut und so lange, dass der Tontechniker sich sein ganzes Berufsleben lang an diesen Vorfall erinnern wird, die Scheinwerfer drehen sich, die Kameras tanzen um sie herum ... Da klingelt das Telefon.
»Ich geh dran!«
Ella reißt sich vom Spiegel los, das Publikum und der Jubel verschwinden, sie stürzt sich aufs Telefon und sagt mit ihrer sinnlichsten Stimme: »Ja, hier ist Ella ...!«
Aber es ruft kein Junge an.
»Man kann sie verbrennen!«, prustet Josefin. »Dann sterben sie! Das tut noch mehr weh!«
Josefin liegt in ihrem Himmelbett und blättert in einer Zeitschrift, die voller Tipps und guter Ratschläge für Mädchen aller Altersstufen ist.
»Es ist wahnsinnig teuer«, sagt Ella und betrachtet ihre flaumigen Beine.
»Das essen ist fertig!«, ruft Josefins Mutter Helen und klopft an Josefins Tür. Josefin schiebt die Himmelbettvorhänge zur Seite und geht mit ihrem schnurlosen Telefon am Ohr in die Küche. Rasmus und Julia, ihre beiden kleinen Geschwister, die ihre Eltern plötzlich haben wollten, als Josefin groß wurde, laufen an ihr vorbei, wie immer hungrig.
»Es gibt so ein propellerartiges Dingens, das die Haare mit der Wurzel herausdreht«, sagt Josefin. »Aber das tut noch mehr weh.«
Mama Helen, Rasmus, Julia und Papa Tomas sitzen schon bei Tisch, Josefin nickt ihnen im Vorbeigehen zu und setzt sich, immer noch mit dem Hörer am Ohr.
»Martina rasiert ihre«, sagt Ella und denkt an den Tag, als Martina in der Französischstunde ihre frisch rasierten Beine streichelte und von der Liebe träumte. Bis zu diesem Tag hatte Ella nicht über das Thema »unerwünschter Haarwuchs« nachgedacht.
»Das wird bloß piksig«, konstatiert Josefin trocken und pikst mit der Gabel in eine Kartoffel. »Meine sind ganz schwarz geworden! Das ist wegen der Pille! Und was hab ich davon? Nichts! Ich sterbe bald!«
»Bitte Josefin, wir essen!«, sagt Tomas.
»Leg auf!«, sagt Helen.
»Bekommt man schwarze Haare von der Pille?«, fragt Ella.
»Man kann auch Thrombosen bekommen. Oder Gelbsucht. Und man kann schlechte Laune bekommen«, sagt Josefin und gießt Julia Milch ein.
»Danke!«, brüllt Julia.
»Und man kann die Lust verlieren«, fährt Josefin fort. »Aber das war bei mir nicht so.«
»In der Schule gibt es überhaupt keinen einzigen«, seufzt Ella.
Da reißt Kajsa, Ellas Mutter, die Tür auf und guckt ärgerlich, als ob sie etwas wollte, das Ella nicht gemerkt hat.
»Das Essen ist fertig, habe ich gesagt«, faucht sie und verschwindet wieder.
»Sie haben keine Lebensart«, stellt Josefin fest.
»Sie sind voll kindisch«, stöhnt Ella und räumt das Allernotwendigste in die Schultasche: Spiegel, Lippenstift, Haarbürste. Sie hängt die Tasche über die Schulter und betrachtet sich skeptisch im Spiegel. Sie findet, dass sie blöd aussieht.
Josefin versucht mit zwischen Ohr und Schulter eingeklemmtem Hörer eine Kartoffel zu schälen.
»Ein bisschen Erfahrung ist immer gut«, sagt sie und merkt nicht, dass die Spannung am Esstisch zunimmt.
»Du wirst die Erste sein, du bist ja draußen in der großen Welt«, seufzt Ella.
»Nicht bei meiner Kundschaft«, jammert Josefin.
»Wir müssen am Wochenende ausgehen, aber überall haben sie Mindestalter einundzwanzig«, sagt Ella. »Wenn wir den Mund halten, können wir für einundzwanzig durchgehen. Geschminkt.«
Sie wirft sich im Spiegel einen reifen Blick zu.
»Meine Kartoffel. Die ist geflogen.«
Josefins Kartoffel rollt über den Esstisch und wird von Julia aufgefangen.
»Ist sie meine große Schwester oder was?«, beschwert Julia sich.
»Jetzt reicht es!«, mault Tomas. »Ihr könnt später weiterreden.«
Gleichzeitig schreit Ellas Mutter Kajsa aus der Küche: »Ella! komm jetzt! Es gibt essen, habe ich gesagt!!!«
»Hast du deinen Vater gefragt, ob er einen geschiedenen Mann für meine Mutter kennt?«, fährt Ella fort.
»Nein. Ich weiß nicht, wo meine Kartoffel abgeblieben ist.«
»Und warum machst du es nicht?«, fragt Ella beleidigt.
»Kann sie das denn nicht selber machen?«, fragt Josefin.
»One moment please«, sagt Ella und beschließt essen zu gehen.
Sie legt den Hörer auf und verlässt das Zimmer.
Plötzlich verstummt Josefin am Esstisch. Sie hört sogar auf ihre Kartoffel zu schälen. Die ganze Familie starrt sie an.
»Bist du jetzt fertig?«, fragt Rasmus.
Als Ella in der Küche auftaucht, hellt Kajsas Gesicht sich auf.
»Hallo! Gut! Hast du jetzt alles für morgen gerichtet?«, fragt sie.
Ella beantwortet Kajsas Frage nicht, sondern hebt den Hörer des Wandtelefons ab und setzt ihr Gespräch mit Josefin fort: »Oder die Tanten auf deiner Arbeit. Frag die!«
Kajsa schaut sie verblüfft an.
»Die haben absolut keine Ahnung von Männern«, schnaubt Josefin und schält wieder ihre Kartoffel.
»Denken sie an nichts anderes?«, brummt Tomas und schaut seine Frau vorwurfsvoll an, als ob es ihre Schuld wäre.
»Und wie sieht es mit einem geschiedenen Verwandten aus? Vielleicht mit Hund?«, schlägt Ella vor.
Jetzt fährt Rasmus hoch, reißt Josefin den Hörer aus der Hand und schreit: »Leg jetzt auf, du blöde Kuh!«
Ella verzieht das Gesicht wegen des plötzlichen Lärms und Kajsa lächelt: »Wie schön, dass es dir geschmeckt hat. Übrigens wollte ich dich fragen, was für einen Film wir fürs Wochenende ausleihen sollen.«
»Denkst du morgen an mich?«, fragt Ella.
»Vielleicht habt ihr einen neuen, gut aussehenden Lehrer«, sagt Josefin aufmunternd.
Tomas kaut verbissen sein Essen. Helen, Rasmus und Julia starren Josefin an, die weiter ins Telefon plappert, als ob die Familie nur Kulisse wäre!
Zu Hause bei Ella diskutiert Kajsa unverdrossen das Thema Freitagabend-Video und scheint nicht zu merken, dass Ella immer noch telefoniert.
»Josefin kann doch rüberkommen, dann können wir wieder zu dritt gucken! Das ist doch immer so gemütlich!«, schlägt sie vor. Viele Abende war es so. Kajsa, Ella und Josefin saßen auf dem Sofa, haben Popcorn und Süßigkeiten gegessen und sich bis spät in die Nacht Filme reingezogen.
»Ich könnte vielleicht einen Sessel kaufen!«, fährt Kajsa fort.
»Dann könnte ich im Sessel sitzen und ihr auf dem Sofa!«
»Sollen wir ins Kino gehen?«, fragt Josefin.
»Nein, selbstverständlich werde ich mich zurückziehen!«, fährt Kajsa fort.
»Da können wir doch nicht reden!«, protestiert Ella in den Hörer.
»Das macht nichts«, antwortet Kajsa großzügig. »Ich ziehe mich gerne zurück. Wir können ja irgendwann miteinander reden, du und ich!«
Ella greift sich die Zeitung und blättert zu den Veranstaltungsanzeigen.
»Wie wäre es denn damit? ›Krabbenabend in der Blauen Woge. Bis 22 Uhr Eintritt frei für alle schönen Damen‹. Steht keine Altersbegrenzung!«
»Was? Wollt ihr ausgehen?«, ruft Kajsa mit vollem Mund.
»Das ist für Gruftis«, stellt Josefin fest.
»Natürlich könnt ihr ausgehen, das meine ich nicht!«, beteuert Kajsa.
»Eigentlich sieht man schrecklich aus, wenn man kaut«, sagt Josefin und betrachtet ihre ärgerlich kauende Familie am Esstisch.
»Wie alt denn?«, fragt Ella niedergeschlagen, ohne Kajsa eines Blickes zu würdigen.
»Halbgruftis. Das wäre vielleicht was für deine Mutter?«
»Josefin!«, brüllen Josefins Eltern schockiert, was Julia und Rasmus in Lachen ausbrechen lässt.
»Nein, sie ist allergisch gegen Krabben«, antwortet Ella.
Da spitzt Kajsa die Ohren.
»Aber Liebes, du brauchst nicht an mich zu denken. Geht ihr nur!«, sagt Kajsa.
»Schau dir doch mal den Mund an, der auf und ab hopst! Sieht doch bescheuert aus!«
Josefin muss lachen, als sie ihren kauenden Vater anschaut. Zum ersten Mal schaut Ella Kajsa an. Josefin hat Recht. Man sieht bescheuert aus, wenn man kaut. Traurig, aber wahr. Muss man sich jetzt auch noch darüber Gedanken machen?
Jetzt reicht es Josefins Mutter. Sie knallt die Gabel auf den Tisch, steht auf und brüllt: »Ich habe mit viel Mühe etwas gekocht und versucht es ein bisschen nett ...!«
»Tschüss, bis dann!«
Josefin beendet schnell das Gespräch.
»Tschüss, bis dann!«, antwortet Ella und legt auf.
Plötzlich wird ihr bewusst, dass Kajsa mit ihr spricht. Sie scheint schon eine ganze Weile gesprochen zu haben. Sie schaut Ella freundlich an und sagt liebevoll: »Du brauchst dich nicht um mich zu kümmern. Wirklich nicht! Ich meine es ehrlich. Ich bin selbst erstaunt, aber es ist wahr!«
Kajsa lächelt und nickt aufmunternd. Ella weiß nicht, wovon sie spricht, schlägt entnervt die Zeitung zu und tut sich Essen auf.
Es ist Abend. Josefin liegt im großen Doppelbett der Geschwister und liest Julia und Rasmus etwas vor. Julia ist fünf, ein kleiner Mensch in der Welt, voller Spiele und Bewegungsdrang und Neugierde. Jetzt ist Schlafenszeit, das Nachthemd ist angezogen, die Zähne sind geputzt und in ihren kinderduftenden Haaren glitzert eine Prinzessinnenkrone.
Auf der anderen Seite liegt Rasmus. Er ist zwei Jahre älter als Julia und geht schon in die Schule. Da lernt er, wie die Welt tatsächlich funktioniert. Noch ist er klein, aber er wird größer werden als Josefin und Julia, größer als die Mutter. Vielleicht sogar größer als der Vater. Noch liegt er weich neben seinen Schwestern und hört dem Märchen Dornröschen zu.
Der Prinz hat sich mit seinem blanken Schwert durch die lebensgefährlichen Dornen gekämpft und steht vor Dornröschen, die ihren hundertjährigen Schlaf schläft. Sie ist so schön, dass er sich sofort verliebt, und er kann sich nicht zurückhalten und küsst ihre bleichen Lippen. Da geschieht ein Wunder. Sein Kuss bricht den Zauber und ihre Lippen bekommen Farbe. Dornröschen schlägt die Augen auf und lächelt ihren Erretter an. Endlich beginnt das Leben!
»Und Dornröschen wurde die schönste Braut, die man je gesehen hatte, und sie lebte glücklich mit ihrem Prinzen bis ans Ende ihrer Tage.«
Josefin schlägt das Buch zu und sagt den Kindern Gute Nacht.
Aber Julia kann nicht einschlafen.
»Josefin, ich möchte auch eine Prinzessin sein«, sagt sie.
»Das kannst du nie werden!«, sagt Rasmus altklug.
»Das kann ich wohl! Wenn ich einen Prinzen heirate!«, antwortet Julia schnell.
Aber Rasmus weiß, dass die Welt nicht voller Prinzen ist.
»Es gibt keine Prinzen«, triumphiert er trocken.
Julias Herz pocht aufgeregt in der Brust.
»Gibt es wohl!«, sagt sie eigensinnig.
Rasmus grinst.
»Und außerdem kann ich selber bestimmen, dass ich eine Prinzessin bin!«
»Kannst du nicht!«, schreit Rasmus wütend.
»Doch, weil ich über mich selbst bestimmen kann!«, antwortet Julia stolz.
»Auf jeden Fall bist du keine Prinzessin!!!«, konstatiert Rasmus auftrumpfend.
Das tut Julia weh. Warum behauptet er, dass sie keine Prinzessin sein kann? Warum denn nicht?
»Hört auf zu streiten«, bittet Josefin. »Es ist doch bloß ein Märchen! Ihr sollt jetzt schlafen.«
Sie liegen ein Weilchen still da und denken nach.
»Auch in ›Schneewittchen‹ regelt der Prinz am Ende alles«, sagt Rasmus schließlich zufrieden.
»So geht es eben im Märchen zu. Gute Nacht und schlaft gut«, sagt Josefin. Sie will, dass sie schlafen.
»Josefin ...«, sagt Julia leise. »Ich möchte eine Prinzessin sein, die einen Prinzen erweckt.«
Josefin streicht ihr lächelnd über die Wange, aber da fährt Rasmus hoch wie vom Blitz getroffen und brüllt, wütend über die Dummheit seiner Schwester: »Aber so läuft das überhaupt nicht!!!«
»Im Märchen kann es so laufen!!!«, brüllt Julia zurück.
»Gute nacht und schlaft jetzt gut!!!«, ruft Josefin und drückt sie ins Bett zurück.
Die Kinder kneifen die Augen zusammen, aufgeregt und wütend wegen der vielen Missverständnisse und Ungerechtigkeiten.
Aber irgendwann beruhigen sie sich und schlafen ein. Josefin genießt es, zwischen ihnen zu liegen, ihren ruhigen Atem zu hören, ihre weichen, warmen Körper zu spüren. Manchmal lachen sie im Schlaf. Besonders Julia. Ein leichtes, kullerndes Lachen, das über ihr Gesicht tanzt. Was sie wohl träumt, die kleine Schwester?
Josefin sieht ins Dunkel, das gegen das Fenster drückt. Irgendwo da draußen ist der, dem sie ihre Liebe geben darf. Sie darf dann sie selber sein, mit all den großen Gefühlen, die sie in sich trägt. In diesem Moment bewegt er sich, sein Herz schlägt, er atmet und vielleicht fragt er sich, wo sie wohl sein mag. Wer sie ist. Wann sie kommt.
Julias Prinzessinnenkrone ist verrutscht, ist über ihre kleine Nase gerutscht. Josefin macht sie vorsichtig los und setzt sie sich auf den Kopf.
Ella sitzt am ersten Tag nach den Ferien in der Schule.
Eine Art schläfriger Enttäuschung liegt über der Klasse. Noch ein Sommer ist vorüber. Und jetzt findet das Leben wieder nach den Vorgaben der Schule statt. Endlose Schulstunden in sauerstoffarmen Klassenzimmern, uninteressante Bücher, die voll geschrieben sind mit kleinlichen Buchstaben, die die Gedanken zu Boden zwingen wollen, und Pausen, in denen man versuchen muss seinen Status zu behaupten.
Urberg, der Klassenlehrer, ist der einzige männliche Lehrer mit Charisma. Er ist nicht jung, sieht auch kaum gut aus, aber um ihn herum ist ein Kraftfeld, es ist verbotenes Gelände, es gilt nicht ihnen, aber alle spüren es. Er läuft auf und ab, ist sich der Blicke der Schüler bewusst und er weiß, dass er sich Zeit lassen kann, ohne die Aufmerksamkeit zu verlieren. Manchmal bleibt er stehen, zwirbelt nachdenklich seinen Schnurrbart und lässt seinen Blick auf jemandem ruhen. Es ist spannend, seinem Blick standzuhalten, man spürt es deutlich, es ist ein Gefühl, das sich im ganzen Körper verbreitet, wenn man ihm direkt in die Augen schaut und er einem direkt in die eigenen. Man weiß nicht, was hinter der Grenze für normales Schauen passiert! Da gibt es einen solchen Sog, obwohl Urberg nur ein Lehrer ist, ein Mann in mittleren Jahren mit grauen Strähnen. Es gilt nicht ihm!
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