Die Angst der Eliten - Paul Schreyer - E-Book

Die Angst der Eliten E-Book

Paul Schreyer

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ist unsere Demokratie noch zu retten? Das System steckt in der Krise. Liegt der Ausweg in mehr direkter Demokratie? Oder ist das Volk zu "dumm", um in wesentlichen Fragen selbst zu entscheiden? Lässt es sich zu leicht manipulieren und geht rechten Populisten auf den Leim? Wenn Außenseiter bei Wahlen erfolgreich sind, heißt es oft, die Bürger hätten "falsch" abgestimmt. Aber wer entscheidet, was "richtig" ist? In Deutschland gibt es freie Wahlen für alle erst seit gut hundert Jahren. Doch reichen Abstimmungen über die Zusammensetzung eines Parlamentes aus, um ein demokratisches System zu schaffen und eine Oligarchie, also eine Herrschaft der Reichen, zu verhindern? Oder gibt es vielleicht noch weitere, ganz andere wichtige Voraussetzungen für eine Demokratie, die bislang nicht erfüllt sind - weder in Deutschland noch anderswo?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 289

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ebook Edition

Paul Schreyer

Die Angst der Eliten

Wer fürchtet die Demokratie?

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-703-0

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Vorwort
1 Reichtum regiert
2 Die Wahrheit über den Populismus
3 »Hate Speech« und die Meinungsfreiheit
4 Der Traum von der Gemeinschaft
5 Sind Volksabstimmungen gefährlich?
6 Weshalb direkte Demokratie nicht im Grundgesetz steht
7 Die Angst vor dem Volksentscheid
8 Aus Ohnmacht wird Wut oder: Wer ist die AfD?
9 Milliardäre machen Politik
10 Begrenzte Grundrechte
11 Der Tiefenstaat
12 Das Eigentum
13 Vorsicht, Querfront!
14 Der Mythos von der »neuen Zeit«
Anmerkungen
Vorwort
1 Reichtum regiert
2 Die Wahrheit über den Populismus
3 »Hate Speech« und die Meinungsfreiheit
4 Der Traum von der Gemeinschaft
5 Sind Volksabstimmungen gefährlich?
6 Weshalb direkte Demokratie nicht im Grundgesetz steht
7 Die Angst vor dem Volksentscheid
8 Aus Ohnmacht wird Wut oder: Wer ist die AfD?
9 Milliardäre machen Politik
10 Begrenzte Grundrechte
11 Der Tiefenstaat
12 Das Eigentum
13 Vorsicht, Querfront!
14 Der Mythos von der »neuen Zeit«
Literatur
Personenregister

»Es ist leicht zu sehen, warum Demokratie gerade bei Gruppen, die sich selbst für Eliten halten, nicht immer beliebt ist. Aber die demokratische Zumutung der Demut mag ihnen nicht nur im politischen Leben weiterhelfen.«1

Christoph Möllers, 2008

»Denn während der Adel nicht den Thron angreift – ohne den er nicht bestehen kann –, sondern den König, der ihm nicht passt, greift die Volksmacht nach dem Throne selbst, als das, was unvereinbar mit ihr ist.«2

James Harrington, 1656

»Wir müssen bewusst unsere eigene Welt gestalten, nicht mittels gedankenloser Gewohnheiten und destruktiver Vorurteile, sondern nach den Grundprinzipien der unserer Spezies eigenen Vernunft, Reflexionsfähigkeit und Diskussion.«3

Murray Bookchin, 2002

Vorwort

Quer durch die Geschichte zieht sich der Streit, wer in der Gesellschaft das Sagen haben soll. Ob in Antike, Mittelalter, 20. Jahrhundert oder heute: Immer wieder aufs Neue stellt sich die Frage nach der Macht im Staate und die nach der Gerechtigkeit. Sollen die Reichen, die »Experten«, die »Klugen« entscheiden – oder soll die Politik tatsächlich von allen bestimmt werden?

Man könnte meinen, die Antwort sei leicht. Demokratie gilt als etwas Positives, so gut wie jeder ist dafür. Doch wie demokratisch sind wir wirklich? Besteht tatsächlich die Absicht, das Volk regieren zu lassen? Viele Menschen halten eine solche Vorstellung für gefährlich. Die Forderung nach echter Volksherrschaft, also zum Beispiel regelmäßigen Volksabstimmungen, gilt als populistisch. Wer die Bürger direkt fragt, so die Befürchtung, der setzt sich den Stimmungen und Bauchgefühlen einer leicht manipulierbaren Masse aus. Statt Schwarmintelligenz, so die Sorge, regieren am Ende bloß die Dummheit der Vielen und deren Vorurteile. Sind wir daher mit einer indirekten, parlamentarischen Demokratie, also gewählten Abgeordneten, professionellen Vertretern, die einen kühlen Kopf bewahren, nicht besser dran?

Andere behaupten das Gegenteil und sind überzeugt, dass die repräsentative Demokratie nur Theater ist, eine inszenierte »Bundestags-Show«, die transparente Politik bloß vorgaukelt, während die echten Entscheidungen in den Hinterzimmern der Lobbyisten getroffen werden, weit weg vom Bürger und der Öffentlichkeit.

Fest steht: Mit der Demokratie ist es eine widersprüchliche Sache. Einerseits wird sie gefeiert und beschworen. Man beruft sich auf sie und will sie verteidigen, besonders gegen die sogenannten Populisten. Doch die Liebe zum Volkswillen kühlt rasch ab, wenn jene Populisten tatsächlich Wahlen gewinnen. Regelmäßig bricht dann Unruhe aus, manchmal gar Panik, wie nach dem Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus. Demokratie ist toll – solange nicht die Falschen gewählt werden. Aber wer genau sind die »Falschen«, und wer entscheidet das?

Das Thema beschäftigt spätestens seit den Erfolgen von Trump, AfD und Co. immer mehr Menschen. Viele sind besorgt und sehen die Rechte von Minderheiten oder gleich die ganze Demokratie in Gefahr. Über die Ursachen der jüngsten Wahlergebnisse wird dabei heftig gestritten. Manche vermuten ein Kommunikationsproblem und mangelnde Bildung. Unzufriedene und impulsive »Wutbürger« würden unseriösen Rattenfängern und deren Sprüchen auf den Leim gehen. Die einfachen und radikalen Lösungen führten aber in die Irre, weshalb die fehlgeleiteten Bürger aufgeklärt werden müssten. Ein vernünftiger und umfassend informierter Mensch könne Trump oder die AfD schließlich kaum wählen.

Andere widersprechen und meinen, dass die Unzufriedenheit mit der Politik berechtigt sei. Man könne daher auch kaum jemanden zu einer anderen, »besseren« Wahl überreden. Vielmehr sei eine Protestwahl heute oft der einzige Weg, sich noch Gehör zu verschaffen. Und wenn vom Establishment des linken Parteienspektrums die beim Volk populären Kandidaten immer wieder als zu radikal abgelehnt und sogar sabotiert würden – wie Bernie Sanders in den USA, Jeremy Corbyn in Großbritannien, Jean-Luc Mélenchon in Frankreich oder Sahra Wagenknecht in Deutschland –, dann blieben dem Wähler am Ende eben bloß die Rechten als Alternative zum herrschenden Einheitskonsens. Eine solche Protestwahl sei ein Alarmzeichen für Probleme, denen man nicht mit pädagogischer Ermahnung, sondern mit einem echten Wechsel der Politik begegnen müsse.

Gestritten wird also, so viel steht fest, ganz handfest um eine Deutung der Realität. Geht es »uns« gut, wie die Regierung nicht müde wird zu betonen? Befindet sich die Gesellschaft politisch, wirtschaftlich und moralisch auf einem erfolgversprechenden Weg hin zu einem für alle erstrebenswerten Ziel, das nur besser vermittelt werden muss?

Viele sehen es anders. Die Krise, seit 2008 zunächst im Finanzsektor, hat mittlerweile zahlreiche Facetten. Dem Verlust des Vertrauens in die Banken folgte mit den Enthüllungen Edward Snowdens 2013 eine Welle des Misstrauens gegenüber den Geheimdiensten. Daran schloss sich spätestens mit der Ukrainekrise ab 2014 eine große Vertrauenskrise rund um die Medien an, Stichwort »Lügenpresse«.

Das Unbehagen umspannt mittlerweile die ganze Gesellschaft. Nichts läuft richtig, so scheint es. Den Institutionen ist nicht zu trauen. Vieles wird als falsch, marode und verlogen erkannt. Die Ideologie, derzufolge »wir« im Westen das »gute« System sind, das zum Nutzen aller arbeitet und daher mit Recht die Welt dominiert, hat tiefe Risse bekommen. Verkündet und vertreten wird diese Sichtweise zwar weiterhin von einem eng verflochtenen Beziehungsnetz aus Konzernen, Lobbyverbänden, der NATO sowie vielen etablierten Parteien, Denkfabriken und Medien. Doch eben dieses Beziehungsnetz, dieses »System« verliert weltweit stetig an öffentlicher Legitimation. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete 2017 unter Berufung auf die Ergebnisse einer großen, international durchgeführten Meinungsumfrage:

»Die Menschen trauen den Eliten nicht mehr (…) Das Vertrauen der Menschen in die politischen und gesellschaftlichen Institutionen erodiert. Politikern, Managern, Nichtregierungsorganisationen und auch den Medien wird immer weniger vertraut. Die Mehrheit der Menschen glaubt inzwischen, dass das aus diesen Säulen gebildete ›System‹ nicht mehr funktioniert.«1

Dreh- und Angelpunkt dieses Systems ist der Finanzsektor, der, unbehelligt von wachsender Armut und den Nöten der Bürger, nach fest zementierten Regeln Geld von unten nach oben umverteilt und sich, so scheint es, sowieso keiner Demokratie unterordnet. Der Finanzsektor existiert für sich, selbstgerecht, selbstgefällig und zu Reformen offenbar unfähig. Die gesellschaftliche Macht verharrt aufs Dichteste konzentriert bei Banken, Investoren und deren Interessenvertretern in den öffentlichen Institutionen – so der Eindruck.

Aus dieser Perspektive gesehen liegt die Gefahr für die Demokratie nicht zuerst in populistischen Vereinfachern, sondern viel grundlegender in Machtstrukturen, die alles andere als demokratisch verfasst sind. Der Finanzsektor dient weder der Gesellschaft, noch lässt er sich durch gewählte Abgeordnete ernsthaft einschränken oder kontrollieren. Vielmehr lenkt er selbst die Politik. Ähnliches lässt sich über die Geheimdienste sagen.

Wie viel Demokratie ist heute also überhaupt möglich? Und wie demokratisch sind unser Gemeinwesen, die Regierung, die Konzerne, die Medien tatsächlich verfasst? Wo stehen wir heute, was fehlt und welche Voraussetzungen für eine Demokratie sind vielleicht gar nicht erfüllt?

Diese Fragen will das vorliegende Buch beleuchten. Und so viel sei schon mal verraten: Am Schluss steht kein neues Heilsversprechen, kein perfekt geplantes Zukunftssystem. Dafür lohnt ein Blick in die Vergangenheit umso mehr. Denn unsere eigene – leider oft vergessene – Geschichte hält viele Lösungsansätze schon bereit. Man muss sie nur studieren.

1 Reichtum regiert

Manche Zusammenhänge sind so simpel und banal, dass sie leicht übersehen werden. Louis Brandeis, einer der einflussreichsten Juristen der USA und von 1916 bis 1939 Richter am Obersten Gerichtshof, formulierte es so: »Wir müssen uns entscheiden: Wir können eine Demokratie haben oder konzentrierten Reichtum in den Händen weniger – aber nicht beides.«1

Hinter dieser Aussage stehen Erfahrung und Beobachtung, aber auch eine innere Logik: Wenn in einer Gesellschaft die meiste Energie darauf verwandt wird, Geld und Besitztümer anzuhäufen, dann sollte es niemanden überraschen, dass die reichsten Menschen an der Spitze stehen. Was wir als führendes Prinzip akzeptieren, das beschert uns auch entsprechende Führer. Und wo sich Erfolg an der Menge des privaten Vermögens bemisst, da können die Erfolgreichen mit gutem Grund ihren politischen Einfluss für recht und billig halten.

Logisch erscheint es auch, wenn in einer solchen Gesellschaft die Regierung immer wieder gegen die Interessen der breiten Masse entscheidet. Vereinfacht gesagt: Wo reiche Menschen an der Spitze stehen, da herrscht nun mal nicht die Mehrheit. Private Bereicherung und Allgemeinwohl passen ungefähr so gut zusammen wie ein Krokodil in den Goldfischteich. An diesem Widerspruch ändert sich auch dann nichts, wenn die Goldfische und das Krokodil gemeinsam demokratisch eine Regierung wählen, die dann eindringlich an das Krokodil appelliert, doch bitte, im Interesse aller, seinen Appetit zu zügeln.

Aber Moment: Stimmt die grundlegende Annahme hier überhaupt? Regieren reiche Menschen? Existiert nicht schon seit Jahrzehnten ein frei gewähltes Parlament mit Abgeordneten aus der Mitte der Gesellschaft? Ist Bundeskanzlerin Angela Merkel, Tochter eines Pfarrers und Enkelin eines Polizisten, nicht das Musterbeispiel für einen bodenständigen, bescheidenen Menschen ohne größeren privaten Besitz? Kann man Ähnliches nicht auch über Frank-Walter Steinmeier (Sohn eines Tischlers) oder Martin Schulz (Sohn eines Polizisten) sagen? Und bei aller berechtigten Kritik am Einfluss von Lobbyisten: Versucht die Bundesregierung mit »Mutti« Merkel an der Spitze nicht immer wieder, das Wohl der einfachen Leute im Auge zu behalten, sich fürsorglich an den Bedürfnissen der breiten Masse zu orientieren?

Forscher vom Institut für Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück sind 2016 dieser Frage in einer aufwendigen empirischen Untersuchung nachgegangen.2 Ihre 60 Seiten lange Antwort lautet auf den Punkt gebracht: leider nein. Das Besondere daran: Die Studie wurde nicht von der Linkspartei, Attac oder den Gewerkschaften in Auftrag gegeben, sondern von der Bundesregierung selbst. Arbeitsministerin Andrea Nahles hatte 2015 den Anstoß gegeben. Sie wünschte sich eine solide Faktengrundlage für den damals in Vorbereitung befindlichen 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, in dem auch der politische Einfluss der Vermögenden wissenschaftlich untersucht werden sollte.3

Diesem Auftrag folgend, hatte das Osnabrücker Forscherteam um Professor Armin Schäfer, Vizechef der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft, die »Responsivität« der deutschen Politik überprüft, also inwieweit die Regierung tatsächlich durch Beschlüsse und Gesetze dem Willen der Bevölkerung folgt. Diese Responsivität, oder »Bereitschaft zur Antwort«, steht letztlich im Zentrum jeder Idee von Demokratie. Eine demokratische Regierung hat die Wünsche und Forderungen aller im Blick und handelt entsprechend. Der Auftrag der Bundesregierung, wissenschaftlich zu untersuchen, inwieweit sie diesen Anspruch selbst erfüllt, ließ aufmerken. Noch nie zuvor hatte eine deutsche Regierung das so grundlegend prüfen lassen.

Die Autoren der Studie analysierten dabei zunächst anhand der regelmäßigen Meinungsumfragen von ARD-Deutschlandtrend4 die Ansichten der Bevölkerung in etwa 250 Sachfragen. Untersuchungszeitraum waren die Jahre von 1998 bis 2015. Dann glichen sie diese Ergebnisse mit dem Handeln der Regierung in den Jahren danach ab. Was wurde umgesetzt, was nicht?

Die Analyse wies dazu noch einen entscheidenden Clou auf: Das Forscherteam unterschied die politischen Ansichten der Befragten gestaffelt nach deren Einkommen. Denn betrachtet man die Meinungen der einkommensschwächsten 10 Prozent (im Folgenden: »Arme«) und die der einkommensstärksten 10 Prozent (im Folgenden: »Reiche«), dann ergeben sich teils drastische Unterschiede.

So wurde etwa bei einer Deutschlandtrend-Umfrage im Jahr 1999 danach gefragt, ob Vermögende stärker zum Abbau der öffentlichen Verschuldung herangezogen werden sollten. 70 Prozent der Armen stimmten dem Vorschlag zu, aber nur 46 Prozent der Reichen. Die Regierung orientierte sich an Letzteren. Im Jahr 2000 wurde gefragt, ob das Rentenniveau gesenkt werden sollte. Nur 43 Prozent der Armen stimmten zu, jedoch 64 Prozent der Reichen. Ergebnis: Das Rentenniveau wurde per Gesetz gesenkt. 2003, während der Diskussion um die Einführung der Hartz-Reformen, wurde gefragt, ob die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes gekürzt werden solle. Insgesamt gesehen war eine Mehrheit von 54 Prozent der Bevölkerung dafür. Betrachtete man aber die Einkommen getrennt, dann zeigte sich, dass zwar 69 Prozent der Reichen der Kürzung zustimmten, doch nur 44 Prozent der Armen. Gekürzt wurde trotzdem. Ein ähnliches Bild ergab sich bei der 2012 gestellten Frage, ob die Rente mit 67 rückgängig gemacht werden solle: 65 Prozent der Armen wollten das, aber bloß 33 Prozent der Reichen. Die Regierung folgte wieder dem Mehrheitswunsch der Wohlhabenden.5

Wie die Studie zeigt, existieren die zweitgrößten Meinungsunterschiede zwischen Armen und Reichen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Noch stärker sind die Differenzen bloß in der Außenpolitik. Als 2007 danach gefragt wurde, ob die Bundeswehr möglichst schnell aus Afghanistan abziehen solle, stimmten 75 Prozent der Armen zu, gegenüber 43 Prozent der Reichen. Die Regierung überging auch diesmal die Geringverdiener, der Militäreinsatz wurde zunächst sogar noch intensiviert.

Dass solche Beispiele, die man in der Studie nachlesen kann, keine Einzelfälle oder Ausnahmen sind, fanden die Forscher in akribischer Kleinarbeit heraus. Die Ergebnisse sind eindeutig. So heißt es in der Untersuchung:

»Je höher das Einkommen, desto stärker stimmen politische Entscheidungen mit der Meinung der Befragten überein. (…) Was Bürger mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollen, hatte in den Jahren von 1998 bis 2013 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden.«6

Mehr noch: Eine politische Regelung wurde nicht nur umso eher von der Regierung umgesetzt, je mehr Reiche sie unterstützten. Das hatte man ja fast schon erwartet. Nein, ein Vorschlag wurde von der Regierung auch umso eher abgelehnt, je mehr Arme dafür waren! Die Forscher sprechen hier von einem »negativen Zusammenhang«. Sie schreiben wörtlich, dass »die Wahrscheinlichkeit auf Umsetzung sogar sinkt, wenn mehr Menschen aus der untersten Einkommensgruppe eine bestimmte politische Entscheidung befürworten.«7 Das bedeutet, dass die Regierung die Armen nicht einfach nur ignoriert, sondern praktisch aktiv gegen sie arbeitet.

Bei der Berücksichtigung der Ansichten der Mittelschicht sieht es laut der Studie ähnlich aus.8 Deren Forderungen werden von der Regierung annähernd im gleichen Maße ignoriert wie die der Armen.9 Das heißt konkret: Es ist für die Politik praktisch egal, wie viele Menschen aus der Mittelschicht eine bestimmte Veränderung wünschen. Es existiert jedenfalls so gut wie kein messbarer Zusammenhang zwischen der Zustimmungsrate für eine Forderung in der Mittelschicht und deren Umsetzung. Ein solcher Zusammenhang ist allein für die Wünsche der Einkommensstärksten nachweisbar, dort jedoch sehr deutlich.

Was geschah nun mit diesen Forschungsergebnissen? Das Arbeitsministerium übernahm die Erkenntnisse der Studie nicht eins zu eins in den Armuts- und Reichtumsbericht, sondern fasste sie auf 18 Seiten zusammen und ordnete die Auszüge erklärend ein. Der ermittelte »negative Zusammenhang« zwischen Forderungen der Armen und deren Umsetzung wurde zwar kurz erwähnt, aber nicht weiter erläutert. Gleichwohl blieb die Kernaussage der Forschungsergebnisse zunächst erhalten.

Das änderte sich allerdings, nachdem das Arbeitsministerium den Bericht im Oktober 2016 zur Abstimmung ans Bundeskanzleramt gesandt hatte. Dort zeigte man wenig Interesse an einer regierungsamtlichen Veröffentlichung solcher Tatsachen. Nicht dass die ermittelten Fakten angezweifelt worden wären, nein, wesentliche Teile des Berichts wurden vom Kanzleramt einfach stillschweigend und ohne weitere Debatte gestrichen oder umgeschrieben.

Die massive Zensur blieb jedoch nicht lange geheim.10 Die Presse berichtet und der Verein Lobbycontrol machte schließlich im Frühjahr 2017 zur Vorstellung des Berichts öffentlich, welche Sätze gelöscht worden waren – peinlich für die Regierung.11 Einer der Absätze, der dem Rotstift von Merkels Büro zum Opfer fiel, lautete:

»Die Studie liefert somit einen empirischen Beleg für eine ›Krise der Repräsentation‹. In Deutschland beteiligen sich Bürgerinnen mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik, sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen. Damit droht ein sich verstärkender Teufelskreis aus ungleicher Beteiligung und ungleicher Responsivität, bei dem sozial benachteiligte Gruppen merken, dass ihre Anliegen kein Gehör finden und sich deshalb von der Politik abwenden – die sich in der Folge noch stärker an den Interessen der Bessergestellten orientiert.«

Der Begriff »Krise der Repräsentation« tauchte ursprünglich an mehreren Stellen des Berichts auf und wurde überall vom Kanzleramt gelöscht. Es scheint, dass man diese Wahrheit an der Spitze nicht hören wollte, Forschung und Belege hin oder her. Selbst in der 700 Seiten dicken Langfassung des Armuts- und Reichtumsberichts12 war kein Platz mehr dafür. Das vierseitige Kapitel »Responsivität der Politik«, in dem detailliert dargelegt wird, wie die Regierung die Forderungen von Armen und Reichen höchst ungleich behandelt, wurde auf wenige Sätze zusammengestrichen. Stattdessen ergänzte das Kanzleramt einen eigenen Absatz in gefälligem Marketingdeutsch:

»Der Bundesregierung liegt daran, politische Betätigung quer durch die Gesellschaft anzuregen und mit vielen Menschen über die Gestaltung der Lebensverhältnisse in Deutschland ins Gespräch zu kommen. Dazu hat sie in dieser Legislaturperiode u. a. den Bürgerdialog ›Gut Leben in Deutschland‹ geführt. Der Dialogprozess ›Arbeiten 4.0‹ ist ein weiteres Beispiel dafür, mit Bürgern frühzeitig über gesellschaftliche Trends, ihre Konsequenzen und die Erwartungen an die Politik ins Gespräch zu kommen. Auch über den vorliegenden 5. Armuts- und Reichtumsbericht wird ein Dialog mit Wissenschaft und Verbänden geführt.«

»Ins Gespräch kommen« ist offenbar das Stichwort – was an den berühmten »Dialog« erinnert, den die SED-Führung im Herbst 1989 mitten im politischen Umbruch unbedingt mit ihren Bürgern führen wollte. Nur hatten die schon keine Lust mehr, fühlten sich verschaukelt und nicht ernst genommen. Der »Dialog« erschien ihnen als durchsichtige Simulation einer echten Beteiligung an der Macht.

In der Gegenwart ist manches anders, doch die Beschwichtigungen klingen ähnlich. So heißt es beschönigend in der Kanzleramts-Zensurvariante des Berichts: »Die Einstellungen der Befragten unterschieden sich je nach Einkommen erkennbar, aber nicht fundamental.« Deutlich wird bei solcher Sprachartistik die Sorge, dass Meinungsunterschiede zwischen Armen und Reichen ein größeres Thema werden könnten. Um jeden Preis soll offenbar der Eindruck vermieden werden, es gäbe im Land unterschiedliche soziale Klassen mit widersprüchlichen Interessen.

Der aufwendig erstellte Armuts- und Reichtumsbericht schien der Regierung peinlich zu sein. Erst ganz am Ende der Legislaturperiode, im Juni 2017, kurz vor Sommerpause und Bundestagswahl wurden die Erkenntnisse des Berichts erstmals im Ausschuss für Arbeit und Soziales debattiert. Die geschilderten brisanten Fakten kamen aber auch bei dieser Gelegenheit kaum vor. Lediglich eine Abgeordnete stellte eine Frage dazu,13 ein geladener Experte antwortete – dann verschwanden die explosiven Forschungsergebnisse wieder in den bürokratischen Mühlen und Formalien des parlamentarischen Trotts, wo der stoische Takt der Tagesordnungen, vorformulierten Stellungnahmen und Protokolle eine lebendige Debatte kaum vorsieht.

Eine Aussprache zum Armuts- und Reichtumsbericht im Bundestag kam ebenfalls erst in letzter Minute im Juni 2017 zustande. Eine Sternstunde des Parlamentarismus wurde auch das nicht, eher eine weitere Demonstration institutionalisierter Hilflosigkeit. An einem schwülen Mittwochnachmittag – der Deutsche Wetterdienst hatte gerade eine Unwetterwarnung für Berlin herausgegeben – versammelte sich ein versprengtes Häuflein von gut drei Dutzend Abgeordneten, die verloren im riesigen Plenarsaal der Arbeitsministerin lauschten. Filmreif waren düstere Wolken am Himmel über Berlin aufgezogen, an diesem Nachmittag begann ein mehrere Tage andauernder »Jahrhundertregen«, wie ihn die Hauptstadt seit 1948 nicht mehr erlebt hatte. Drinnen im trockenen Bundestag begann Andrea Nahles ihre Rede mit den Worten »Deutschland geht es gut« und endete mit dem Hinweis, gleichwohl sei noch »genug zu tun«.14 Das hätte die Kanzlerin wohl kaum anders formuliert. Entsprechend routiniert und phrasenhaft verlief die folgende Debatte, bei der zwar von einigen Rednern die wachsende Ungleichheit angesprochen wurde, doch niemand auf den brisanten Kern des Berichts, das politische Ignorieren der Forderungen der Armen und der Mittelschicht, zu sprechen kam – eine Erkenntnis, welche die Legitimität des Bundestages als funktionierende Volksvertretung grundlegend in Frage stellt.

Von Seiten der Minister war bis auf die Sozialdemokratin Nahles, die allein am Rand der Regierungsbank saß, niemand zugegen. Finanz- und Wirtschaftsminister glänzten durch Abwesenheit, auch Merkel fehlte. Das skurrile Ende der Debatte bildete ein Redebeitrag von Ex-Familienministerin Kristina Schröder, die erklärte, dass »auch die Armen nichts davon haben, wenn man den Wohlhabenden etwas nimmt, nur um mehr Gleichheit herzustellen«. Für die CDU-Politikerin war es die letzte Rede im Bundestag – sie wechselte 2017 als Politlobbyistin in eine PR-Firma,15 die im Internet damit wirbt, »belastbare High-Level-Zugänge zu relevanten Entscheidern in Berlin« zu besitzen, um »Unternehmensinhalte an zentralen Stellen zu platzieren«.16 Da schließt sich dann vielleicht der Kreis zur »Krise der Repräsentation«.

Diese ist längst international zu beobachten und kein deutsches Phänomen. Im Mutterland der neuzeitlichen Demokratie, den USA, von wo aus noch im 18. Jahrhundert die Französische Revolution mit befeuert wurde, registrieren Forscher heute das gleiche Muster. Nicht zufällig orientiert sich die Studie der Osnabrücker Wissenschaftler eng an einem amerikanischen Vorbild – der 2012 veröffentlichten Untersuchung »Affluence and Influence« (»Reichtum und Einfluss«) von Professor Martin Gilens von der Princeton University.17

Gilens hatte für den Zeitraum von 1981 bis 2002 systematisch die politischen Ansichten der Amerikaner untersucht, anhand ihrer Antworten auf 1 800 verschiedene Fragen, die bei Erhebungen der großen Meinungsforschungsinstitute über die Jahre gestellt worden waren. Auch Gilens hatte die Ansichten der Bürger nach Einkommensklassen getrennt und anschließend überprüft, wessen Wünsche die Regierung in den folgenden Jahren tatsächlich umgesetzt hatte. Die überaus aufwendige Studie kam zum gleichen Ergebnis wie ihr deutsches Gegenstück: Die Ansichten der Armen und der Mittelschicht sind auch in den USA völlig irrelevant für die Politik. Ob nun 20, 50 oder 80 Prozent von ihnen eine Forderung unterstützen – die Wahrscheinlichkeit ihrer Umsetzung bleibt konstant niedrig. Es ist, als wären die normal und wenig verdienenden Bürger gar nicht da, ebenso sprachlos wie unsichtbar. Gilens schreibt:

»Der vollständige Mangel an Responsivität der Regierung bezüglich der Wünsche der Armen ist verstörend und passt eigentlich nur zu den zynischsten Sichtweisen auf amerikanische Politik. Wenn sich die Ansichten von Armen und Wohlhabenden unterscheiden, so zeigen die Ergebnisse, dass die Regierungspolitik in keinerlei Beziehung zum Ausmaß der Zustimmung oder Ablehnung unter den Armen steht.«18

Auch der Einfluss der Mittelschicht ist demnach »ununterscheidbar von null«19. Es gäbe zwar Fälle, in denen die Politik den Wünschen von Armen oder Mittelschicht folgen würde, allerdings immer nur dann, wenn diese Wünsche auch von den Wohlhabenden geteilt würden. Genau wie in Deutschland bestehen dabei auch in den USA die größten Meinungsunterschiede zwischen Arm und Reich auf dem Gebiet der Außenpolitik, gefolgt von der Wirtschaftspolitik.20

Die Konzentration von politischem Einfluss an der Spitze der Einkommensskala sei, so bilanziert es Professor Gilens, »unvereinbar mit dem demokratischen Kernprinzip der politischen Gleichheit«. Die amerikanische Gesellschaft sei »eine Demokratie nur dem Namen nach«.21 In der Washington Post schrieb er 2016, mitten im Präsidentschaftswahlkampf zwischen Hillary Clinton und Donald Trump: »Viele Amerikaner, die für Außenseiterkandidaten stimmen, glauben, dass die Regierung sie mehr oder weniger ignoriert. Sie haben recht.«22

2 Die Wahrheit über den Populismus

Wo die Demokratie außer Betrieb gesetzt ist, da blüht das Extreme und Unversöhnliche. Die von der Regierung ignorierten Teile der Bevölkerung wenden sich neuen Anführern zu, die versprechen, sich um ihre vergessenen Anliegen zu kümmern, oder auch einfach um ihren Stolz. So weit, so logisch und menschlich.

Wer nun »die Demokratie gegen Populisten verteidigen« möchte, der meint es zwar gut, gerät aber in einen Widerspruch. Trump und Co. sind bei Wahlen vor allem deshalb erfolgreich, weil die Zustände eben nicht demokratisch sind. Das Fehlen einer funktionierenden Demokratie bringt sie erst hervor. Sich aufzureiben an populären Außenseitern, sich mit aller Energie zu empören über deren Rückständigkeit und Gefährlichkeit, das ist emotional verständlich, politisch aber ein Weg in die Sackgasse. Auch das Diffamieren und Zurechtweisen ihrer Wähler führt nicht weiter.

Als der damalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel im Sommer 2015 seinem Unmut freien Lauf ließ und ostdeutsche Bürger, die rabiat gegen ankommende Flüchtlinge demonstriert hatten, als »Pack« beschimpfte, als »Leute, die mit Deutschland nichts zu tun haben (…) Ihr gehört nicht zu uns, wir wollen Euch nicht«1, da schrieb Jakob Augstein im Spiegel:

»Gabriel will auf die Leute, die vor den Flüchtlingsheimen ihren Hass herausbrüllen, verzichten. Vielleicht meint er, wir alle könnten getrost auf sie verzichten. Aber auf diese Leute ist bereits vor langer Zeit verzichtet worden. Wenn man ihnen sagt: ›Wir brauchen Euch nicht‹, antworten sie: ›Das wissen wir längst.‹«2

Wer sich über Feindseligkeit und Gewalt gegen Schwächere entrüstet, der tut das mit Recht. Zugleich ist gesellschaftliche Solidarität komplexer als manche bedenken. Die zunehmende Radikalität, Aggressivität und Suche nach Sündenböcken – all das sind Symptome mit Ursachen und einer Vorgeschichte. Sie gedeihen dort, wo das System nicht funktioniert, wo Menschen nicht integriert, sondern aussortiert werden. Der Soziologieprofessor Wilhelm Heitmeyer, Gründer des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, erklärt, wo politische Außenseiterkandidaten ihr Publikum finden und wie Radikalität entsteht:

»In unserem Verständnis geht es erstens darum, ob jemand Zugang zu (…) Arbeit hat und dadurch Anerkennung erwerben und genießen kann. Zweitens stellt sich die Frage, ob man als Einzelner oder als Gruppe bei öffentlichen Angelegenheiten eine Stimme hat und wahrgenommen wird, denn dadurch entsteht moralische Anerkennung als Bürger. Drittens geht es um die Anerkennung der individuellen Integrität und die der eigenen Gruppe, um dadurch emotionale Anerkennung und Zugehörigkeit zum Gemeinwesen zu entwickeln. Unsere Untersuchungen zeigen sehr deutlich: Überall, wo es massive Anerkennungsdefizite gibt, kommt es zu Abwendungen oder Rückzügen. Wer sich in seinen Umgebungen nicht anerkannt fühlt, wendet sich jenen zu, in denen es Anerkennungsquellen gibt. (…) Man muss das immer betonen, und ich tue das seit Langem: Man darf den Begriff Integration nicht reservieren für Migranten und jetzt Flüchtlinge. Auch viele der seit Generationen hier lebenden Deutschen sind nicht integriert, insbesondere was die Anerkennungsgefühle und -erfahrungen angeht.«3

Ein Mensch, der keine öffentliche Anerkennung erfährt, nicht als Bürger, da seine Stimme konsequent politisch ignoriert wird, und nicht als tätiger Mensch, da seine Arbeitskraft als unnütz zurückgewiesen wird, der ist ähnlich fremd im Land und kaum besser integriert als ein frisch eingereister Flüchtling. Auch den Millionen Menschen in Niedriglohnjobs wird vor allem eines sehr klar vermittelt: Ihr seid verzichtbar, eure Arbeit ist wenig wert, Anerkennung verdient ihr kaum.

2017 veröffentlichte Die Zeit eine längere Reportage aus der Arbeiterstadt Bitterfeld in Sachsen-Anhalt, wo die AfD bei den letzten Landtagswahlen mit knapp 32 Prozent der Stimmen stärkste Partei wurde. Unter der Überschrift »Hier herrscht Klassenkampf« hieß es dort, dass die Wähler in dieser Region nicht nur mit Flüchtlingen ein Problem hätten, »sondern auch mit dem Kapitalismus«.4 Die Autorin blieb dabei nicht in der ostdeutschen Provinz stehen, sondern analysierte die Stimmung als europäischen Trend:

»Einfaches Volk gegen globales Kapital – mit dieser Formel gewinnen die Rechten im vormals linken Arbeitermilieu Stimmen, überall in Europa. Im deindustrialisierten Norden Englands und im ländlichen Polen, im Osten Deutschlands und im Süden Frankreichs. (…) Im Sommer 2016 (…) führten Sozialforscher der Universität Oxford im Auftrag der Bertelsmann Stiftung eine Umfrage durch. Sie wollten wissen, warum so viele Menschen in Europa rechtsnationale Parteien wählen. Das Ergebnis war überall gleich. Die Anhänger der deutschen AfD und der österreichischen FPÖ, der britischen Ukip und des französischen Front National, sie alle einte dasselbe Gefühl: die Angst vor der Globalisierung.«

Zwar bietet die AfD keine Lösungen für dieses Problem an, im Gegenteil finden sich in ihrem Wahlprogramm Forderungen, die den internationalen Managern der Globalisierung gut gefallen, etwa die Ablehnung von Erbschafts- und Vermögensteuer oder eine »Verschlankung« des Staates, der mit weniger Geld dann natürlich auch weniger Aufgaben für die Allgemeinheit erfüllen kann, was alle noch abhängiger vom Wohlwollen der Vermögenden macht.5 Dennoch hat die Partei Erfolg, weil sie eben, anders als die meisten Mitbewerber, die Wut vieler Menschen lautstark aufgreift und zu einer politischen Kraft kanalisiert.

Die AfD setzt in ihrem Programm auch soziale und demokratische Akzente, lenkt insgesamt aber die Empörung weg von den Finanzmächtigen, hin zu den etablierten Parteien im Bundestag. In ihrem Grundsatzprogramm beschreibt sie diese als »Kartell« und selbstsüchtige »Klasse von Berufspolitikern«: »Heimlicher Souverän ist eine kleine, machtvolle politische Führungsgruppe innerhalb der Parteien. Sie hat die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte zu verantworten.«6

Von der Verantwortung des Finanzsektors, der mit seiner Geldmacht, seinen Denkfabriken und Lobbynetzwerken diese »politische Führungsgruppe« überhaupt erst fördert und in seinem Sinne handeln lässt, liest man im AfD-Programm wenig. Stattdessen heißt es dort:

»Je mehr Wettbewerb und je geringer die Staatsquote, desto besser für alle. (…) Gegebenenfalls erforderliche staatliche Eingriffe – zum Beispiel um Monopole zu verhindern und Marktversagen entgegenzuwirken – sind auf das notwendige Minimum zu begrenzen und müssen für in- und ausländische Investoren kalkulierbar sein. (…) Die AfD (…) befürwortet den Wettbewerb nationaler Steuersysteme.«7