Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Moritz Fuchs, Kriminalkommissar in Offenbach, steht vor einem Rätsel: Welche Identität versteckt sich hinter dem Skelett, das in einer alten Fabrik entdeckt wurde? Was hat das Amulett, das bei dem Skelett gefunden wurde, mit Melanie Neumann zu tun, die auf der Flucht vor ihrer autoritären Mutter Deutschland verlassen und in Paris ihr Kunststudium weiterführen wollte? Warum wartete ihr Freund, der Medizinstudent Omar Aziz, vergeblich am Gare de l'Est auf sie?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 80
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ilka-Maria Hohe-Dorst
Die alte Fabrik
Ein Offenbach-Krimi
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Epilog
Impressum neobooks
Ingo hatte ein Gespür für die Sprache des Windes, seit ihm vor einem Jahr fast der linke Fuß erfroren wäre. Die eisigen Böen, die ihm von Osten entgegenwehten, verhießen für die Nacht nichts Gutes, deshalb erhob er sich von seiner Parkbank, stopfte seine Habe in zwei Plastiktüten und machte sich auf den Weg zur Gerberstraße, um die Nacht in der Notunterkunft der Diakonie zu verbringen.
Er hatte diese Einrichtung gemieden, seit ihm bei seinem ersten Besuch, als er tief schlief, das zusammengebettelte Geld gestohlen worden war. Aber heute hatte er keine Wahl, die Temperatur war bereits weit unter dem Gefrierpunkt und fiel spürbar weiter. Er fluchte, weil er sich nicht schon früher auf den Weg gemacht hatte, denn vom Leonhard-Eißnert-Park bis in die Offenbacher Innenstadt hatte er eine gute halbe Stunde zu gehen.
Oft hielt er sich für verrückt, immer wieder den weiten Weg die Bieberer Straße hinauf und wieder hinunter zu trotten, doch die Atmosphäre des Parks und die Nähe des Fußballstadions zogen ihn magisch an, denn sie weckten Erinnerungen an die Tage seiner Kindheit und Jugend. Wenn er seinen Rundgang durch die Grünflächen machte und an dem Wassersprühfeld vorbeikam, sah er sich wieder als kleinen Jungen im Sommer unter den kühlenden Fontänen herumtollen, die aus den sandsteinfarbenen Betonskulpturen in die Höhe schossen. Sie standen auf einer großen Lichtung, während sich das Fußballstadion im Südteil des Parks erhob und sein Anblick in Ingo Bilder von jenen glücklichen Tagen aufsteigen ließ, als er und sein Vater viele Jahre lang kein einziges Heimspiel der Offenbacher Kickers verpassten.
Für gewöhnlich ruhte sich Ingo nach seinem Spaziergang auf einer Bank aus und nahm sein karges Abendbrot ein. Hier hatte er Ruhe vor den anderen Obdachlosen, die entweder vor den Supermärkten saßen und bettelten oder sich in Grüppchen auf einer Bank in der Innenstadt niederließen, um sich zu betrinken. Er genoss es, allein zu sein.
Ingo hatte den Ausgang des Parks fast erreicht, als ihn der Klang schwerer Schritte und das Knacken von Zweigen aus seinen Gedanken riss.
„He, Alter, wohin so eilig?“
Ingo hielt den Kopf gesenkt und ging in unverändertem Tempo weiter. Anpöbeleien war er gewohnt.
„Hast wohl deinen stolzen Tag heute, du Penner.“
Drei junge Männer waren von einem Nebenweg auf den Hauptweg getreten und versperrten ihm den Weg. Ingo blieb stehen und blickte auf, bemüht, eine gelassene Haltung zu bewahren. Er hielt es für klug, höflich zu antworten, um eine Provokation zu vermeiden.
„Ich bin der Ingo. Muss wohin, wo’s warm ist.“
Einer der Männer trat dicht an ihn heran. Er wirkte jünger als die anderen beiden, schien aber genügend Autorität zu genießen, um sich in der Rolle des Anführers zu sehen.
„Oho, mächtig interessant, aber nach deinem Namen hat dich keiner gefragt.“ Er schlug einen ironischen Ton an: „In-goo. Klingt das nicht ein bisschen zu hübsch für ein faules Schwein, das sich mit steuerfreiem Geld durchs Leben mogelt?“
Bei den letzten Worten faustete er Ingo mehrmals hart gegen die Brust, so dass dieser ins Taumeln geriet. Doch es gelang ihm, auf den Beinen zu bleiben. Weil er nicht einschätzen konnte, ob die Männer ihn nur einschüchtern wollten oder ob es sich um das Vorspiel zu einer Gewalttätigkeit handeln sollte, ließ er seine Plastiktüten fallen und rannte los.
Er erreichte den Ausgang und raste die Bieberer Straße hinunter, auf der wie immer ein reger Autoverkehr herrschte. Doch darauf mochte sich Ingo nicht verlassen, denn hinter dem Saum der geparkten Autos war von der Fahrbahn aus schlecht zu sehen, was sich auf dem Gehweg abspielte. Hinter sich hörte er eilige Schritte. An der Ecke des Bierbrauerwegs wagte er stehenzubleiben und zurückzuschauen, wer im gefolgt war. Er sah einen Jugendlichen, der die Straße entlangrannte, wobei er sich immer wieder nach dem Bus umsah, dessen Lichter Ingo unterhalb des Fußballstadions erkennen konnte. Wahrscheinlich wollte der Junge die nächste Haltestelle erreichen, bevor der Bus dort ankam.
Weiter oben sah er die drei Männer, die ihn angepöbelt hatten, den Bieberer Berg herunterschlendern. Sie winkten Ingo zu und grölten etwas, das er nicht verstand. „Sie wollen mir nur Angst machen,“ versuchte er sich zu beruhigen, doch unvermittelt setzten die Männer zum schnelleren Lauf an. Ingo rannte wieder los, den Bierbrauerweg entlang, vorbei am großen Parkplatz, der den Fußballfans bei den Spielen der Kickers zum Abstellen ihrer Autos diente, und bog auf der linken Seite in den schmalen, kurzen Seitenweg der Daimlerstraße ein, der in eine breitere, zweispurige Fahrbahn mündete. Mit diesem Kurs hoffte er, die jugendlichen Rüpel abgehängt zu haben, obwohl er mit seinen zweiundvierzig Jahren kein schneller Läufer mehr war. Ausgepumpt blieb er neben einem Baustellenzaun stehen und vergewisserte sich mit einem Blick zurück, dass ihm die Männer nicht gefolgt waren. Auch sonst war weit und breit niemand zu sehen.
Er lehnte sich mit der Schulter gegen das Zaungitter, bis er wieder ruhig atmen konnte. Aber frei von Sorge war er nicht. Die Lümmel konnten es sich anders überlegt haben und jederzeit aus der Dämmerung auftauchen, um ihn zu demütigen, zu beleidigen, zu schlagen und zu treten. Es wäre nicht das erste Mal. Er musste ein sicheres Versteck zum Schlafen finden, denn er fühlte sich zu abgekämpft und energielos, seinen Weg bis in die Innenstadt fortzusetzen.
Die Zaungitter umschlossen das Gelände eines kleinen, verlassenen Fabrikgebäudes. Ingo hob eines der Gitter hoch, dessen Rahmenfuß in einem Betonklotz steckte, hakte es von der Seitenhalterung los und drückte es weit genug nach innen, dass er durch die Öffnung schlüpfen konnte. Dann hakte er das Gitter wieder ein.
Die Eingangshalle des alten Gemäuers verriet Ingo nichts mehr von dem, was sich einst an geschäftigem Leben hier abgespielt haben mochte. Da sie nicht großflächig und völlig ausgeräumt war, bot sie ihm kein geeignetes Versteck. Ohne lange zu überlegen, suchte er in den Nebengängen die Treppe zum Keller und stieg hinab. Er inspizierte die Räume, so gut es in der Dunkelheit ging. Zufrieden stellte er fest, dass sie trocken waren und weder nach Moder noch nach Schimmel rochen. In einem Raum standen ein Heizkessel und eine Reihe leerer Kanister, in einem anderen waren Kisten gestapelt, die sich beim Dranklopfen hohl anhörten, in einem weiteren Raum befanden sich alte, eingestaubte Maschinen, deren Zweck Ingo nicht klar war. Als er einen Hinterausgang fand, von dem eine Treppe auf das Hofgelände führte, konnte er sein Glück kaum fassen: Er hatte für alle Fälle einen Fluchtweg gefunden.
Für sein Nachtdomizil wählte Ingo eine Kammer direkt beim Hinterausgang, in der sich nichts weiter als Planen befanden, die an der hinteren Wand wie achtlos hingeworfen übereinanderlagen. Da seine Plastiktüten mit den wenigen Schätzen, die er besessen hatte, verloren waren, kamen ihm die Planen recht. Er nahm sich eine und faltete sie zu einem Kissen zusammen, auf das er seinen Kopf betten konnte. Eine weitere Plane diente ihm als Unterlage, eine dritte zog er über seinen Mantel, um sich gegen die Kälte zu schützen. Da er in der Dunkelheit nichts anderes mehr tun konnte, schloss er die Augen und schlief ein.
Der Mond war noch in der Phase des Verblassens, als Ingo vom Knurren seines Magens erwachte. Er schätzte die Zeit auf halbsieben, maximal sieben Uhr, bis zum Aufgang der Februar-Sonne dauerte es also noch eine knappe Stunde. Nachdem er sich daran erinnert hatte, wie er in diesen Kellerraum gekommen war, schlug er die Plane zurück, mit der er sich zugedeckt hatte, und stand auf. Aus seiner Manteltasche klaubte er das Kleingeld, das er am Tag zuvor erbettelt hatte, trat unter das Kellerfenster und zählte im schwachen Lichtschein, der von den Straßenlampen zu ihm drang, seine Münzen. Viel war nicht zusammengekommen, aber für ein zünftiges Frühstück und einen Becher Kaffee würde es reichen.
Während er die Münzen nach ihrem Wert auf der Hand sortierte, stieß er versehentlich zwei davon über den Rand, so dass sie zu Boden fielen. Er hörte ihr Klacken, bückte sich und tastete danach, bekam sie aber nicht zu fühlen.
„Verdammt!“
Warum mussten es ausgerechnet die Zwei-Euro-Münzen sein, von denen er nicht allzu häufig welche bekam? Er ärgerte sich über seine Ungeschicklichkeit, konnte aber nichts tun, als abzuwarten, bis es heller wurde und er den Boden deutlicher sehen würde.
Um die Zeit bis zur Dämmerung totzuschlagen, begann er, seine Planen aufzunehmen, zusammenzulegen und sie in einer Ecke des Raums aufzuschichten. Er machte sich keine Gedanken darüber, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Mensch jemals wieder Gebrauch von ihnen machen würde. Aber Ordnung lag ihm nun einmal im Blut. Und Sauberkeit. Er hatte nie verstanden, dass viele der Obdachlosen, deren Bekanntschaft er umständehalber machen musste, sich in Dreck und Speck verkommen ließen.
Als er mit seinen Planen fertig war, nahm er sich den Stapel an der Wand vor und faltete Stück für Stück zu ordentlichen, mehrlagigen Vierecken, die er weiter aufschichtete. Draußen war der Tag angebrochen, und im Keller wurde es immer heller, so dass Ingo endlich eine seiner beiden Zwei-Euro-Münzen sehen konnte. Der Rand der untersten Plane musste sie vor dem Wegrollen bewahrt haben. Freudig griff er nach dem Geldstück, steckte es in die Manteltasche und tastete mit der Hand an der Stelle, wo der Rand der Plane eine Welle gebildet hatte, nach dem zweiten Geldstück, das vom Fundort des ersten nicht weit weg sein konnte.