Die andere Gesellschaft - Heinz Buschkowsky - E-Book

Die andere Gesellschaft E-Book

Heinz Buschkowsky

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Beschreibung

In diesem Buch beschäftigt sich Heinz Buschkowsky mit der Frage, wie unsere Gesellschaft durch Migration verändert wird. Echte Integration versus Parallelgesellschaften. Werden wir einen gemeinsamen Weg finden? Auf welche Werte kommt es dabei an? Warum sind viele Einwanderer in ihrer neuen Heimat traditionsbewusster, als sie es am Herkunftsort waren? Warum zelebrieren sie oft das Anderssein? Was interessiert sie wirklich an Deutschland? Für sein neues Buch hat Bestsellerautor Heinz Buschkowsky mit Sozialarbeitern gesprochen; er lässt Imame und Islamaussteiger zu Wort kommen, verschleierte Frauen, die nicht allein ins Kino dürfen, und Männer, die von großen Autos träumen, aber Hartz-IV-Empfänger sind. Heinz Buschkowsky entwirft ein aufrüttelndes Szenario für die Zukunft. Wird sich unsere Gesellschaft zu einer anderen entwickeln?

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Das Buch

Warum sind viele Einwanderer in ihrer neuen Heimat traditionsbewusster, als sie es am Herkunftsort waren? Warum zelebrieren sie oft das Anderssein? Was interessiert sie wirklich an Deutschland? Für sein neues Buch hat Bestsellerautor Heinz Buschkowsky mit Sozialarbeitern gesprochen; er lässt Imame und Islamaussteiger zu Wort kommen, verschleierte Frauen, die nicht alleine ins Kino dürfen, und Männer, die von großen Autos träumen, aber Hartz-IV-Empfänger sind. Heinz Buschkowsky entwirft ein aufrüttelndes Szenario für die Zukunft. Wird sich unsere Gesellschaft zu einer anderen entwickeln?

Der Autor

Heinz Buschkowsky, dessen erstes Buch Neukölln ist überall wochenlang Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste war, ist seit 2001 Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln. Hier leben Menschen aus 160 Nationen. Der Stadtteil ist durch hohe Arbeitslosigkeit, Armut und eine erhöhte Kriminalitätsrate geprägt. Buschkowsky setzt sich besonders für die bessere Ausbildung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ein, für eine Kindergartenpflicht und Ganztagsschulen.

Heinz Buschkowsky

DIE ANDERE GESELLSCHAFT

Ullstein

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ISBN: 978-3-8437-0955-2

© 2014 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Sabine Wimmer, BerlinUmschlagfoto: Hans Scherhaufer

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.

Ferdinand Lassalle (1825–1864)

Inhalt

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Widmung

Vorwort

Wir und heute

Was uns unterscheidet

Denn wir wissen nicht, was wir wollen

Der Gegencheck

Die Antithese

Die nächste Generation

Die Angekommenen – Klare Sichtweisen

Sind wir nun klüger?

Das kollektive Abtauchen

Aus dem Alltag der anderen Gesellschaft

Enttarnter Fundamentalismus oder heimtückische Islamophobie

Schule kontra Sandkastenspiele

Kindergärten backen Soft Skills

Schlussspurt

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Vorwort

Genau genommen sind eigentlich Sie schuld daran, dass dieses Buch entstanden ist. Es ist mein zweites. Der eine oder andere wird vielleicht denken oder sogar sagen: Hoffentlich sein letztes. Die Reaktionen auf Neukölln ist überall haben mich überwältigt. Bei Veranstaltungen oder auch persönlichen Treffen durfte ich erfahren, dass es viele Menschen gibt, die sich wie ich Gedanken um die Entwicklung unserer Gesellschaft machen. Sie haben mich schriftlich oder in Gesprächen wissen lassen, was sie von meinen Berichten, Beobachtungen und Schlussfolgerungen halten. Mal ausführlich, mal kurz und knapp, mal nett, mal weniger freundlich. Dabei ging es immer sehr schnell über den engen Aspekt der Integration hinaus. Deshalb ist dies auch vordergründig keine Fortsetzung meines Buches über Integrationsprobleme und Integrationsschwierigkeiten an sich, sondern ich widme mich der Frage, was Einwanderung in einer Gesellschaft bewirkt. Welche Spuren hinterlassen Einwanderer, welche legen sie neu? Spuren, die oftmals unsichtbar, aber doch nachhaltig sind.

Der Titel »Die andere Gesellschaft« ist bewusst mehrdeutig. Die andere Gesellschaft kann die sein, die sich in den letzten Jahrzehnten in unserem Land ganz allgemein entwickelt hat. Die sich aber, wie ich finde, ein gehöriges Stück von der entfernt hat, die mich mit ihren Werten geprägt hat. Die andere Gesellschaft kann die anderer Ethnien sein, die mit ihren kulturellen, religiösen und zivilisatorischen Eigenheiten auch unseren Alltag prägen. Eine andere Gesellschaft kann auch religiös dominiert sein mit Sichtweisen oder Bekenntnissen, wie wir sie aus unserer Historie noch nicht kannten. Hat sich doch die deutsche Gesellschaft bisher auf ihre christlichen Wurzeln berufen und sich auch als eine solche Gemeinschaft verstanden. Wir hatten auch in meiner Familie Berührungspunkte zum hinduistischen Glauben, aber das fiel doch eher unter die Überschrift »exotischer Einsprengsel«, weil ein Cousin eine Inderin oder umgekehrt geheiratet hatte.

Die Wortschöpfung der »christlich-jüdischen Tradition« durch einen früheren Bundespräsidenten habe ich bewusst vermieden. Sie ist meiner Meinung nach aus der Historie nicht abzuleiten. Natürlich haben das Judentum und seine Angehörigen der kulturellen Entwicklung in den letzten Jahrhunderten sichtbare, erlebbare und auch entscheidende Prägungen gegeben. Das war jedoch keine gemeinsame Tradition. Das Verhältnis war fast über die gesamte Zeit eher von Unterdrückung, Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Gemeinschaft gekennzeichnet. Der Antisemitismus war keine Erfindung der Nationalsozialisten.

Eine Gesellschaft entwickelt und wandelt sich. Ständig, das ist ganz natürlich. Wenn ein Mensch sich schon in einem etwas fortgeschrittenen Lebensalter befindet wie ich, dann neigt er zur Reminiszenz. Ob das Jetzt und Heute einen Fortschritt gegenüber dem darstellt, was ihm von den Eltern und Großeltern mit auf den Weg gegeben wurde oder was ihn an Erlebtem geprägt hat. »Früher war alles besser« ist dabei ein recht häufiges, aber genauso falsches Urteil. Es kann nicht alles besser gewesen sein, sonst wären schreckliche Fehlleistungen der Menschheit oder einzelner Gesellschaften nicht erklärbar.

Zu meiner eigenen Person, Jahrgang 1948, kam also drei Jahre nach dem Ende des entsetzlichen Krieges und des Naziterrorregimes auf die Welt. In eine Zeit hineingeboren, in der Sieger ebenfalls darangingen, anderen ihre Sichtweise aufzuzwingen. Ich meine die Blockade. Wer weiß, wie alles gekommen wäre, wenn die Westalliierten nicht der Landnahme durch die damalige Sowjetunion getrotzt hätten. Irgendwie drängt sich mir beim Schreiben dieser Zeilen als Vergleich die Krisensituation in der Ukraine auf. Auch wenn ich heute nicht weiß, wie sich die Lage dort bis zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buches entwickeln wird.

Ich bin mit ganz einfach zu verstehenden und – wie ich bis heute finde – auch ganz selbstverständlichen Wegweisungen in mein Leben entlassen worden.

Jeder Mensch ist erst einmal für sich selbst verantwortlich. (Jeder ist seines Glückes Schmied.)Wenn du etwas haben willst, dann musst du etwas dafür tun. (Von nüscht kommt nüscht.)Der Starke hat sich um den Schwachen zu kümmern. (Wer zwei Hemden hat, gebe dem eines, der keines hat.)

Diese ganz banalen Lebensweisheiten entwickeln, wenn man sie verinnerlicht, auch praktische Bedeutung für die Gestaltung des eigenen Weges. »Jeder Mensch ist erst einmal für sich selbst verantwortlich« ist die klare Ansage, dass ich selbst dafür sorgen muss, dass es mir einmal so gut geht, wie ich es mir erträume. Daraus abgeleitet, gibt es viele Volksweisheiten. »Hast du was, dann bist du was«, lautet eine. Viel profaner ist der Ratschlag, die Nase ins Buch zu stecken, der Lehrerin oder dem Lehrer zuzuhören, bei der Berufswahl wachsam zu sein und den Müßiggang, heute nennt man das Chillen, nicht die Oberhand über sich selbst gewinnen zu lassen.

»Wenn du etwas haben willst, musst du etwas dafür tun« – den Sinn dieses Satzes kann man auch ohne ein mehrsemestriges Studium verstehen. Man kann auch »keine Leistung ohne Gegenleistung« formulieren oder »ohne Schweiß kein Preis«. »Sich regen bringt Segen«, sagte die Oma. Dahinter steckt aber auch ein Stück die tiefgründige Philosophie, dass jeder Mensch zwar selbst seinen materiellen Status beeinflussen kann, dass er aber auch Teil des Ganzen ist. Wer emsig am eigenen Wohlstand schafft, stärkt damit bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt auch die Gemeinschaft, sprich die Gesellschaft. »Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann, fragt, was ihr für euer Land tun könnt« ist ein berühmter Satz von John F. Kennedy. Eigenverantwortung, Selbstdisziplin, Fleiß, all das sind einschlägige Begriffe für mich. »Suchet der Stadt Bestes (…), denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl«, schrieb schon Jeremia an die Israeliten (Jeremia 29, 1.4-7). Also so neu nicht.

Der Starke hat sich um den Schwachen zu kümmern und nicht auf ihn hinabzuschauen, wenn der es selbst nicht schafft. Das nennt man Solidarität, und es ist der Auftrag aus unserem Sozialstaatsprinzip. Der Sozialstaat, der jedem garantiert, dass er sein Leben frei von existentieller Bedrohung oder sogar Vernichtung leben kann. Niemand soll in unserem Land ohne Obdach sein, niemand soll auf der Straße verhungern, und niemand soll vom Wissen ferngehalten werden, nur weil das eigene Elternhaus nicht so betucht ist wie andere. Das beinhaltet aber auch, dass jeder Einzelne, der über Schultern verfügt, die mehr tragen können als die Last des eigenen Schicksals, seinen Teil dazu beiträgt, dass die Gemeinschaft denen, die es nicht so gut packen, zur Seite stehen kann.

Das Leben kann grausam sein. »Doch mit des Geschickes Mächten / Ist kein ew’ger Bund zu flechten / Und das Unglück schreitet schnell«, hat uns der Dichter Friedrich von Schiller gelehrt. Deswegen ist es völlig fehl am Platze, mit dem Finger auf »die da« zu zeigen, denen es nicht so gut geht wie einem selbst, und zu glauben, man sei denen überlegen und sie hätten es nicht besser verdient. Treffen kann es jeden, schon heute Nachmittag oder morgen. »Hochmut kommt vor dem Fall« trifft es genau.

Sind die vorstehenden Grundsätze heute immer noch unbestritten? Sind sie nach wie vor das Rüstzeug für den Lebensweg, das Eltern ihren Kindern als Voraussetzung für ein erfülltes Leben mit auf den Weg geben? Diesen Fragen habe ich mich zu nähern versucht. Aus den Realitäten meines Umfeldes heraus, also unter den Rahmenbedingungen einer Großstadt. Die sind nicht zu vergleichen mit den etwas entspannteren Lebensformen auf dem flachen Land, in Dörfern und Kleinstädten. Dort lebt sich’s betulicher.

Mich umgibt nicht nur die Großstadt allein, sondern dazu ein sich sozial sehr diffizil entwickeltes Gemeinwesen. Ich meine natürlich Neukölln. Früher nannte man ein solches Gebiet in Großstädten Arbeiterbezirk. Hier ist in den letzten 40 Jahren die übliche Durchmischung der Bevölkerung etwas aus dem Ruder gelaufen. Die prekären Lebensverhältnisse eines großen Teils der Bevölkerung sind nicht zu übersehen. Sie sind im Alltag evident. Streckenweise sogar ein dominierender Faktor. Das ist aber nichts Neues. Schon meine Mutter berichtete mir davon, in welcher Armut ihre Familie mit zwölf Kindern in den ersten beiden Jahrzehnten des vorherigen Jahrhunderts lebte. Dagegen geht es einem heutigen Hartz-IV-Haushalt ausgesprochen nobel. Aber keine Sorge, ich will mich nicht auf den Trip des früheren Berliner Finanzsenators begeben.

Die dritte Facette neben der Werteinkonsistenz und dem Großstadtturbo, die mein Urteil über die gesellschaftliche Entwicklung prägt, ist der Aspekt der Migration. Mich beschäftigen die neuen kulturellen Einflüsse, die durch die Einwanderung ausgelöst wurden. Die Frage, ob unsere Integrationspolitik im letzten halben Jahrhundert klug oder dumm war, ist diesmal nicht mein Thema. Mich bewegen stattdessen die Gedanken, wohin dieser Tanker, den wir Gesellschaft nennen, aus meiner Sicht steuert. Ich gebe zu, dass mir die Entwicklung Sorgen bereitet. Ich bin nicht schmerzbefreit. Das Bild, das ich male, ist nicht fröhlich. Doch wenn es mir im Alltag allzu sehr aufstößt, dann gehe ich dorthin, wo ich Freude habe an dem, was ich sehe und erlebe. Dorthin, wo junge Menschen fleißig und engagiert sind, trotz Spaß und Unfug an sich arbeiten und lernen. Dorthin, wo Eltern sich darum kümmern, was ihre Kinder den ganzen Tag tun. Oder auch dorthin, wo Lehrer mit ihren Schülerinnen und Schülern in der Gewissheit arbeiten, dass ihre Mühe übermorgen in Form gesellschaftlichen Fortschritts Früchte trägt. Das gibt es selbst in Neukölln.

Während ich dieses Vorwort schreibe, erinnere ich mich an zwei Begebenheiten. Als ich heute ins Büro fuhr, kam mir auf dem Fußweg eine Frau entgegen. Sie schob einen Kinderwagen: An ihrer linken Hand lief ein drei- bis vierjähriges Mädchen. Nichts Außergewöhnliches eigentlich. Wenn da nicht das lange wallende Gewand und der Gesichtsschleier gewesen wären. Nur ein klitzekleiner Schlitz für die Augen gab der Frau die Möglichkeit, sich zu orientieren. Man konnte nur ahnen, dass es sich um ein weibliches Wesen handelt. Die Dame trug einen Niqab.

Etwa zwei Stunden später machte ich eine kleine Pause. Ich ging an das geöffnete Fenster, um ein wenig dem Straßentreiben zuzuschauen. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig liefen zwei Frauen mit Kinderwagen, die beide mit einer Burka vollverschleiert waren.

Ich habe diese Situation als ausgesprochen symbolträchtig empfunden. Ich sitze in meinem Büro, schreibe Gedanken nieder, wohin unsere Gesellschaft sich im nächsten halben Jahrhundert entwickeln könnte, und im gleichen Moment umgeben mich kulturelle Einflüsse, die ich nicht akzeptieren mag für das Land, in das ich hineingeboren und in dem ich groß geworden bin. Das Land, das mir große Chancen und Gerechtigkeit geboten hat. Das mir als meine Heimat am Herzen liegt und zu dessen Wohlergehen ich ein halbes Jahrhundert beruflich beigetragen habe.

Schon hier im Vorwort will ich klare Position beziehen. Ich liebe dieses Land. In mir wohnt tiefe Achtung, Bewunderung und Respekt vor der Leistung all derjenigen, die diese Gesellschaft aufgebaut und geprägt haben. Ja, ich lebe gerne hier. Ich sage, wenn ich danach gefragt werde, auch durchaus mit Stolz, dass ich ein Deutscher bin. Ich flüchte mich nicht in Ersatzhülsen wie »Ich bin ein Europäer«, »Ich bin ein Demokrat« oder »Ich bin ein Weltbürger«. Ich möchte auch nicht in jedem Land dieser Erde leben. Es gibt Länder, deren Lebensbedingungen von mir nicht als besonders human und zivilisiert betrachtet werden.

Es war ein langer Weg mit viel Leid und Tränen, den unsere Gesellschaft zurücklegen musste, bis sie sich auf einer Stufe zusammengefunden hat, auf der Freiheit, Gleichheit und Solidarität keine Lippenbekenntnisse, sondern gelebte Staatsziele sind. Insofern betrachte ich die andere Gesellschaft, aus welchem Blickwinkel auch immer, mit Zurückhaltung. »Gold gab ich für Wackersteine«, warnte schon Oma. Aufgegeben und zerstört ist schnell. Besseres zu schaffen nicht immer ganz einfach. »Auferstanden aus Ruinen« ist kein Naturgesetz und ging auch schon schief.

Meine eigene Perspektive ist das Resultat subjektiver Erkenntnis. Nicht objektiv, nicht empirisch, nicht wissenschaftlich, vielleicht sogar noch nicht einmal sehr intelligent. Deswegen wollte ich es mir nicht allzu leichtmachen und werde Sie daher nicht nur mit meinen eigenen hilfsphilosophischen Betrachtungen traktieren. Ich bemühe mich, wo ich Bezug auf andere nehme, die Quellen auch zu benennen. Da ich es selbst überhaupt nicht mag, wenn mein Lesefluss ständig durch irgendwelche Fußnoten unterbrochen wird, lasse ich diese Hinweise gleich in den Text einfließen.

Ich habe mich aufgemacht und mit vielen Menschen darüber gesprochen, wie sie den Status quo und die künftige Entwicklung einschätzen. Diesem Buch liegen weit über 1500 Seiten niedergeschriebene Lebensgeschichten und Gefühlswelten zugrunde. Gespräche, die mich teilweise erschreckt haben, aber auch Gedanken, die mir Zuversicht für eine gute Zukunft vermitteln. Sofern meine Gesprächspartner nicht ausdrücklich Wert darauf legten, genannt zu werden, zitiere ich sie durchgängig anonym. Viele haben mich ermächtigt, ihre Namen zu erwähnen. Ich habe aber inzwischen gelernt, dass der Gehässigkeitsfaktor unterschätzt wird. Ich fühle mich dem Schutz meiner Gesprächspartner verpflichtet. Deshalb gebe ich meinen Ratgebern Deckung. Bestimmt werden nicht alle dieses Buch lesen. Deshalb danke ich ihnen an dieser Stelle.

Noch eines zum Schluss: Es gibt keine absoluten Wahrheiten. Noch nicht einmal in Umfragen, Berichten oder Wikipedia.

Wir und heute

Wer sich Gedanken über die Veränderungen in unserer Gesellschaft macht und beurteilen will, ob diese vorwärts- oder zurückgerichtet sind, muss zwangsläufig erst die Nulllinie finden. Den Ausgangspunkt, wie man unseren gesellschaftlichen Status quo einschätzt und definiert. Ich versuche das aus meiner Sicht.

Ich habe bereits im Vorwort das Bekenntnis abgelegt, dass ich ein Großstadtkind bin, nichts anderes kenne und das Stadtleben liebe. Das unterscheidet mich schon von einem Großteil der Menschen unseres Landes, die völlig anders sozialisiert sind. Die ihr gesamtes Leben in ländlicher oder kleinstädtischer Umgebung verbracht haben. Dort, wo die Familien seit Generationen ansässig sind und eigentlich jeder jeden kennt. Das sind komplett unterschiedliche Lebenswelten, die ich auch nur vage erahnen und beurteilen kann. Denn ich habe ja ein anderes Leben als das meinige nie erlebt. Allenfalls kann ich die nichtstädtische Gefühlswelt ein bisschen nachempfinden, seit meine Frau und ich uns vor 15 Jahren eine Ferienwohnung am Meer auf Usedom zugelegt haben. Dort ist plattes Land. Man merkt es schon bei der Anreise. Wenn Sie es mir einmal nachmachen, so werden Sie durch kleine Dörfer fahren. Früher sagte man »Fünf Häuser, sieben Spitzbuben«. Ich stelle mir immer wieder aufs Neue die Frage, was man hier um Gottes willen macht, wenn es abends dunkel wird. Wenn man es gut trifft, dann gibt es dort ein Dorfgasthaus, in dem sich eventuell ein paar Nachbarn treffen. Ansonsten bleibt nur der Fernseher, was manchmal die Höchststrafe sein kann.

Da, wo ich mein Zweitzuhause von 48 m2 gefunden habe, sind drei kleine Ortschaften zu einer Großgemeinde zusammengeschlossen worden. 9600 Einwohner zählt diese »Metropole« nunmehr. Nicht alle sind damit glücklich. Im Gemeinderat wird schon darüber gemault, was denn das Gemeinderatsmitglied X von den Bedürfnissen der Menschen im Ortsteil Y weiß. Bürgermeister wurde vor einigen Jahren das bis dato amtierende Oberhaupt einer der kleinen Ursprungsortschaften. In einem Interview hat er mittlerweile verlauten lassen, dass ihm der hektische Betrieb der Großgemeinde schon sehr zu schaffen mache und er sich nach dem übersichtlicheren Aufgabenfeld seiner früheren Tätigkeit zurücksehne.

Vergegenwärtigt man sich den Tatendrang junger Menschen, so kann es eigentlich nicht wirklich überraschen, dass sie heute meist dem Ruf der Metropolen folgen. Fernsehen und Internet bringen bunte, aufregende Bilder in die Wohnstuben und Kinderzimmer, die den Hunger wecken, selbst einmal zu schauen, wie sich die Welt dort dreht. So ziehen die jungen Leute, und zwar insbesondere die toughen, die intelligenten, die mutigen und unerschrockenen, dorthin, wo es Action gibt und es nicht so langweilig ist, wie sie es zu Hause empfinden. Ich kenne das. Denn ich sehe ja die jungen Menschen, die aus diesen behüteten Gegenden nach Neukölln kommen. Wie sie hier ausbrechen aus den vermeintlichen Fesseln des provinziellen Lebens ihrer Eltern und ihrer Kindheit. Es zieht sie in die Stadt, wo die große weite Welt nach ihnen ruft und nur darauf wartet, dass sie sie anhalten. Allen finsteren Mächten – angefangen beim Spätkapitalismus über das Spießertum bis hin zum hausverwaltenden Miethai – werden sie die Zähne zeigen.

Die ländlichen Regionen leiden durchgängig unter Bevölkerungsschwund. Im Berlin umschließenden Brandenburg nimmt das inzwischen teilweise schon dramatische Formen an. Wer mit offenen Augen durch die Ortschaften fährt, sieht leere Häuser. Manchmal in größerer Zahl, als es bewohnte gibt. Das Technische Hilfswerk findet nicht mehr genug junge Leute, um überhaupt Ortsgruppen zu gründen. Das Handwerk und die Betriebe klagen über Nachwuchsmangel. Nicht nur der allgemeine Geburtenrückgang macht ihnen schwer zu schaffen, sondern auch die Abwanderung. Die Folge sind ein immer dünner werdendes Dienstleistungsangebot und eine sehr viel schlechtere Versorgungslage, als man sie in den Städten gewohnt ist.

Allein diese Entwicklung führt schon zu einer Veränderung im Land. Ich denke auch nicht, dass man die jungen Leute zurückholen kann. Wer einmal erlebt hat, welche Möglichkeiten zur Gestaltung des Alltags in den Zentren vorhanden sind, der möchte nicht mehr dorthin zurück, wo es nicht einmal einen Arzt gibt oder bei einem Herzkasper das Überleben davon abhängt, ob der Hubschrauber gerade frei ist oder nicht.

Der Stempel, den die Großstadt meiner Lebenserfahrung aufgedrückt hat, passt natürlich nicht überall. Sie werden beim Lesen des Buches die eine oder andere Stelle finden, an der Sie das, was ich schreibe, nicht werden bestätigen können. Sie werden es vielleicht sogar entsetzlich falsch finden oder als hysterisch und überspannt abtun. Schwarzmaler, Alarmist, dies wären dann so die einschlägigen Begriffe. Ich bin Ihnen deswegen gar nicht gram. Denn ich kann es nachvollziehen, dass die Welt eines Stadtmenschen, wie die meine, nur bedingt an die Gefühlswelt von Menschen anknüpfen kann, für die Sachen, die ich fast jeden Tag erlebe, kaum vorstellbar sind. Ich habe das immer wieder bei den Vorträgen gemerkt, die ich nach der Veröffentlichung meines ersten Buches quer durch die Bundesrepublik gehalten habe. Teilweise saßen mir Menschen mit ungläubigen Augen und fassungslosen Gesichtern gegenüber, wenn ich darüber berichtete, was es so alles gibt, nicht auf der großen weiten Welt, sondern als erlebbarer Alltag bei uns.

Es hört sich nahezu infantil an, wenn ich bei der Standortbestimmung die »überraschende« Feststellung mache, dass Deutschland in Mitteleuropa liegt. Ich persönlich möchte auch, dass das so bleibt. Diese Region der Erde hat sich in den letzten Jahrhunderten einen Zivilisationsstand und ein Wertegerüst erarbeitet, das auf den Einzelnen und seine unveräußerliche Würde abgestimmt ist. Mit einem Menschenbild geprägt von individuellen Freiheiten, die jedem Menschen zustehen und ihm durch nichts und niemanden genommen werden können. Wir nennen das die bürgerlichen Freiheitsrechte oder auch Menschenrechte. Die kollektivistische Vereinnahmung als »Volksgemeinschaft« oder »Arbeiterklasse«, die das Denken für uns übernehmen wollten, führte stets in die Diktatur und Unfreiheit.

Ich würde mich damit verheben, an dieser Stelle philosophische Betrachtungen über die Entstehung und den Wert dieser unabdingbaren Freiheitsrechte eines jeden Menschen anstellen zu wollen. Wie gesagt, die westliche Welt hat dazu Jahrhunderte benötigt. Absolutismus, Sklaverei, Feudalherrschaft und Tyrannei sind heute bei uns geächtet. Und dieses Heute hat noch nicht einmal eine allzu lange Tradition. Es reicht bei uns lediglich zurück bis 1945.

Ich halte unsere Gesellschaftsform mit der Freiheit des Einzelnen, dem Respekt vor dem Individuum und der Solidarität mit dem Schwächeren ein Stück weit für die Krone der menschlichen Entwicklung zum Gemeinwesen. Nicht von ungefähr erscheinen uns bestimmte gesellschaftliche Riten in anderen Ländern dieser Erde als geradezu barbarisch. Denken Sie an die Verstümmelung von kleinen Kindern, die Steinigung von Menschen wegen des Verstoßes gegen den Verhaltenskodex. Ganz zu schweigen von grausamen Bürgerkriegen mit Hunderttausenden Toten oder vom planmäßig durchgeführten Massenmord an als minderwertig angesehenen Volksstämmen. Wer die Berichte in den Medien verfolgt und aufmerksam zur Kenntnis nimmt, der kann sich nur wünschen, dass diese Teile der Welt es schneller als wir in unserer Demokratisierungsgeschichte schaffen, den Zivilisationsprozess zur freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung zu vollenden.

Es kann nicht als Fortschritt gelten, wenn die humanitären Errungenschaften und die demokratischen Rechte durch Einwanderung und Migration unter dem Deckmantel der kulturellen Bereicherung in Frage gestellt werden. Bereits an dieser Stelle bin ich weder zu Diskussionen bereit noch kompromissfähig. Kulturelle Identität findet dort ihr Ende, wo sie sich mit den Freiheitsrechten und der Menschenwürde auf Kollisionskurs befindet. Dem Kulturrelativismus darf kein Raum zur Entfaltung gegeben werden. Dazu jedoch später.

In unserem Land haben wir Regeln für das Zusammenleben der Menschen entwickelt, die dem friedlichen Miteinander aller dienen. Toleranz gegenüber dem Andersdenkenden und Respekt vor Lebensweisen, die sich von der eigenen unterscheiden, sind eigentlich selbstverständliche Dinge. Nun ist das aber immer so eine Sache mit der Toleranz und dem Re spekt. Eigentlich erwartet sie jeder für sich von anderen. Für viele ist das jedoch eine Einbahnstraße. Sie sind nicht bereit zu akzeptieren, dass auch ein anderer eventuell recht haben kann oder sein Leben durchaus sinnvoll gestaltet, obwohl er es völlig anders organisiert. Darüber, dass diese Dinge nicht unter die Maxime »Recht hat immer der Stärkere« fallen, wachen staatliche Institutionen mit demokratisch legitimierter und kontrollierter Macht. Sie allein verfügen stellvertretend für uns alle über das Monopol, im Zweifel auch Gewalt und Zwang auszuüben, um Recht und Gesetz – als Maßstäbe unseres friedlichen Miteinanders – durchzusetzen.

Die erste Instanz, die den Auftrag hat, dem Nachwuchs jene Regeln beizubringen, sind die Eltern. Außerdem vermitteln sie ihren Kindern üblicherweise die Umgangsformen unter zivilisierten Menschen – all das, was unter die Überschrift »Was man tut und was man nicht tut« fällt. Meine haben das jedenfalls getan. Manche Hinweise fand ich gut und habe sie befolgt, gegen andere, die mir eher lästig waren, habe ich rebelliert. Aus diesem Protest der Jugend gegen bestehende Leitsätze und Normen der Gesellschaft entstehen Bewegung, Dynamik und Fortschritt. Dort aber, wo dieser Prozess des Heranwachsens der neuen Generation völlig ungesteuert voranschreitet, entwickeln sich Menschen, die mit dem Gefühl ausgestattet sind, dass für sie keinerlei Grenzen existieren. Sie meinen, dass sie der Mittelpunkt der Welt sind, bestimmen können, wo es langgeht, und alle nach ihrer Pfeife zu tanzen haben. Es entsteht eine Form von Verhaltensegoismus, der im Grunde genommen nichts anderes bedeutet als eine Über- und Unterordnung. Diese wiederum ist jedoch nicht mit Standesritualen oder gesellschaftlichem Ansehen begründet, sondern beruht schlicht und ergreifend auf einer Machtposition. Zumeist werden solche grenzdebilen Verhaltensweisen nicht nur von Machogehabe, sondern auch von hoher Gewaltbereitschaft begleitet. Muskeln ersetzen Wörter.

Wir alle stehen für eine soziale solidarische Gemeinschaft. Dafür, dass jeder von Geburt an ein Recht auf Essen und Trinken, auf ein Dach über dem Kopf sowie auf kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung hat. Das ist die Grundlage, die wir alle als unabdingbar für ein menschenwürdiges Leben ansehen. Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf, Lesen und Schreiben sind jedoch nicht der Standard für alle Menschen rund um den Erdball. Schon allein deshalb zieht es viele aus Ländern, in denen all das nicht so selbstverständlich ist, in die westliche Welt. Armutswanderungen und Armutsflüchtlinge nennen wir das dann. Die USA haben einen Zaun gezogen und sind damit auch nicht besonders erfolgreich.

Europa gilt noch immer als Ort der Verheißung für Menschen aus Afrika und Asien. Die Zustände vor den spanischen Exklaven Melilla und Ceuta, an der griechischen Grenze oder auf dem Mittelmeer, wo viele bei dem Versuch ums Leben kommen, die italienischen Inseln zu erreichen, sind unerträglich. Davon profitieren vor allem Schleuserorganisationen. Sie nutzen die Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschen aus und bringen statt Wohlstand oft den Tod. Eine Lösung habe ich auch nicht. Aber auf Dauer wird ein wie bisher inaktives Europa diesem Druck nicht standhalten. Für viele kam es überraschend, dass es nunmehr auch innerhalb der Europäischen Union eine Armutswanderung gibt, die eigentlich vorhersehbar war. Wenn Staaten untereinander die Grenzbäume abschrauben und Freizügigkeit vereinbaren, dann wird es die Menschen natürlich dorthin ziehen, wo die Lebensbedingungen am angenehmsten sind. Das ist ein völlig normales und nachvollziehbares Verhalten. Mit der Aufnahme von Rumänien und Bulgarien, also den Armenhäusern Europas, in die EU, war klar, dass dies eine Bevölkerungswanderung auslösen würde.

Der allgemeine Lebensstandard in beiden Ländern ist extrem niedrig. Es gibt dort unterdrückte Minderheiten, die türkische in Bulgarien, die der Roma in beiden Ländern. Im Zeitalter des Handys ist es dann nur noch ein kleiner Schritt dorthin, wo Nachbarn und Verwandte schon sind. Wenn in Rumänien ein Lehrer zwischen 200 und 300 Euro im Monat verdient und der Durchschnittslohn eines Arbeiters in Bulgarien bei 180 bis 200 Euro liegt, in Deutschland hingegen allein das Kindergeld für eine Familie mit drei Kindern ein Mehrfaches beträgt, dann muss man sich über den Impuls zum Kofferpacken nicht wundern. Insbesondere dann nicht, wenn die Kinder daheim noch nicht einmal einen Lehrer haben. Von 2011 bis 2013 ist die Zahl der in Deutschland gemeldeten rumänischen und bulgarischen Staatsangehörigen sprunghaft, um 64 Prozent, angestiegen. Dies entspricht in etwa auch den Neuköllner Verhältnissen, wo Ende 2013 ein Anstieg von 60 Prozent zu verzeichnen war. Die Betonung liegt allerdings auf »gemeldet«. Experten vermuten eine erhebliche Dunkelziffer.

Das soziale Netz in Deutschland ist so eng geknüpft, dass es, gemessen am Maßstab von Schwellen- oder Entwicklungsländern, bereits eine Lebensgrundlage der Luxuskategorie bietet. Da kann es dann nicht überraschen, dass sich in einer solchen Situation die organisierte Kriminalität, insbesondere professionelle mafiöse Schlepperbanden, schnell die Träume der Menschen im Sudan, in Somalia, in Pakistan oder in Afghanistan zunutze macht, um ohne Skrupel immense »Transferhonorare« abzuschöpfen oder einen einträglichen, florierenden Menschenhandel mit jungen Frauen zu betreiben. Dennoch können die Regelsätze von Hartz IV nicht die Rolle des Garanten für das Mindesteinkommen aller Bürger der EU oder auf der Welt übernehmen. Jedenfalls nicht, solange die Finanzierung auf ein Land beschränkt bleibt.

Deutschland ist eine Industrienation. Selbst dort, wo wir Landwirtschaft betreiben, tun wir es nicht mehr mit einem Ochsen und einem Holzpflug. Aus dieser schlichten Feststellung folgt, dass sich ein Mensch, der in einem solchen Staat Selbstverantwortung für sein Leben übernehmen will und muss, Kompetenzen anzueignen hat. Dies gelingt nur über das Wecken und Stimulieren der kognitiven Fähigkeiten. Über die Wahrnehmung und Verarbeitung von Impulsen der Umwelt. Das ist uns nicht in die Wiege gelegt, sondern will individuell erarbeitet sein. Wir nennen das u. a. die Aneignung von Wissen – auch Schulbildung genannt. Das heißt, jeder, der an dem Wohlstand des Landes partizipieren will, muss auch selbst dazu beitragen. Ein Topf, aus dem alle nur entnehmen, wird sehr schnell leer werden, wenn niemand etwas hineintut. Das ist wie mit den Getränken im Kühlschrank.

Der Wohlstand unseres Landes ist also darauf aufgebaut, dass jeder begreift, dass Geld und Konsumgüter nicht einfach so da sind oder vom Himmel fallen, sondern dass sie erarbeitet werden müssen. Das ist für viele unbequem oder schwer verständlich. Es gibt in jeder Gesellschaft Menschen, die den Zusammenhang von eigener Leistung und beanspruchtem Lebensstandard nicht verinnerlichen. Dass es den Menschen schwerfällt, die aus Regionen dieser Erde kommen, wo es zwar ein verständliches Streben nach einem besseren Leben gibt, aber keine Möglichkeit, diesem Ziel näher zu kommen, verwundert mich nicht. In diesen Fällen ist der Ausspruch »Deutschland, schönes Land, bekommst Geld, musst nichts tun« die einfache wie verlockende Formel, um zu erklären, wie unser Land in simplifizierter Sichtweise funktioniert. Es ist aber selbst für Menschen, die mit ihrer eigenen Hände Arbeit ihr tägliches Brot verdienen wollen, auch nicht verständlich, wenn sie hierauf die Antwort erhalten, wir können dich nicht gebrauchen. Das vermittelt das Gefühl der Wertlosigkeit. Die Ansage »du kannst doch nichts« wird empfunden als: »Du bist nichts wert.«

Aber lassen Sie uns zu den Eltern zurückkehren, die es nicht schaffen, ihren Kindern die Spielregeln unserer Gesellschaft beizubringen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Möglich ist, dass die Eltern diesen Teil der Erziehung verpassen, weil sie ihn nicht mit Inhalten füllen können, vielleicht weil sie selbst niemals am Wertesystem beteiligt waren. Denkbar ist aber auch, dass das, was diese Eltern ihren Kindern beibringen, nicht dem hier üblichen Kanon unserer Regeln entspricht. Dass in der Heimat der Eltern ganz andere Regeln herrschen als in Mitteleuropa, dass sie zu Hause nach den Werten des Urgroßvaters aus dem heimatlichen Dorf gelebt haben und jetzt diese an die Kinder weitergeben. Die hiesigen Regeln und Werte gelten nicht für sie, sondern nur für »die Deutschen«. Diese Ansicht zieht natürlich Schwierigkeiten nach sich.

Die erstgenannten Eltern stellen ein soziales Problem dar. Unterschicht gibt es immer und überall. In jedem Land, in jeder Ethnie. Das Verhalten der anderen Eltern hingegen ist ein Werte- und Kulturproblem. Es kann auch religiöse Gründe haben. Auf jeden Fall aber erschwert und belastet es das Zusammenleben.

Menschen, die in einem Land leben, bilden eine Gemeinschaft, auch wenn sie sich gar nicht kennen. Wenn sich jedoch Einzelne oder Gruppen aus dem Kreis herausnehmen, sich außerhalb stellen und sagen, »macht ihr mal, wir haben damit nichts zu tun«, dann wird damit die Solidarität zur Gemeinschaft aufgekündigt. Nun könnte man darüber ja vielleicht auch noch diskutieren, warum es denn nicht möglich sein sollte, dass eine Gesellschaft auch eigenständige Cluster aufweist. Ich persönlich halte nicht so viel davon, aber die Möglichkeit dazu besteht natürlich. Fragwürdig wird dieser Ansatz jedoch, wenn die Erwartungshaltung entsteht, dass die Gemeinschaft meine Besonderheiten natürlich zu tolerieren, zu respektieren und vor allem zu alimentieren habe. Anders formuliert: Wer den Anspruch hegt, dass die Gemeinschaft seinen Lebensunterhalt finanziert und seinen Wohlstand erwartungskonform sicherstellt, der steht aus meiner Sicht auch in der Pflicht, die Gemeinschaft in ihren bestehenden Normen des Zusammenlebens zu akzeptieren. Der marokkanische Bürgermeister von Rotterdam, Ahmed Aboutaleb, hat einmal zu einer Burkaträgerin, die sich bei ihm beklagte, dass sie keine Arbeit bekommt, gesagt: »Ziehen Sie sich etwas Vernünftiges an, dann werden Sie auch Arbeit erhalten.« Genau das war es, was ich ausdrücken wollte. Wer durch seine eigenen Entscheidungen dazu beiträgt, dass er nicht Teil der Gemeinschaft ist, der kann das sicherlich gern tun. Aber er darf sich dann nicht beklagen, wenn er dadurch außerhalb des Kreises steht.

Das ist ein Problem, das sich inzwischen wie ein roter Faden durch unsere Einwanderungsgesellschaft zieht. Ja, Sie haben richtig gelesen: Einwanderungsgesellschaft. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Auch wenn das viele von Realitätsverlust geplagte Politiker nach wie vor bestreiten. Bei rund 20 Prozent Bevölkerung mit Migrationshintergrund halte ich eine Diskussion über diese Frage schlicht für von gestern. Im Übrigen ist Deutschland gezwungen, auch ein Einwanderungsland zu bleiben. Schon aus rein demographischen Gründen. Noch in diesem Jahrhundert wird sich die Bevölkerungszahl Deutschlands von 80 Millionen auf ungefähr 46 Millionen verringern. Davon werden 25 Millionen Einwanderer und ihre Nachkommen sein und 21 Millionen »Biodeutsche«. Die Zahl der Alten wird extrem zunehmen, bis zum Jahre 2050 wird der Anteil der über 65-Jährigen auf 45 Prozent der Bevölkerung ansteigen.

Die Sozialausgaben werden geradezu explodieren. Das liegt erstens an dem Anstieg der Zahl der älteren Menschen und zweitens an der steigenden Lebenserwartung. Im Jahre 2000 kam auf rund vier Erwerbstätige ein Rentner. 2030 wird, mit dickem Daumen gerechnet, auf jeden Erwerbstätigen ein Rentner kommen. Ich sage immer, er sollte ihn gleich mit nach Hause nehmen. Das spart die Kosten für die Unterkunft. Diese Vergreisung bewirkt, dass die Menschen sehr viel länger als früher medizinische Versorgung benötigen. So schmerzlich es sein mag, es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass die Arztrechnungen umso höher werden, je näher das Lebensende kommt. Als Beleg hierzu kann man einen einfachen Vergleich ziehen. Im Jahre 1970 kosteten acht Millionen Rentner gut elf Milliarden an Sozialleistungen. Im Jahre 2010 waren es schon 20 Millionen Rentner, für die 140 Milliarden aufgebracht werden mussten. Ich verfüge nicht über die Möglichkeiten, die Kosten für das Jahr 2050 hochzurechnen. Fakt ist aber, dass ein erwerbstätiger Mensch unmöglich einen Rentner, seine Familie und sich selbst ernähren kann. Darüber hinaus wird von ihm dann noch verlangt, ganz nebenbei für seine eigene Altersabsicherung zu sparen. Das ist absurd, dieses System kann nicht funktionieren. Bleiben die Rahmenbedingungen unverändert, müssen unsere sozialen Sicherungssysteme kollabieren.

Hintergrund dieses Problems ist, dass unsere Geburtenrate völlig darniederliegt. Deutschland bräuchte 1,0 bis 1,2 Millionen Geburten pro Jahr, um sich als gesellschaftlicher Körper ständig zu regenerieren, also die Zahl der Einwohner konstant zu halten. Demographisch heißt das, wir brauchen eine Geburtenrate von 2,0 Kindern pro gebärfähiger Frau. Wir schaffen aber nur 1,4. In absoluten Zahlen sind das im Moment etwa 670000 Geburten. Dass 20 Prozent der jungen Menschen unsere Schulen lebens- und ausbildungsunfähig verlassen, macht das Problem nicht gerade kleiner. Hinzu kommt, dass jedes Jahr etwa 150000 auf Kosten der Allgemeinheit ausgebildete Akademiker dem Land den Rücken kehren, weil ihnen hier zu wenig Netto vom Brutto bleibt. Das bedeutet, jährlich fallen mehr als 280000 Menschen als Stützen des Bruttoinlandsprodukts aus. Der verbleibende Rest ist einfach zu klein, um alle Herausforderungen der Zukunft in unserem Lande zu stemmen. Daraus folgt, dass wir einerseits eine höhere Geburtenrate stimulieren und anderseits qualifizierte Fachkräfte im Ausland animieren müssen, nach Deutschland zu kommen. Deswegen müssen wir ein Einwanderungsland bleiben und weiter um die klugen Köpfe dieser Welt konkurrieren. Dass wir dabei im Moment nicht sehr erfolgreich sind, ist eine andere Geschichte. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass sich irgendwann die Vernunft Bahn brechen wird. Bereits sie erfordert, dass wir uns eine strukturierte und konzeptionelle Einwanderungspolitik zulegen müssen. Das heutige System des Zufalls ist überwiegend das System der Bildungsferne. Mit Bildungsferne kommen wir jedoch nicht weiter.

Die Frage der Animation zum Kinderkriegen hatten schon andere europäische Länder zu bewältigen. Sie haben auch Erfolge vorzuweisen. Frankreich, Schweden, Dänemark und Holland haben wieder höhere Geburtenraten. Vielleicht sollten wir uns dort einmal die Programme anschauen. Wichtig wäre jedoch, dass nicht nur die Geburtenrate in der bildungsfernen Schicht stimuliert wird, wo durch den Anreiz höherer Sozialleistungen dann die Kinderzahl den Lebensstandard steuert. Die Mittelschicht muss wieder einen Sinn darin sehen, Familien zu gründen und Kinder zu haben. Derzeit ist unsere Geburtenrate nicht nur zu niedrig, sondern sie ist auch schieflastig. Sie wird nämlich getragen von den meist gering bis gar nicht ausgebildeten Einwandererfrauen, die erheblich mehr zum Kinderreichtum des Landes beitragen als die beruflich qualifizierte, geschweige denn hochqualifizierte »biodeutsche« Frau. Bei den unter 40-jährigen Migrantinnen haben 13 Prozent keine Kinder zur Welt gebracht, und bei den »biodeutschen« Frauen gleichen Alters sind es 25 Prozent. Thema dieses Buches ist jedoch nicht die Frage der Familien- und der Geburtenpolitik. Ich habe das nur angerissen, um auf die vielfältigen Aspekte hinzuweisen, die auf die Entwicklung der Gesellschaft Einfluss nehmen (könnten).

Was uns unterscheidet

Wenn Menschen sich in einen anderen Kulturkreis begeben, dann muss ihnen eigentlich schon der schlichte Menschenverstand sagen, dass sie auf andere Gewohnheiten und Lebensweisen stoßen werden. Die Kernfrage, die sich dabei jeder stellen muss, lautet: »Bin ich überhaupt bereit, andere Lebensweisen zu akzeptieren, sie gegebenenfalls sogar zu übernehmen und mich nach ihnen zu richten?« Ich formuliere in meinen Vorträgen immer: Das heimatliche Dorf als Modell einzupacken, zu Hause auf die Kommode zu stellen und jeden Sonntag abzustauben, ist keine besonders günstige Ausgangsposition für eine erfolgversprechende Integration in der neuen Heimat. Aus solchen Verhaltensweisen resultieren nach meiner Ansicht die vielfältigen Problemlagen, die die Integration von Einwanderern erschweren.

Die angestammte Bevölkerung hegt natürlich die Erwartung, dass die neu Hinzukommenden sich nach den im Land üblichen Lebensgewohnheiten richten. Dabei kann der Fokus durchaus noch enger gefasst werden. Die »Neuen« sollen sich nicht nur an die Lebensgewohnheiten halten, wie sie im Land verbreitet sind, sondern, wie sie in der jeweiligen Region gelebt werden. Bräuche und Traditionen sind in Deutschland bekanntermaßen regional recht unterschiedlich. Im Norden an der Küste, im Westen des ehemaligen Ruhrpotts, in Hessen, im Schwäbischen oder bei den Bayern – jede Gegend hat ihre Eigen arten. Insofern ist es auch gar nicht ungewöhnlich, dass selbst »Biodeutsche«, die es aus beruflichen oder privaten Gründen in eine andere Wohngegend verschlägt, in der neuen Heimat anecken. So wird beispielsweise die etwas lockere Lebenseinstellung des Großstädters auf dem Land, wo dörfliche Sichtweisen nach wie vor dominieren, mit einer gewissen Skepsis gesehen. Ich will damit ausdrücken, dass die Maxime »So etwas tut man nicht« durchaus nicht von Flensburg bis Passau gleich definiert ist. Umso schwerer ist das natürlich für Fremde. Ich will deshalb auch nur an den Grundprinzipien festhalten, nicht so sehr am Brauchtum oder an Spezialitäten einer Region, die mitunter selbst unter Einheimischen umstritten sind oder belächelt werden.

Ein ganz wesentlicher Punkt ist aus meiner Sicht die Religion. Es hat sich in den letzten Jahrzehnten herausgestellt, dass mit zunehmender Dauer der Einwanderung Religionsaspekte immer mehr in den öffentlichen Raum getreten sind. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass wir in den 1960erund 1970er Jahren Debatten über den Islam geführt haben, wie sie heute fast an der Tagesordnung sind. Sicher, es entstanden relativ schnell Hinterhofmoscheen, und es gab auch hier und da einmal die Frage, wie sich bestimmte Glaubensrituale des Islams mit der europäischen Lesart einer emanzipierten Gesellschaft vertragen. Aber die Dominanz, mit der selbsternannte Vertreter oder missionarische Anhänger des Islams den Versuch unternehmen, ihre Religion in den überhaupt nicht religiösen Alltag säkularer Staaten zu implementieren, ist nach meinem Erleben eher eine Entwicklung der letzten 25 Jahre.

An dieser Stelle muss sich jeder, der sich mit der Thematik beschäftigt, damit vertraut machen, dass eine klare Position von ihm erwartet wird. Ich will mich da auch nicht drücken. Andererseits sind die nachfolgenden Zeilen für mich die Selbstverständlichkeit schlechthin. Ich habe allerdings den Eindruck, dass es gesellschaftliche Kräfte gibt, die das in Frage stellen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Gottesstaat und soll es auch nie sein. Allein schon den Versuch zu derartigen Ansätzen gilt es politisch zu bekämpfen. Ich persönlich werde mich immer dafür engagieren, dass Religion eine Privatangelegenheit eines jeden ist und bleibt. Im Namen der verfassungsmäßig garantierten Religionsfreiheit lassen sich weder Worte noch Taten rechtfertigen, die gegen die Grundrechte oder im Extremfall sogar das politische System des Landes gerichtet sind. Religionsfreiheit ist kein Persilschein und kein Generaldispens von allen Normen.

Beim Staatsbesuch von Bundespräsident Joachim Gauck im Frühjahr 2014 in der Türkei gab es Auseinandersetzungen wegen dessen Äußerungen über öffentliche Vorgänge in der Türkei. Ich halte das von Bundespräsident Gauck Gesagte noch für sehr zurückhaltend formuliert. Ich empfinde schon, dass sich der türkische Ministerpräsident Erdoğan danebenbenommen und das Gastrecht missachtet hat. Wenn ich mir für einen Moment hingegen dessen Auftritte und verbalen Entgleisungen bei Besuchen in Deutschland vor mein geistiges Auge hole, dann war das, was Herr Gauck gesagt hat, klar, angemessen, aber höflich. Seine Worte waren, dass die demokratischen Grundprinzipien als gefährdet erscheinen, wenn man die Unabhängigkeit der Justiz, die Freiheit der Meinungsbildung und die Arbeit der Informationsmedien behindert. Solche Formulierungen rechtfertigen meines Erachtens die ausgesprochen ungezogenen Kommentare von Herrn Erdoğan keineswegs.

Eines der Statements des türkischen Ministerpräsidenten war, dass die Türkei ein islamischer Staat sei, was wohl einem protestantischen Pfarrer nicht gefalle. Unabhängig davon, dass mir die Intellektualität dieser Äußerung sehr begrenzt erscheint, ist dieses offenkundige Wunschbild aber bezeichnend. Die Türkei ist ein islamischer Staat: Heißt das, sie ist ein Religionsstaat? Ein Staat, in dem sich alle Bürger an die Riten einer einzigen Religion zu halten haben? Gelten nur die Glaubens- und Verhaltensnormen dieser bestimmenden Religion für das Zusammenleben der Menschen? Ist der Laizismus bald nicht mehr Inhalt der türkischen Verfassung und nicht mehr gesellschaftlicher Grundgeist?