Die Angst in deinen Augen - Ana Dee - E-Book
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Die Angst in deinen Augen E-Book

Ana Dee

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Beschreibung

Isa ist seit Jahren vor ihrem Peiniger auf Flucht, einem perfekten Jäger, der keinerlei Skrupel kennt. Doch sie hat von ihm gelernt und weiß, sich zu verstecken. Aber dieses unbeständige Leben bringt sie an ihre Grenzen, weil sie nirgendwo zu Hause, nirgendwo sie selbst sein kann. Sie darf niemals nachlässig werden, ist immer auf der Hut. Gerade, als sie sich einigermaßen sicher und geborgen fühlt, häufen sich die Vorzeichen, dass er sie doch aufgespürt haben könnte. Sie ist außer sich, fühlt sich in die Enge getrieben und spürt den tiefsitzenden Impuls, erneut zu fliehen. Aber ist sie wirklich bereit, ihr bisheriges Leben aufzugeben und weiterzuziehen? Nein! Sie schmiedet einen Plan und beschließt, den Spieß umzudrehen. Es ist jedoch ein riskantes Unterfangen. Wird sie es schaffen, am Ende zu überleben? Und wenn ja, wie hoch ist der Preis? Leserstimmen: „Spannend und emotional zugleich …“ „Bildhafte Sprache, spannende Geschichte. Daumen hoch!“ „Ich habe bis zur letzten Zeile mitgefiebert, super Buch.“ „Wie immer klasse geschrieben.“

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Die Angst in deinen Augen

SCHWEDENKRIMI

ELIN SVENSSON

ANA DEE

Inhalt

Anmerkung

Protagonisten

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Anmerkung

Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.

Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Protagonisten

Isa Nilson – Ella BergRurik Nyberg – Isas PeinigerJohan Forsberg – pensionierter KommissarEmma und Liv – Töchter von JohanMatilda – Schwester von JohanKrister Jonasson – Johans ehemaliger KollegeHenning Evers – Johans ehemaliger Chef

KapitelEins

Der warnende Ruf des Eichelhähers ließ Isa aufhorchen und sie schaute sich nervös um. Hastig schob sie das Panel der Außenfassade wieder in seine vorherige Position und strich sich mit einer anmutigen Bewegung eine widerspenstige Strähne hinter das Ohr. Rurik hatte sie wegen ihres goldblonden Haares früher oft ‚mein Engel‘ genannt, um sie an sich zu binden. Aber diese Zeiten waren seit Ewigkeiten vorbei.

„Was machst du da?“

Erschrocken drehte sie sich um. „Ich … ich wollte nur nach der Wäsche sehen.“

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, weil sie nicht wusste, wie lange er sie bereits beobachtet hatte. Es war eine seiner Vorlieben, sich lautlos an sie heranzupirschen, um sie mit seinem plötzlichen Auftauchen zu überraschen. Und das nicht im positiven Sinne. Hastig verbarg sie ihre zitternden Hände hinter dem Rücken, um sich nicht zu verraten. Hoffentlich hatte er das Versteck nicht entdeckt.

„Die Wäsche befindet sich, soweit ich weiß, auf der anderen Seite des Hauses“, brummte er und stapfte zum Schuppen, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.

Erleichtert wischte sie sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn und atmete auf. Sie war dem Eichelhäher unendlich dankbar, dass er seinen warnenden Ruf ausgestoßen hatte. Normalerweise hörte sie das Motorboot schon in einiger Entfernung, aber manchmal benutzte Rurik die Strömung, um sich lautlos bis zur Insel treiben zu lassen. Er war äußerst misstrauisch und ließ sich immer wieder etwas Neues einfallen, um sie zu kontrollieren. Sie musste mit allem rechnen. Zum Glück schien er nichts bemerkt zu haben.

Rurik war einige Jahre älter wie sie, acht, um genau zu sein. Sie hatte sich damals unsterblich in sein charmantes Lächeln verliebt, und in seine Augen, in denen tausend Sterne funkelten. Jetzt funkelte nur noch der Jähzorn, ansonsten begegnete ihr sein müder Blick. Voller Überschwang und jede seiner Versprechungen glaubend, war sie ihm bis nach Lappland gefolgt, wo Rurik sich eine kleine Insel gekauft hatte.

Die Schönheit der Landschaft war atemberaubend, bis der erste Winter das Land mit seiner eisernen Faust fest umschlossen hatte. Der Schnee formte die Bäume zu bizarren Figuren, die oft unter der gewaltigen weißen Pracht zusammenbrachen. Im Minutentakt mussten sie den Ofen mit Holzscheiten füttern, damit die Wasserleitungen im Haus nicht einfroren. Es war ihr schwergefallen, sich an dieses raue Leben zu gewöhnen, ihre romantischen Vorstellungen vom Leben in der Wildnis hatten sich innerhalb weniger Monate in Luft aufgelöst.

Mit einem gequälten Lächeln wandte sie sich ab. Mechanisch faltete sie die Wäsche und legte sie in den Weidenkorb. Nach nur wenigen Wochen hatte Rurik die Maske fallenlassen und sein wahres Gesicht gezeigt. Anfangs hatte er sie im wahrsten Sinne des Wortes nur herumgeschubst, bis er immer grober geworden war. Obwohl er die Schläge gezielt setzte, damit niemand etwas von den Misshandlungen mitbekam, hatte sie oft wegen eines blauen Auges oder Würgemalen am Hals in der Hütte zurückbleiben müssen.

Diese Art der Strafe war bedeutend drakonischer, weil sie sich stets darauf freute, wieder unter Menschen zu sein. Sie verzehrte sich danach, die Welt dort draußen zu erleben und für einen kurzen Moment die immerwährende Einsamkeit auszublenden. Sie liebte den Laden von Tjure, in dem es so viel zu entdecken gab, und lauschte den Gesprächen, um Neuigkeiten aus der Region zu erfahren. Jedoch hatte Rurik ihr strengstens untersagt, sich mit irgendwem zu unterhalten. So wandelte sie wie ein stummer Geist zwischen den Regalen entlang und nahm alle Eindrücke begierig in sich auf.

Rurik tobte stets vor Eifersucht und seine erste Amtshandlung war gewesen, ihre Papiere an sich zu nehmen, um sie angeblich sicher zu verwahren. Isa hatte diese nie wieder gesehen, wahrscheinlich hatte er sie vernichtet. Außerdem durfte sie ohne seine Einwilligung die Insel nicht verlassen. Sämtliche Schlüssel trug er immer bei sich, damit sie nicht auf den Gedanken kam, das Motorboot oder das Kanu im Schuppen zu benutzten.

Er wusste, dass sie die dunklen Fluten fürchtete, wie der Teufel das Weihwasser, und wegen eines Traumas nicht schwimmen konnte. Ihre Eltern waren bei einem Bootsausflug ums Leben gekommen und sie war als einzige Überlebende allein zurückgeblieben. Dieses Wissen hatte er sich auf hinterhältige Weise zunutze gemacht und sie von allem abgeschottet, was ihr zu einer Flucht hätte verhelfen können. Nur damals hatte sie das nicht begriffen. Ihre Großeltern lebten nicht mehr und so war sie in einem Kinderheim aufgewachsen, aus dem sie mit sechzehn geflohen war, um Rurik in die Wildnis zu folgen. Aus Liebe … und mit einer gehörigen Portion Naivität.

Gedankenverloren hob sie den Weidenkorb hoch und ging zum Haus. Immerhin gab es eine Waschmaschine im Keller, die mit einem Generator betrieben werden musste, weil die Solarpanels auf dem Dach nicht ausreichten, um genügend Strom zu erzeugen. Das Haus war winzig, was die Möglichkeiten eingrenzte, um Rurik auszuweichen. Während der Wintermonate war es besonders schlimm, wenn sie regelrecht aufeinander hockten und sie seinen unberechenbaren Launen ungeschützt ausgesetzt war. Sie konnte schon nicht mehr zählen, wie oft sie über eine Flucht nachgedacht hatte. Aber zu groß war die Furcht vor den Konsequenzen.

„Solltest du jemals auf dumme Gedanken kommen, dann sei dir bewusst, dass ich dich finden werde, egal, wo du dich auch versteckst“, hatte er ihr gedroht. „Und glaube mir, meine Rache wird grausam sein.“

Dass er seine Drohungen in die Tat umsetzen würde, daran hegte sie nicht den geringsten Zweifel. Das hatte sie schon oft genug zu spüren gekommen. Ihr Körper war übersät mit den Zeichen seiner Gewalt.

„Isa?“ Der tiefe Bass seiner Stimme donnerte durchs Haus.

Hastig trat sie über die Schwelle, um ihn nicht noch mehr zu verärgern. „Ich bin doch schon da.“

„Das Essen ist kalt“, beschwerte er sich und zog die Mundwinkel mürrisch nach unten.

„Ich wusste nicht, wann du wiederkommen wirst. Normalerweise höre ich den Motor und kann das Essen aufwärmen.“

Er brummte einige unverständliche Worte und setzte sich, während Isa den Weidenkorb neben der Treppe abstellte und sich der Küche zuwandte. Sie entzündete die blaue Flamme des Propangasherdes, um die Suppe aufzuwärmen. Anschließend füllte sie den Teller, schnitt zwei Scheiben des frischen Brotlaibes und servierte Rurik das Mittagsmahl. Sie hatte eine Menge lernen müssen, vom Gemüseanbau bis zum Backen und Angeln war alles dabei gewesen. Er liebte es, umsorgt zu werden, obwohl er es nicht verdiente.

„Lass es dir schmecken“, sagte sie und setzte sich zu ihm.

Er antwortete nicht und stürzte sich wie ein ausgehungerter Wolf auf das Essen.

Wie sehr sie ihn verabscheute, wurde ihr genau in diesem Moment wieder bewusst. Egal, wie sehr sie sich auch anstrengte, es ihm recht zu machen, es war nie genug. Es hatte einen grausamen Touch, tagtäglich seine Nähe ertragen zu müssen. Am schlimmsten waren die Nächte, in denen sie neben ihm schlief. Immer wieder suchte sie nach Ausreden, um sich ihm zu entziehen, und ganz besonders jetzt, wo sie dieses kleine Geheimnis in sich trug.

Seit sie davon wusste, hatte sie akribisch damit begonnen, ihre Flucht zu planen und auf Tag X hinzuarbeiten. Sie konnte kaum noch schlafen, weil sie von Zweifeln und Ängsten geplagt wurde. Die Flucht konnte ihren Tod bedeuten. Er würde ihre Leiche irgendwo im Wald an einem schwer zugänglichen Ort verscharren. Dass sie keine Familie mehr hatte, spielte ihm dabei in die Hände. Kein Mensch würde nach ihr suchen, schließlich wurde sie schon seit Jahren vermisst.

Tapfer kämpfte sie gegen die aufkommenden Tränen an. Ihre anfängliche Liebe hatte sich in blanken Hass verwandelt.

„Was ist los?“ Er riss sie unvermittelt aus ihren Gedanken.

„Nichts“, erwiderte sie rasch.

Mit gerunzelter Stirn musterte er sie. „Warum werde ich seit Tagen das Gefühl nicht los, dass du hinter meinem Rücken etwas ausheckst?“

Verdammt, sie musste mit ihren Vorbereitungen vorsichtiger sein. Ihre Stimmungsschwankungen waren ihm nicht verborgen geblieben.

„Ich fühle mich unwohl, wahrscheinlich werde ich krank“, antwortete sie und hoffte, dass er das leichte Vibrieren ihrer Stimme nicht bemerken würde.

„Nein, damit hat das nichts zu tun“, widersprach er. „Mir ist dein sehnsüchtiger Blick nicht entgangen.“

„Welcher sehnsüchtige Blick?“

„Den du Tjure ständig zuwirfst.“

„Das bildest du dir nur ein.“

„Du hast ihn mit offenem Mund angestarrt.“ Rurik schob den leeren Teller in ihre Richtung. Nicht ein einziges Wort des Dankes hatte er verloren.

„Wann soll das gewesen sein?“

Seine Faust landete krachend auf dem Tisch, Löffel und Teller klirrten leise. Eine steile Zornesfalte bildete sich auf seiner Stirn. „Ich mag es nicht, wenn du mir ausweichst.“

Sie senkte den Blick, obwohl sie mittlerweile so weit war, Rurik die Stirn zu bieten. Aber sie durfte keine weiteren Schläge riskieren, sie musste für die geplante Flucht körperlich fit sein. „Tjure bedeutet mir absolut nichts“, sagte sie leise.

„Das wäre ja auch noch schöner.“ Er stand so heftig auf, dass der Stuhl bedrohlich nach hinten kippte. „Ich bin wieder draußen, das Holz für den Winter stapelt sich schließlich nicht von allein.“

„Ich komme gleich nach“, rief sie und stand auf, um das Geschirr zu spülen.

Kaum vorstellbar, dass sie diesem Menschen einst Liebe entgegengebracht hatte. In ihrer Naivität war sie von seiner fröhlichen und unbekümmerten Art fasziniert gewesen, ebenso von seinem drahtigen Körper, an dem sich nur Muskeln und kein einziges Gramm Fett befanden.

„Du wirst dich in diese endlose Weite verlieben“, hatte er bei ihrem Kennenlernen gesagt und dabei gestrahlt. „Nirgendwo auf der Welt ist es schöner.“

Er hatte ihr von den schneebedeckten Bergriesen vorgeschwärmt, die nicht steil und zerklüftet in den Himmel ragten, sondern sanft geschwungen. Von den tiefen Wäldern und den noch tieferen Seen, in deren kristallklarem Wasser sich der Himmel spiegelte. Beeindruckt hatte sie an seinen Lippen gehangen und schließlich seine Begeisterung geteilt. Trotz der Entbehrungen war sie von ihren romantischen Vorstellungen überzeugt gewesen, zu einer Zeit, in der Rurik sein aufbrausendes Temperament noch einigermaßen im Griff gehabt hatte.

Aber mit der Zeit war die Einsamkeit unerträglich geworden, besonders für einen jungen Menschen wie sie es gewesen war. Zwischen dem Ich ihrer Ankunft und dem jetzigen lagen Welten. Auf sehr schmerzhafte Weise hatte sie lernen müssen, sich zu beherrschen und ihre Rolle perfekt zu spielen.

Einmal hatte sich ein Hund in diese abgelegene Gegend verirrt und war tatsächlich bis zur Insel geschwommen. Sie konnte gar nicht ausdrücken, wie glücklich sie über seine Gesellschaft gewesen war, und Rurik hatte ihr erlaubt, ihn zu behalten. Aber irgendwann hatte sich der Hund leise knurrend und mit gesträubtem Nackenfell vor Isa gestellt, um sie zu beschützen. Am nächsten Morgen war er fort und sie ahnte, was Rurik mit dem für ihn so unliebsamen Tier angestellt haben könnte. Seit diesem Tag nannte sie ihn ‚Das Monster‘.

Aber das war noch nicht alles. Seit ihrer heimlichen Flucht aus dem Kinderheim musste sie ihr wahres Alter leugnen, und jedem erzählen, dass sie schon volljährig war, um Rurik nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Die Lügen türmten sich zu hohen Bergen, bis er sie zum Schweigen verdammt hatte, um ja nichts Falsches zu sagen. Schritt für Schritt hatte Rurik ihre Freiheiten eingeschränkt und sie durfte die Insel nur noch mit ihm gemeinsam verlassen. Ein normaler Einkaufsbummel oder Freundschaften knüpfen, gehörten ab sofort der Vergangenheit an.

Schon bald war ihre Kleidung alt und abgetragen und ihr ungepflegtes Äußeres sprach Bände. Tjure, den sie in all den Jahren wegen seiner freundlichen und ihr zugewandten Art ins Herz geschlossen hatte, bedachte sie meist mit einem mitleidigen Blick. Wie oft hatte sie sich dafür geschämt. Aber Rurik bestand darauf, dass sie ihre ältesten Lumpen anzog, wenn sie in den nächstgrößeren Ort fuhren. Und sie konnte schon froh sein, wenn er sie überhaupt mitnahm.

Sie stellte das saubere Geschirr in den Schrank, den Rurik gezimmert hatte, und lief nach draußen. Eifrig sammelte sie die Holzscheite ein, die er mit der Axt gespalten hatte, und stapelte sie im Schuppen. Diesen Winter würde sie nicht mehr hier sein. Vielleicht war ihr die Flucht gelungen oder Rurik hatte sie erwischt. Es gab nur diese zwei Möglichkeiten – entweder ein neues Leben oder den Tod.

KapitelZwei

Isa lauschte Ruriks regelmäßigen Atemzügen. Er schnarchte leise und sie wartete mit klopfendem Herzen darauf, dass er in die Tiefschlafphase eintauchen würde. Das Mondlicht schimmerte silbern und malte ein helles Rechteck auf den Dielenboden. Alles wirkte friedlich und still. Nur das Holzhaus knackte, weil sich der Temperaturwechsel bemerkbar machte und es in der Nacht kühler geworden war.

Rurik rollte sich mit einem undefinierbaren Laut auf die andere Seite. Es war endlich so weit und sie schob sich Zentimeter für Zentimeter behutsam aus dem Bett. Sie wusste ganz genau, welche der Dielen knarrten, und schlich auf Zehenspitzen zur Treppe. Jede der Stufen hatte sie sich im Laufe der Jahre genau eingeprägt und huschte lautlos nach unten. Ihre wenigen Habseligkeiten hatte sie aus dem Versteck geholt, in einer Plastiktüte verschnürt und zwischen den Sträuchern verborgen. Den gesamten Abend hatte sie unfassbare Ängste ausgestanden, dass Rurik das kleine Bündel entdecken könnte.

Aber auch jetzt schnürte ihr die Furcht die Kehle zu. Ein falscher Schritt – und es wäre vorbei. Immer wieder blieb sie stehen, um zu lauschen. Ihre Hände waren vor lauter Aufregung feucht und der Puls am Limit. Achtsam schob sie einen Fuß vor den anderen, immer darauf bedacht, dass Knarzen der Dielen zu vermeiden. Wieder hielt sie für einige Sekunden inne. Von oben war nichts zu hören und so setzte sie ihren Weg fort. Das Haus war winzig, aber jetzt hatte sie das Gefühl, eine kilometerlange Reise vor sich zu haben.

Bis zum Fenster waren es nur noch wenige Schritte. Sie hatte die Hand nach dem Griff bereits ausgestreckt, als Rurik über ihr brüllte.

„Isa, wo steckst du?“

„Ich muss auf die Toilette.“

Er brummte noch ein paar unverständliche Worte, dann war es wieder still. Sie suchte das Badezimmer auf und kühlte das glühende Gesicht mit kaltem Wasser. Sie war der Freiheit so nahe gewesen, aber es sollte wohl nicht sein. Nur mit Mühe unterdrückte sie ein Schluchzen und verfluchte Gott und die Welt. Nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte, stieg sie die Stufen wieder nach oben und legte sich stumm neben Rurik ins Bett. Er war schon wieder eingeschlafen, während sie an die Zimmerdecke starrte. Wenn nicht in dieser Nacht, dann eben in der nächsten, dachte sie und blieb bis in die frühen Morgenstunden wach.

„Aufstehen!“, herrschte er schroff. „Du hättest schon längst das Frühstück zubereiten sollen.“

Er rüttelte grob an ihrer Schulter und sie fuhr erschrocken aus dem Schlaf. Orientierungslos rieb sie sich die Augen.

„Wie spät ist es?“

„Halb sieben“, knurrte er verärgert.

Hastig sprang sie aus dem Bett und eilte nach unten, weil sie Konsequenzen befürchtete. Sie hatte nicht damit gerechnet, noch einmal einzuschlafen und bereitete in Windeseile das Frühstück zu, um ihn nicht noch mehr zu verärgern.

„Ich werde heute in die Stadt fahren, um ein Ersatzteil für die Kettensäge zu besorgen“, sagte Rurik, nachdem er sich an den Tisch gesetzt hatte.

Sie schaute kurz auf und nickte.

„Du kannst dir die Zeit mit Angeln vertreiben, ich habe seit Tagen Appetit auf Fisch.“

Er bestimmte, und sie sprang wie ein dressiertes Äffchen. Dabei hatte sie es so satt. Das alles musste ein Ende haben.

Nach dem Frühstück duschte Rurik und zog sich um. Diesmal war sie sogar froh darüber, nicht mitfahren zu müssen. So konnte sie in aller Ruhe ihre Gedanken ordnen, ohne vor ihm auf der Hut sein zu müssen.

„Dann bin ich mal gespannt, was du alles am Haken haben wirst. Ich freue mich schon auf das Abendessen.“

„Mal schauen, ob mir das Glück wohlgesonnen ist.“

„Streng dich an, schließlich hast du den ganzen Tag Zeit.“

„Ich muss mich auch noch um den Garten kümmern. Das Gemüse ist erntereif und sollte eingekocht werden.“

„Meine Güte, auf den einen Tag kommt es doch wohl nicht an. Ich will Fisch, Ende der Diskussion.“

Er zog sie zu sich heran, um sie zu küssen. Am liebsten hätte sie ihren Kopf weggedreht, aber stattdessen verschloss sie nur angeekelt die Augen. Dann war es auch schon vorbei. Er stieg in das Boot, startete den Motor, wendete und brauste davon. Eine weiße Schaumlinie blieb zurück. Endlich, dachte sie erleichtert.

Sie wartete, bis er hinter den Bäumen verschwunden war und ging zum Unterstand, um das Angelzeug zu holen. Die Bohlen des Stegs waren morsch, die gesamte Konstruktion schwankte. Das Holz hätte schon längst ausgetauscht werden müssen. Leider war Rurik sehr nachlässig, wenn es darum ging, Dinge wieder instand zu setzen.

Routiniert befestigte sie die Angeln am Steg und stellte den Eimer daneben. Sie setzte sich einen Moment auf die Bohlen und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Ja, die Insel war traumhaft, um hier einen romantischen Urlaub zu verbringen. Aber nicht, um in Gefangenschaft zu leben.

Nachdem sie sich sicher war, dass Rurik nicht überraschend zurückkehren würde, entkleidete sie sich. Das hatte er schon oft getan, um zu überprüfen, ob jemand bei ihr war. Sein Misstrauen und seine Eifersucht kannten keinen Grenzen.

Sie schaute hinunter aufs Wasser und tauchte den Zeh hinein. Es kostete sie eine Menge Überwindung, weil sie sich vor den dunklen Fluten so sehr fürchtete. Aber das Wasser war ihre einzige Chance, um zu entkommen. Sie hatte versucht, heimlich ein Floß zu bauen, aber Rurik hatte es entdeckt. Die darauffolgende Strafe für ihr Verhalten war grausam gewesen.

Ganz sacht ließ sie sich vom Steg hinunter ins kalte Wasser gleiten. Ihr blieb kurz die Luft weg, weil es kälter war als erwartet. Mit beiden Füßen stieß sie sich vom steinigen Untergrund ab und machte einige raumgreifende Schwimmbewegungen, die sich wie hektisches Paddeln anfühlten. Aber nur wenige Atemzüge später hatte sie einen gleichmäßigen Rhythmus gefunden, auch, wenn sie nur mäßig schnell vorankam. Sie wusste, dass sie mindestens eine halbe Stunde brauchen würde, um das andere Ufer zu erreichen.

Dennoch kam es in ihren Augen einem Wunder gleich, dass sie die Angst überwunden und schwimmen gelernt hatte. Damals hatte sie keineswegs Tjure mit offenem Mund angestarrt, wie Rurik es so gern behauptete, sondern die Schwimmer bei einem Wettkampf. Aufmerksam hatte sie sich die Bewegungsabläufe eingeprägt und anschließend verbissen geübt, wann immer es ihr möglich gewesen war. Ein verdammt langes Jahr hatten die Vorbereitungen gedauert, bis sie sich über Wasser halten konnte. Dabei hatte es bei den Schwimmern so leicht ausgesehen.

Der frostige Winter hatte sie ausgebremst, weil der See über Monate hinweg zugefroren war. Natürlich wäre das Eis perfekt gewesen, um endlich in die Freiheit zu fliehen. Aber bei den eisigen Minustemperaturen wäre sie nicht weit gekommen. Außerdem hätte Rurik mit Leichtigkeit ihren Spuren folgen können und die hohen Verwehungen hätten ein zusätzliches Hindernis dargestellt. Sie wusste nur zu gut, wie kräftezehrend es war, durch den tiefen Schnee zu stapfen.

Heute glitt sie jedoch ruhig durch das Wasser und hatte sogar das Gefühl, getragen zu werden. Das stimmte sie zuversichtlich. Die Atmosphäre um sie herum war friedlich und im Schilfgras zirpte träge ein Wasservogel. Ein Graureiher erhob sich in die Lüfte, als er sich beim Fischen im seichten Uferbereich von ihr gestört fühlte. Zeit, zur Insel zurückzukehren, um sich nicht zu sehr zu verausgaben.

Genau in dem Moment hörte sie das vertraute Motorengeräusch. Ihr Puls schnellte in die Höhe und statt kräftiger Schwimmzüge, paddelte sie hektisch im Wasser. Sie bezweifelte, dass sie es noch rechtzeitig bis zum Ufer schaffen würde. Rurik war schnell unterwegs, sein Motor heulte. Sie zwang sich mental zur Ruhe, bis ihre Bewegungen wieder koordinierter wurden. Einatmen und wieder aus, einatmen und wieder aus.

Aber das Dröhnen des Motors wurde lauter und lauter. Ob er nur wieder zum Schein weggefahren war und sie heimlich beobachtet hatte? Darin war Rurik ein Meister, ihr aufzulauern und sie anschließend in Bedrängnis zu bringen. Manchmal suchte er regelrecht nach Gründen, um sie tagelang zu schikanieren.

Das Ufer war zum Greifen nah. Dennoch rechnete sie fest damit, dass Rurik gleich in ihrem Blickfeld auftauchen würde. Wie sollte sie ihm bloß die nassen Haare erklären? Wenn er sie beim Schwimmen erwischte, wäre ihr gesamter Plan gescheitert und sie würde diese Insel nie wieder lebend verlassen. Die Verzweiflung bahnte sich einen Weg an die Oberfläche, sie musste es einfach schaffen.

Als sie endlich den steinigen Untergrund unter ihren Füßen spürte, keimte Hoffnung auf, es doch noch zu schaffen. Sie kletterte auf den Steg, raffte ihre Kleidung zusammen und rannte zum Haus. Hektisch riss sie sich die feuchte Unterwäsche vom Leib und stellte sich unter die Außendusche. Das kalte Wasser ließ sie erneut nach Luft schnappen. Zum Glück stand das Shampoo noch da und sie schäumte sich die Haare ein.

Das war der Moment, in dem Rurik anlegte. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie sah, wie er sich auf sie zubewegte. Sie wurde sich ihrer Blöße bewusst und wandte sich beschämt ab.

„Warum duschst du um diese Uhrzeit?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Ganz einfach, damit ich mich nachher voll und ganz auf die Zubereitung des Fisches konzentrieren kann. Du sollst dich außerdem an meinem ungepflegten Äußeren nicht stören.“

„Na, ich weiß ja nicht …“, brummte er.

„Warum bist du schon zurück?“, fragte sie, drehte das Wasser ab und hob das Bündel Kleidung hoch, um es schützend vor ihren Körper zu halten. „Wolltest du nicht länger fortbleiben?“

„Ich habe etwas vergessen“, erwiderte er und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Willst du jemanden daten?“

„Wie bitte?“

„Du hast die Angeln am Steg fixiert, um zu duschen. Sind das nicht Gründe genug?“

„Mit wem sollte ich mich treffen?“

„Tjure.“

Sein Blick wurde kalt. Sie fürchtete sich vor seinen Schlägen und wich einen Schritt zurück.

„Woher soll er wissen, dass du ausgerechnet heute in die Stadt fahren wirst?“

„Du streitest es also nicht einmal ab?“

„Glaubst du, dass er auf meine Rauchzeichen reagieren würde?“

Bereits kurz nach der Ankunft in Lappland hatte Rurik ihr Handy an sich genommen und anschließend behauptet, es verloren zu haben. Auf ihre Nachfrage hin, hatte er sie vertröstet und zugesagt, so schnell wie möglich ein neues zu besorgen. Aber seine Versprechungen waren nichts als leere Worthülsen gewesen. So wie immer.

„Willst du dich über mich lustig machen?“ Rurik machte einen drohenden Schritt auf sie zu.

„Nein, aber du solltest der Realität ins Auge sehen. Es ist unmöglich, mich mit jemandem zu verabreden. Außerdem ist Tjure nicht mein Typ.“

„Und wer wäre dann dein Typ?“

„Ich bin dir in den hohen Norden gefolgt und geblieben. Das sollte dir Antwort genug sein.“

„Ich misstraue dir.“

„Das weiß ich, deshalb bist du auch zurückgekommen. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss die Angeln am Steg kontrollieren.“

Sie schob sich an ihm vorbei und gab sich alle Mühe, sich ihre Furcht nicht anmerken zu lassen. Sie zitterte am ganzen Leib, als sie sich die Kleidung überstreifte und zu den Angeln hinunterbeugte. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, wie Rurik im Haus verschwand. Das war verdammt knapp gewesen.

Zumindest beim Angeln war das Glück auf ihrer Seite, es hatten tatsächlich zwei Forellen angebissen. Ihre Schuppen schimmerten silbern, als sie den Haken aus ihrem Maul entfernte. Natürlich taten ihr die Fische leid, weil Rurik sie gleich mit einem Stein töten würde. Aber es war sinnlos, sich ihm zur Wehr zu setzen. Sie stellte den Eimer mit den Fischen vor dem Haus ab und lief zurück, um die restlichen Angeln einzuholen.

Nachdem Rurik den Forellen den Garaus gemacht hatte, filetierte sie routiniert die Fische. Das heiße Öl zischte, als sie die gewürzten Filetstücke in die Pfanne legte. Nebenbei bereitete sie einen frischen Salat zu, den sie im Garten geerntet hatte. Inzwischen hatte sie ein Händchen dafür, wo was am besten wuchs. Mit einem Mal kam ihr das Wort Henkersmahlzeit in den Sinn, und sie wünschte sich, dass ihr in dieser Nacht die Flucht gelingen würde.

Nach dem Essen strich Rurik die ganze Zeit ums Haus und beobachtete sie verstohlen. Er spürte, dass etwas in der Luft lag, von dem er nicht die geringste Ahnung hatte. In dieser Hinsicht war er wie ein wildes Raubtier. Wenn er einmal Witterung aufgenommen hatte, dann blieb er an der Sache dran. Hoffentlich wurde ihr das nicht zum Verhängnis. Bis jetzt waren alle Versuche, die Insel heimlich zu verlassen, kläglich gescheitert.

Es wurde ein anstrengender Tag und sie war froh, als dieser sich endlich dem Ende zuneigte. Um Rurik aus dem Weg zu gehen, hatte sie den gesamten Nachmittag das Haus geputzt und sich am frühen Abend den Gemüsebeeten gewidmet. Er durfte keinen Verdacht schöpfen. Dumm nur, dass sie sich ausgerechnet heute schwach fühlte. Der Schrecken, als er sie beinahe im See erwischt hätte, saß ihr noch in den Knochen.

„Ich fühle mich heute nicht so gut und werde schlafen gehen. Gute Nacht“, sagte sie und ging nach oben.

Rurik hingegen blieb noch lange wach, was völlig untypisch für ihn war. Diesmal war sie es, die ihm misstraute. Er hatte ihr gesagt, dass er am Haus Kameras anbringen wollte, um vor möglichen Einbrechern geschützt zu sein. Das war ein weiterer Grund gewesen, um den Fluchtplan so schnell wie möglich in die Tat umzusetzen. Die Solaranlage auf dem Dach würde zumindest im Sommer die Kameras mit dem nötigen Strom versorgen, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er dieses Projekt umgesetzt hätte.

Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Warum blieb er ausgerechnet heute so lange wach? Sie sah ihr Vorhaben schon scheitern, als die Stufen unter seinem Gewicht knarrten. Endlich.

Schnell rutschte sie an die äußerste Kante und stellte sich schlafend. Sie fürchtete sich vor seinen Berührungen und wollte ihn am letzten Abend nicht herausfordern. Das Bett ächzte, als er sich neben sie legte. Angespannt lauschte sie seinen Atemzügen und wartete darauf, dass er endlich einschlafen würde. Irgendwann zuckte sein linker Arm und er brabbelte unverständliches Zeug. Jetzt schien er tief und fest zu schlafen.

Ganz behutsam schob sie sich aus dem Bett. Dieses Mal näherte sie sich zügig der Treppe und stieg hinab. In weiser Voraussicht hatte sie das Fenster nur angelehnt und den Hocker danebengestellt. Als der Fensterflügel aufschwang, gab er ein leises Knarren von sich. Sie hatte die Scharniere extra geölt, aber das hatte wohl nichts geholfen. Mit klopfendem Herzen lauschte sie angespannt, aber es blieb still. Dann war sie mit einem Satz draußen und huschte zu den Sträuchern, um die wenigen Habseligkeiten an sich zu nehmen.

Sie steckte noch die Schuhe hinein und befestigte die Plastiktüte mit einer Kordel um ihren Bauch. Barfuß lief sie zum Steg. Sie warf einen letzten Blick zurück und hoffte, dass Rurik sie erst eine Zeit lang suchen würde, bis ihm ein Licht aufgegangen war. Mit kräftigen Stößen schwamm sie zum gegenüberliegenden Ufer und hatte das Gefühl, sich wie in einem Albtraum nicht von der Stelle zu bewegen. Sie rechnete förmlich damit, dass Rurik am Ufer stehen und seine Jagdflinte auf sie richten würde. Im Geiste hörte sie schon seine Drohungen und das kraftvolle Heulen des Motorbootes.

Eine Eule segelte im Tiefflug über ihrem Kopf hinweg. Leichte Nebelschwaden stiegen auf, die die Sicht auf das gegenüberliegende Ufer einschränkten. Umgeben von den dunklen Fluten verkrampfte sie sich und ein eiserner Ring schnürte ihren Brustkorb ein. Nein, sie musste um jeden Preis eine Panikattacke vermeiden. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, konzentrierte sich ausschließlich auf ihre Atmung und schwamm weiter und weiter. Das Wasser des Sees war trotz der sommerlichen Temperaturen kalt und ihre Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander. Aber die Freiheit war zum Greifen nah, sie durfte nicht aufgeben.

Die Panik verebbte und auch das Ufer kam näher und näher. Auf der Insel rührte sich nichts, die Chancen standen gut, Rurik nach all den Jahren der Qual zu entkommen. Allerdings spürte sie, wie ihre Kräfte schwanden. Dem Ufer so nah, hatten sich ihre kräftigen Bewegungen wieder in ein hektisches Paddeln verwandelt. Sie ermahnte sich zur Ruhe, wo doch alles wie geplant lief. Diese Gedanken halfen ihr, bis zum rettenden Ufer durchzuhalten.

Als sie den steinigen Untergrund unter ihren Füßen spürte, hatte sie Tränen in den Augen. Das Wasser perlte von ihrer Haut und die Kleidung hing schwer und nass herab. Brust und Arme schmerzten höllisch von der körperlichen Überanstrengung und ihre Lungenflügel brannten. Kraftlos ließ sie sich ins hohe Gras sinken, zu mehr war sie nicht in der Lage. Aber sie hatte es geschafft, tatsächlich geschafft. Allein der Umstand, dass sie ihre Angst vor dem Wasser besiegt hatte, brachte sie fast zum Weinen.

Am liebsten wäre sie liegengeblieben, aber sie musste weiter. Mühsam stemmte sie sich nach oben und schwankte. Ihr Kreislauf schwächelte, weil sie am Vortag kaum einen Bissen herunterbekommen hatte. Sie bahnte sich einen Weg durch das hüfthohe Schilfgras, bis sie den Waldrand erreicht hatte. Die Bäume türmten sich dunkel vor ihr auf. Sie tauchte ein und verschmolz regelrecht mit der Umgebung. Nun war sie für Rurik unsichtbar. Aber sie durfte nicht außer Acht lassen, dass er ein guter Fährtenleser war und damit seinen Lebensunterhalt verdiente. Wildfleisch war besonders bei den Touristen heiß begehrt und ließ sich gut verkaufen.

Sie verscheuchte die unliebsamen Gedanken mit einer imaginären Handbewegung und kämpfte sich durchs dichte Unterholz. Die Nächte waren kühl, der Herbst rückte in greifbare Nähe, und sie fror erbärmlich in ihren triefenden Kleidungsstücken. Als sie sich sicher genug fühlte, löste sie die Kordel, um sich wenigstens die Schuhe wieder überzuziehen. Sie waren feucht geworden, aber das störte sie nicht. Hauptsache, sie kam schneller vorwärts.

Hin und wieder blieb sie stehen, um sich am Sternenhimmel zu orientieren. Rurik hatte ihr eine Menge beigebracht, was ihr jetzt zugutekam. Dennoch war sie unglaublich angespannt und zuckte immer wieder zusammen, wenn es hier und da raschelte oder knackte. Der Wald war auch des Nachts voller Leben. Allerdings kam es ihr so vor, als wäre er ausgerechnet heute gespenstischer als sonst. Diese Eindrücke konnten nur von der entsetzlichen Angst befeuert werden, die ihr im Nacken saß. Auch wenn sie wegen einer Baumwurzel des Öfteren ins Straucheln geriet, so kam sie gut voran. Mit jedem Meter, den sie sich von der Insel entfernt, wuchs ihre Zuversicht.

Als plötzlich ein Schuss durch die Nacht peitschte, löste sich ein erstickter Schrei von ihren Lippen und sie zitterte stärker als je zuvor. Lauf um dein Leben! Wie von Sinnen hetzte sie durch das dichte Gestrüpp und achtete nicht darauf, dass dornige Zweige ihre nackte Haut zerkratzten. Keuchend kämpfte sie sich durchs Dickicht, obwohl sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Sie hörte, wie der Motor des Bootes aufheulte und ihr Innerstes krampfte sich zusammen. Rurik war ein kräftiger Mann und es würde ein Leichtes für ihn sein, sie einzuholen. Sie hatte mindestens noch zwei Kilometer strammen Fußmarsches vor sich, bis sie die Straße erreichen würde. Jetzt war die Dunkelheit ihr einziger Freund. Rurik musste erst einmal die Stelle finden, an der sie an Land gegangen war, um ihrer Spur zu folgen. Das konnte dauern. Sein Jeep stand in einem alten Forstgebäude, er würde mit dem Wagen nur wenige Minuten bis zur Straße unterwegs sein. Sie musste ihm unbedingt zuvorkommen.

Adrenalin flutete ihren Körper und spornte sie zu Höchstleistungen an. Sie wusste, dass er sein Jagdgewehr auf sie richten und kein Erbarmen zeigen würde. Alles in ihr schrie danach, lebend davonzukommen. Die Freiheit war zum Greifen nah, sie musste es einfach schaffen. Ab und zu hielt sie kurz inne und schaute nach oben, um sich am Sternenbild zu orientieren. Sie hatte großes Glück, dass keine einzige Wolke am Himmel zu sehen war.

Irgendwann lichtete sich der Bewuchs, sie hatte die Straße erreicht. Um nicht gesehen zu werden, lief sie am Waldrand entlang in Richtung Stadt. Ihre Beine knickten immer wieder ein, weil sie sich so kraftlos fühlte. Aber sie fror nicht mehr so erbärmlich, die Kleidung war trotz der kühlen Nachtluft etwas getrocknet. Die Stille verunsicherte sie, das Motorengeräusch war schlagartig verstummt. Ob Rurik bereits ihre Spur aufgenommen hatte? Oder tappte er noch im Dunkeln.

Obwohl sie die Straße erreicht hatte, war es noch lange nicht vorbei. Um diese Uhrzeit fuhr keine Menschenseele hier entlang, alles wirkte wie ausgestorben. Hoffentlich würde sie jemand trotz ihres verwahrlosten Aussehens mitnehmen. Nichts wäre schlimmer, als einsam am Straßenrand zurückgelassen zu werden. Sie war von den Strapazen vollkommen erschöpft und taumelte vorwärts.

Irgendwann blieb sie stehen, als in der Ferne ein monotones Brummen erklang. Waren ihre Gebete erhört worden?

Tatsächlich, hinter der Kurve tauchten die Scheinwerfer eines gigantischen Zehntonners auf, der Holz geladen hatte. Ihr Herz klopfte vor lauter Aufregung wie wild, aber sie traute sich nicht, ihre Deckung aufzugeben. Was, wenn Rurik genau auf diesen Moment wartete, um sie abzupassen? Sie musste eine Entscheidung treffen und war einfach nicht in der Lage dazu. Mit einem gewagten Sprung auf die Fahrbahn würde sie alles riskieren, was sie bisher erreicht hatte. Also was sollte sie tun? Im Verborgenen bleiben oder das Fahrzeug anhalten?

Als der Truck immer näher kam, rannte sie wie von selbst auf die Straße und winkte mit den Armen. Ein lautes Hupen ertönte, dann bremste das Fahrzeug abrupt. Leise surrend fuhr die Seitenscheibe herunter.

„Mädchen, bist du verrückt geworden?“

„Können Sie mich bitte mitnehmen?“

„Du hast mir einen Wahnsinnsschrecken eingejagt.“

„Tut mir leid, aber ich bin auf Ihre Hilfe angewiesen“, flehte sie.

„Wo willst du hin?“

Isa nannte ihm den Namen der Stadt und schaute sich hektisch um, weil sie befürchtete, dass Rurik jeden Moment auftauchen könnte.

„Mitten in der Nacht?“

„Ich bin Wandern gewesen und habe mich verlaufen.“

„Hast du kein Handy dabei?“

„Doch, aber der Akku ist leer.“ Sie senkte den Blick und hoffte, dass er sie endlich bitten würde, einzusteigen.

„Willst du telefonieren?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe Angst und will einfach nur weg von hier.“ Das war nicht einmal gelogen.

„Also gut, dann steig ein.“

Sie lief auf die andere Seite, öffnete die Tür und kletterte in die Fahrerkabine. Genau in diesem Moment hörte sie ein vertrautes Motorengeräusch – Ruriks Geländewagen. Ihr Puls schnellte in die Höhe und sie hätte den Mann am liebsten angeschrien, sofort loszufahren. Aber das tat er nicht.

„Deine Klamotten sind ja nass“, sagte er.

„Ich bin im Dunkeln in den See gefallen.“

„Was für ein Pech aber auch. Ich bring dich so schnell wie möglich nach Hause“, versprach er.

„Danke schön, mein Freund wartet sicher schon auf ein Lebenszeichen von mir“, log sie, damit der Fahrer nicht auf dumme Gedanken kommen würde. Sie hatte sich in all den Jahren geschworen, nie wieder jemandem zu vertrauen.

Die Lichter von Ruriks Wagen tauchten neben ihnen auf und Isa rechnete mit dem Schlimmsten. Gleich würde er anhalten und sie aus dem Truck zerren, um sie zurück auf die Insel zu bringen und sein Urteil über sie zu verhängen. Sie machte sich ganz klein und schickte ein stummes Gebet in Richtung Himmel. Der Motor des Jeeps heulte auf, als er zum Überholen ansetzte. Nur Sekunden später waren die Rücklichter hinter der nächsten Kurve verschwunden.

„Alles in Ordnung?“

„Mhm.“ Mehr brachte sie nicht zustande.

„Ich werde die Heizung mal auf die höchste Stufe stellen, du zitterst ja.“

„Danke“, murmelte sie und schmiegte sich in das Polster des Beifahrersitzes.

„Übrigens, ich bin Jokki“, sagte er. „Und du?“

„Malin“, log sie.

„Dann willkommen an Bord, Malin.“

Jokki beschleunigte den Truck, der sich ächzend in Bewegung setzte. Vor ihnen lagen dunkle Nadelwälder und eine endlos lange Straße. Die Landschaft Lapplands zog wie eine längst vergangene Illusion an ihr vorüber. Es hätte so schön sein können, wenn dieser Albtraum nicht gewesen wäre.

„Ziehst du immer allein zum Wandern los?“, fragte Jokki unvermittelt.

„Nein, ich hatte mich mit meinem Freund gestritten.“

„So jung und verrückt möchte ich noch einmal sein.“ Jokki grinste breit. „Hier“, er deutete auf ein verblichenes Foto, das auf dem Armaturenbrett klebte. „Das sind meine Jungs und meine Frau Alma. Inzwischen sind die drei verheiratet und auch das vierte Enkelkind hat sich angekündigt.“

„Wie schön, herzlichen Glückwunsch und alles Gute.“ Ihre Worte waren aufrichtig gemeint und sie freute sich für Jokki. Er schien ein herzlicher Mensch zu sein, was ihr die Angst nahm. Schließlich kannte sie ihn nicht, er war ein Fremder.

„Danke, das ist nett von dir. Falls du Hunger hast, hinter meinem Sitz liegt eine Tüte mit Gebäck und daneben befindet sich die Thermoskanne mit heißem Tee. Bediene dich ruhig.“

Zuerst zierte sie sich, aber dann schenkte sie den dampfenden Tee in einen Becher und knabberte am Gebäck. Die wohlige Wärme hüllte sie ein und ließ sie schläfrig werden. Aber sie musste wachsam bleiben. Rurik könnte umkehren und sie durch die Frontscheibe des Trucks entdecken. Obwohl sie dagegen ankämpfte, fielen ihr immer wieder die Augen zu.

„Hast ganz schön was durchgemacht“, sagte Jokki.

„Ja, so eine Nacht wie diese möchte ich nie mehr erleben.“

Bei diesen Worten schnellte ihr Puls abermals in die Höhe. Die Flucht war die Hölle gewesen und die Anspannung würde erst nachlassen, wenn sie diese Gegend verlassen hatte. Die Kronen für das Busticket hatte sie einem Touristen abgeknöpft. Na ja, um ehrlich zu sein, war seine Geldbörse unbemerkt aus der Jackentasche gefallen und sie hatte einige Scheine herausgenommen. Anschließend hatte sie die Geldbörse auf eine Bank gelegt, damit sie gefunden wurde.

Natürlich hatte sie sich nach dieser Tat wochenlang schlecht gefühlt, aber es war der einzige Weg in ihre Freiheit gewesen.

„Es lohnt sich nicht, im Streit auseinanderzugehen“, unterbrach Jokki ihre Gedankengänge. „Du hast ja selbst gesehen, zu was das führen kann. Das war es mit Sicherheit nicht wert.“

„Ich weiß, so eine Dummheit werde ich garantiert nicht mehr machen.“

„Das freut mich. Du kannst dir gerne noch Tee nachschenken.“

„Aber dann hast du ja nichts mehr.“

„Kein Problem.“ Er lachte. „Ich würde mir sowieso viel lieber einen starken Kaffee am nächsten Rastplatz gönnen. Allerdings darf Alma von dieser kleinen Sünde nichts erfahren, weil mein Blutdruck viel zu hoch ist.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

„Ich kann schweigen“, antwortete sie und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. Himmel, wie gut das tat, sich ganz normal mit jemandem zu unterhalten. Zwar senkte sie immer wieder schuldbewusst den Blick, wie Rurik es ihr eingetrichtert hatte, aber das würde sich garantiert irgendwann legen.

Nach einer Stunde tauchten in der Ferne die Lichter der Stadt auf und ihr wurde ein wenig mulmig zumute. Rurik war ihnen nicht entgegengekommen und sie befürchtete, dass er am Busbahnhof warten könnte, um sie abzufangen.

„Wo soll ich dich absetzen?“, fragte Jokki.

„In der Nähe vom Busbahnhof, falls es keine Umstände macht.“

Er winkte ab. „Ach was, gar kein Problem. Du willst sicher ins Hotel.“

„Genau. Eine kurze Dusche und dann ab ins Bett. Nochmals vielen Dank, dass du mich mitgenommen hast.“

„Es war mir ein Vergnügen. Manchmal ist es ganz schön langweilig, allein unterwegs zu sein.“

Sie wusste sofort, was er meinte, und hätte ihm nur zu gern erzählt, wie einsam sie sich jahrelang gefühlt hatte. Aber dann hätte sie schon viel zu viel von sich preisgegeben. „Ich kann es mir gut vorstellen“, sagte sie stattdessen.

Jokki setzte den Blinker und hielt am Straßenrand, um sie aussteigen zu lassen. „Pass auf dich auf, Mädchen, diese Streitereien führen doch zu nichts. Und glaube mir, ich weiß, wovon ich spreche.“

„Vielen Dank, dass du mich mitgenommen und mit allem versorgt hast. Das ist nicht selbstverständlich.“

„Kein Problem, ich habe es gern getan.“ Er zwinkerte ihr noch einmal aufmunternd zu, hob kurz die Hand und war dann auch schon hinter der nächsten Kurve verschwunden.

Verloren blieb sie zurück und vermisste schon jetzt Jokkis fröhliche Art. In der warmen Fahrerkabine hatte sie sich sicher und geborgen gefühlt, aber jetzt war sie wieder auf sich allein gestellt. Fröstelnd rieb sie sich über die Arme und presste die schmutzige Plastiktüte an sich. Hoffentlich war Rurik nicht in der Nähe, um sie abzupassen. Sie kämpfte erneut gegen die aufsteigende Panikattacke an und traute sich nicht, zum Busbahnhof zu laufen. Aber sie musste hier weg, so schnell wie möglich.

Sie atmete noch einmal tief durch, dann lief sie los. Zum Glück war der Weg zum Busbahnhof ausgeschildert, sie hätte ihn sonst nie gefunden. Rurik hatte die Leine so kurz gehalten, das sie sich in der Gegend kaum auskannte. Vieles war ihr fremd, hatte sich in all den Jahren verändert. Sie öffnete die Plastiktüte und holte die Basecap heraus, um sie sich aufzusetzen. Hastig verbarg sie ihr langes blondes Haar unter die Kappe, damit Rurik sie nicht auf den ersten Blick erkannte. Dann betrat sie das Areal und schaute auf die Fahrpläne. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo es hingehen sollte. Hauptsache weg von hier.

Sie entschied sich für einen Bus, der innerhalb der nächsten zehn Minuten abfahren würde. Sie zog ein Ticket und setzte sich auf die Bank, um zu warten. Sie hatte ihren Kopf tief zwischen den Schultern vergraben, um ja nicht aufzufallen. Ihr Blick wanderte nervös hin und her. Ein neuer Tag hatte begonnen und allmählich erwachte das Leben um sie herum. Als endlich der Bus vorfuhr, stieg sie erleichtert ein. Zitternd zeigte sie ihr Ticket vor und setzte sich in die hinterste Reihe. Ungeduldig zählte sie die Minuten, bis der Busfahrer die Türen schloss und den Motor startete. Bei der Abfahrt hatte sie Tränen in den Augen.

Good bye, Lappland, dachte sie wehmütig. Sie hatte die Landschaft geliebt, ebenso wie die Bewohner des Nordens. Ohne deren Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft hätte sie niemals durchgehalten. Sie würde die zarte Morgenröte vermissen, die sich durch die Nebelschleier des Sees gekämpft hatte. All das gehörte nun der Vergangenheit an, ebenso wie Ruriks bestimmende Art.

Das monotone Fahrgeräusch ließ sie schläfrig werden, sie hatte die letzten zwei Tage kaum geschlafen. Aber diese grenzenlose Erschöpfung hatte auch einen anderen Grund, sie brauchte dringend Ruhe. Dabei wusste sie noch nicht einmal, wo sie die nächste Nacht unterkommen sollte. Die restlichen Kronen würden höchstens für ein oder zwei Mahlzeiten reichen, wenn überhaupt. Sie hatte nicht den blassesten Schimmer, was ihre Zukunft betraf. Keine Sozialversicherungsnummer, keine Ausweispapiere, nichts. Wer würde ihr überhaupt einen Job geben? Und selbst wenn, wie lange würde das gutgehen?

Alles erschien ihr plötzlich aussichtslos und die Hoffnung schmolz dahin wie Schnee in der Frühlingssonne. Es gab keinen Ausweg aus dieser Misere. Sobald sie ihre wahre Identität preisgegeben hätte, wäre Rurik hinter ihr her. Das durfte sie nicht zulassen.

Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Rurik hatte ihr alles genommen, sogar die Zuversicht auf ein besseres Leben. Sobald sie angekommen wäre, würde die bittere Realität sie einholen. Und davor fürchtete sie sich. Es war eine große Herausforderung nach all den Jahren in Gefangenschaft, wieder auf sich allein gestellt zu sein.

KapitelDrei

Rurik durchsuchte mehrmals jeden einzelnen Raum, doch er konnte keinen Hinweis darauf finden, wohin Isa so urplötzlich verschwunden war. Beunruhigt rannte er nach draußen und schaute sich auf dem Grundstück um. Er war ein perfekter Fährtenleser, aber jede Spur führte ihn zum Steg. War sie mit jemandem mitgefahren?

„Isa, verdammt, wo steckst du?“, rief er mit hoch erhobenen Fäusten und gab sich seinem Wutausbruch hin. Er brüllte und tobte, um seinem grenzenlosen Zorn Ausdruck zu verleihen. Sie hatte ihn zum Narren gehalten und er war dumm genug zu glauben, dass es ihr niemals gelingen würde, den See zu überqueren.

Er durchstreifte die Insel, in der irrsinnigen Hoffnung, dass sie doch noch irgendwo stecken könnte. Dabei hatte ihn eine Welle der Einsamkeit bereits erfasst. Er konnte diese immense Leere spüren, wenn jemand plötzlich nicht mehr anwesend war. Das Zirpen der Grillen war verstummt, kein einziger Fisch sprang aus dem Wasser, es war schlichtweg totenstill. Wie hatte sie ihm nur entkommen können? Was hatte er übersehen?

Nur selten verirrte sich ein Tourist auf die Insel, schon gar nicht mitten in der Nacht. Auch Tjure schied aus, er war zu einer Messe gefahren. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, dass Isa innerhalb dieser kurzen Zeitspanne entkommen konnte.

Vertrocknete Zweige knackten unter seinen Füßen, während er durchs Dickicht hastete. Was er sonst liebte, stellte ausgerechnet heute ein Hindernis für ihn dar. Egal, welchen Trampelpfad er auch einschlug, sie war nicht mehr hier. Sie musste in ein Kanu eingestiegen sein, das einzig lautlose Fortbewegungsmittel. Aber zu wem könnte sie Kontakt aufgenommen haben? Hatte Tjure vielleicht jemanden geschickt?

Isa fürchtete sich vor dem Wasser und sie hatte immer panisch geschrien, wenn er sich einen Spaß daraus gemacht hatte, das Boot zum Schwanken zu bringen. Jedes Mal hatte er sich wie ein Herrscher über Leben und Tod gefühlt und sich an der Angst in ihren Augen geweidet. Sie war ihm ausgeliefert gewesen und er hatte dieses unbändige Gefühl der Macht genossen. Nein, Isa war nicht wie die anderen, deshalb hatte er sie auch auserkoren.

Und wie hatte es ihm dieses Miststück gedankt? In dem sie einfach abgehauen war.

„Isaaaaaa!“ Sein Ruf hallte übers Wasser, als er am Ufer stand. „Komm zurück oder ich bringe dich um!“

Totenstille.

Seine Gedanken rotierten, er musste sich irgendwo abreagieren. Vielleicht, so kam es ihm unvermittelt in den Sinn, wollte sie ihn auch glauben lassen, dass sie geflohen war, und sich dann die Schlüssel schnappen, um mit dem Motorboot den See zu überqueren.

Er drehte sich um und hetzte zurück zum Haus. Er durchsuchte den Kriechkeller, den Dachboden, ja er kniete sich sogar vors Bett, um darunter nachzuschauen. Aber Isa war nicht da. Seine Kehle war wie zugeschnürt, als er zum Erdkeller hastete und die Flügeltür aufriss, die schief in den Angeln hing. Er durchforstete jeden Winkel, ließ keinen Stein auf dem anderen, in der Hoffnung, sie doch noch aufzuspüren. Aber Isa war fort.

Er lief zum Steg und landete mit einem Satz im Motorboot. Routiniert wendete er und bretterte mit Höchstgeschwindigkeit über den See, sodass sich zu beiden Seiten Fontänen bildeten. In Rekordzeit hatte er das andere Ufer erreicht, vertäute das Boot und sprintete zu seinem Wagen. Er schwang sich hinters Steuer und raste in Richtung Straße. Als er sein Ziel erreicht hatte, stürzte er zu Tjures Haus und hämmerte wild mit den Fäusten gegen die Tür. „Sofort aufmachen!“, brüllte er, obwohl er fest damit rechnete, dass ihm niemand öffnen würde. Umso erstaunter war er, als Tjure in Shirt und Boxershorts vor ihm stand und sich schlaftrunken über die Augen rieb.

„Na, sieh einer an, du bist doch zurück“, raunte er grimmig und packte Tjure am Kragen. „Ich werde dir diese Frage nur ein einziges Mal stellen, also überlege dir ganz genau, was du antwortest. Wo ist Isa?“ Tjure wand sich unter seinem Griff und versuchte, ihn abzuschütteln. Aber Rurik wusste, dass er ihm kräftemäßig deutlich überlegen war und verstärkte seinen Griff. „Ich höre?“

„Du bist total übergeschnappt“, keuchte Tjure. „Lass mich sofort los oder ich rufe die Polizei.“

„Mach doch, wenn du kannst.“

„Das wirst du bitter bereuen …“

„Wohl eher du“, höhnte Rurik. „Wo ist Isa, verdammt?“

„Auf der Insel nehme ich an.“

„Ich werde dich nicht nochmal fragen.“ Rurik löste seinen Griff und schlug ihm die Faust ins Gesicht.

Tjure stöhnte leise auf. Blut tropfte von seiner aufgeplatzten Unterlippe auf das helle Shirt. „Wozu auch? Du müsstest doch am besten wissen, wo Isa steckt. Schließlich hast du sie jahrelang weggesperrt.“

Als Rurik erneut ausholte und zuschlug, ging Tjure in die Knie. „Wen hast du geschickt, um sie abzuholen?“

„Es könnte dich in Schwierigkeiten bringen, wenn ich dich anzeige. Also halte dich gefälligst zurück“, nuschelte Tjure, weil sein Kiefer mittlerweile stark angeschwollen war.

Rurik lockerte seinen Griff. „Ich will wissen, wo sie ist.“

„Ich weiß es nicht. Wie oft soll ich das noch sagen?“

Die Männer rangen miteinander, bis ein Fahrzeug neben ihnen hielt. Rurik nahm die Hände von Tjures Kragen.

„Falls du mich angelogen hast, dann bist du fällig“, raunte er Tjure zu.

„Lass mich gefälligst in Ruhe und kauf deinen Kram demnächst woanders. Bei mir hast du jedenfalls Hausverbot.“

Rurik spuckte Tjure vor die Füße, wandte sich ab und stieg wieder in seinen Wagen. Er würde schon noch herausfinden, wer Isa zur Flucht verholfen hatte, und derjenige konnte sich auf etwas gefasst machen. Ihm war nicht entgangen, dass sich Isa während der letzten Wochen verändert und ihm etwas verheimlicht hatte. Obwohl er stets wachsam gewesen war, hatte sie sich aus dem Staub gemacht. Das nagte an ihm.

Wie betäubt kehrte er zur Insel zurück, weil er es hasste, sinnlos eine Menge Energie und teuren Kraftstoff zu verschwenden. Wiederholt durchsuchte er jeden Winkel, aber das war vergebene Liebesmüh. Irgendwann fand er sich auf dem Steg wieder und starrte minutenlang aufs Wasser. Sie war ihm tatsächlich entwischt.

Zornig schwang er die Fäuste in der Luft und brüllte seinen Schmerz in die Welt hinaus. „Das wirst du büßen, sobald ich dich gefunden haben. Und glaube mir, diesmal wirst du mit keinem blauen Auge davonkommen. Ich werde mein Wort halten und es zu Ende bringen!“

KapitelVier

Johan legte das Buch beiseite und stand auf. Mit kraftlosen Schritten lief er in die Küche, um sich einen kalten Kaffee nachzuschenken. Sein müder Gesichtsausdruck spiegelte sich verzerrt im Glas der Kanne wider. Das Nichtstun bekam ihm nicht, dabei gehörte er noch lange nicht zum alten Eisen. Aber was sollte er dagegen tun? Er war der Polizeibehörde zu unbequem geworden, weshalb sein Boss ihn in den verfrühten Ruhestand geschickt hatte.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr sich durch sein noch volles Haar. Mit Mitte fünfzig gehörte er noch lange nicht zum alten Eisen und hatte sich erstaunlich gut gehalten. Ein paar Falten um die Augen, ergraute Schläfen und ein noch immer sportlicher Körper. Darauf hatte er besonders viel Wert gelegt – ein wacher Geist in einem gesunden Körper. Nur so war man für die Verbrecherjagd gewappnet. Aber seit der Pensionierung hatte er es ein wenig schleifen lassen.

Mit der vollen Tasse kehrte er ins Wohnzimmer zurück und nahm das Foto seiner Frau in die Hand. In seinen Augen war sie eine Schönheit gewesen, sanftmütig und grazil. Das honigfarbene Haar war ihr in sanften Wellen auf die Schultern gefallen und ihr liebliches Lächeln konnte alle seine Wunden heilen. Wann immer er abgehoben war, hatte sie ihn zurück auf den Boden der Realität geholt.

Seit einem Jahr weilte sie nicht mehr unter den Lebenden und er wäre an ihrem Tod beinahe zerbrochen. Sie war mit Grizzly, dem gemeinsamen Hund, unterwegs gewesen, als das Unglück passierte. Beide waren im Eiswasser des Sees ertrunken und er hatte bis heute keine Erklärung gefunden, wie es dazu gekommen war. Ob Elin den Hund vom Eis holen wollte oder Grizzly seinem geliebten Frauchen hinterhergesprungen war, würde wohl für immer ein Geheimnis bleiben.

Der Schmerz übermannte ihn erneut und er griff sich an die Brust. Er hatte Elin so sehr geliebt, wie man einen Menschen nur lieben konnte. Sie waren füreinander bestimmt gewesen. Nach ihrem Tod hatte er sich wie besessen in die Arbeit gestürzt, wollte jeden vermaledeiten Fall unbedingt aufklären, obwohl er wusste, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit war.

Wehmütig stellte er die gerahmte Fotografie zurück an ihren angestammten Platz und öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer. Mit einem Seufzen ließ er sich auf den ledernen Bürostuhl fallen, der ein knarzendes Geräusch von sich gab, und zog die Schublade auf. Er nahm den Ordner mit den Tatortfotos heraus, die er heimlich kopiert hatte, und breitete sie auf der Tischplatte aus. Die Opfer waren regelrecht niedergemetzelt und gehäutet worden. Man musste schon hart im Nehmen sein, um den Anblick einigermaßen wegzustecken.

Zwei Jahre hatten sie gebraucht, um einen Schuldigen zu ermitteln – und jetzt war er tot. Gregor Andersson hatte sich in seiner Zelle erhängt. Mit seiner Verhaftung hatte das Morden damals schlagartig aufgehört. Aber hatte es das wirklich? Noch immer verschwanden Menschen in diesem Gebiet, wenn auch nicht mehr in dieser Häufigkeit. Hin und wieder wurden die skelettierten Überreste der Vermissten gefunden, an denen sich oft die Raubtiere bedient hatten. Viel war da nicht mehr zu finden gewesen. Dennoch hatten diese Toten bei ihm stets ein Gefühl des Unwohlseins ausgelöst.

Mit der Zeit waren ihm ernsthafte Zweifel gekommen, ob sie tatsächlich den Richtigen erwischt hatten. Doch seine Bemühungen, den Fall wieder aufzurollen, wurden von seinem Chef zunichte gemacht. Er hatte davon nichts hören wollen, für ihn war der Fall abgeschlossen. Aber der schale Nachgeschmack war geblieben. Johan war Edvin zu unbequem geworden und so hatte dieser nach triftigen Gründen gesucht, um ihn in den Ruhestand abschieben zu können. Mit gekürzten Bezügen versteht sich.

„Johan, du Masochist.“

Erschrocken drehte er sich um. Seine Schwester lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen.

„Matilda, was machst du denn hier? Ich habe dich gar nicht kommen hören.“

„Wie waren zum Brunch verabredet, mein Lieber“, antwortete sie.

„Was? Ist es tatsächlich schon so spät?“

„Du hast wie immer die Zeit vergessen. Fällt es dir wirklich so schwer, loszulassen?“

Johan zuckte mit den Schultern. „Was ist mir denn noch geblieben? Die Arbeit hat mich fit gehalten, mir eine Aufgabe verschafft, um nicht in der Trauer um Elin zu versinken.“

Matilda kam auf ihn zu und rieb ihm tröstend die Schulter. „Ich verstehe dich, auch wenn ich diesen Verlust nie erlitten habe. Vielleicht würde es dir guttun, wenn du deinen Koffer packst und den Urlaub nachholst, den du dir in all den Jahren nie gegönnt hast.“ Ihre Stimme war sanft und beruhigend wie das leise Plätschern eines Baches.

„Und mit wem soll ich die Erlebnisse teilen?“

„Vielleicht lernst du ja jemanden kennen.“

„Niemand kann Elin ersetzen.“

„Das wissen wir beide. Aber willst du bis an dein Lebensende allein bleiben? Es gibt sicher eine Frau, die sich über deine Zuneigung freuen würde.“

„Ach Matilda, aus deinem Mund klingt das immer so einfach. Welche Frau sollte sich in einen so kauzigen Mann wie mich verlieben?“

„Du bist zielstrebig, liebevoll und kannst gut mit Menschen umgehen. Da wird sie sicher großzügig über deine restlichen Macken hinwegsehen.“ Sie lachte. „Elin hat sich doch auch in dich verliebt. Warum zweifelst du so an dir?“

„Ist das nicht offensichtlich? Edvin hat mich weggeschickt, um seinen Neffen auf meinem Posten zu platzieren.“

„Warum hast du dich nicht dagegen zur Wehr gesetzt und geklagt?“

„Wozu?“ Er zuckte erneut mit den Schultern. „Es macht doch alles keinen Sinn.“

„Jetzt hör damit auf, Trübsal zu blasen. Du hast zwei wunderbare Töchter und das erste Enkelkind ist unterwegs. Was willst du noch?“

„Schon gut.“ Er winkte ab. „Ich werde mich umziehen und dann können wir los.“

„Na also, geht doch. Räum diese schrecklichen Fotos weg und konzentriere dich wieder auf das Wesentliche.“

Er hätte Matilda nur zu gern anvertraut, dass ihm damals wahrscheinlich ein großer Fehler mit der Verhaftung von Gregor Andersson unterlaufen war und er sich wegen dessen Tod schuldig fühlte. Wegen seiner verminderten Zurechnungsfähigkeit war Andersson nach dem Prozess in einer geschlossenen Anstalt untergebracht worden. Er hatte viele Jahre in Isolationshaft dahinvegetiert, damit die anderen Insassen vor ihm sicher waren. Wenn er nur wegen eines Ermittlungsfehlers dieses Schicksal auferlegt bekommen hatte, dann …

Johan wischte diesen quälenden Gedanken mit einer imaginären Handbewegung beiseite. Diese Entscheidung war nicht von ihm allein getroffen worden, besonders Edvin hatte auf eine schnelle Aufklärung gedrängt. Ja, es waren bei Gregor Andersson Beweismittel gefunden worden – eine Haarspange, ein Gürtel, Schnürsenkel und andere Dinge, die den Toten zugeordnet werden konnten. Aber genauso gut hätte jemand diese Dinge in Anderssons Haus deponiert haben können. Und dieser Jemand war der wahre Täter – ein eiskalter Killer, der seine Beute bestialisch ausweidete.

„Johan?“

„Ich komme gleich“, rief er durch die geschlossene Zimmertür und knöpfte das Hemd zu.

„Na endlich. Ich dachte schon, du wärst eingeschlafen.“ Matilda verdrehte die Augen und hakte sich bei ihm unter. Dann liefen sie gemeinsam zum Wagen.

KapitelFünf

Isa hatte Tim zur Schule gefahren und hielt vor der kleinen Konditorei, um sich ausnahmsweise ein Frühstück zu gönnen. Sie trat ein und setzte sich an einen der hinteren Tische.

„Guten Morgen, Ella“, rief Linnea ihr zu, die noch einen Kunden bediente.

„Danke, dir auch einen guten Morgen“, antwortete Isa. Sie mochte die Konditorei, die über die Jahrzehnte hinweg ihren Charme behalten hatte. Verschnörkelte Tische mit bequemen Caféhausstühlen, bunte Bodenfliesen, mit Holz vertäfelte Wände und einem Kronleuchter in der Mitte des Raumes.

„Was darf es denn heute sein?“, fragte Linnea, als sie an ihren Tisch getreten war.

„Unbedingt etwas Süßes“, erwiderte Isa lachend.

„Bist du fertig mit deinem Projekt?“

„Ja, und heute fordere ich die Belohnung ein. Was kannst du mir empfehlen?“

Linnea zählte sämtliche Kuchensorten auf, die sie im Sortiment hatten.

„Weißt du was? Bring mir einfach ein Stück von dem Schokoladenkuchen mit einem extragroßen Klecks Sahne und einen Cappuccino dazu.“

„Sehr gerne.“ Linnea verschwand wieder in Richtung Theke und kümmerte sich um ihre Bestellung.

Isa lebte nun schon seit drei Jahren in Ronneby, einem idyllischen Städtchen im südlichsten Zipfel Schwedens. Sie hatte sich ein kleines Haus gekauft und arbeitete von zuhause aus. Nachdem sie sich zwei Jahre mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten hatte, war ihr Interesse an der Programmiersprache erwacht. Nicht, dass sie besondere Fähigkeiten entwickelt hätte, sie entwarf nur kleinere Apps, die sich recht gut verkaufen ließen. Für mehr reichte das angeeignete Wissen leider nicht aus. Aber Tim und sie konnten sorgenfrei davon leben.

Ein weiterer Gast betrat die Konditorei. Der dunkel gekleidete Mann setzte sich an einen Fensterplatz und schaute immer wieder zu ihr herüber. Seinem Blick, der einige Sekunden länger auf ihr ruhte, konnte sie sich nur schwer entziehen. Verunsichert wandte sie sich ab und wartete ungeduldig auf die Bestellung. Sie hasste es, in jedem Menschen einen potenziellen Feind zu sehen. Aber es konnte durchaus möglich sein, dass Rurik einen Privatdetektiv oder einen Kopfgeldjäger engagiert hatte, um sie aufzuspüren. Nirgends war sie vor ihm sicher.

Verstohlen beobachtete sie den Fremden. Genau in diesem Moment hob er seinen Blick und schaute sie direkt an. Seine Augen waren kalt und grau und gerade das machte sie zunehmend nervöser. Nur selten ging sie unter Leute und lebte sehr zurückgezogen. Darum war sie überaus dankbar für die Möglichkeit, ihrem Job in den eigenen vier Wänden nachzugehen. Sie zog keine Aufmerksamkeit auf sich und blieb quasi unter dem Radar. Das musste auch so sein, damit Tim alle Freiheiten und eine unbeschwerte Kindheit genießen konnte.

Genau in diesem Moment kam Linnea wieder an ihren Tisch und servierte Kaffee und Kuchen. „Mit einer extra großen Portion Sahne“, sagte sie mit einem Lächeln.

„Ich danke dir“, erwiderte Isa und widmete ihre Aufmerksamkeit dem Kuchen. Die Schokoladenstückchen schmolzen auf ihrer Zunge und sie schloss genussvoll die Augen. Dann bemerkte sie einen dunklen Schatten.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte der Fremde.

Isa öffnete überrascht den Mund, ohne etwas zu sagen.

„Ich werte das als ein Ja“, sagte der Mann und setzte sich zu ihr. „Schmeckt es?“

„Ja, ich kann den Schokoladenkuchen nur empfehlen.“ Sie hatte sich zum Glück wieder gefangen.

„Stammen Sie aus Ronneby?“

„Nein, ich bin vor neun Jahren hergezogen“, log sie.

„Ich habe Sie hier noch nie gesehen.“

„Dito“, erwiderte sie und lächelte verkrampft.

„Dann haben wir uns anscheinend immer verpasst.“

„Sieht wohl so aus.“

Das Gespräch lief in eine Richtung, die ihr nicht gefiel. Sie mochte es nicht, von Fremden angesprochen zu werden. Selbst nach all den Jahren fiel es ihr immer noch schwer, jemanden anzulügen. Denn wer geübt darin war, in anderen Menschen zu lesen, würde das sofort bemerken.

„Sie sind nicht sehr gesprächig“, stellte er fest.

„Es ist noch früh am Morgen, da rede ich nicht viel.“ Sie hoffte inständig, dass er den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden hatte.

„Schade.“ Er lehnte sich zurück und musterte sie aufmerksam. „Was hat Sie nach Ronneby verschlagen?“

„Das Meer“, antwortete sie.

„Und ich habe schon gedacht, der Liebe wegen.“

„Ich liebe das Meer“, entgegnete sie, was sogar der Wahrheit entsprach. „Ich kann mir keinen schöneren Ort zum Leben vorstellen.“