Die Abenteuer des Apollo 2: Die dunkle Prophezeiung - Rick Riordan - E-Book
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Die Abenteuer des Apollo 2: Die dunkle Prophezeiung E-Book

Rick Riordan

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Beschreibung

Blutrünstige Kaiser, schnippische Götter und ein mechanischer Drache Einst war er ein unsterblicher Gott, jetzt ist er ein unbeholfener Teenager. Für Apollo läuft es nicht gerade prächtig. Es gibt nur einen Weg, wie er seine Unsterblichkeit zurückerlangen kann – doch dafür muss er sich der größten Challenge seines viertausendjährigen Bestehens stellen: Er muss in den Mittleren Westen der USA reisen und ohne seine magischen Kräfte die alten Orakel wieder zum Leben erwecken. Es gibt jedoch ein paar Dinge, die ihm im Weg stehen. Da wäre die Höhle, die ihn töten oder in den Wahnsinn treiben könnte - und ein römischer Kaiser, der an Bösheit nicht zu übertreffen ist.  Die etwas andere Heldenreise: Zeit für Apollo, den egozentrischsten Gott aller Zeiten! Einmal Mist im Olymp gebaut und schon landet Gott Apollo auf direktem Wege in einer Gasse in New York. Ohne seine göttlichen Kräfte und im Körper eines Teenagers muss er sich der modernen Welt stellen. Dabei stolpert er von einem Abenteuer ins nächste und lernt, dass das Leben als Sterblicher nicht ganz so glamourös ist, wie er dachte – aber vielleicht viel bedeutungsvoller.  "Die Abenteuer des Apollo" ist ein Spin-off von Riordans vorherigen Reihen "Percy Jackson" und "Helden des Olymp". In der fünfteiligen Fantasy-Buchserie überführt Rick Riordan alte Sagen und Legenden in moderne Geschichten und begeistert Leser*innen überall auf der Welt für seine Hauptfigur Apollo, dem seine maßlose Arroganz und Selbstverliebtheit immer wieder im Weg steht.  ***Ein selbstverliebter Held, epische Abenteuer und viel Humor – für Leser*innen ab 12 Jahren und für alle Fans der griechisch-römischen Mythologie*** 

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Rick Riordan: Die Abenteuer des Apollo – Die dunkle Prophezeiung

 

Apollo muss sich ja neuerdings als pickliger Junge Lester auf der Erde durchschlagen. Aber nun weiß er, was er tun muss, um seine Unsterblichkeit zurückzuerlangen: Er muss die alten Orakel, sein eigentliches Wirkungsfeld, wieder zum Leben erwecken. Mit dem Bronzedrachen Festus fliegt er quer durch die USA, um nach einem Höhlenorakel zu suchen. Doch seine Gegenspieler, der alte römische Kaiser Nero und seine zwei Mitstreiter, wollen ihn daran hindern und laufen zu ganz neuer Fiesheit auf …

Die Serie »Die Abenteuer des Apollo« ist auf fünf Bände angelegt, dieses ist der zweite Band.

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Für Ursula K. Le Guin,

von der ich gelernt habe, dass in den Reaches andere Regeln gelten

1

Lester (Apollo)

Leider immer noch menschlich

Ich hass mein Leben

Als unser Drache dem Staat Indiana den Krieg erklärte, wusste ich, dass es ein mieser Tag werden würde.

Wir reisten seit sechs Wochen nach Westen und Festus hatte bisher keinem Staat eine solche Feindseligkeit entgegengebracht. New Jersey ignorierte er. Pennsylvania schien ihm zu gefallen, trotz unserer Schlacht mit den Zyklopen von Pittsburgh. Ohio nahm er hin, selbst nach unserer Begegnung mit Potina, der römischen Göttin der Kindergetränke, die uns in Gestalt eines riesigen roten Kruges mit einem Smiley-Gesicht verfolgte.

Doch aus irgendeinem Grund fasste Festus einen Widerwillen gegen Indiana. Er landete auf der Kuppel des Regierungsgebäudes, schlug mit seinen Metallflügeln und stieß einen Feuerschwall aus, der die Flagge des Staates glatt vom Flaggenmast sengte.

»He, Kumpel!« Leo Valdez riss an den Zügeln. »Darüber hatten wir doch gesprochen. Öffentliche Gebäude werden nicht abgefackelt.«

Kalypso, die hinter ihm auf dem Rücken des Drachen saß, packte Festus’ Schuppen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Könnten wir bitte auf den Boden gebracht werden? Und diesmal sanft?«

Kalypso, eine ehemals unsterbliche Zauberin, der die Geister der Luft gehorcht hatten, war keine begeisterte Fliegerin. Kalter Wind wehte mir ihre kastanienbraunen Haare ins Gesicht und ich musste blinzeln und ausspucken.

Ihr habt richtig gehört, liebe Leserin und lieber Leser.

Ich, der wichtigste Passagier, der Jugendliche, der einst der strahlend schöne Gott Apollo gewesen war, musste auf dem Rücken des Drachen hinten sitzen. Oh, was hatte ich für Demütigungen ertragen müssen, seit Zeus mich meiner göttlichen Kräfte beraubt hatte! Es reichte nicht, dass ich jetzt ein sechzehn Jahre alter Sterblicher mit dem schrecklichen Namen Lester Papadopoulos war. Es reichte nicht, dass ich auf der Erde Sklavendienste leisten und auf heldenhafte Einsätze ausziehen musste (uäh!), bis ich eine Möglichkeit fand, von meinem Vater in Gnaden wieder aufgenommen zu werden, oder dass meine Akne nicht auf rezeptfreie Medikamente reagierte. Trotz meines vom Staat New York ausgestellten Führerscheins traute Leo Valdez mir nicht genug, um mich sein bronzenes Luftross lenken zu lassen!

Festus’ Krallen suchten kratzend Halt auf der grünen Kupferkuppel, die viel zu klein war für einen Drachen von seinen Ausmaßen. Ich musste für einen Moment an damals denken, als ich eine lebensgroße Statue der Muse Kalliope auf meinem Sonnenwagen angebracht hatte. Daraufhin hatte mich das zusätzliche Gewicht gezwungen, im Sturzflug in China zu landen und die Wüste Gobi zu erschaffen.

Leo schaute sich um, sein Gesicht war von Ruß gestreift. »Apollo, spürst du irgendetwas?«

»Warum soll immer ich etwas spüren? Bloß weil ich mal der Gott der Weissagung war …«

»Du bist hier der mit den Visionen«, erinnerte mich Kalypso. »Du hast gesagt, deine Freundin Meg werde hier sein.«

Wenn ich Megs Namen auch nur hörte, wand ich mich vor Schmerzen. »Das bedeutet nicht, dass ich gedanklich ihre Position anpeilen kann. Zeus hat meinen Zugang zum GPS gesperrt.«

»GPS?«, fragte Kalypso.

»Göttliches Peilsystem.«

»Das gibt es doch gar nicht!«

»Ganz ruhig, Leute.« Leo streichelte den Hals des Drachen. »Apollo, mach einfach einen Versuch, ja? Sieht das aus wie die Stadt, von der du geträumt hast, oder nicht?«

Ich suchte den Horizont ab.

Indiana war ein flaches Land – Highways, die sich kreuz und quer durch braune Stoppelfelder wanden, Schatten von Winterwolken, die über den Straßen der Stadt dahinzogen. Um uns herum erhob sich eine magere Ansammlung von Hochhäusern – Haufen aus Stein und Glas, wie Schichten aus weißem und schwarzem Lakritz. (Und nicht von der leckeren Lakritzsorte, sondern von der ekligen, die eine Ewigkeit nach der anderen in der Schüssel auf dem Kaffeetisch deiner Stiefmutter liegen bleibt. Und nein, Hera, wieso meinst du, ich könnte dich gemeint haben?)

Da ich in New York auf die Erde gefallen war, fand ich Indianapolis öde und langweilig. Es sah aus, als ob sich ein normales New Yorker Viertel über die ganze Grundfläche von Manhattan ausgedehnt und sich zwei Drittel seiner Bevölkerung entledigt hätte, um sich dann noch gehörig abspülen zu lassen.

Ich konnte mir nicht vorstellen, warum ein tückisches Triumvirat aus antiken römischen Kaisern sich für einen solchen Ort interessieren sollte. Und ich konnte mir auch nicht vorstellen, warum Meg McCaffrey hier hergeschickt worden sein sollte, um mich zu fangen. Aber meine Visionen waren deutlich gewesen. Ich hatte diese Skyline gesehen. Ich hatte gehört, wie mein alter Feind Nero Meg befahl: Geh nach Westen. Fang Apollo, ehe er das nächste Orakel finden kann. Wenn du ihn nicht lebend zu mir schaffen kannst, dann töte ihn.

Das Traurigste daran war: Meg war eine meiner besten Freundinnen. Sie war, dem perversen Humor des Zeus sei Dank, dazu auch noch meine halbgöttliche Herrin. Solange ich sterblich blieb, konnte Meg mir jeden Befehl erteilen, sogar, Selbstmord zu begehen … Nein. Besser nicht an solche Möglichkeiten denken.

Ich rutschte auf meinem Metallsitz hin und her. Nach so vielen Wochen unterwegs war ich müde und wund geritten. Ich wollte eine sichere Ruhestätte finden. Diese Stadt hier war keine. Etwas an der Landschaft unter uns machte mich ebenso nervös wie Festus.

Leider war ich sicher, dass das hier unser Bestimmungsort war. Wenn ich eine Möglichkeit hatte, Meg McCaffrey wiederzusehen, sie aus dem Zugriff ihres schurkischen Stiefvaters zu befreien, dann musste ich das versuchen, trotz aller Gefahr.

»Hier ist es«, sagte ich. »Ehe diese Kuppel unter uns zusammenbricht, sollten wir uns wohl mal auf den Boden begeben.«

Kalypso murmelte auf Minoisch: »Das habe ich auch schon gesagt.«

»Ach, entschuldige bitte, Zauberin«, antwortete ich in derselben Sprache. »Wenn du vielleicht ein paar nützliche Visionen hättest, würde ich dir häufiger zuhören!«

Kalypso belegte mich mit einigen Bezeichnungen, die mich daran erinnerten, wie farbenprächtig die minoische Sprache vor ihrem Aussterben gewesen war.

»He, ihr zwei«, sagte Leo. »Keine antiken Dialekte. Spanisch oder Englisch, bitte. Oder Maschinisch.«

Festus krächzte zustimmend.

»Ist schon gut, Junge«, sagte Leo. »Ich bin sicher, dass sie uns nicht ausschließen wollten. Und jetzt fliegen wir mal runter aufs Straßenniveau, was?«

Festus’ Rubinaugen leuchteten. Seine Zähne drehten sich wie wild um sich selbst. Wahrscheinlich dachte er, Illinois wäre mir lieber!

Aber er schlug mit den Flügeln und sprang von der Kuppel. Wir schossen abwärts und landeten mit ausreichend Wucht, um vor dem Regierungsgebäude das Straßenpflaster aufzubrechen.

Festus bewegte den Kopf hin und her und Rauch quoll aus seinen Nasenlöchern.

Ich sah keine direkte Bedrohung. Autos fuhren in gemächlichem Tempo durch die West Washington Street. Fußgänger schlenderten vorüber; eine Frau mittleren Alters in einem geblümten Kleid, ein untersetzter Polizist, der Kaffee aus einem Pappbecher mit der Aufschrift CAFÉ PATACHOU trank, ein Mann mit scharfen Zügen in einem blauen Seersucker-Sommeranzug.

Der Mann in Blau winkte höflich im Vorübergehen. »Morgen.«

»Wasn los, Blödmann?«, rief Leo.

Kalypso legte den Kopf schräg. »Warum war der denn so freundlich? Sieht er nicht, dass wir oben auf einem fünfzig Tonnen schweren Metalldrachen sitzen?«

Leo grinste. »Das ist der Nebel, Süße – führt sterbliche Augen an der Nase herum. Lässt Monster aussehen wie streunende Hunde. Lässt Schwerter aussehen wie Regenschirme. Lässt mich sogar noch hübscher aussehen als sonst!«

Kalypso bohrte Leo die Daumen in die Nieren.

»Au!«, rief er empört.

»Ich weiß, was der Nebel ist, Leonidas …«

»He, ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht so nennen.«

»… aber der Nebel muss hier sehr stark sein, wenn er ein Monster von Festus’ Größe bei so geringer Entfernung verstecken kann. Apollo, kommt dir das nicht ein bisschen komisch vor?«

Ich sah mir die Fußgänger an.

Ich hatte durchaus schon Orte gesehen, an denen der Nebel besonders dicht gewesen war. In Troja war die Luft über dem Schlachtfeld von Göttern dermaßen gesättigt gewesen, dass man seinen Wagen nicht wenden konnte, ohne gegen eine andere Gottheit zu knallen, und doch hatten Griechen und Trojaner höchstens Andeutungen unserer Anwesenheit wahrgenommen. 1979 auf Three Mile Island hatten die Sterblichen aus irgendeinem Grund nicht begriffen, dass die drohende Kernschmelze von einem legendären Kettensägenduell zwischen Ares und Hephaistos verursacht worden war. (Wenn meine Erinnerung nicht täuschte, dann hatte Hephaistos die Schlaghosen des Ares beleidigt.)

Aber ich glaubte nicht, dass dichter Nebel hier das Problem war. Irgendetwas an den Stadtbewohnern irritierte mich. Ihre Gesichter waren zu gelassen. Ihr benommenes Lächeln erinnerte mich an die antiken Athener unmittelbar vor dem Dionysos-Fest – alle guter Laune, mit ihren Gedanken schon bei den betrunkenen Krawallen und den Orgien, die ihnen bevorstanden.

»Wir sollten uns der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit entziehen«, schlug ich vor. »Vielleicht …«

Festus stolperte und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Aus seiner Brust kam ein Geräusch wie das einer abrutschenden Fahrradkette.

»Ach, nicht schon wieder«, sagte Leo. »Alle runter.«

Kalypso und ich stiegen eilig ab.

Leo rannte vor Festus und hob die Arme zu einer klassischen Drachenbezwinger-Geste. »He, Kumpel, alles bestens! Ich muss dich nur mal kurz abschalten, okay? Eine kleine Ruhepause, um …«

Festus spie eine Flammensäule aus, die Leo umhüllte. Zum Glück war Valdez feuerfest. Seine Kleider waren das nicht. Leo hatte erzählt, er könnte seine Kleidung normalerweise durch pure Konzentration vor dem Verbrennen bewahren. Wenn er jedoch überrascht wurde, funktionierte das nicht immer.

Als sich die Flammen gelegt hatten, trug Leo nur noch seine Boxershorts aus Asbest, seinen magischen Werkzeuggürtel und ein Paar rauchender, teilweise geschmolzener Turnschuhe.

»Verflixt«, sagte er empört. »Festus, hier draußen ist es kalt!«

Der Drache stolperte wieder. Leo legte den Hebel hinter dem linken Vorderbein des Drachen um. Festus sank in sich zusammen. Seine Flügel, Glieder, sein Hals und sein Schwanz zogen sich in seinen Leib zurück, seine Bronzeplatten schoben sich übereinander und falteten sich nach innen. In Sekundenschnelle war unser mechanischer Freund zu einem großen Bronzekoffer geschrumpft.

Das war natürlich physikalisch unmöglich, aber wie jeder anständige Gott, Halbgott oder Ingenieur ließ sich Leo Valdez von physikalischen Gesetzen nicht aufhalten.

Er musterte sein neues Gepäckstück stirnrunzelnd. »Mann … ich dachte, ich hätte seinen Ringkondensator repariert. Jetzt sitzen wir wohl hier fest, bis ich einen Ersatzteilladen gefunden habe.«

Kalypso schnitt eine Grimasse. Ihre rosa Skijacke glitzerte nach unserem Flug durch die Wolken vor Feuchtigkeit. »Und wenn wir so einen Laden finden, wie lange brauchst du dann, um Festus zu reparieren?«

Leo zuckte mit den Schultern. »Zwölf Stunden? Fünfzehn?« Er drückte auf einen Knopf an der Seite des Koffers. Ein Handgriff wurde ausgefahren. »Und wenn wir einen Laden für Herrenbekleidung finden könnten, wäre das auch nicht schlecht.«

Ich stellte mir vor, wie wir in ein Kaufhaus wanderten, Leo in Boxershorts und geschmolzenen Turnschuhen, während er einen bronzenen Koffer hinter sich herzog. Diese Vorstellung sagte mir gar nicht zu.

Dann rief eine Stimme vom Bürgersteig her: »Hallo!«

Die Frau in dem geblümten Kleid war wieder da. Wenigstens sah sie aus wie dieselbe Frau. Oder die Damen in Indianapolis trugen so oft sie konnten lila-gelbe Blümchenkleider und ließen sich die Haare im Stil der Fünfzigerjahre legen.

Sie lächelte mit leerem Blick. »Schönes Wetter heute!«

In Wirklichkeit war das Wetter erbärmlich – kalt und bewölkt, und es roch nach Schnee –, aber es wäre mir unhöflich vorgekommen, den Gruß einfach zu ignorieren.

Ich winkte ihr kurz zu – die Art von Handbewegung, die ich für meine Anbeter machte, wenn sie sich vor meinem Altar auf die Knie warfen. Für mich war diese Botschaft deutlich genug: Ich sehe dich, schwache Sterbliche; und jetzt geh weiter. Die Götter haben etwas zu besprechen.

Die Frau verstand den Wink nicht; sie kam näher und baute sich vor uns auf. Sie war nicht besonders groß, aber etwas an ihren Proportionen schien nicht zu stimmen. Ihre Schultern waren zu breit für ihren Kopf. Ihre Brust und ihr Bauch ragten wie ein Kloß hervor, als ob sie sich einen Sack voller Mangos in ihr Kleid gestopft hätte. Mit ihren spindeldürren Armen und Beinen erinnerte sie mich an eine Art Riesenkäfer. Wenn sie jemals rückwärts umkippte, würde sie sicher nicht wieder auf die Beine kommen.

»Ach du meine Güte«, sie packte ihre Handtasche mit beiden Händen. »Was seid ihr für niedliche Kinder!«

Ihr Lippenstift und ihr Lidschatten waren beide von einem heftigen Lila. Ich fragte mich, ob ihr Gehirn ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurde.

»Gnädige Frau«, sagte ich. »Wir sind keine Kinder.« Ich hätte hinzufügen können, dass ich über viertausend Jahre alt war und Kalypso sogar noch älter, aber ich beschloss, darauf nicht weiter einzugehen. »Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte, wir müssen einen Koffer reparieren und mein Freund braucht dringend eine Hose.«

Ich versuchte, um sie herumzugehen. Sie versperrte mir den Weg.

»Ihr dürft noch nicht gehen, mein Lieber! Wir haben euch in Indiana ja noch gar nicht gebührend willkommen geheißen.« Sie zog ein Smartphone aus ihrer Handtasche. Das Display leuchtete wie bei einem laufenden Gespräch.

»Er ist es wirklich«, sagte sie ins Telefon. »Alle sofort herkommen. Apollo ist da!«

Meine Lunge schrumpfte zusammen.

In den alten Zeiten hätte ich natürlich damit gerechnet, beim Eintreffen in einer Stadt sofort erkannt zu werden. Natürlich würden die Einheimischen zusammenströmen, um mich willkommen zu heißen. Sie würden singen und tanzen und Blumen werfen. Sie würden sofort mit dem Bau eines neuen Tempels anfangen.

Aber als Lester Papadopoulos war ich nicht qualifiziert für eine solche Behandlung. Ich sah ganz und gar nicht aus wie mein früheres strahlend schönes Selbst. Die Vorstellung, dass die Leute in Indiana mich trotz meiner verfilzten Haare, meiner Akne und meines Hüftspecks erkennen könnten, war beleidigend und beängstigend zugleich. Was, wenn sie eine Statue von mir in meiner derzeitigen Gestalt errichteten – einen riesigen goldenen Lester mitten in ihrer Stadt? Die anderen Götter würden mir das auf ewig unter die Nase reiben.

»Gnädige Frau«, sagte ich. »Ich fürchte, Sie verwechseln mich …«

»Nicht so bescheiden!« Die Frau warf Telefon und Handtasche beiseite und packte meinen Unterarm mit der Kraft eines Gewichthebers. »Unser Herr wird entzückt sein, wenn er dich in seine Obhut nehmen kann. Und bitte, nenn mich Nanette.«

Kalypso ging zum Angriff über. Entweder wollte sie mich verteidigen (unwahrscheinlich) oder sie konnte den Namen Nanette nicht leiden. Sie boxte der Frau ins Gesicht.

Das an sich überraschte mich nicht. Seitdem sie ihre unsterblichen Kräfte verloren hatte, versuchte Kalypso, sich andere Fähigkeiten anzueignen. Mit Schwertern, Stangenwaffen, Wurfsternen, Peitschen und anderen improvisierten Stegreifkomödien hatte sie versagt (ich konnte ihre Frustration nachempfinden). Heute wollte sie also ihre Fäuste sprechen lassen.

Was mich überraschte, war das laute KRACK, das ihre Faust in Nanettes Gesicht verursachte – das Geräusch, mit dem Fingerknöchel brechen.

»Au!« Kalypso taumelte rückwärts und umklammerte ihre Hand.

Nanettes Kopf glitt rückwärts. Sie ließ mich los, um sich ans Gesicht zu fassen. Ihr Kopf fiel ihr von den Schultern, knallte auf den Asphalt und kullerte zur Seite, die Augen blinzelten noch und die lila Lippen zuckten. Das Kopfinnere bestand aus glattem, rostfreiem Stahl. Mit Klebeband und Klammern waren Haare daran befestigt.

»Heiliger Hephaistos!« Leo stürzte zu Kalypso. »Gute Frau, du hast mit deinem Gesicht meiner Freundin die Hand gebrochen. Was bist du, ein Automaton?«

»Nein, mein Lieber«, sagte die enthauptete Nanette. Ihre gedämpfte Stimme kam nicht von dem Kopf aus rostfreiem Stahl auf dem Bürgersteig. Sie ertönte irgendwo in ihrem Kleid. Oberhalb des Kragens, wo vorher ihr Hals gewesen war, war ein Büschel dünner blonder Haare mit Klammern festgemacht. »Und ich muss sagen, es war nicht gerade höflich, mich zu schlagen.«

Erst jetzt begriff ich, dass der Metallkopf eine Tarnung gewesen war. So, wie Satyrn ihre Hufe in Menschenschuhen versteckten, so gab sich dieses Wesen als Mensch aus, indem es vorgab, ein menschliches Gesicht zu haben. Seine Stimme kam aus seinem Unterleib, was bedeutete …

Meine Knie wurden weich.

»Eine Blemmierin«, sagte ich.

Nanette kicherte. Ihre gewölbte Mittelpartie wand sich unter dem Blümchenstoff. Sie riss ihre Bluse auf – etwas, worauf eine gesittete Dame aus dem Mittleren Westen der USA niemals verfallen wäre – und zeigte ihr wahres Gesicht.

Wo bei einer Frau der Büstenhalter gewesen wäre, sahen mich zwei gewaltige Glupschaugen an. Aus ihrer Brust ragte eine große glänzende Nase hervor. Auf ihrem Unterleib kräuselte sich ein furchtbarer Mund – leuchtende orange Lippen, Zähne wie ein Blatt weißer Spielkarten.

»Genau, mein Lieber«, sagte das Gesicht. »Und ich verhafte dich im Namen des Triumvirates.«

Überall auf der Washington Street drehten sich freundlich aussehende Fußgänger um und marschierten auf uns zu.

2

Kopflosmann und -frau

Vergällen uns Indiana.

Schaut – ein Käsegeist!

Ihr denkt jetzt vielleicht, Himmel, Apollo, warum hast du nicht einfach zum Bogen gegriffen und sie erschossen? Oder sie mit einem Lied auf deiner Kampfukulele bezaubert?

Ich hatte beides zusammen mit meinem Köcher über dem Rücken hängen. Leider brauchten auch die besten Halbgottwaffen etwas, das Wartung genannt wird. Meine Kinder Kayla und Austin hatten mir das erklärt, ehe ich Camp Half-Blood verlassen hatte. Ich konnte nicht einfach Bogen und Köcher aus der Luft greifen, wie früher als Gott. Ich konnte mir meine Ukulele nicht mehr in die Hände wünschen und erwarten, dass sie perfekt gestimmt wäre.

Meine Waffen und mein Musikinstrument waren sorgfältig in Decken gewickelt. Sonst hätten sich beim Flug durch die feuchte Luft Pfeile und Bogen verzogen und die Saiten der Ukulele wären zum Hades. Beides jetzt hervorzuholen hätte mehrere Minuten verlangt, die ich nicht hatte.

Und ich glaubte auch nicht so recht, dass sie mir gegen eine Blemmierin eine große Hilfe gewesen wären.

Ich hatte seit den Zeiten von Julius Cäsar nichts mehr mit Blemmiern zu tun gehabt, und ich wäre glücklich gewesen, wenn ich auch für die nächsten zweitausend Jahre keine hätte sehen müssen.

Was konnte ein Gott der Dichtkunst und Musik schon gegen Wesen ausrichten, deren Ohren in ihre Achselhöhlen geklemmt waren? Und die Blemmier hatten auch weder Angst noch Respekt vor der Kunst des Bogenschießens. Sie waren kräftige Ringer mit dicker Haut und unempfänglich für die meisten Krankheiten, was bedeutete, dass sie mich nie um medizinische Hilfe anriefen oder meine Pestpfeile fürchteten. Und das Schlimmste war, dass sie fantasielos waren und keinen Humor besaßen. Sie hatten kein Interesse an der Zukunft, deshalb wussten sie auch nicht, wozu Orakel oder Weissagungen gut sein sollten.

Kurz gesagt, eine Spezies, die sich weniger für einen attraktiven, vielseitig begabten Gott wie mich interessierte, hätte man gar nicht erschaffen können. (Und ihr könnt mir glauben, Ares hatte das versucht. Diese hessischen Söldner im achtzehnten Jahrhundert, die er sich aus den Fingern gesogen hatte – uäh. Die hatten George Washington und mir verdammt zu schaffen gemacht.)

»Leo«, sagte ich. »Du musst den Drachen aktivieren.«

»Ich habe ihn gerade erst in Schlafmodus versetzt.«

»Beeil dich!«

Leo fummelte an den Knöpfen des Koffers herum. Nichts passierte. »Sag ich doch, Mann. Selbst wenn Festus total funktionsfähig wäre, wäre es verdammt schwer, ihn aufzuwecken, wenn er gerade erst eingeschlafen ist.«

Na, wunderbar, dachte ich. Kalypso beugte sich über ihre gebrochene Hand und murmelte minoische Obszönitäten. Leo zitterte in seiner Unterhose. Und ich … na ja, ich war Lester. Statt unseren Feinden mit einem riesigen feuerspeienden Automaton gegenüberzutreten, würden wir sie nun mit einem kaum tragbaren Stück Metallgepäck bekämpfen müssen.

Ich fuhr zu der Blemmierin herum. »HEB DICH HINWEG, eklige Nanette!« Ich versuchte, meinen alten GÖTTLICHEN ZORN in meine Stimme zu legen. »Wenn du meine erhabene Person auch nur mit dem kleinen Finger antippst, wirst du VERNICHTET werden!«

Als ich noch ein Gott war, reichte diese Drohung aus, um eine ganze Armee ihre Tarnhosen nass machen zu lassen. Nanette blinzelte nur mit ihren kuhbraunen Augen.

»Jetzt mach keinen Ärger«, sagte sie. Ihre Lippen waren auf groteske Weise hypnotisch. Sie sahen aus wie ein chirurgischer Schnitt, der als Handpuppe benutzt wurde. »Außerdem, mein Schatz, bist du gar kein Gott mehr.«

Warum musste alle Welt mich dauernd daran erinnern?

Weitere Einheimische strömten herbei. Zwei Polizisten kamen die Treppe des Regierungsgebäudes herunter. An der Ecke der Senate Avenue ließen drei Müllkutscher ihren Wagen stehen und kamen Mülleimer schwenkend angetrottet. Aus der anderen Richtung marschierte ein Dutzend Männer in Schlips und Kragen über den Rasen vor dem Regierungsgebäude.

Leo fluchte. »Gibt es in dieser Stadt denn nur Metallköpfe? Und ich meine damit nicht die gute Sorte von Metallköpfen.«

»Keine Panik, Schatz«, sagte Nanette. »Ergebt euch, dann brauchen wir euch nicht besonders doll wehzutun. Das ist die Aufgabe des Kaisers.«

Trotz ihrer gebrochenen Hand hatte Kalypso offenbar keine Lust, sich zu ergeben. Mit einem trotzigen Schrei griff sie Nanette ein weiteres Mal an und richtete einen Karatetritt gegen die riesige Nase der Blemmierin.

»Nicht!«, schrie ich entsetzt, allerdings zu spät.

Wie schon gesagt, Blemmier sind kräftige Wesen. Es ist schwer, sie zu verletzen, und noch schwerer, sie umzubringen. Kalypsos Fuß traf sein Ziel und ihr Knöchel bog sich mit einem widerlichen Pop. Sie brach zusammen und röchelte vor Schmerz.

»Kal!« Leo stürzte zu ihr. »Weg da, Brustvisage!«

»Was für eine hässliche Sprache, mein Lieber«, tadelte Nanette. »Jetzt muss ich dich wohl leider platt treten.«

Sie hob einen ihrer Lacklederpumps, aber Leo war schneller. Er rief einen Feuerball herbei, schleuderte ihn wie einen Baseball und traf Nanette zwischen ihren riesigen Brustaugen. Flammen jagten über sie hinweg und ließen ihre Augenbrauen und ihr Blümchenkleid in Flammen aufgehen.

Als Nanette aufschrie und ins Stolpern geriet, schrie Leo: »Apollo, hilf mir!«

Mir ging auf, dass ich in Schockstarre dastand – was nicht weiter schlimm gewesen wäre, wenn ich die Szene aus der Sicherheit meines Thrones auf dem Olymp beobachtet hätte. Leider steckte ich hier unten bei den minderen Wesen im Schützengraben fest. Ich half, Kalypso auf die Beine zu ziehen (jedenfalls auf das unversehrte Bein). Wir legten uns ihre Arme über die Schultern (wobei Kalypso gewaltig losschrie, wenn ich aus Versehen ihre gebrochene Hand anfasste) und schleppten uns davon.

Nach zehn Metern rief Leo mitten auf dem Rasen plötzlich: »Ich hab Festus vergessen!«

»Lass ihn«, fauchte ich.

»Was?«

»Ihn und Kalypso können wir nicht schleppen. Wir holen ihn später. Die Blemmierin achtet vielleicht gar nicht auf ihn.«

»Aber wenn sie rauskriegen, wie man ihn aufmacht«, sagte Leo verzweifelt, »wenn sie ihm etwas antun …«

»ARRRGGGGH!« Hinter uns riss Nanette sich die Fetzen ihres brennenden Kleides vom Leib. Von der Hüfte abwärts war ihr Körper mit blondem Zottelfell bedeckt, ein bisschen wie bei einem Satyrn. Ihre Augenbrauen schwelten, ansonsten sah ihr Gesicht unversehrt aus. Sie spuckte Asche aus und schaute wütend in unsere Richtung. »Das war nicht nett! SCHNAPPT SIE!«

Die Geschäftsleute hatten uns fast schon erreicht und nahmen uns jegliche Hoffnung, Festus zu holen, ohne in Gefangenschaft zu geraten.

Wir entschieden uns für die unheldenhafteste Alternative von allen: Wir nahmen die Beine in die Hand.

Ich hatte mich seit meinem tödlichen Dreibeinlauf mit Meg McCaffrey damals im Camp Half-Blood nicht mehr so behindert gefühlt. Kalypso versuchte zu helfen, sie trat zwischen Leo und mir um sich wie ein Pogo-Stick, aber wann immer sie ihren gebrochenen Knöchel oder ihre geschundene Hand bewegte, wimmerte sie auf und sank gegen mich.

»T-tut mir leid, Jungs«, murmelte sie mit schweißüberströmtem Gesicht. »Nahkampf ist wohl nicht so ganz meine Stärke.«

»Meine auch nicht«, gab ich zu. »Vielleicht kann Leo sie abwehren, während …«

»He, sieh mich nicht so an«, protestierte Leo. »Ich bin nur ein Reparaturfuzzy, der ab und zu mal einen Feuerball werfen kann. Unser Kämpfer sitzt dahinten im Koffermodus fest.«

»Schneller humpeln«, schlug ich vor.

Wir erreichten die Straße nur lebend, weil die Blemmierin sich so langsam bewegte. Ich nehme an, mir würde das auch so gehen, wenn ich einen falschen Metallkopf auf meinem Rumpf balancieren müsste, aber sogar ohne Verkleidung waren die Blemmier nicht so schnell wie stark. Ihre schlechte Tiefenwahrnehmung ließ sie mit übertriebener Vorsicht gehen, als ob der Boden ein vielschichtiges Hologramm wäre. Wenn wir ihnen nur davonhumpeln könnten …

»Guten Morgen!« Ein Polizist tauchte mit gezogener Waffe rechts neben uns auf. »Stehen bleiben oder ich schieße! Danke!«

Leo zog eine zugestöpselte Glasflasche aus seinem Werkzeuggürtel, schleuderte sie dem Polizisten vor die Füße und grüne Flammen loderten auf. Der Polizist ließ seine Waffe fallen. Er versuchte, sich seine brennende Uniform vom Leib zu reißen, und entblößte dabei ein Brustgesicht mit zottigen Augenbrauen und einem Bauchbart, der unbedingt geschnitten werden musste.

»Puh«, sagte Leo. »Ich hatte gehofft, dass er ein Blemmier ist. Das war meine einzige Phiole mit Griechischem Feuer, Leute. Und ich kann nicht mehr viele Feuerbälle herbeirufen, falls ich nicht ohnmächtig werden will …«

»Wir müssen in Deckung gehen«, sagte Kalypso.

Vernünftiger Rat, aber in Indiana schien Deckung kein beliebter Begriff zu sein. Die Straßen waren weit und gerade, die Landschaft flach, es gab nur wenige Menschen und die Sichtweite war endlos.

Wir bogen in die South Capitol Street ab. Ich schaute mich um und sah, dass die Meute von lächelnden Einheimischen mit falschen Köpfen immer weiter aufholte. Ein Bauarbeiter blieb stehen und riss den Kotflügel von einem Ford-Pick-up, dann schloss er sich wieder der Prozession an und warf sich dabei seine neue Chromkeule über die Schulter.

Inzwischen kümmerten sich die normalen Sterblichen – jedenfalls die, die offenbar gerade keine Lust hatten, uns umzubringen – wieder um ihre Angelegenheiten, telefonierten, warteten an roten Ampeln, tranken in den Cafés in der Nähe ihren Kaffee und achteten kein bisschen auf uns. Ein schwergewichtiger, in Decken gewickelter Obdachloser, der an einer Ecke auf einem Milchkasten saß, haute mich um Unterstützung an. Ich unterdrückte den Drang, ihm zu erzählen, dass die Unterstützung dicht hinter uns kam und allerlei Waffen bei sich hatte.

Mein Herz hämmerte. Meine Beine zitterten. Ich hasste es, einen sterblichen Körper zu haben. Ich hatte schon so viele unangenehme Dinge erlebt: Angst, Kälte, Übelkeit und den Wunsch zu wimmern Bitte, nicht umbringen! Wenn sich Kalypso nur nicht den Knöchel gebrochen hätte, dann wären wir schneller vorangekommen, aber wir konnten sie ja nicht liegen lassen. Nicht, dass ich Kalypso besonders gut leiden konnte, aber ich hatte Leo schließlich schon überredet, seinen Drachen im Stich zu lassen, da wollte ich mein Glück nicht herausfordern.

»Da!«, sagte die Zauberin. Sie zeigte mit dem Kinn auf etwas, das aussah wie ein Durchgang hinter einem Hotel.

Mir schauderte, denn ich musste an meinen ersten Tag in New York als Lester Papadopoulos denken. »Und wenn das eine Sackgasse ist? Als ich zuletzt in einer Sackgasse gelandet bin, ist das nicht besonders gut gelaufen.«

»Wir versuchen es«, sagte Leo. »Vielleicht können wir uns da drinnen verstecken, oder … keine Ahnung.«

»Keine Ahnung« klang nicht wie ein guter Plan B, aber ich hatte keinen besseren anzubieten.

Die gute Nachricht: Es war keine Sackgasse. Am anderen Ende des Blocks konnte ich deutlich einen Ausgang erkennen. Die schlechte Nachricht: Die Laderampen auf der Rückseite des Hotels waren verschlossen, es gab also kein Versteck, und auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse stand ein Müllcontainer neben dem anderen. Oh, Müllcontainer. Wie ich die hasste!

Leo seufzte. »Wir könnten vielleicht in die Müll…«

»Nein!«, fauchte ich. »Nie wieder.«

Wir kämpften uns so schnell wir konnten durch die Gasse. Ich versuchte, meine Nerven zu beruhigen, indem ich in Gedanken ein Sonett über allerlei Methoden ersann, mit denen ein zorniger Gott Müllcontainer zerstören könnte. Ich war so in diese Arbeit vertieft, dass ich erst bemerkte, was vor uns schwebte, als Kalypso erschrocken die Luft einsog.

Leo blieb stehen. »Was zum … Hijo!«

Das Wesen leuchtete in schwachem Orange. Es trug einen traditionellen Chiton, Sandalen und ein in der Scheide steckendes Schwert wie ein griechischer Krieger im Vollbesitz seiner Kräfte … nur war es enthauptet worden. Anders als die Blemmier war diese Person offenbar einmal ein Mensch gewesen. Ätherisches Blut tropfte von seinem Halsstumpf und bespritzte den leuchtend orangen Kittel.

»Ein käsefarbenes Gespenst«, sagte Leo.

Der Geist hob eine Hand und winkte uns zu sich.

Da ich nicht als Sterblicher geboren worden war, hatte ich keine besondere Angst vor Toten. Wenn man eine gequälte Seele kennt, kennt man sie alle. Aber etwas an diesem Geist machte mir zu schaffen. Er rührte an eine ferne Erinnerung, ein Jahrtausende zurückliegendes Schuldgefühl …

Hinter uns wurden die Stimmen der Blemmier lauter. Ich hörte, wie sie ihren Mitbürgern »Morgen!« und »Entschuldigung!« und »Schönes Wetter heute« zuriefen.

»Was machen wir?«, fragte Kalypso.

»Dem Geist folgen«, sagte ich.

»Was?«, wimmerte Leo.

»Wir folgen dem käsefarbenen Geist. Wie du immer sagst: Vaya con queso.«

»Das war ein Witz, Mann.«

Der orange Geist winkte ein weiteres Mal, dann schwebte er zum Ende der Gasse.

Hinter uns brüllte eine Männerstimme: »Da seid ihr ja! Schönes Wetter heute, was?«

Ich fuhr gerade rechtzeitig herum, um einen Lastwagen auf uns zufliegen zu sehen.

»Runter!« Ich zog Kalypso und Leo mit mir und entlockte der Zauberin damit weitere Schmerzensschreie. Der Kotflügel des Lastwagens segelte über unsere Köpfe, knallte gegen einen Müllcontainer und wirbelte eine fröhliche Explosion aus Müllkonfetti auf.

Wir kamen mühsam auf die Füße. Kalypso zitterte und klagte nicht mehr über die Schmerzen. Ich war ziemlich sicher, dass sie unter Schock stand.

Leo riss die Klammerpistole aus seinem Werkzeuggürtel. »Ihr geht schon mal vor. Ich werde sie so lange aufhalten, wie ich kann.«

»Was hast du vor?«, wollte ich wissen. »Sie sortieren und neu zusammentackern?«

»Ich werde sie mit Dingen bewerfen«, fauchte Leo. »Oder hast du einen besseren Vorschlag?«

»H-hört beide auf«, stotterte Kalypso. »Niemand w-wird zurückgelassen. Und jetzt los. Links, rechts, links rechts.«

Hinter der Gasse öffnete sich ein weiter, runder Platz. Warum konnten die Leute in Indiana bloß keine richtige Stadt mit engen, verschlungenen Straßen, einer Menge dunkler Ecken und vielleicht sogar einigen bombensicheren Bunkern an praktischen Stellen bauen?

Mitten auf einer runden Verkehrsinsel stand ein von schlafenden Blumenbeeten umgebener Springbrunnen. Im Norden ragten die Zwillingstürme eines weiteren Hotels auf. Im Süden sah ich ein älteres, prachtvolleres Gebäude aus rotem Klinker und Granit – vielleicht ein Bahnhof aus der viktorianischen Zeit. Auf der einen Seite dieses Bauwerks ragte ein Glockenturm fast siebzig Meter in die Luft und über dem Haupteingang funkelte unter einem Marmorbogen ein riesiges Rosettenfenster in einem grünen Kupferrahmen, wie eine Bleiglasversion des Dartboards, das wir an unserem wöchentlichen Spieleabend auf dem Olymp benutzten.

Bei diesem Gedanken tat mir vor Heimweh das Herz weh. Ich hätte alles dafür gegeben, zum Spieleabend zu Hause zu sein, auch wenn das bedeutet hätte, zuhören zu müssen, wie Athene mit ihren Scrabble-Punkten protzte.

Ich sah mich auf dem Platz um. Unser gespenstischer Führer war offenbar verschwunden.

Warum hatte er uns hergeführt? Sollten wir unser Glück im Hotel versuchen? Oder im Bahnhof?

Diese Fragen wurden überflüssig, als uns die Blemmier umzingelten.

Die Meute platzte aus der Gasse hinter uns. Ein Streifenwagen fuhr auf den Verkehrskreisel vor dem Bahnhof. Ein Bulldozer platzierte sich in der Auffahrt zum Hotel, der Fahrer winkte und rief fröhlich: »Hallo! Jetzt mach ich euch platt!«

Alle Ausgänge vom Platz waren jetzt versperrt.

Ein Schweißbach gefror in meinem Nacken. Ein nerviges Kreischen füllte meine Ohren und ich begriff, dass es meine eigene innere Stimme war, die immer wieder jammerte: Bitte, nicht umbringen, bitte, nicht umbringen.

Ich werde hier nicht sterben, versicherte ich mir selbst. Ich bin viel zu wichtig, um in Indiana ins Gras zu beißen.

Aber meine zitternden Beine und meine klappernden Zähne sahen das offenbar anders.

»Wer hat einen Vorschlag?«, fragte ich. »Bitte, irgendeine hervorragende Idee.«

Kalypso sah aus, als wäre es im Moment ihre hervorragendste Idee, nicht zu kotzen. Leo hob seine Klammerpistole, was die Blemmier aber nicht zu beeindrucken schien.

Aus der Meute tauchte nun unsere alte Freundin Nanette auf und ihr Brustgesicht grinste. Ihre Lacklederpumps bildeten einen grausamen Widerspruch zu ihrem blonden Beinfell. »Ihr Lieben, das war aber nicht nett von euch.«

Sie packte das nächstbeste Straßenschild und riss es mit einer Hand aus dem Boden. »Und jetzt haltet bitte still, ja? Ich werde euch nur schnell hiermit die Schädel einschlagen.«

3

Mein letzter Auftritt

Alte Dame schmeißt Mikro

Und bringt alle um

Ich wollte gerade Verteidigungsplan Omega aktivieren – auf die Knie fallen und um Gnade flehen –, als Leo mich vor dieser Peinlichkeit rettete.

»Bulldozer«, flüsterte er.

»Ist das ein Codewort?«, fragte ich.

»Nein. Ich werde mich zum Bulldozer hinüberschleichen. Ihr beide lenkt die Metallköpfe ab.« Er lud mir Kalypsos Gewicht auf.

»Spinnst du?«, fauchte sie.

Leo warf mir einen dringlichen Blick zu, so ungefähr Vertrau mir! Lenk sie ab!. Dann trat er vorsichtig zur Seite.

»Oh«, strahlte Nanette. »Meldest du dich freiwillig für den ersten Tod, kleiner Halbgott? Du hast mich mit Feuer geschlagen, also ist das nur logisch.«

Was immer Leos Plan war, ich ging davon aus, dass er fehlschlagen würde, wenn er nun anfinge, sich mit Nanette über seine Größe zu streiten. (Leo reagierte ein bisschen empfindlich, wenn er klein genannt wurde.) Zum Glück besitze ich eine natürliche Begabung dafür, die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

»Ich melde mich freiwillig zum Tod«, brüllte ich.

Die gesamte Meute fuhr herum und starrte mich an. In Gedanken verfluchte ich meine Wortwahl. Ich hätte mich zu etwas Einfacherem melden sollen, wie einen Kuchen zu backen oder nach der Exekution zu putzen.

Ich rede oft, ohne vorher nachzudenken. Meistens funktioniert das. Manchmal führt es zu improvisatorischen Meisterwerken, wie der Renaissance oder der Beatbewegung. Ich konnte nur hoffen, dass es jetzt auch so sein würde.

»Aber zuerst«, sagte ich, »hört meine Bitte, oh gnädige Blemmier!«

Der Polizist, den Leo abgefackelt hatte, ließ seine Waffe sinken. Einige grüne Funken Griechischen Feuers schwelten noch in seinem Bauchbart. »Wie meinst du das, hört meine Bitte?«

»Na ja«, sagte ich. »Es ist der Brauch, die letzten Worte eines Sterbenden anzuhören … eines Gottes oder Halbgottes oder … wie würdest du dich selbst einstufen, Kalypso? Titanin? Halb-Titanin?«

Kalypso räusperte sich mit einem Geräusch, das verdächtig wie Idiot klang. »Was Apollo zu sagen versucht, oh gnädige Blemmier, ist, dass Sitte und Brauch verlangen, dass ihr uns einige letzte Worte gewährt, ehe ihr uns tötet. Ich bin sicher, ihr wollt nicht unhöflich sein.«

Die Blemmier machten entsetzte Gesichter und schüttelten ihre mechanischen Köpfe. Nanette kam vorgeschlurft und hob beschwichtigend die Hände. »Nein, das nun wirklich nicht. Wir sind sehr höflich.«

»Überaus höflich«, pflichtete der Polizist ihr bei.

»Danke«, sagte Nanette.

»Es war mir ein Vergnügen«, sagte der Polizist.

»Dann leiht mir euer Ohr!«, rief ich. »Freunde, Feinde, Blemmierinnen und Blemmier … öffnet eure Achselhöhlen und lauscht meiner traurigen Geschichte.«

Leo trat vorsichtig einen weiteren Schritt zurück und schob die Hände in die Taschen seines Werkzeuggürtels. Nur noch siebenundfünfzig oder achtundfünfzig Schritte, und er hätte den Bulldozer erreicht. Fantastisch.

»Ich bin Apollo«, fing ich an. »Ehemals ein Gott. Ich bin vom Olymp gefallen, wurde von Zeus in die Tiefe gestürzt, denn mir wurde fälschlicherweise unterstellt, einen Krieg mit den Riesen vom Zaun gebrochen zu haben.«

»Mir wird gleich schlecht«, murmelte Kalypso. »Ich muss mich setzen.«

»Du sprengst meinen Rhythmus.«

»Du sprengst mein Trommelfell. Hilf mir beim Hinsetzen.«

Ich half Kalypso auf die Brunnenbrüstung.

Nanette hob ihr Straßenschild. »War es das? Darf ich dich jetzt töten?«

»Nein, nein«, sagte ich. »Ich wollte nur, äh, Kalypso beim Hinsetzen behilflich sein, damit sie mein Chor sein kann. Ein guter griechischer Auftritt braucht immer einen Chor.«

Kalypsos Hand sah aus wie eine zerstoßene Aubergine und ihr geschwollener Knöchel quoll schon über den Rand ihres Turnschuhs. Ich begriff nicht, wieso sie überhaupt noch bei Bewusstsein war, ganz zu schweigen von einem Auftritt als Chor, aber sie holte zitternd Luft und nickte. »Bin bereit.«

»Nun denn!«, sagte ich. »Als Lester Papadopoulos erreichte ich Camp Half-Blood.«

»Als elender Sterblicher!«, verkündete Kalypso als Chor. »Der wertloseste aller Teenager!«

Ich starrte sie wütend an, wagte aber nicht, meinen Auftritt zu unterbrechen. »Mit meiner Gefährtin Meg McCaffrey bezwang ich allerlei Herausforderungen.«

»Er meint seine Herrin!«, fügte Kalypso hinzu. »Eine Zwölfjährige! Seht ihren erbärmlichen Sklaven, Lester, den wertlosesten aller Teenager!«

Der Polizist schnaubte ungeduldig. »Das wissen wir doch alles. Das hat uns der Kaiser erzählt.«

»Pst«, sagte Nanette. »Höflich sein.«

Ich legte mir die Hand aufs Herz. »Wir retteten den Hain von Dodona, ein uraltes Orakel, und vereitelten die Pläne Neros. Doch ach, Meg McCaffrey floh von meiner Seite. Ihr tückischer Stiefvater hatte ihr Gemüt wider mich vergiftet.«

»Gift!«, schrie Kalypso. »Wie der Atem des Lester Papadopoulos, des wertlosesten aller Teenager!«

Ich unterdrückte den Wunsch, Kalypso ins Blumenbeet zu schubsen.

Leo näherte sich inzwischen unter dem Vorwand, einen Ausdruckstanz aufzuführen, immer weiter dem Bulldozer, er wirbelte um sich selbst und keuchte und stellte meinen Bericht als Pantomime dar. Er sah aus wie eine durchgedrehte Ballerina in Boxershorts, aber die Blemmier traten höflich beiseite.

»Doch hört!«, brüllte ich. »Das Orakel von Dodona schenkte uns eine Weissagung – einen Limerick von tiefstem Grauen!«

»Grauenhaft!«, rief Kalypso. »Wie die Fähigkeiten von Lester, dem wertlosesten aller Teenager!«

»Adjektive variieren«, knurrte ich, dann wandte ich mich wieder meinem Publikum zu. »Wir reisten westwärts auf der Suche nach einem weiteren Orakel und bezwangen auf dem Weg manch einen entsetzlichen Widersacher! Die Zyklopen gar besiegten wir!«

Leo sprang auf das Trittbrett des Bulldozers. Er hob dramatisch seine Klammerpistole, dann schoss er dem Bulldozerfahrer zwei Heftklammern in den Oberkörper – dahin, wo dessen eigentliche Augen sitzen mussten. Das konnte kein angenehmes Gefühl gewesen sein – nicht einmal für eine zähe Spezies wie die Blemmier. Der Fahrer schrie und griff sich an die Brust. Leo beförderte ihn mit einem Tritt vom Fahrersitz.

Der Polizist brüllte: »He!«

»Warte!«, flehte ich ihn an. »Unser Freund zeigt nur eine dramatische Darstellung unseres Kampfes gegen die Zyklopen. Das ist absolut erlaubt, wenn man eine Geschichte erzählt.«

Die Menge trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen.

»Das sind sehr viele letzte Worte«, beschwerte sich Nanette. »Wann darf ich dir endlich den Schädel einschlagen?«

»Bald«, versprach ich. »Aber, wie gesagt, wir reisten westwärts.«

Ich zog Kalypso auf die Füße, wobei sie heftig wimmerte (und ich ein bisschen).

»Was machst du denn?«, murmelte sie.

»Mach einfach mit«, sagte ich. »Nun denn, Freunde, schaut, wie wir reisten!«

Kalypso und ich stolperten auf den Bulldozer zu. Leos Hände flogen über die Schalthebel. Der Motor erwachte zum Leben.

»Das ist keine Geschichte!«, schimpfte der Polizist. »Sie laufen davon!«

»Nein, gar nicht!« Ich schob Kalypso in den Bulldozer und kletterte hinterher. »Versteht ihr, wir reisten viele Wochen …«

Leo setzte zurück. Beep. Beep. Beep. Langsam hob sich die Schaufel des Bulldozers.

»Stellt euch vor, ihr wärt in Camp Half-Blood«, brüllte ich der Menge zu, »und wir entfernten uns von euch.«

Sofort ging mir mein Fehler auf. Ich hatte die Blemmier aufgefordert, sich etwas vorzustellen. Aber dazu waren sie ganz einfach nicht in der Lage.

»Haltet sie!« Der Polizist hob die Waffe. Sein erster Schuss prallte an der Metallschaufel ab.

»Hört mir zu, meine Freunde«, flehte ich. »Öffnet eure Achselhöhlen!«

Aber wir hatten ihre Höflichkeit überstrapaziert. Eine Mülltonne segelte über unsere Köpfe hinweg. Ein Geschäftsmann riss eine reich verzierte steinerne Urne aus der Ecke des Springbrunnens und schleuderte sie in unsere Richtung, wobei er das Fenster des Hotels vernichtete.

»Schneller!«, sagte ich zu Leo.

»Versuch ich ja, Mann«, knurrte er. »Dieses Ding hier ist nicht für Tempo gedacht.«

Die Blemmier kamen näher.

»Vorsicht«, schrie Kalypso.

Leo konnte das Lenkrad gerade noch herumreißen, um mit der Schaufel eine gusseiserne Bank abzuwehren. Leider machte uns das verwundbar für einen anderen Angriff. Nanette schleuderte ihr Straßenschild wie eine Harpune. Die Metallstange durchbohrte das Fahrgestell des Bulldozers in einer Wolke aus Dampf und Schmieröl, und unsere Flucht kam zu einem ruckenden Halt.

»Super«, sagte Kalypso. »Und was jetzt?«

Es wäre ein hervorragender Moment gewesen, um meine göttliche Kraft zurückzuerhalten. Ich hätte mich ins Gefecht werfen, meine Feinde wie Stoffpuppen beiseiteschleudern können. Stattdessen schienen sich meine Knochen zu verflüssigen und in meine Schuhe zu tropfen. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich bezweifelte, meinen Bogen auswickeln zu können, falls ich das versuchte. Ach, dass mein glorreiches Leben ein solches Ende nehmen sollte – zertrampelt von höflichen kopflosen Wesen im Mittleren Westen der USA!

Nanette sprang auf die Motorhaube unseres Bulldozers und bot mir damit eine grauenhafte Sicht in ihre Nasenlöcher. Leo versuchte, sie in Flammen aufgehen zu lassen, aber diesmal war Nanette vorbereitet. Sie öffnete den Mund, verschluckte den Feuerball und zeigte keinerlei Auswirkungen, abgesehen von einem Bäuerchen.

»Das braucht euch nicht peinlich zu sein, ihr Lieben«, sagte sie. »Ihr hättet niemals Zutritt zur blauen Grotte erlangt. Der Kaiser lässt sie zu gut bewachen. Es ist wirklich eine Schande, dass ihr sterben müsst. Die Namensfeier ist in drei Tagen, und du und das Mädchen solltet doch die Hauptattraktionen in der Sklavenprozession sein!«

Ich war vor Angst zu sehr außer mir, um ihre Worte zu verarbeiten. Das Mädchen … Meinte sie Meg? Ansonsten hatte ich nur blau, sterben und Sklave gehört, was für den Moment mein Dasein perfekt zusammenzufassen schien.

Ich wusste, dass es hoffnungslos war, aber ich ließ den Bogen von meiner Schulter gleiten und fing an, ihn auszuwickeln. Plötzlich wuchs zwischen Nanettes Augen ein Pfeil hervor. Sie schielte heftig bei dem Versuch, ihn zu sehen, dann taumelte sie rückwärts und zerfiel zu Staub.

Ich starrte meine eingewickelte Waffe an. Ich war ein schneller Schütze, das schon. Aber ich war ziemlich sicher, dass nicht ich diesen Schuss abgegeben hatte.

Ein schriller Pfiff lenkte mich von diesen Überlegungen ab. Mitten auf dem Platz, oben auf dem Springbrunnen, hockte eine Frau in verschossenen Jeans und einem silbrigen Wintermantel. In ihrer Hand leuchtete ein weißer Bogen aus Birkenholz und auf ihrem Rücken war ein Köcher zum Bersten mit Pfeilen gefüllt. Mein Herz machte einen Sprung bei dem Gedanken, dass mir endlich meine Schwester Artemis zu Hilfe gekommen war. Aber nein … diese Frau war mindestens sechzig und hatte ihre grauen Haare im Nacken zu einem Knoten gesteckt. Artemis würde niemals in einer solchen Gestalt auftreten.

Aus Gründen, die sie mir niemals anvertraut hatte, hatte Artemis eine Aversion dagegen, älter auszusehen als vielleicht zwanzig. Ich hatte ihr so oft erklärt, wahre Schönheit sei alterslos. Alle olympischen Schönheitsmagazine verkündeten immer wieder, dass viertausend das neue tausend ist, aber sie wollte einfach nicht auf mich hören.

Die grauhaarige Frau brüllte: »Runter!«

Überall auf dem Platz tauchten im Asphalt kreisrunde Gullys auf. Jeder öffnete sich wie die Blende einer Kamera und Geschütztürmchen wurden ausgefahren – mechanische Armbrüste, die in alle Richtungen rote Suchlaserstrahlen abgaben.

Die Blemmier versuchten gar nicht erst, in Deckung zu gehen. Vielleicht begriffen sie das alles nicht. Vielleicht warteten sie darauf, dass die grauhaarige Frau Bitte sagte.

Ich dagegen brauchte kein Gott des Bogenschießens zu sein, um zu wissen, was als Nächstes passieren würde. Ich riss meine Freunde zum zweiten Mal an diesem Tag zu Boden. (Was, das muss ich im Nachhinein sagen, ein ganz klein wenig befriedigend war.) Wir ließen uns vom Bulldozer fallen, während die Armbrüste mit scharfem Zischen ihre Pfeile abschossen.

Als ich es wagte, den Kopf zu heben, waren von den Blemmiern nur noch Haufen aus Staub und Kleidungsstücken zu sehen.

Die grauhaarige Frau sprang vom Brunnen. Angesichts ihres Alters fürchtete ich schon, sie würde sich die Knöchel brechen, aber sie legte eine elegante Landung hin und kam, den Bogen an der Seite, auf uns zugeschlendert.

Runzeln hatten sich in ihr Gesicht eingekerbt. Die Haut unter ihrem Kinn hing herab. Altersflecken bedeckten ihren Handrücken. Aber sie hatte die königliche Haltung einer Frau, die niemandem mehr etwas beweisen muss. Ihre Augen leuchteten wie Mondlicht im Wasser. Etwas an diesen Augen kam mir sehr bekannt vor.

Sie musterte mich fünf Sekunden lang, dann schüttelte sie überrascht ihren Kopf. »Es stimmt also. Du bist Apollo.«

Es war nicht der übliche Oh! Wow! Apollo-Tonfall, den ich gewohnt war. Sie sprach meinen Namen aus, als wären wir alte Bekannte.

»K-kennen wir uns?«

»Du erinnerst dich nicht an mich«, sagte sie. »Das wäre wohl auch nicht zu erwarten. Du kannst mich Emmie nennen. Und der Geist, den du gesehen hast – das war Agamedes. Er hat dich vor unsere Türschwelle geführt.«

Der Name Agamedes kam mir bekannt vor, aber wie so oft konnte ich ihn nicht unterbringen. Mein menschliches Gehirn sandte nur immer wieder diese nervige Mitteilung Erinnerungsspeicher voll und forderte mich auf, einige Jahrhunderte Erfahrungen zu löschen, ehe ich weitermachen könnte.

Emmie warf Leo einen Blick zu. »Warum trägst du Unterwäsche?«

Leo seufzte. »Das war ein langer Morgen, Abuela, aber danke für die Hilfe. Diese Geschütztürme mit den Armbrüsten sind affenscharf.«

»Danke.«

»Und meinst du, du könntest mir auch mit Kal helfen?«, fragte nun Leo. »Der geht es nicht so gut.«

Emmie hockte sich neben Kalypso, deren Gesicht jetzt die Farbe von Zement angenommen hatte. Die Zauberin hatte die Augen geschlossen, ihr Atem ging stoßweise.

»Sie ist schwer verletzt.« Emmie runzelte die Stirn, als sie Kalypsos Gesicht musterte. »Du hast sie Kal genannt?«

»Kalypso«, sagte Leo.

»Ah.« Emmies Sorgenfurchen wurden tiefer. »Das erklärt alles. Sie hat solche Ähnlichkeit mit Zoë.«

In mir drehte sich ein Messer um. »Zoë Nachtschatten?«

In ihrem Schmerz murmelte Kalypso etwas, das ich nicht verstehen konnte … vielleicht den Namen Nachtschatten.

Zoë war einige Jahrhunderte lang Artemis’ Leutnant gewesen, die Anführerin der Jägerinnen. Sie war erst vor wenigen Jahren im Kampf gefallen. Ich wusste nicht, ob Kalypso und Zoë einander je begegnet waren, aber sie waren Halbschwestern gewesen – Töchter des Titanen Atlas. Ich hatte nie darüber nachgedacht, welche Ähnlichkeit sie miteinander hatten.

Ich sah Emmie an. »Wenn du Zoë gekannt hast, dann musst du eine der Jägerinnen meiner Schwester sein. Aber das kann nicht sein. Du bist …«

Ich unterbrach mich, ehe ich »alt und kurz vor dem Sterben« sagen konnte. Jägerinnen alterten und starben nicht, wenn sie nicht im Kampf getötet wurden. Diese Frau aber war einwandfrei sterblich. Ich konnte ihre schwindende Lebenskraft spüren … die meiner so deprimierend ähnlich war, gar nicht wie die eines unsterblichen Wesens. Es ist schwer zu erklären, woher ich das wusste, aber mir war es absolut klar – es war, wie den Unterschied zwischen einer reinen und einer verminderten Quinte zu hören.

In der Ferne heulten Alarmsirenen. Mir ging auf, dass wir dieses Gespräch in der Mitte eines kleinen Katastrophengebietes führten. Bald würden hier Sterbliche oder weitere Blemmier eintreffen.

Emmie schnippte mit den Fingern. Die Armbrusttürmchen überall auf dem Platz zogen sich zurück. Die Portale schlossen sich, als ob es sie niemals gegeben hätte.

»Wir müssen von der Straße weg«, sagte Emmie. »Kommt, ich bringe euch in die Freistätte.«

4

Niemals darf ein Haus

Apollo hintergehen

Und Steine werfen

Wir brauchten nicht weit zu gehen.

Leo und ich trugen Kalypso noch immer halb zwischen uns, als wir Emmie zu dem großen verzierten Gebäude am Südende des Platzes folgten. Wie ich vermutet hatte, war es irgendwann eine Bahnhofshalle gewesen. In den Granit unter dem Rosettenfenster war ein Name eingemeißelt: UNION STATION.

Emmie ging am Haupteingang vorbei und blieb vor einer Mauer stehen. Sie fuhr mit dem Finger zwischen den Klinkersteinen entlang und zeichnete die Umrisse einer Tür. Diese schwang nach innen und gab einen schmalen Schacht frei, wie einen Schornstein mit eisernen Klettersprossen.

»Netter Trick«, sagte Leo. »Aber Kalypso ist gerade nicht so ganz in Bergsteigerform.«

Emmie runzelte die Stirn. »Da hast du recht.« Sie sah die Tür an. »Freistätte, könnten wir bitte eine Rampe haben?«

Die Klettersprossen verschwanden. Mit einem leisen Poltern kippte die rückseitige Mauer des Schachts nach hinten und die Steine formten sich zu einem leicht schrägen Aufgang.

»Boah«, sagte Leo. »Hast du gerade mit dem Gebäude gesprochen?«

Emmies Mundwinkel kräuselten sich zu einem Lächeln. »Die Freistätte ist nicht nur ein Gebäude.«

Plötzlich gefiel mir das Aussehen der Rampe nicht mehr. »Das ist eine lebende Struktur? Wie das Labyrinth? Und du erwartest, dass wir da reingehen?«

Emmies Blick war eindeutig der einer Jägerin. Nur die Anhängerinnen meiner Schwester würden es wagen, mich mit so einem üblen Stinkeblick zu beleidigen. »Die Freistätte ist kein Werk des Dädalus, Herr Apollo. Hier kann euch nichts passieren … solange ihr unsere Gäste seid.«

Ihr Tonfall legte nahe, dass wir nur auf Probe willkommen waren. Hinter uns wurden die Alarmsirenen lauter. Kalypso atmete stoßweise. Ich beschloss, dass uns nicht viel anderes übrig blieb. Wir folgten Emmie in das Gebäude.

An den Wänden tauchten Lichter auf – warme gelbe Kerzen in Bronzehaltern. An die sieben Meter weiter oben öffnete sich auf unserer Linken eine Tür. Dahinter sah ich eine Krankenstube, auf die mein Sohn Asklepios neidisch gewesen wäre: ein mit Medikamenten, chirurgischen Instrumenten und Zutaten für Heiltränke gut gefüllter Schrank, dazu ein Krankenhausbett mit eingebauten Bildschirmen und bariatrischen Schlingen. An der Wand hingen Heilkräuter zum Trocknen neben dem tragbaren Röntgengerät. Und in der hintersten Ecke wimmelte es in einem gläsernen Terrarium nur so von giftigen Schlangen.

»Du meine Güte«, sagte ich. »Eure Krankenstube ist ja kaum zu übertreffen.«

»Ja«, stimmte Emmie zu. »Und die Freistätte sagt mir, dass ich deine Freundin sofort behandeln sollte.«

Leo warf einen Blick in die Krankenstube. »Soll das heißen, dass dieser Raum hier einfach so aufgetaucht ist?«

»Nein«, sagte Emmie. »Oder doch. Die Krankenstube ist immer hier, aber … sie ist leichter zu finden, wenn wir sie brauchen.«

Leo nickte nachdenklich. »Du meinst, die Freistätte könnte auch die Schublade mit meinen Socken aufräumen?«

Ein Stein fiel von der Decke und traf krachend vor Leos Füßen auf den Boden auf.

»Das heißt nein«, übersetzte Emmie. »Und wenn ihr mir jetzt bitte eure Freundin überlassen könntet.«

»Äh …« Leo zeigte auf das Terrarium. »Da sind Schlangen. Wollte ich nur erwähnt haben.«

»Ich werde mich gut um Kalypso kümmern«, versprach Emmie.

Sie nahm uns Kalypso ab und hob sie ohne sichtliche Schwierigkeiten hoch. »Ihr zwei geht schon mal nach oben. Jo erwartet euch oben an der Rampe.«

»Jo?«, fragte ich.

»Ihr könnt sie nicht verfehlen«, versprach Emmie. »Sie kann die Freistätte viel besser erklären als ich.«

Sie trug die Zauberin in die Krankenstube. Die Tür fiel hinter ihr zu.

Leo blickte mich stirnrunzelnd an. »Schlangen?«

»Das ist ganz normal«, beteuerte ich. »Es hat schon seine Gründe, dass die Heilkunst durch den Schlangenstab symbolisiert wird. Gift war eine der frühesten Arzneien.«

Leo starrte seine Füße an. »Meinst du, ich darf wenigstens diesen Klinker behalten?«

Der Gang dröhnte.

»Ich würde ihn hier liegen lassen«, riet ich.

»Ja, ich glaube, ich lasse ihn hier liegen.«

Nach wenigen Schritten öffnete sich auf unserer Rechten abermals eine Tür.

Dahinter fiel die Sonne durch rosa Spitzengardinen auf den Holzboden eines Kinderzimmers. Ein Bett war mit flauschigen Decken, Kissen und Stofftieren bedeckt. Die eierschalenfarbenen Wände waren als Leinwand für Buntstiftmalereien benutzt worden – Strichmännchen, Bäume, Häuser, herumtollende Tiere, bei denen es sich um Hunde, Pferde oder Lamas handeln konnte. An der linken Wand lächelte eine Buntstiftsonne über einer Wiese voller glücklicher Buntstiftblumen. In der Mitte stand ein kleines Mädchen zwischen zwei größeren elterlichen Strichfiguren – und alle drei hielten einander an der Hand.

Die Wand erinnerte mich an Rachel Elizabeth Dares Weissagungshöhle in Camp Half-Blood. Mein delphisches Orakel hatte ihre Höhle immer gern mit Dingen ausgemalt, die sie in ihren Visionen gesehen hatte … allerdings nur, bis ihre Weissagungskraft versiegt war. (Absolut nicht meine Schuld. Ihr könnt diese überdimensionale Rattenschlange dafür verantwortlich machen. Python.)

Die meisten Zeichnungen in diesem Zimmer wirkten typisch für ein Kind von sieben oder acht Jahren. Aber in der hintersten Ecke hatte die junge Künstlerin beschlossen, ihrer Buntstiftwelt etwas Albtraumhaftes zu verpassen. Stirnrunzelnde Strichfiguren bedrohten die Lamas mit dreieckigen Messern. Ein gekritzelter schwarzer Sturm braute sich zusammen. Dunkle Kringel überdeckten einen Regenbogen. Das grüne Gras der Wiese war von einer tintenschwarzen Fläche verdeckt – vielleicht ein düsterer Tümpel, oder der Eingang zu einer Höhle.

Leo trat zurück. »Ich weiß nicht, Mann. Glaub nicht, dass wir da reingehen sollten.«

Ich fragte mich, warum die Freistätte uns dieses Zimmer zeigte. Wer wohnte hier? Oder genauer … wer hatte hier gewohnt? Trotz der fröhlichen rosa Vorhänge und der vielen Stofftiere auf dem sorgfältig gemachten Bett kam mir das Schlafzimmer verlassen vor, aufbewahrt wie ein Museumsstück.

»Gehen wir weiter«, sagte ich zustimmend.

Oben an der Rampe betraten wir dann eine Halle, die einer Kathedrale ähnelte. Über uns erhob sich ein Tonnengewölbe mit Holzschnitzereien, in der Mitte formten Bleiglasflächen grüne und goldene geometrische Muster. Am hinteren Ende der Halle warf das Rosettenfenster, das ich von außen gesehen hatte, Schatten auf den Boden. Links und rechts von uns gab es erhöhte Gehsteige mit schmiedeeisernen Geländern, elegante viktorianische Laternen standen vor den Wänden. Hinter den Geländern führten Türen in weitere Zimmer. Ein halbes Dutzend Leitern führte zum unteren Rand des Gewölbes hoch, wo die Gesimse mit einer Art Strohnestern für übergroße Hühner bedeckt waren. Der ganze Saal roch ein bisschen nach Tieren, aber er erinnerte mich eher an einen Hundezwinger als an einen Hühnerstall.

In einer Ecke der Haupthalle sahen wir eine Küche, die groß genug war, um mehreren Sterneköchen auf einmal Platz zu bieten. Hier und dort standen Sofas und bequeme Sessel herum. Mitten in der Halle gab es einen riesigen Esstisch aus grob behauenem Sequoia-Holz, an dem zwanzig Gäste hätten Platz nehmen können.

Unter dem Rosettenfenster war offenbar der Inhalt mehrerer Werkstätten auf einmal ausgekippt worden: Tischsägen, Bohrer, Drehbänke, Brennöfen, Ambosse, 3-D-Drucker, Nähmaschinen, Kessel und andere Geräte, deren Namen ich nicht kannte (nehmt mir das nicht übel. Ich bin nicht Hephaistos).

Eine Frau mit Schutzbrille, Lederschürze und Handschuhen beugte sich über einen Schweißtisch und ihr Schweißbrenner ließ Funken aufstieben, während sie eine Metallplatte bearbeitete.

Ich bin nicht sicher, wieso sie uns bemerkt hatte. Vielleicht hatte die Freistätte ihr einen Klinkerstein in den Rücken geworfen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Jedenfalls schaute sie zu uns herüber, schaltete das Schweißgerät aus und schob ihr Visier hoch.

»Verhext will ich sein!« Sie lachte bellend. »Das ist also Apollo?«

Sie streifte ihre Schutzkleidung ab und kam auf uns zu. Wie Emmie war diese Frau über sechzig, aber während Emmie gebaut war wie eine ehemalige Turnerin, wirkte diese Frau wie eine Schlägerin. Ihre breiten Schultern und ihre dunklen, muskulösen Arme drohten das verschossene Polohemd zum Bersten zu bringen. Schraubenschlüssel und Schraubenzieher schauten aus den Taschen ihres Jeansoveralls. Auf ihrer braunen Kopfhaut leuchteten ihre kurz geschorenen grauen Haare wie Reif.

Sie hielt mir die Hand hin. »Du erinnerst dich wohl nicht mehr an mich, Herr Apollo. Ich bin Jo. Oder Josie. Oder Josephine. Egal wie.«

Bei jeder Version ihres Namens quetschte sie meine Hand noch fester zusammen. Ich hätte sie nie im Leben zum Armdrücken herausgefordert (aber mit ihren Wurstfingern konnte sie bestimmt nicht so gut Gitarre spielen wie ich, haha). Ihr Gesicht mit dem kantigen Kiefer hätte einschüchternd gewirkt, wenn ihre fröhlichen, zwinkernden Augen nicht gewesen wären. Ihr Mund zuckte, als ob sie sich alle Mühe geben müsste, um nicht loszuprusten.

»Ja«, quiekte ich und zog meine Hand zurück. »Ich meine, nein. Ich fürchte, ich erinnere mich nicht. Darf ich dir Leo vorstellen?«

»Leo!« Sie quetschte voller Begeisterung seine Hand. »Ich bin Jo.«

Alle diese Leute, deren Namen auf -o endeten – Jo, Leo, Kalypso, Apollo –, gaben mir plötzlich das Gefühl, dass mein Warenzeichen verwässert wurde. Ich dankte den Göttern dafür, dass wir nicht in Ohio waren und dass der Drache nicht Festo hieß.

»Ich glaube, ich werde dich Josephine nennen«, beschloss ich. »Das ist ein sehr schöner Name.«

Josephine zuckte mit den Schultern. »Nichts dagegen. Wo ist eure Freundin Kalypso?«

»Moment«, sagte Leo. »Woher weißt du von Kalypso?«

Josephine tippte sich an die linke Schläfe. »Freistätte sagt mir so dies und jenes.«

»Ooh«, Leo machte große Augen. »Das ist cool.«

Ich war mir nicht so sicher. Wenn mir sonst jemand sagte, dass ein Gebäude zu ihm sprach, ergriff ich ganz schnell die Flucht. Leider glaubte ich Josephine. Ich hatte zudem das Gefühl, dass wir ihre Gastfreundschaft brauchen würden.

»Kalypso ist in der Krankenstube«, sagte ich. »Hat sich die Hand gebrochen. Und den Fuß.«

»Ah.« Das Funkeln in Josephines Augen erlosch. »Klar, ihr seid den Nachbarn ja begegnet.«

»Du meinst die Blemmier.« Ich stellte mir vor, wie die Nachbarn vorbeischauten, um einen Aufsteckschraubenschlüssel zu leihen, eine Bestellung für Marihuanakekse aufzugeben oder jemanden zu ermorden. »Habt ihr oft Probleme mit denen?«

»Eigentlich nicht«, Josephine seufzte. »An sich sind Blemmier ziemlich harmlos, wenn man sie höflich behandelt. Sie haben nicht genug Fantasie, um einen Angriff zu organisieren. Aber seit vorigem Jahr …«

»Lass mich raten«, sagte ich. »Indianapolis hat einen neuen Kaiser.«

Josephine verzog für einen Moment zornig das Gesicht und ich konnte mir vorstellen, wie es wäre, sich mit ihr anzulegen. (Kleiner Wink: Das würde nicht ohne Schmerzen abgehen.)

»Wir reden besser nicht über den Kaiser, bis Emmie und eure Freundin hier sind«, sagte sie. »Wenn Emmie mich nicht beruhigt … dann rege ich mich immer auf.«

Ich nickte. Ich hielt es für einen hervorragenden Plan, dafür zu sorgen, dass Josephine sich nicht aufregte. »Aber wir sind hier in Sicherheit?«

Leo hob die Handfläche, als ob er nachsehen wollte, ob es regnete. »Das war auch meine Frage. Ich meine … wir haben sozusagen eine wütende Meute bis vor eure Türschwelle geführt.«

Josephine wischte unsere Besorgnis mit einer Handbewegung beiseite. »Keine Sorge. Die Truppen des Kaisers suchen uns seit Monaten. Die Freistätte ist nicht leicht zu finden, wenn wir die Leute nicht selbst hereinbitten.«

»Hm.« Leo wippte mit dem Fuß. »Habt ihr dieses Haus hier entworfen? Das ist nämlich ganz schön beeindruckend.«

Josephine kicherte. »Schön wärs. Das war ein halbgöttlicher Architekt, der sehr viel begabter war als wir. Er hat die Freistätte um 1880 errichtet, in den Anfangstagen der transkontinentalen Eisenbahn. Sie war gedacht als Zufluchtsort für Halbgötter, Satyrn, Jägerinnen – so ungefähr alle, die hier mitten im Land einen brauchten. Emmie und ich haben nur das Glück, die derzeitigen Herbergsmütter zu sein.«

»Ich habe nie von diesem Ort gehört«, sagte ich verärgert.

»Wir … na ja, wir halten uns bedeckt. Befehl unserer Herrin Artemis. Info nur bei Bedarf.«

Als Gott war ich die Personifizierung von Info-nur-bei-Bedarf, aber es war typisch für Artemis, solche Informationen für sich zu behalten. Sie sorgte immer wie besessen für Notfälle vor, dauernd verbarg sie etwas vor den anderen Göttern, wie Haufen von Vorräten, Zufluchtsorte und Zwergstaaten. »Ich vermute, das hier ist kein Bahnhof mehr. Was glauben die Sterblichen denn?«

Josephine grinste. »Freistätte, durchsichtigen Boden bitte.«

Unter unseren Füßen verschwand der fleckige Zement. Ich sprang zurück, als stünde ich auf einer heißen Herdplatte, aber der Boden war gar nicht verschwunden, er war einfach nur durchsichtig geworden. Um uns herum schienen Teppiche, Möbel und Werkzeug zwei Stock über dem eigentlichen Boden der Halle zu schweben, wo zwanzig oder dreißig Tische für irgendeinen feierlichen Anlass aufgestellt waren.

»Unser Wohnbereich nimmt den Oberbereich der Bahnhofshalle ein«, sagte Josephine. »Das da unter uns war früher einmal der Zugang zu den Bahnsteigen. Jetzt vermieten die Sterblichen diese Halle für Hochzeiten und Partys und sonst was. Wenn sie hochblicken …«

»Anpassungsfähige Tarnvorrichtung«, vermutete Leo. »Sie sehen ein Bild der Decke, aber euch sehen sie nicht. Nett.«

Josephine nickte, offenkundig zufrieden. »Meistens ist es hier ruhig, nur am Wochenende kann es laut zugehen. Wenn ich noch einmal ›Thinking Out Loud‹ von einer Hochzeitsband hören muss, fällt mir vielleicht doch mal ein Amboss runter.«

Sie zeigte auf den Boden, der sich sofort wieder in undurchdringlichen Zement verwandelte. »Wenn ihr jetzt nichts dagegen habt, dann würde ich gern einen Teil eines Projektes fertig machen, an dem ich gerade arbeite. Ich will nicht, dass die Metallplatte abkühlt, ohne zurechtgeschweißt worden zu sein. Danach …«

»Du bist ein Kind des Hephaistos, oder?«, fragte Leo.

»Der Hekate, genauer gesagt.«

Leo blinzelte. »Nie im Leben! Aber diese umwerfende Werkstatt, die du da hast …«

»Magische Konstruktion ist meine Spezialität«, sagte Josephine. »Mein Dad, mein sterblicher Dad, war Mechaniker.«

»Nett!«, sagte Leo noch einmal. »Meine Mom war Mechanikerin. He, wenn ich dein Werkzeug benutzen dürfte, ich habe am Regierungsgebäude einen Drachen stehen lassen und …«

»Ähem«, unterbrach ich ihn. Ich wünschte mir Festus ja wirklich zurück, aber ich glaubte nicht, dass ein nahezu unzerstörbarer, unmöglich-zu-öffnender Koffer in unmittelbarer Gefahr schwebte. Ich hatte auch Angst, wenn Leo und Josephine erst über die Wunder von Gewindeflanschen ins Plaudern gerieten, würde ich vor Langeweile eingehen. »Josephine, du wolltest sagen, danach …«

»Richtig«, sagte Josephine zustimmend. »Gebt mir nur ein paar Minuten. Dann kann ich euch die Gästezimmer zeigen und, ähem, etwas zum Anziehen geben. Wir haben derzeit leider jede Menge Zimmer frei.«

Ich fragte mich, warum sie das bedauerte. Dann fiel mir das leere Zimmer des kleinen Mädchens von vorhin ein. Eine innere Stimme riet mir, nicht danach zu fragen.

»Wir wissen eure Hilfe sehr zu schätzen«, sagte ich zu Josephine. »Aber ich verstehe das noch immer nicht. Du hast gesagt, dass Artemis von diesem Ort hier weiß. Du und Emmie, ihr seid – oder wart – Jägerinnen?«

Josephines Halsmuskeln spannten sich über dem Kragen ihres rosa Polohemdes an. »Das waren wir.«