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Wenn der Maskenmann kommt, sterben Liebespaare. Meist nachts, meist auf abgelegenen Parkplätzen. Das Ermittlerteam um Kommissarin Eva Lendt und den Fallanalytiker Marco Brock steht vor einem Rätsel, bis es merkt, dass die Morde den Taten eines berüchtigten Killers gleichen, der Ende der sechziger Jahre in der San Francisco Bay Area gewütet hat. Der ZODIAC gehört zu Amerikas berühmtesten Serienkillern. Hollywoodfilme wurden über ihn gedreht, unzählige Bücher geschrieben, und dennoch liegt seine Identität bis heute im Dunklen verborgen. Eva Lendt und Marco Brock ahnen, dass sie den jetzigen Killer nur fassen können, wenn sie die Taten des damaligen verstehen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …
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Kurzbeschreibung:
Wenn der Maskenmann kommt, sterben Liebespaare. Meist nachts, meist auf abgelegenen Parkplätzen. Das Ermittlerteam um Kommissarin Eva Lendt und dem Fallanalytiker Marco Brock steht vor einem Rätsel, bis es merkt, dass die Morde den Taten eines berüchtigten Killers gleichen, der Ende der sechziger Jahre in der San Francisco Bay Area gewütet hat. " Eine atemberaubende Hetzjagd zwischen Fakten und Fiktion- der Thriller des Jahres"
Linus Geschke
Die Akte Zodiac
Gesamtausgabe
Edel Elements
Edel eBooks Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2017 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2017 by Linus Geschke
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Lesen&Hören.
Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-960-2
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Über das Buch:
Wenn der Maskenmann kommt, sterben Liebespaare. Meist nachts, meist auf abgelegenen Parkplätzen. Das Ermittlerteam um Kommissarin Eva Lendt und dem Fallanalytiker Marco Brock steht vor einem Rätsel, bis es merkt, dass die Morde den Taten eines berüchtigten Killers gleichen, der Ende der sechziger Jahre in der San Francisco Bay Area gewütet hat. "Eine atemberaubende Hetzjagd zwischen Fakten und Fiktion-der Thriller des Jahres!"
Folge I
Linus Geschke
Die Akte Zodiac
FOLGE I
Edel Elements
Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2016 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
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Copyright © 2016 by Linus Geschke
Lektorat: Hannes Windisch Korrektorat: Anika Beer Covergestaltung: Designomicon, München. Konvertierung: Datagrafix
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Lesen&Hören.
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-818-6
Der blaue Ford Focus stand in einer der hintersten Ecken, als müsse er sich dort verstecken. Als würden jetzt, so kurz nach Mitternacht, noch weitere Autos mit anderen Pärchen kommen, die etwas zu verbergen hatten.
Es war eine ungemütliche und regnerische Nacht; viel zu kalt für Ende April. Der Wind frischte auf und die Blätter der umliegenden Bäume rauschten. Eine einzelne Seite der gestrigen BILD-Zeitung wurde über den unebenen Boden geweht, wirbelte durch die Luft und blieb an einem dornigen Busch hängen. Immer, wenn der Vollmond durch die Wolkenlücken brach, tauchte er das Fahrzeuginnere in ein silberfarbenes Licht. Das Armaturenbrett, die heruntergekurbelten Sitze und das nackte Pärchen, das auf ihnen lag.
In diesen Momenten konnte Marcel auch Annas Gesicht sehen. Den glänzenden Schweißfilm auf ihrer Stirn. Die helle, weiche Haut. Ihre nackten Brüste mit den harten Brustwarzen. Wieder beugte er sich über sie. Ließ seine Zunge um ihre kreisen und rieb dabei sanft die Region zwischen ihren Beinen. Er spürte ihre Hand, die nach seinem erigierten Glied griff, während aus dem Autoradio Nothing else matters von Metallica drang.
Marcel richtete sich auf, um in sie einzudringen. Er wollte diese Frau besitzen, die mit einem anderen verheiratet war, was die ganze Sache für ihn noch reizvoller machte. Das Verbotene erregte ihn, ebenso wie das Ausleben der Lust im Verborgenen.
Dann sah er das Licht.
Es kam von einem Auto, das mit abgeblendeten Scheinwerfern auf den Parkplatz rollte und mit laufendem Motor stehen blieb.
Nicht in einer anderen Ecke.
Nicht seitlich von ihnen.
Direkt hinter ihnen.
„Was …?“, fragte Anna, als sie sein Zögern bemerkte.
„Da ist jemand!“
Sie versuchte hochzukommen und sich umzudrehen, aber er hielt sie mit seinem Körpergewicht unten, während er gleichzeitig sah, wie sich die Fahrertür des fremden Wagens öffnete.
„Scheiße“, flüsterte er. „Der kommt zu uns!“
Fieberhaft versuchte Marcel, im Fußraum seine Jeans zu finden, während gleichzeitig die Wut in ihm aufstieg. Wenn das ein Spanner war, dann …
Annas Stimme zitterte: „Oh Gott … was will der denn von uns? Ist das mein Mann?“
Er antwortete nicht. Hatte gerade seine Hose gefunden, als der kalte Strahl einer Taschenlampe von hinten in den Ford fiel und ihn blendete.
Scheiß auf die Jeans!
Er riss die Tür auf. Diesen widerlichen Gaffer würde er schon …
Die Stille, die ihn draußen umfing, ließ ihn innehalten. Ihr wohnte eine fragile Spannung bei, als könne sie jeden Moment durchbrochen werden, und die Wut in seinem Inneren verwandelte sich in etwas Unbestimmtes, das seinen Puls steigen ließ und seinen Magen wie eine Faust umschloss.
Der Strahl der Taschenlampe war jetzt direkt auf sein Gesicht gerichtet, und Marcel hob schützend die Hand, um seine Augen gegen das grelle Licht abzuschirmen. Das Blut in seinen Ohren rauschte. Nur schemenhaft nahm er die Kontur des Mannes wahr, der neben dem Heck des Fords stand.
„Was soll das?“, rief er und versuchte, die Unsicherheit in seiner Stimme zu verbergen.
Der Fremde kam einen Schritt näher und hob die Hand. In der Sekunde, in der Marcel begriff, schlug ihm schon der Mündungsblitz entgegen. Die Kugel traf seine Brust. Er torkelte. Annas panische Schreie hörte er schon nicht mehr. Er erkannte auch nicht, dass der Mann eine Maske trug. Er stürzte einfach und starb, bevor er seitwärts auf dem Boden aufschlug und seine Harnblase sich unkontrolliert entleerte.
*
Es war ein Doppelmord, wie es ihn auch in einer Großstadt nicht allzu oft gab. Die einen Zeitungen nannten den Täter bereits den „Liebespaar-Killer“, die anderen fragten, ob er vielleicht aufgrund von „kranken moralischen Werten“ tötete.
Nachdem die Spurensicherung ihre Arbeit erledigt hatte, wurde der Parkplatz von TV-Sendern in Dauerbeschlag genommen. Ein Privatsender ließ den mutmaßlichen Tathergang sogar mit Jungschauspielern nachstellen, die ansonsten in einer Doku-Soap mitwirkten, während in den sozialen Netzwerken Bernd Thiele, der Ehemann der Getöteten, als Täter vorverurteilt wurde. Als sich herausstellte, dass er ein Alibi hatte, wurde über einen möglichen Auftragsmord spekuliert.
Es war ein Chaos.
Die Medien übten Druck auf die Lokalpolitiker aus, die Politiker auf die Polizei und die Polizisten auf nahezu jeden, der wegen eines Gewaltverbrechens vorbestraft war. Manche Journalisten versuchten sogar, aus den Opfern Täter zu machen. Suchten in der Vergangenheit von Anna Thiele und Marcel Fehmann krampfhaft nach dunklen Flecken, die zu einer solchen Tat hätten führen können. Fanden nichts und konzentrierten sich deshalb wieder auf den Ehebruch.
Es war auch zu verlockend für die schlagzeilenhungrige Meute: Eine Ehebrecherin und ihr jüngerer Liebhaber – besser ging es nicht.
Eva Lendt war seit 17 Jahren Polizistin, die letzten sechs davon beim Kriminalkommissariat 11, welches beim Kölner Polizeipräsidium für Tötungsdelikte zuständig war. Wenn der Sex mit einer verheirateten Frau einen Mord rechtfertigte, dann kannte die 36-jährige Kriminalhauptkommissarin ein Dutzend Männer, die erschossen gehörten – und genauso viele Frauen. Sie taten es mal aus Leidenschaft, mal aus einer Einsamkeit heraus, mal aus Langeweile.
Doch Spekulationen über die Hintergründe menschlichen Sexualverhaltens brachten Eva jetzt nicht weiter. Was sie brauchte, um den in den zwei Wochen nach der Tat ins Stocken geratenen Ermittlungen neuen Schwung zu verleihen, waren handfeste Ansätze, und die gab es nicht. Bislang hatten die Ermittlungen samt und sonders ins Leere geführt. Es war frustrierend, für sie als leitende Beamtin genau wie für das gesamte Dezernat, und die siebte Mordermittlung, der sie vorstand, drohte die erste zu werden, bei der sie scheiterte.
Sie holte tief Luft und konzentrierte sich wieder auf den Ehemann der Ermordeten, der bereits zum dritten Mal bei ihr im Verhörraum saß. Auch diesmal war Bernd Thiele nur als Zeuge geladen, nicht als Beschuldigter. Offiziell zumindest – was ihn bislang auch auf den Beistand eines Anwalts hatte verzichten lassen.
„Noch einmal, Herr Thiele“, begann sie von vorne. „Wir wissen aus unseren Gesprächen mit Ihnen, dass Sie zur Tatzeit auf Arbeit waren. Was genau haben Sie dort gemacht?“
„Wie oft soll ich Ihnen das denn noch erzählen?“, fragte der leicht übergewichtige Mann und strich sich mit einer müden Geste die Haare aus dem Gesicht. „Ich kann doch …“
„Bitte!“, sagte sie nur.
„Also gut.“ Bei den ersten Worten zitterte seine Stimme noch, wurde dann aber fester. „Wie Sie ja wissen, bin ich einer der leitenden Programmierer bei Lanstex und wir hatten ein Softwareproblem bei einem Projekt, welches am nächsten Tag einem Großkunden präsentiert werden sollte. Und da wir das Problem im Laufe des Tages nicht in den Griff bekommen haben, hat mich mein Chef gebeten, eine Nachtschicht einzulegen. Das wird er Ihnen ja sicherlich mittlerweile bestätigt haben.“
Sie nickte, während ihre dunkelbraunen Augen ihn weiterhin fixierten. Dann fragte sie: „Laut ihrer Scankarte haben sie die Firma um 21:13 Uhr betreten und um 03:27 Uhr wieder verlassen. Richtig?“
„Ja, aber auch das wissen Sie doch schon längst! Ganz ehrlich, Frau Lendt … ich kann nicht verstehen, warum Sie mich immer und immer wieder das Gleiche fragen, anstatt den Mörder meiner Frau zu suchen. So langsam fehlt mir das Verständnis für diese Art der Befragung; auch, wenn mir natürlich klar ist, dass ich als Ehemann automatisch zu den Hauptverdächtigen gehöre. Aber: Ich habe meine Frau nicht getötet, verstehen Sie das nicht?“
Es war das erste Mal, dass Bernd Thiele in den Vernehmungen gereizt reagierte. Eva hätte das gern als Indiz gegen ihn gewertet, aber sie konnte ihn verstehen. Der aschblonde Mann vor ihr sah vollkommen fertig aus – kein Wunder nach allem, was er durchgemacht hatte.
Viele hatten ihn anfangs für den Mörder gehalten, nicht nur in den sozialen Netzwerken und Redaktionsstuben, sondern auch hier auf ihrer Dienststelle. Neben dem offensichtlichen Motiv besaß der Ehemann nämlich noch ein weiteres: Anna Thiele hinterließ dem 38-jährigen Informatiker ein Haus mit Rheinblick im Kölner Nobelstadtteil Rodenkirchen – Wert über anderthalb Millionen Euro – sowie Bargeld und Aktiendepots in Höhe von 700.000 Euro. Dinge, die die damals Neunzehnjährige von ihrem früh verstorbenen Vater geerbt hatte.
Im weiteren Ermittlungsverlauf hatte Eva jedoch rein gar nichts gefunden, was Bernd Thiele mit der Tat in Verbindung gebracht hätte. Die am Tatort gesicherten Fußspuren waren Größe 45 – Bernd Thiele trug 43,5. Die vom Täter zurückgelassenen Reifenspuren stimmten nicht mit dem Profil seines Fahrzeugs, einem silberfarbenen Audi A6, überein. Auch bei der obligatorischen Hausdurchsuchung hatten sie nichts gefunden, was ihn belastet hätte. Und dann war da ja auch noch sein Alibi – rundum wasserdicht und von mehreren Mitarbeitern der Firma bestätigt. So naheliegend Bernd Thiele als Täter auch sein mochte; Eva musste einsehen, dass sie den Mörder woanders suchen mussten.
Sie beugte sich ihm entgegen. „Erzählen Sie mir von Ihrer Frau.“
„Ich habe sie geliebt.“
„Sie sollen nicht von sich erzählen. Ich möchte etwas über Ihre Frau hören.“
Er rieb sich mit der Hand über die Augen. „Anna war wunderbar! Jeder mochte sie, einfach jeder. Sie gehörte zu jener Sorte Mensch, die andere Menschen gern um sich haben, weil sie aufgeschlossen und kommunikativ sind. Ich … was wollen Sie eigentlich hören?“
„Hatte Ihre Frau viele Affären?“
Bernd Thiele zog scharf die Luft ein. „Bis zu dem Tag nach ihrem Tod wusste ich nicht einmal, dass sie diese eine hatte. Und ich kann es immer noch nicht glauben, dass … dass …“
Eva sah, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, und brach das Verhör ab. Das führte zu nichts. Er hatte bei den Vernehmungen sämtliche Fragen beantwortet und es gab keinen Grund, ihn noch weiter unter Druck zu setzen. Also teilte sie ihm mit, dass er sich die nächsten Tage zu ihrer Verfügung halten sollte, falls sich noch weitere Fragen ergäben, und entließ ihn.
Nachdem die Tür hinter Bernd Thiele ins Schloss gefallen war, sammelte auch Eva ihre Unterlagen ein und ging zurück in das Büro, das sie sich mit ihrem Kollegen Oliver Lamprecht teilte. Drei Schreibtische standen in dem Raum, einer davon verwaist, dazu ein großer Aktenschrank, mehrere Telefone und zwei veraltete Computerbildschirme. Über all dem strahlte das kalte Licht mehrerer Energiesparlampen.
Sie sah, dass Oliver schon Feierabend gemacht hatte. Auf seinem Schreibtisch fand Eva nur noch einige Tageszeitungen, deren Schlagzeilen nicht Gutes verhießen. Insbesondere die Boulevardmedien schürten jetzt die Angst vor dem großen Unbekannten – vor einem irren Killer, der nachts über Parkplätze streifte, um wahllos Liebespaare zu töten.
„Ist dies der Auftakt zu einer Serie?“, wollte die eine Zeitung wissen. „Können wir nach Einbruch der Dunkelheit noch sicher sein?“, assistierte die andere.
Auch das noch.
*
Marco Brock schlug das lokale Schmierblatt zu und ließ es achtlos zu Boden fallen. Was für alberne Fragen! Der nur allzu durchschaubare Versuch einer auf den Hund gekommenen Branche, mit geheuchelter Besorgnis ihre schwindenden Auflagen vor dem Fall ins Bodenlose zu bewahren.
Einen Moment lang fragte er sich, warum bislang noch kein Irrer auf die Idee gekommen war, grenzdebile Journalisten umzubringen - wahrscheinlich würde er dafür von weiten Teilen der Bevölkerung sogar Applaus bekommen. Stattdessen traf es meistens Menschen, die ein unauffälliges Leben am Rande der Gesellschaft führten. Frauen, Kinder, Alte und Schwache. Sie wurden ins Blicklicht gezerrt, weil sie Opfer waren – meist schon lange vor der eigentlichen Tat.
Doch dieser Fall war anders. Brock spürte das. Auch, wenn er den Grund dafür nicht benennen konnte.
Noch nicht.
Um seiner Ahnung nachzugehen, legte er sich auf die cremefarbene Ledercouch im Wohnzimmer, führte die Fingerspitzen aneinander und schloss die Augen. Gedanklich schob er die bislang bekannten Fakten wie Bauklötze umher.
Der Tatort: Hürth bei Köln. Ein Waldparkplatz unweit eines Sees. Nachts. Im Auto. Keine Zeugen.
Die Ausführung: Insgesamt neun Pistolenschüsse aus nächster Nähe, mehrheitlich auf die Frau abgegeben. Kaliber neun Millimeter. Allerweltsmunition ohne besondere Merkmale.
Die Opfer: 29 und 23 Jahre alt. Eine verheiratete Frau und ihr jüngerer Liebhaber. Der Mann hatte ein paar unbedeutende Jugendstrafen hinter sich, ansonsten waren keine Auffälligkeiten erkennbar. Zufallsopfer vielleicht.
Marco Brock öffnete die Augen und brachte die Bauklötze damit zum Einsturz. Das war zu wenig, selbst für ihn, und er war ein ungewöhnlicher Mensch, zumindest, wenn es nach seiner Vita ging: Ein reiches Elternhaus, ein glattes Einser-Abitur, das Studium der Psychologie und Soziologie in Rekordzeit absolviert. Dann die Ausbildung beim Landeskriminalamt und ein Austauschjahr in Amerika, wo er für das FBI in Quantico als Profiler gearbeitet hatte. Als die US-Amerikaner dann begannen, ihn mit ihrem oberflächlichen Wesen zu langweilen, kehrte er nach Deutschland zurück.
Kurz darauf hatte er in Düsseldorf eine Stelle als Fallanalytiker beim Landeskriminalamt angetreten, die er vor drei Jahren, mit 36, gekündigt hatte, nachdem seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren und er vollen Zugriff auf das Erbe erhalten hatte. Seitdem tat Marco Brock nur noch, worauf Marco Brock Lust hatte.
Zugriff auf die Ermittlungen zu bekommen, wäre dank seiner Kontakte ein Kinderspiel. Der Justizminister war ein entfernter Verwandter, mit dem Polizeipräsidenten spielte er alle zwei Wochen Tennis, außerdem war er gut in seinem Job. Nein, nicht gut, verbesserte er sich. Herausragend, vielleicht sogar der Beste auf seinem Gebiet. In seinen wenigen Jahren beim LKA hatte er mehr passende Täterprofile geliefert als andere Fallanalytiker während ihrer gesamten Laufbahn.
Marco Brock rieb sich die Schläfen. Wie hieß die leitende Ermittlerin noch mal? Eva Lendt? Ja, er hatte ein Foto von ihr gesehen. Halblange dunkelbraune Haare über einem schön geschnittenen Gesicht, dunkle Augen und eine kleine Stupsnase. Auf dem Foto hatte sie durchschnittlich groß gewirkt, schlank, ohne dürr zu sein. Insgesamt betrachtet nichts wirklich Aufregendes, aber ganz nett anzusehen.
Er erhob sich und streckte seinen Körper, der in der letzten Zeit ein wenig Fett angesetzt hatte. Dieser Fall konnte eine nette Abwechslung werden, vielleicht ließe sich darauf sogar ein drittes Sachbuch aufbauen. Es war nicht so, dass er das damit verbundene Geld nötig gehabt hätte – aber den eigenen Namen auf einem Buchcover zu sehen, schmeichelte seinem Ego.
Brock griff zum Telefon und wählte eine Nummer, die er auf einer der Kurzwahltasten abgespeichert hatte. Beim dritten Klingelton nahm Alexander Wagner ab.
„Marco!“, rief ihm der Polizeipräsident mit seiner dröhnenden Bassstimme entgegen. „Schön, von dir zu hören … aber du willst doch nicht etwa unser Tennismatch am Dienstag absagen? Tu mir das nicht an: Die Revanche schuldest du mir!“
„Die sollst du auch bekommen, Alexander“, antwortete Brock bewusst jovial und verdrehte die Augen – als wenn dieser schlaffe Sack ihn jemals würde besiegen können. „Ich rufe wegen etwas anderem an. Dieser Doppelmord am Heider Bergsee … Wenn es stimmt, was ich in der Presse lese, kommt ihr momentan mit der Tätersuche nicht weiter.“
„Naja, die Ermittlungen stehen erst am Anfang und …“
„Machen wir es kurz: Ich bin bereit, euch zu helfen.“
Eine kurze Pause entstand. Dann: „Schieß los, mein Lieber. Ich bin ganz Ohr.“
Marco Brock lächelte; nichts Anderes hatte er erwartet. Anschließend führte er der Höflichkeit halber noch ein wenig Small Talk mit dem Polizeipräsidenten, dann beendete er das Gespräch und lehnte sich zufrieden zurück. Er wusste, dass Alexander Wagner keine 24 Stunden brauchen würde, um die notwendigen Knöpfe zu drücken, die ihn zu einem Teil der Ermittlungen machten und die es ihm vor allem erlaubten, freien Zugang zu den Akten zu erhalten.
Wenn ihn in diesem Moment jemand gefragt hätte, wie lange es dauern würde, den Mörder zu überführen, hätte er auf eine Woche getippt. Zehn Tage höchstens. Er ahnte nicht, wie sehr er sich irren sollte.
Es hatte gerade erst begonnen.
*
Den ganzen Tag lang grollte der Donner, während in der Ferne Blitze zuckten. Auf den Dächern, die das Kommissariat umgaben, prasselte der Regen. Er explodierte in den Pfützen wie kleine Bomben - ein Anblick, der perfekt zu Evas momentaner Gemütslage passte. Hinter ihren Schläfen verspürte sie ein leichtes Ziehen, die ersten Anzeichen von Kopfschmerzen.
Sehnsüchtig schaute sie aus dem Bürofenster auf das gegenüberliegende Parkhaus, in dem ihr Auto stand. Eine Stunde noch. Eine Stunde und sie konnte endlich Feierabend machen und nach Hause fahren. Heim in eine Wohnung, in der sie niemand erwartete.
Mit einer beiläufigen Bewegung strich sie sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht, die sofort wieder zurückfiel. Sie musste zum Friseur, dringend sogar. Vielleicht sogar noch heute, wenn sie einen Termin bekam.
„Ich bin die Verhörprotokolle noch mal Seite für Seite durchgegangen, Eva. Nichts. So langsam weiß ich auch nicht mehr, wo wir noch ansetzen sollen.“
Eva zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass ihr Kollege Oliver Lamprecht das Zimmer betreten hatte – er hätte schon längst Feierabend machen sollen. Als sie sich jetzt umdrehte und ihn ansah, war sie schockiert darüber, wie abgekämpft er aussah. Auch er hatte in den letzten Tagen zu viel gearbeitet, zu viele Stunden im Büro verbracht.
Oliver bekleidete denselben Dienstrang wie sie und konnte, obwohl er elf Jahre älter war, problemlos damit leben, dass sie die Ermittlungen leitete. Bei einem Feierabendbier hatte er ihr mal verraten, dass er sich als Prototyp eines guten zweiten Manns sah – aber niemand war, der gerne das Ruder in der Hand hielt. Jetzt schaute er sie mit einem Blick an, als wenn er sich selbst die Schuld daran geben würde, dass die Unterlagen sie nicht weiterbrachten.
„Damit habe ich auch nicht gerechnet. Aber danke, dass du es versucht hast.“
Dieser Fall, das wusste sie, drohte unaufgeklärt zu bleiben. Wie alle Polizeibeamten kannte sie die Kriminalstatistik auswendig: In den ersten 48 Stunden nach der Tat war die Chance auf die Ergreifung des Täters am größten, danach nahm sie sukzessive ab. Die Gefahr, dass ein Täter davonkam, war immer dann besonders hoch, wenn die in den ersten beiden Tagen gefundenen Ermittlungsansätze nicht zum Erfolg führten und es weitere einfach nicht zu geben schien.
So wie im vorliegenden Fall. Keine forensischen Spuren. Keine Zeugen. Niemand mit einem erkennbaren Motiv außer dem Ehemann. Über allen potentiellen Ansätzen wie der Tatwaffe oder den Reifenabdrücken stand mittlerweile in Großbuchstaben SACKGASSE.
Auch die Nachforschungen im Umfeld von Marcel Fehmann, dem erschossenen Liebhaber, hatten nichts ergeben. Er hatte mit 17 eine Jugendstrafe wegen Körperverletzung bekommen und eine weitere wegen des Besitzes von zwei Gramm Kokain. Nichts, was einen Mord auch nur im Ansatz erklärt hätte. Ansonsten war Fehmann bis zu seinem Tod mehr oder minder unauffällig durchs Leben gegangen – wenn man einmal von seinem fulminanten Ruf als Aufreißer absah, den er im Freundeskreis genossen hatte.
Ihr Kollege räusperte sich. „Wenn dir im Moment auch nichts mehr einfällt, würde ich gerne nach Hause gehen, solange die Kinder noch wach sind. Aber wenn du …“
Sie lächelte. „Mach Feierabend, Oliver, und schlaf dich aus! Vielleicht kommt uns ja morgen der erlösende Gedanke.“
Lamprecht nickte, dann drehte er sich um und zwängte seinen massigen Körper in die altmodische Lodenjacke, die er so gerne trug.
„Bis dann, Eva.“
Sie winkte ihm freudlos hinterher. Drehte sich um und starrte wieder in den Regen.
Natürlich bekam Eva bei ihrem Stammfriseur keinen Termin mehr. Stattdessen holte sie sich in einem China-Imbiss auf der Severinstraße ihr Abendessen ab und legte sich zu Hause mit der Pappschachtel und ihrem kalt gewordenen Inhalt auf die Couch. Cäsar und Cleopatra, ihre beiden Katzen, hockten auf dem Boden, starrten sie an und miauten in der Hoffnung, dass ein paar Brocken für sie abfallen würden.
Während Eva die gebratenen Nudeln in sich hinein schlang, schaute sie sich gedankenverloren in ihrer Wohnung um. Überall lag ungebügelte Wäsche herum, die Wände mussten dringend mal gestrichen werden und die Küche drohte auseinander zu fallen, obwohl sie nur selten benutzt wurde. Wenn das so weiterging, brauchte sie bald eine Putzfrau, einen Maler und irgendeinen muskelbepackten Kerl, der die Küche reparierte und dabei auch noch nett anzuschauen war.
Lustlos aß sie den Rest Nudeln auf, schaltete den Fernseher ein und versuchte, sich mit einer belanglosen Liebeskomödie abzulenken. Doch ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem Fall zurück. Irgendetwas stimmte nicht, das fühlte sie. Entweder hatte sie einen wichtigen Punkt übersehen – oder die Opfer waren tatsächlich willkürlich gewählt und die Morde damit der Auftakt zu einer Serie. Wobei Letzteres in ihren Augen jedoch die deutlich unwahrscheinlichere Variante war. So etwas gab es vielleicht in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, aber doch nicht hier, in Köln.
Serienkiller … alleine der Gedanke daran kam ihr schon so abwegig vor, dass sie lächeln musste.
Dann stand sie auf, schaltete den Fernseher aus und schmiss die Schachtel mit den Essensresten in den Mülleimer. Anschließend überlegte sie, was sie mit dem Rest des Abends anfangen sollte: Ihre Eltern anrufen, um sich mal wieder bei ihnen zu melden, oder lieber den Laptop hochfahren, um dem Internet einen Besuch abzustatten - genauer gesagt jener Singleseite, auf der sie sich vor ein paar Wochen angemeldet hatte.
Sie entschied sich für das Internet. Nachdem Eva sich eingeloggt hatte, surfte sie durch die eingegangenen Nachrichten, wobei vor allem eine ihre Aufmerksamkeit erregte. Es war nicht die erste, die er ihr geschrieben hatte: Der Mann hieß Lars, war 43 Jahre alt und sah wirklich gut aus. Ein bisschen bieder vielleicht, aber das musste ja nichts Schlechtes sein. Laut seinem Profil wohnte er in Bonn und arbeitete als selbstständiger Grafiker, außerdem bekam er gerade Sätze heraus, was auf dieser Plattform keine Selbstverständlichkeit war, wie Eva leidvoll hatte einsehen müssen.
Sie antwortete ihm wie immer unverbindlich, in bewusst lockerem Ton. Nicht so begeistert, dass er den Eindruck gewinnen könnte, sie habe es irgendwie nötig gehabt, aber doch freundlich genug, um ein gewisses Interesse erkennen zu lassen. Anschließend las sie den Text noch einmal durch, feilte ein wenig an den Sätzen und schickte die Nachricht dann ab.
Die anderen Eingänge in ihrem Postfach löschte sie, nachdem sie sie kurz überflogen hatte. Entweder ging aus den Anschreiben deutlich hervor, dass die Kerle lediglich eine Affäre suchten oder sie gefielen ihr optisch nicht, waren plump oder verfügten über keinerlei Sprachwitz. Drei Wochen war sie jetzt dort angemeldet, und dieser Lars war bislang die einzige Ausbeute für ein potentielles Treffen. Welch miserable Quote angesichts der Versprechungen der Werbung …
Nachdem sie den Computer ausgeschaltet hatte, legte Eva die Sachen für den kommenden Tag zurecht, machte sich im Bad fertig und fiel gegen 22:30 Uhr todmüde ins Bett. Wenn sie sofort einschlafen konnte, würden ihr bis zum Klingeln des Weckers noch mehr als acht Stunden bleiben.
Wann hatte sie zuletzt so lange geschlafen?
Ewig her, dachte sie noch. Und dann nichts mehr.
*
„Liebe Eva, lieber Oliver - darf ich euch Dr. Marco Brock vorstellen? Herr Dr. Brock hat als Fallanalytiker für das Landeskriminalamt gearbeitet und dabei eine – fast möchte man sagen sensationelle – Trefferquote erzielt, was die von ihm erstellten Täterprofile anging. Er hat sich freundlicherweise bereit erklärt, unser kleines Team bei den Ermittlungen zu unterstützen, die den Doppelmord am Heider Bergsee betreffen. “
Eva schaute Thomas Werner erstaunt an, den Leiter des Kriminalkommissariats 11. Auch ihrem Kollegen Oliver Lamprecht stand der Mund offen. Es kam nur höchst selten vor, dass der Chef sich persönlich in ihr Büro verirrte, und einen unangekündigten Auftritt wie diesen hier hatten sie noch nie erlebt.
„Ich kann mich gar nicht erinnern, dass wir um Unterstützung des LKA gebeten hätten“, sagte sie.
„Herr Dr. Brock ist ja nicht mehr beim LKA“, erwiderte ihr Chef. „Er ist … nun ja, eine Art freier Berater, auf dessen Urteil sowohl der Polizeipräsident als auch der Justizminister größten Wert legen. Ich habe dem Polizeipräsidenten bereits zugesichert, dass Herr Dr. Brock von uns jede Unterstützung erhält, die wir ihm geben können – natürlich auch in eurem Namen.“
Daher weht also der Wind, dachte sie. Ein politischer Protegé, der ihr als Aufpasser zur Seite gestellt werden sollte.
Eva hatte, anders als viele ihrer Kollegen, gar keine grundsätzlichen Vorbehalte gegen die Unterstützung eines Fallanalytikers. Gerade bei Mordfällen, die Teil einer Serie waren, hatten sie sich in der Vergangenheit oftmals als hilfreich erwiesen. Ganz und gar nicht einverstanden war sie aber damit, dass man ihr jemanden ungefragt zur Seite stellte, den sie nicht angefordert hatte, und ganz besonders galt dies, wenn es sich dabei um einen Menschen wie Marco Brock handelte.
Der Typ erinnerte sie an den österreichischen Sänger Falco: derselbe überhebliche Gesichtsausdruck, derselbe spöttische Zug um den Mund herum. Auch die dunklen Haare trug er auf ähnliche Weise straff zurückgekämmt. Marco Brock trug einen dunkelgrau schimmernden Anzug, der wahrscheinlich mehr gekostet hatte, als sie im Monat verdiente, und auf Hochglanz polierte Schuhe, in denen man sich spiegeln konnte.
Vielleicht gab es ja Frauen, die sein arrogantes Lächeln als anziehend empfanden – sie selbst gehörte ganz sicher nicht dazu.
„Lieber Herr Dr. Brock“, sagte Eva dennoch betont freundlich und rang sich ein Lächeln ab. „Ich weiß ihr großzügiges Angebot wirklich zu schätzen, aber …“
„Danke“, fiel er ihr ins Wort. „Aber den Doktor können wir ruhig weglassen. Und Ihnen“, jetzt drehte er sich zu Thomas Werner um, „danke ich für die Vorstellung und denke, wir haben damit auch genügend von Ihrer Zeit in Anspruch genommen. Den Rest bekommen Frau Lendt und ich sicherlich auch alleine hin. Welchen Schreibtisch kann ich haben?“
Er schaute sich suchend um und marschierte dann auf Olivers Tisch zu, obwohl ein weiterer leer dahinterstand. „Dieser hier wäre mir recht“, sagte er und setzte sich. „Sofern es keine Einwände gibt, können wir ja direkt anfangen.“
Eva holte tief Luft und wollte sich gerade lautstark beschweren, als Thomas Werner auf dem Absatz kehrtmachte und ihr Büro verließ; augenscheinlich froh, die Aufgabe, die ihm wohl selbst nicht schmeckte, hinter sich gebracht zu haben.
Für den Moment sah es also so aus, als wäre Marco Brock jetzt ihr Problem – aber eines, mit dem sie gedachte, kurzen Prozess zu machen. Sie musste dem Kerl nur klarmachen, wie die Dinge hier liefen.
„Ganz ehrlich, Herr Brock“, sagte sie. „Mir gefällt diese Konstellation nicht. Ich glaube nicht, dass uns Ihre Unterstützung in irgendeiner Form weiterhelfen kann. Ganz im Gegenteil, ich denke sogar …“
„Das können Sie bei Gelegenheit ja gern mit dem Polizeipräsidenten diskutieren. Alexander freut sich sicher, Vorschläge von einer so motivierten Beamtin zu hören. Bis es soweit ist, würde ich allerdings empfehlen, die Anordnungen Ihres Vorgesetzten nicht infrage zu stellen. Oder haben Sie generell ein Problem mit Autoritäten?“
Sie hätte viel Geld für eine schlagfertige Antwort gegeben, stattdessen war sie vollends damit ausgelastet, das gerade Gehörte zu verarbeiten. Auch Oliver, der hinter Brock stand, schaute sie nur irritiert an und zuckte ratlos mit den Schultern.
Wenn sie diesen Typen loswerden wollte, musste sie so schnell wie möglich noch einmal mit Thomas Werner reden, und zwar unter vier Augen. Sie würde ihrem Chef schon klarmachen, dass dieser Mann unakzeptabel war; dass er ihnen bei den Ermittlungen nicht helfen konnte, sondern sie sogar behinderte, indem er ein eingespieltes Team durcheinanderbrachte.
Ja, so würde sie es machen. Ein, zwei Tage vielleicht, dann würde der Alptraum vorbei sein. Also beherrsch dich, Eva – der Lackaffe ist den Streit nicht wert.
„Okay“, gab sie für den Moment nach. „Und wie genau stellen Sie sich die Zusammenarbeit vor?“
„Zuerst einmal brauche ich sämtliche Akten, die Sie haben. Ein Kaffee wäre auch nicht schlecht. Mit Milch bitte, rehbraun, und anderthalb Löffel Zucker.“
Bevor sie etwas Unbedachtes tun konnte, sagte Oliver: „Kein Problem, ich wollte mir eh gerade einen Kaffee holen. Du auch, Eva?“
Sie schüttelte nur stumm den Kopf, dann ging sie zu ihrem Schreibtisch, packte die Akten und ließ sie vor Brock auf die Tischplatte knallen. „Sonst noch was?“
Er legte den Zeigefinger ans Kinn und schien ernsthaft über ihre Frage nachzudenken. „Ein wenig Ruhe wäre gut, damit ich mich in den Fall einarbeiten kann. Falls ich sonst noch irgendwas benötige, lasse ich es Sie wissen.“
Sie konnte nicht glauben, dass es solch chauvinistische Typen wie ihn wirklich noch gab, und schaute unbewusst nach oben, ob unter der Decke vielleicht eine versteckte Kamera angebracht war. Warum musste ausgerechnet die Mutter aller Arschlöcher jeden Tag schwanger sein?
*
„Er ist gut.“
„Er ist ein Idiot!“
„Mag sein, aber er ist trotzdem gut. Ich war vor einigen Jahren auf einem seiner Seminare … das war schon beeindruckend.“
„Wirklich?“ Eva schaute Oliver zweifelnd an. „Davon hast du mir nie etwas erzählt.“
„Das war im Rahmen einer Fortbildungsmaßnahme des LKA, erinnerst du dich? Am ersten Abend gab´s einen Vortrag von Marco Brock, und den habe ich mir angehört.“
„Worum ging´s?“
„Um Ted Bundy. Du weißt schon … der Prototyp des charismatischen Serienmörders. Brock hat darüber berichtet, wie Bundy zu Amerikas meistgesuchtem Serienkiller wurde, und auch über die Fehler, die die Polizei damals bei der Fahndung gemacht hat. Wusstest du, dass Bundy sogar die Flucht aus dem Polizeigewahrsam gelungen ist, weil die Polizisten nicht glauben konnten, dass ein Mann, der so sympathisch wirkte, für so viele Morde verantwortlich sein sollte?“
„Genau so schätze ich den Typen auch ein“, empörte sie sich. „Erst klug daherreden über einen Fall, der bald 40 Jahre lang gelöst ist, und dann die damals ermittelnden Polizisten mit Dreck bewerfen – das passt zu ihm!“
„Mensch, Eva, gib ihm wenigstens eine Chance. Wir haben doch nichts zu verlieren.“
Genervt schaute sie ihren Kollegen an. Sie hatte sich von Oliver Unterstützung gegen Brock gewünscht, keine Fürsprache für diesen Idioten. Aber so war er eben – immer um Sachlichkeit und Ausgleich bemüht. Zum wiederholten Male fragte sie sich, wie jemand, der so harmoniesüchtig war wie er, bei der Kriminalpolizei landen konnte.
Für Eva selbst waren Mordermittlungen im Prinzip eine einfache Sache. Jeder Mensch machte Fehler, egal ob gesetzestreuer Bürger oder Verbrecher. Ihre Aufgabe als Polizistin bestand darin, die Fehler der Kriminellen mit Ausdauer und Hartnäckigkeit zu finden. Niemals zu resignieren. Dranzubleiben. Die Akten notfalls auch zum siebten Mal durchzugehen, wenn die sechs vorherigen Versuche nichts ergeben hatten. Manches von dem Zeug, das Fallanalytiker von sich gaben, erinnerte sie dagegen eher an die Aussagen von römischen Auguren, die aus dem Flug der Vögel das Schicksal vorherzusagen versuchten.
Energisch drückte sie ihre Zigarette in dem Aschenbecher aus, der vor dem Eingang zum Präsidium stand. „Na komm, es nützt ja nichts … lass uns wieder raufgehen und schauen, ob Supermann den Fall schon gelöst hat.“
„Klar“, sagte Lamprecht, der selber nicht rauchte, ihr aber gern Gesellschaft leistete. „Und sei nicht so negativ, okay? Vielleicht findet Brock ja wirklich etwas, das uns weiterbringt.“
*
„Sie haben nichts“, fuhr Brock die beiden Beamten an, als sie kurz darauf in ihr Büro kamen. Die Akten, die Eva ihm gegeben hatte, lagen geöffnet vor ihm. Einen ersten Überblick schien er sich bereits verschafft zu haben.
„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie uns nicht helfen können. Was wir haben, sind Spuren, die …“
„Sie haben tatsächlich drei Wochen gebraucht, um das hier zusammenzutragen?“ Kopfschüttelnd deutete er auf die Unterlagen. „Ich kann das kaum glauben! Was ist mit der auf den ersten Blick zu erkennenden Übertötung der Opfer? Welche Rückschlüsse haben Sie daraus gezogen?“
„Wir haben bislang …“, versuchte Lamprecht, seiner Kollegin beizustehen.
„Dabei ist die Art der Tötung das Auffälligste am Tatverlauf. Hieraus lassen sich bereits erste Schlüsse auf den Gemütszustand des Täters ziehen.“
Brock stand auf und formte mit Zeigefinger und Daumen eine Pistole, die er auf Eva richtete. „Bumm, Sie sind tot.“
Anschließend zielte er auf Lamprecht. „Bumm, Sie jetzt auch. Bumm-Bumm vielleicht, wenn ich sichergehen will, dass Sie auch wirklich erledigt sind. Aus dem Affekt heraus, bei einem der beiden Opfer, wäre auch ein dritter Schuss noch denkbar, aber das ist schon eher unwahrscheinlich. Doch hier“, er schlug mit der flachen Hand auf die Akten, „haben wir vier Schüsse auf ihn und sogar fünf auf sie. Warum? Und warum hat der Täter öfter auf die Frau geschossen, obwohl der Mann ihm von der Position her näher war und für den Angreifer den gefährlicheren Gegner darstellte?“
Evas Augen blitzten. „Und? Wie lautet die Antwort des Allwissenden darauf?“
„Die hätten wir vielleicht schon, wenn Sie von Anfang an die richtigen Fragen gestellt hätten. Fakt ist, dass alle Tatmerkmale, die für die eigentliche Ausführung der Tat nicht nötig gewesen wären, uns etwas über den Täter verraten können. Den Opfern wurde nichts geraubt, eine vordergründig sexuelle Motivation ist nicht feststellbar, die Lebensläufe der Opfer bieten keine Ansatzpunkte, die einen solchen Mord erklären könnten – und dennoch hat der Täter insgesamt neunmal auf die beiden geschossen. Hat Ihnen das nicht zu denken gegeben?“
Bevor Eva oder Oliver antworten konnten, steuerte Brock bereits den Ausgang an, wobei er sagte: „Für mich war´s das für heute, wir sehen uns morgen wieder.“
Kurz, bevor er die Tür erreicht hatte, drehte sich noch einmal um und richtete den Zeigefinger erneut auf die sprachlose Kommissarin. „Bumm, Bumm, Bumm, Bumm, Bumm – darüber sollten Sie nachdenken!“
*
Er war nicht er, aber er war wie er. Er erkannte die Schönheit im Schmerz. Für ihn entsprach jede einzelne Tat einem Lied und alle zusammen einer Symphonie, die unvollendet geblieben war – bis jetzt.
Bald schon musste das nächste Paar sterben, in den frühen Abendstunden an einem See. Dieses Mal würde er ein Messer verwenden, zehn Stiche für sie, sechs für ihn. Die Frau musste sterben, bei dem Mann war es ihm egal, der war nur Beiwerk, genau wie damals am Lake Berryessa, in den Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Ich nenne die Schlampen nicht Schlampen, weil ich ein Macho bin. Ich nenne die Schlampen Schlampen, weil sie Schlampen sind.
Am Anfang hatten seine Morde noch einem Zweck gedient, jetzt waren sie zum Mittel geworden, denn jetzt war er … er. Und wenn er das nächste Miststück erledigt hatte, musste die Welt das erfahren.
Ihm war heiß und er war erregt, als er nach dem Stapel mit den Tageszeitungen griff, die er am Abend zuvor an einer Tankstelle gekauft hatte. Welche von ihnen sollte es sein? Welche durfte seine Botschaft dann drucken?
In den dünnen Latexhandschuhen schwitzten seine Hände vor Aufregung, während er eine Entscheidung traf. Dann nahm er den bereitgelegten DIN A4-Umschlag und schrieb mit der linken Hand, damit man seine Schrift nicht zuordnen konnte, die Adresse der Zeitung darauf. Fast hätte er „An den Chefredakteur“ geschrieben, aber im letzten Moment hielt er inne. Schrieb stattdessen „Please Rush to Editor“.
So war es besser.
Authentischer.
Er schob den Brief in den Umschlag, wobei sein Blick unbewusst auf die ersten Zeilen der Botschaft fiel. Es war nicht nötig, sie erneut zu lesen, den Text kannte er auswendig:
Ich töte gerne Menschen, weil es so viel Spaß macht. Viel mehr Spaß, als Tiere im Wald zu töten, weil Menschen zu jagen viel gefährlicher ist als die Jagd auf irgendein Wild. Es ist das Aufregendste, was ich je erlebt habe, viel besser als ein Mädchen zu vögeln …
Dann griff er nach einem Handtuch, verteilte ein paar Tropfen Wasser darauf und befeuchtete damit die Briefmarke, die er anschließend auf den Umschlag klebte. Bloß keine DNA-Spuren hinterlassen.
Den Brief würde er erst Tage später einwerfen, etliche Kilometer von seinem Wohnort entfernt, in einer anderen Stadt. Am liebsten hätte er es sofort getan, aber das ging nicht. Es gab einen Plan, und an den musste er sich halten. Alles war vorbestimmt, erst aus der Parallelität der Ereignisse würde Schönheit entstehen.
Später am Abend verließ er das Haus, setzte sich in seinen Wagen und fuhr ziellos durch den nächtlichen Regen. Aus den Boxen drangen die Lieder seiner Lieblings-CD, alles amerikanische Hits aus den Sechzigern. Dion besang mit schnoddriger Stimme seine „Runaround Sue“, The Animals über „The House of the Rising Sun” und die Scheibenwischer schwangen im Takt dazu.
An einer roten Ampel blieb er stehen. Fußgänger überquerten die Fahrbahn, hasteten nach Hause, zu ihren Partnern, ins nächste Restaurant. Sie waren Statisten in einem Film, in dem er die Hauptrolle spielte, und in diesem Film ging es um das perfekte Verbrechen. Er hatte sich lange damit beschäftigt und es früher schon für möglich gehalten, aber das waren nur Gedankenspiele gewesen. Eine intellektuelle Herausforderung frei nach dem Motto: Was wäre, wenn? Wie würde ich es anstellen, einen Menschen zu töten, ohne dabei gefasst zu werden?
Es war nicht so, dass er sich konstant und über Jahre hinweg mit dieser Frage beschäftigt hätte. Die Gedanken waren gekommen und gegangen, manchmal ausgelöst durch einen Film im Kino, manchmal durch Presseberichte über ungeklärte Mordfälle. Aber als es soweit war, als er tun musste, was er getan hatte, fühlte er sich durch die Gedankenspiele auf seltsame Weise vorbereitet.
Schon ein einzelner perfekter Mord wäre eine große Sache gewesen. Aber eine perfekte Serie war ungleich größer, und er wusste viel über Serienmörder. Hatte unzählige Dokumentationen gesehen und hunderte Bücher gelesen und ihm war immer klar gewesen, in wessen Fußstapfen er treten wollte, wenn es einmal soweit sein sollte.
Dass es dann so schnell dazu gekommen war, konnte nur eine Fügung des Schicksals gewesen sein. Plötzlich hatte er tun müssen, was er insgeheim vielleicht schon immer tun wollte. Die Herausforderung annehmen. Der Beste werden und ihn übertrumpfen.
Dann schaltete die Ampel auf Grün, er legte den ersten Gang ein und fuhr los. „Ja“, flüsterte er, während der Wagen durch die Nacht glitt und glänzende Spuren auf dem nassen Asphalt hinterließ. „Ja, das werde ich!“
Die Wischer bewegten sich hin und her wie nickende Köpfe.
*
Als Eva an diesem Abend nach Hause kam, war sie immer noch wütend auf Brock. Nicht, weil dieser Idiot zufällig auf etwas gestoßen war, was ihr bislang verborgen geblieben wäre, sondern weil er versucht hatte, sie vor ihrem Kollegen wie ein Dummchen dastehen zu lassen.
Dabei war ihr selbst die Übertötung der Leichen bereits am ersten Tag aufgefallen, ebenso wie Oliver, und ebenso gut wie er wusste sie auch, dass dies auf einen persönlichen Hass des Täters gegen seine Opfer hindeutete. Für diesen Schluss brauchte sie weiß Gott keinen Fallanalytiker, und schon gar keinen wie Brock.
Was für ein arrogantes, eingebildetes Arschloch … Anders als Oliver war sie auch keineswegs davon überzeugt, dass er wirklich etwas draufhatte. Außer vielleicht, sämtlichen hohen Tieren so tief in den Hintern zu kriechen, bis nur noch seine polierten Schuhspitzen herausschauten.
Letzten Endes war sein Auftauchen wohl auch eine Folge des Drucks, den die Medien in den vergangenen Tagen ausgeübt hatten. Sie hatten die Polizeiführung angegriffen, als wenn die ausbleibenden Fortschritte bei den Ermittlungen ein genauso verabscheuungswürdiger Akt wie die Morde selbst wären.
Im Grunde hatte Eva nichts gegen diese Sichtweise einzuwenden – es war ihr Job, Mörder zu fassen, und wenn ihr das nicht gelang, musste sie sich die Frage gefallen lassen, warum.
Nicht so gut konnte sie dagegen mit den daraus resultierenden Einmischungen des Polizei- und Justizapparats leben, die in den meisten Fällen eher störend als hilfreich waren. Für den Polizeipräsidenten, dem man im Kollegenkreis starke Ambitionen auf den Posten des Oberbürgermeisters nachsagte, war Brock nur eine weitere Möglichkeit, um den Druck auf seine Untergebenen zu erhöhen – und von sich selbst dann gegenüber der Presse behaupten zu können, wirklich alles versucht zu haben ….
Sich weitere Grübeleien verbietend stand Eva auf und ging in die Küche, um ihre Katzen zu füttern. Dabei warf sie auch einen Blick in den Kühlschrank, fand aber nichts, worauf sie Appetit hatte, und schaute im Gefrierfach nach. Sie wusste nicht, wann sie die in der hintersten Ecke stehende Linsensuppe eingefroren hatte, entschied aber nach kurzer Überlegung, dass diese noch essbar sein musste.
Während die Tupperdose sich in der Mikrowelle drehte, zog Eva ihren ausgeleierten Wohlfühl-Jogginganzug an und machte es sich wieder auf dem Sofa bequem. Warum auch nicht? Die Wahrscheinlichkeit, dass sie überraschend Besuch bekam, tendierte gegen Null. Überhaupt schien diese trostloseste aller Zahlen momentan ihr Leben zu bestimmen: Null Sex, null Fahndungserfolg und null Aussichten, dass sich an einem dieser Punkte bald etwas ändern würde.
Nach wenigen Minuten signalisierte die Mikrowelle piepsend, dass ihr Abendessen fertig war. Eva aß die Suppe zur Hälfte auf und entsorgte den Rest in der Toilette, dann setzte sie sich an den Rechner, um zu sehen, ob Lars schon geantwortet hatte.
Hatte er.
Anders als gestern fiel seine Mail jedoch verhältnismäßig kurz aus.
Hallo Eva!Habe heute nicht viel Zeit, deshalb nur: Du gefällst mir. Ich würde dich gerne kennenlernen.Liebe Grüße, Lars
Verwundert blickte sie auf den Bildschirm.
Schau mal einer an, dachte sie …, vielleicht ist der Kerl ja doch nicht ganz so schüchtern, wie er auf dem Profilfoto aussieht.
Insgeheim freute Eva sich über sein Interesse, auch wenn ihr das eigentlich zu schnell ging. Sie kannte ihn doch gar nicht und hätte gerne zuerst mehr über ihn erfahren, bevor sie sich auf ein Treffen einließ. Andererseits - was sprach schon dagegen? Man konnte doch unverbindlich etwas trinken gehen und sich nett unterhalten, vielleicht sogar für ein, zwei Stunden die Morde, Brock und alles, was damit zu tun hatte, vergessen. Außerdem hatte sie diesem Lars geschrieben, dass sie Polizistin war, was sein Interesse nicht gemindert hatte. Ein typischer Internet-Stalker würde von einer Frau aus ihrer Berufsgruppe doch sicherlich die Finger lassen.
Also stell dich nicht an, Eva … du musst irgendwas in deinem Leben ändern.
*
Marco Brock schaute nachdenklich auf den nackten Körper, der neben ihm lag. Diese Laura – oder Lara? – hatte er gestern Abend in einer angesagten Bar auf der Friesenstraße aufgerissen, danach war alles sehr schnell gegangen. Jetzt, ein paar Stunden später, überlegte er, was er mit ihr machen sollte. Für eine 23-Jährige war das, was zuvor im Bett passiert war, zwar ganz passabel gewesen, allerdings auch nichts, was nach einer Wiederholung geschrien hätte.
Vorsichtig hob er den Kopf und warf einen Blick auf den Digitalwecker, der auf der mit Klavierlack überzogenen Kommode neben dem Bett stand. Die rötlich schimmernden Ziffern zeigten 3:27 Uhr an. Zeit, die Kleine wieder loszuwerden.
„Aufwachen“, sagte er und schlug ihr aufmunternd auf den Hintern.
Sie wälzte sich schlaftrunken auf den Rücken. „Was ist denn?“
„Du musst nach Hause.“
„Muss ich nicht“, krächzte sie.
„Süße … habe ich dir nicht gesagt, dass ich zu viel Nähe am Anfang einer Beziehung nur ganz schlecht vertrage? Bindungsangst, verstehst du?“
„Aber …“
„Ich bin sicher, dass eine so einfühlsame Frau wie du dafür Verständnis hat, und ich kenne mich ja – wenn ich nicht bedrängt werde, bekomme ich das irgendwann in den Griff. Ich melde mich dann bei dir, okay?“
Sie richtete sich auf und schaute ihn wütend an. „Mal abgesehen davon, dass du dir deine lahmen Ausreden schenken kannst: Du erwartest doch nicht im Ernst, dass ich mitten in der Nacht nach Hause laufe?“
„Natürlich nicht“, sagte er und lächelte sie an. „Ich rufe dir sofort ein Taxi.“
Als Lara oder Laura kurz darauf seine Wohnung verlassen hatte, ging er an die im Esszimmer stehende Bar und mixte sich, nur mit einer Unterhose bekleidet, einen Cuba Libre. Er war jetzt wieder hellwach, an ein schnelles Einschlafen war nicht zu denken, und wenn er sowieso keine Ruhe finden würde, konnte er sich ebenso gut mit dem Fall beschäftigen.
Zuerst rief er sich die Begegnung mit Eva Lendt und Oliver Lamprecht in Erinnerung. Die beiden machten keinen inkompetenten Eindruck, die Übertötung der Leichen musste ihnen also auch selbst schon aufgefallen sein. Er befürchtete aber, dass sie diesem Umstand bislang zu wenig Bedeutung beigemessen hatten.
Polizisten waren Gewohnheitstiere, und als solche bissen sie sich gerne in Spuren und Verdächtigen fest, die nahelagen. Unterstützt wurden sie dabei durch die Statistik: Die überwältigende Mehrzahl aller Tötungsdelikte waren Beziehungstaten. Wenn eine Frau umgebracht wurde, war es der Mann, der Freund, der Bruder. Kinder wurden von ihren Eltern getötet, Eltern von ihren Kindern. Fast immer kannten Täter und Opfer sich. Hass, Liebe und Geldgier waren die vorherrschenden Motive und wenn man dies beherzigte, hielt man in 95 Prozent aller Fälle schon den Schlüssel zur Lösung in der Hand.
Gleichzeitig konnte diese Statistik aber auch ein Hemmschuh sein, gerade dann, wenn die Taten von dem gewohnten Muster abwichen, was bei dem Doppelmord am Heider Bergsee nicht unwahrscheinlich war. Hier schien es möglich, dass zwischen Opfern und Täter keine persönliche Beziehung bestanden hatte, dass der Grund für die Morde einzig und allein in der puren Lust am Töten bestand.
So etwas kam selten vor, war aber nicht ausgeschlossen. Gerade in seiner Zeit in den USA hatte er einige solcher Fälle erlebt, ganz zu schweigen von solch berühmten Serienmördern wie Ted Bundy oder Jeffrey Dahmer, mit deren Geschichte er sich während seiner Ausbildung zur Genüge beschäftigt hatte. Diese Art von Morden war es auch, die sein generelles Interesse an Ermittlungen weiterhin aufrecht hielt. Wenn er ehrlich zu sich war, hatten ihn Einzeltaten und deren Aufklärung noch nie besonders interessiert. Ganz anders als Serienverbrechen, an denen zig andere sich bereits die Zähne ausgebissen hatten.
Dieses Gefühl, wenn man einem über Jahre hinweg unbekannten Mörder endlich ein Gesicht verlieh … wenn man schließlich hinter seine Beweggründe und Motive blickte … es war mit nichts zu vergleichen!
Die ultimative Befriedigung des eigenen Egos, noch verstärkt dadurch zu wissen, dass man der Menschheit einen Dienst erwiesen hatte – das Gefühl war unbeschreiblich, und Brock spürte, wie er nach einem solchen Fall geradezu lechzte. Er hatte sich lange aus diesem Spiel verabschiedet, vielleicht schon zu lange, und der Doppelmord am Heider Bergsee konnte der Fall sein, der ihn wieder hineinzog.
Ob er noch einen zweiten Cuba Libre trinken sollte? Er entschied sich dagegen. Morgen würde er einen klaren Kopf brauchen, denn egal wie viel Rückendeckung er vom Polizeipräsidenten bekam: Wenn es ihm nicht gelingen sollte, den richtigen Ansatz zu finden und die ermittelnden Beamten dann auch von seiner Theorie zu überzeugen, würde es keinen schnellen Fahndungserfolg geben. Ganz zu schweigen von dem Knacks, den sein Selbstbewusstsein dadurch erleiden würde …