Die Ankündigung - Nancy Mehl - E-Book

Die Ankündigung E-Book

Nancy Mehl

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Beschreibung

Auf der Flucht vor der Vergangenheit Kaely ist die Tochter eines Serienmörders. Vor vielen Jahren änderte die FBI-Agentin ihren Namen, um nicht mehr mit den grausamen Taten ihres Vaters in Verbindung gebracht zu werden. Doch nun holt sie die Vergangenheit ein, als ein anonymes Gedicht nicht nur ihren eigenen, sondern auch den Mord von sechs weiteren Menschen ankündigt. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Hunter versucht sie den Mörder zu entlarven. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört,einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher,Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7509-8 (E-Book)ISBN 978-3-7751-6053-7 (lieferbare Buchausgabe)

© der deutschen Ausgabe 2021SCM Verlagsgruppe GmbH · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Copyright 2018 by Nancy MehlOriginally published in English under the titleMind Gamesby Bethany House Publishers,a division of Baker Publishing Group,Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.All rights reserved.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen: Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen

Übersetzung: Heide MüllerLektorat: Esther Middeler - www.middeler.comUmschlaggestaltung: Oliver Berlin, www.oliverberlin.bizTitelbild: Adobe StockSatz: Satz & Medien Wieser, Aachen

An Gott

Danke, dass du jeden meiner Schritte begleitest.

Du bist mein Herz, meine Seele, mein Leben.

Inhalt

Über die Autorin

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Dank

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

NANCY MEHL ist Autorin von über 45 Büchern, für die sie es ins Finale des begehrten »Christy Awards« schaffte. Ihre Krimis bestechen durch eine optimale Mischung aus Spannung und Romantik. Sie lebt mit ihrem Mann Norman und ihrem Hund Watson in Missouri.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Prolog

Er stand in der Mitte seines Geheimkabinetts und starrte auf die unzähligen Zeitungsausschnitte an den Wänden. Der modrige Geruch von altem Papier wirkte wie eine starke Droge, die seinen Hass schürte. Immer wieder ballte er die Hände zur Faust. Entsetzliche Geschichten standen ihm vor Augen. Bilder von Menschen, bevor sie einem widerwärtigen Mörder zum Opfer fallen sollten, der in Des Moines vor zwanzig Jahren Furcht und Schrecken verbreitet hatte. Lächelnde Frauen auf Führerscheinfotos oder Familienbildern. Da wussten sie noch nicht, dass ihre Tage gezählt waren. Sie ahnten noch nichts von den Gräueln, die ihnen bevorstanden. Nichts deutete darauf hin, dass sie schon bald wieder abgelichtet werden würden – diesmal von Polizeifotografen, die ihre Arbeit taten, als sei ein Blutbad Routine. So etwas konnte niemals Routine sein.

Er trat näher und betrachtete ein Foto des Monsters, das schließlich hinter Schloss und Riegel kam. Ed Oliphant. Ehemann, Vater, Kirchgänger. Er hatte manches gemein mit Dennis Rader, dem berüchtigten Serienmörder, der Wichita in Kansas über viele Jahre in Atem gehalten hatte. Aber im Gegensatz zu Dennis bereute Ed seine Taten bis heute nicht. Natürlich glaubten viele Fachleute Rader seine sogenannte Reue nicht. Sie nahmen es ihm nicht ab, dass ihm seine furchtbaren Verbrechen wirklich leidtaten. Bestimmt bedauerte er nur, dass sie ihn gefasst hatten. Aber anders als Rader hatte Ed die Familien der Opfer niemals um Entschuldigung gebeten.

Er riss Eds Bild von der Wand und starrte in seine Augen – seine abgrundtief bösen Augen. 14 Menschenleben hatte dieser Mann offiziell auf dem Gewissen. Nach Ansicht vieler Fachleute noch mehr. Zwar waren nicht alle seine Opfer tot. Einige von ihnen lebten noch – schwer gezeichnet von Ed Oliphant. Er spuckte auf Eds Bild, heftete es wieder an die Wand und wischte sich angewidert einen Rest Spucke am Hosenbein ab.

Der Lumpenmann. Serienmörder sollten eigentlich keine Spitznamen bekommen. Das stachelte nur ihr Ego an. Erst nach dem siebten Mord kristallisierte sich durch Aussagen von Freunden und Angehörigen der Opfer langsam heraus, dass alle Opfer vor ihrem Tod Kontakt zu einem Obdachlosen gehabt hatten. Ein junges Mädchen hatte Ed auf eine Frau zugehen sehen, die dann 24 Stunden später tot aufgefunden wurde. Die Zeugin sprach von einem »Lumpenmann«. Daher der Name. Seine anfängliche Tarnung war geschickt gewählt, weil Obdachlose quasi unsichtbar waren. Sie wurden von den meisten Leuten ignoriert, sodass Ed es lange Zeit schaffte, sich vor aller Augen zu verstecken. Was für eine grausame Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Menschen, die ihn beachteten und ihm freundlich gesinnt waren, zu Opfern wurden.

Kaum hatten die Ermittler begonnen, nach einem Mann in Gestalt eines Obdachlosen zu fahnden, änderte Ed sein Vorgehen und verkleidete sich als Polizist. Er erkannte, dass die verängstigten Bürger von Des Moines inzwischen äußerst misstrauisch gegenüber Fremden waren. Ein Polizist hingegen galt als vertrauenswürdiger Freund und Helfer, der für Sicherheit sorgte. Zu Unrecht, was Ed Oliphant betraf. Sein Plan ging auf und machte es ihm leicht, sein grausames Spiel weiterzutreiben. Den Spitznamen »Lumpenmann« aber wurde er nie los. Er haftete ihm sogar noch in der Gerichtsverhandlung an. Einem Profiler vom FBI gelang es irgendwann, Ed das Handwerk zu legen. Der Mann vermutete richtig, dass Ed sich als Polizist ausgab. Mit diesem entscheidenden Hinweis konnten die Behörden die Fahndung eingrenzen und Ed schließlich festnehmen.

Er trat ein paar Schritte nach rechts, bis er vor einem Familienbild der Oliphants stand. Marcie, Eds Ehefrau. Bescheiden, still, freundlich. Angeblich hatte sie damals keine Ahnung, mit welchem Monster sie verheiratet war. Er glaubte ihr nicht. Auch Jessica, ihre Tochter, wollte nichts gewusst haben. Er fluchte bei dem Gedanken. Leute, die sie als Kind kannten, beschrieben sie als aufgeschlossen und kontaktfreudig – als ein intelligentes Mädchen mit einer gesunden Portion Neugier, das in der Schule glänzte. Wie konnte sie so ahnungslos gewesen sein? Bestimmt hatte sie es gewusst. Hatte nur einfach nichts gesagt. Hatte Menschen einfach sterben lassen.

Er starrte ihr Bild an. Ein Engelsgesicht, umrahmt von kastanienbraunen Locken. In ihren großen Augen lag ein argloser Blick. Ein bezauberndes Lächeln. Aber auf späteren Fotos, nachdem die Wahrheit ans Licht gekommen war, wirkte sie verändert. Ein Schatten lag über ihren einst so unschuldigen dunklen Augen. Ihr Lächeln war erloschen. Die Leute meinten, ihre kindliche Unbekümmertheit sei einer entschlossenen Wachsamkeit gewichen. Er wusste es besser. Sie litt unter der Last ihrer Schuld. Denn sie hätte ihren Vater aufhalten können. Menschenleben hätten gerettet werden können.

Nach der Verhandlung zog Marcie mit Jessica und ihrem jüngeren Bruder Jason nach Nebraska und heiratete irgendwann wieder. Er fragte sich, wie sie jemals wieder einem Mann vertrauen konnte. Glaubte sie wirklich, Männer wie Ed seien eine Seltenheit? Er schnaubte. So mancher Mann hatte seine Geheimnisse. So manche Angehörige sahen erst dann hinter die Fassade, wenn die grausame Wahrheit ans Licht kam. So war der Mensch nun einmal: hartherzig, voller Falschheit, Hass und Egoismus. Etwas anderes zu behaupten, wäre naiv.

Zum großen Leidwesen ihrer Mutter ging Jessica nach dem College zum FBI. Dann absolvierte sie in Quantico/Virginia eine Ausbildung zur Verhaltensanalytikerin – genau wie die Männer, die zur Verhaftung ihres Vaters beigetragen hatten. Jetzt lebte Jessica in St. Louis. Wegen ihres schlechten Rufs als Tochter eines Serienmörders hatten sie sie versetzt. Aber das FBI konnte es sich nicht leisten, sie zu entlassen. Sie wurde dort gebraucht. Denn sie hatte eine seltene Begabung, dem Bösen auf die Spur zu kommen. Es ging ihr um Gerechtigkeit – als ob es so etwas überhaupt gäbe! Anscheinend glaubte sie, sie könnte etwas von dem Schaden wiedergutmachen, den ihr Vater angerichtet hatte. Aber Ed Oliphant und seine Tochter würden damit nicht so leicht davonkommen.

Für das Blutbad, das er auf der Welt angerichtet hatte, gab es keine Wiedergutmachung. Und Jessica konnte niemals die böse Saat ausreißen, die tief in ihr Herz gepflanzt worden war. Niemand konnte unbeschadet auf so engem Raum mit dem Bösen leben. Und dies, ohne überhaupt etwas davon zu bemerken. Ed Oliphants Gräueltaten trieben auch in Jessica ihre Blüten. Davon war er fest überzeugt. Er war sich sicher, dass ihr Wunsch, dunkle Machenschaften aufzudecken, aus ihrem Verlangen herrührte, für ihre Schuld zu büßen. Aber er hatte nicht die Absicht, mit ihr in diesem Punkt gnädig zu sein. Das Böse musste mit der Wurzel beseitigt werden.

Er lachte leise in sich hinein. Jessica war längst nicht so schlau, wie sie glaubte. Er würde sie herausfordern. Ihren selbstgerechten Feldzug durchkreuzen und die Dinge in Ordnung bringen. Die Sünden des Vaters mussten an seinem Kind heimgesucht werden. Und er würde das Urteil fällen. Auf Gott war da kein Verlass. Er und Gott gingen schon seit Jahren getrennte Wege. Diese Tür war für immer versperrt.

Er setzte sich an den klapprigen Tisch in der Mitte des Zimmers und öffnete sein Notizbuch. Er hatte seinen Plan klar vor Augen und wusste, wie er ihn in die Tat umsetzen würde. Er hielt den Schlüssel zur Zerstörung von Ed Oliphants Tochter in der Hand – der Frau, die sich heute Kaely Quinn nannte.

Er lächelte in sich hinein. So etwas wie Euphorie stieg in ihm auf. Es war so weit. Das Psychospiel konnte beginnen.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1

Als sie dem Serienmörder roten Perlwein einschenkte, fragte sie sich, ob er ihn wohl an Blut erinnerte. Sie schob ihm das Glas hin, aber er beachtete es gar nicht. Kaely lächelte. Das hatte sie sich schon gedacht.

»Du erwürgst deine Opfer, weil du kein Blut sehen kannst«, stellte sie fest. »Du hast dich an ihren Lebensmitteln bedient. Weil du knapp bei Kasse bist, kam es dir gelegen, wenn der Kühlschrank voll war. Aber du hast nur Käse, Obst, Gemüse, Desserts, Joghurt und solche Dinge genommen.« Sie tippte an den Sockel des Weinglases. »Du bist also Vegetarier, aber kein Veganer.«

Sie zog das Weinglas weg und schob ihm ein anderes hin – diesmal mit Weißwein. Im Dunkel streckte er die Hand danach aus.

Kaely blätterte die Seiten der Akte durch, die sie mitgebracht hatte. Dann lehnte sie sich zurück und starrte auf den Stuhl gegenüber. Er war weiß und männlich. Zwischen 25 und 35. Er hatte keinen hohen Posten, war schüchtern und zurückhaltend. Im Umgang mit Menschen vermutlich sehr unbeholfen. Und doch verfolgte er eine Absicht. Nur welche? Seine Opfer konnten verschiedener nicht sein. Ein erfolgreicher schwarzer Rechtsanwalt, eine arme lateinamerikanische Künstlerin, ein weißer Collegestudent. Dass sie zum Opfer wurden, lag also nicht in ihrer Natur. Was immer ihn trieb, sie zu bestrafen, musste mit ihrem Tun zusammenhängen. Er war zornig auf die Menschen, die er tötete, empfand aber keine Lust am Töten an sich. Fühlte sich nicht gut dabei. Wenn er seine Opfer von hinten erwürgte, brauchte er ihnen nicht in die Augen zu sehen. Danach legte er sie auf den Rücken und faltete ihnen die Hände über dem Brustkorb. Das war ein Zeichen von Reue.

»Ich bin verwirrt«, sagte sie. »Es gibt keine Verbindung zwischen deinen Opfern. Unterschiedliches Geschlecht. Unterschiedliche Ethnien. Sie wohnen weit voneinander entfernt. Du scheinst dich nicht auf ein bestimmtes Gebiet zu konzentrieren.«

»Du bist verwirrt?«, flüsterte er. »Das ist ja was ganz Neues.«

»Pst!«, zischte sie. »Ich sage dir, wann du den Mund aufmachen darfst.« Kaely runzelte die Stirn. Die Regeln waren eindeutig. Sie durften nur dann sprechen, wenn sie es ihnen gestattete.

Ein Aufruhr am rechten Nachbartisch weckte ihre Aufmerksamkeit. Ein rundlicher Herr mit gerötetem Gesicht und seine eher hagere Ehefrau blickten finster zu ihr herüber. Sie hatten gerade den Kellner kommen lassen und beschwerten sich lautstark.

»Was ist das eigentlich für ein Laden hier?«, herrschte der Mann ihn an und zeigte dabei mit dem Finger auf Kaely. »Sie lassen hier Verrückte rein? Werfen Sie sofort diese Frau raus!«

Louis Bertrand, der Inhaber des Restaurant d’André, eilte herbei. Er blickte entschlossen und gestikulierte wild mit den Händen, als führten sie ein Eigenleben. »Diese Frau ist nicht verrückt, Monsieur. Das ist Kaely Quinn, die berühmte Profilerin vom FBI. Dies ist ihr Tisch, und sie darf kommen und gehen, wann immer sie möchte.«

»Aber das ist untragbar!«, schimpfte der Mann und wurde immer röter. Kaely machte sich langsam ernsthaft Sorgen um seinen Blutdruck.

»Nicht für mich, Monsieur«, stellte Louis ungerührt fest. »Aber Sie sind untragbar. Ich fordere Sie auf, sofort mein Lokal zu verlassen. Ihr Essen geht auf meine Rechnung.«

Der Mann schäumte vor Wut und fing an zu fluchen. Seine Frau, der die ganze Sache offensichtlich höchst peinlich war, packte ihre Handtasche, stand auf und stolzierte aus dem Gastraum. Der Mann aber protestierte weiter. Wütend und fassungslos, die Augen weit aufgerissen, deutete er immer wieder auf Kaely. »Aber sie spricht mit sich selbst. Da ist doch niemand!«

Kaely wäre am liebsten im Boden versunken. Eigentlich hatte sie ihre ganz eigene Methode gar nicht vor anderen Leuten anwenden wollen. Sie war nur so in die Akte versunken gewesen und hatte dabei völlig vergessen, dass sie sich in der Öffentlichkeit befand.

»Es ist mir egal, was sie tut, Monsieur. In meinem Restaurant ist sie jederzeit willkommen.« Louis packte den Mann am Arm und zog ihn auf die Füße. »Sie hat den Mörder meines Sohnes überführt und Andrés Ruf wiederhergestellt. Sie wird mit Respekt behandelt, n'est-ce pas? Wenn Ihnen das nicht passt, dann gehen Sie bitte, oui? Und setzen Sie niemals wieder einen Fuß über meine Türschwelle!«

Kaely seufzte leise. Schon oft hatte sie wegen ihrer Methode bei ihren Kollegen Kritik einstecken müssen. Nervös sah sie sich im Raum um. Auch andere Gäste starrten sie an, wenngleich offenbar keiner die Absicht hatte, Louis’ Zorn auf sich zu ziehen. Es war ihr äußerst unangenehm, den Inhaber so in Verlegenheit zu bringen. Er wollte sich erkenntlich dafür zeigen, dass sie zur Ergreifung des Mörders seines Sohnes beigetragen hatte. Aber sie wollte auf keinen Fall sein Geschäft schädigen. Sie würde sich besser hier nicht mehr blicken lassen. Um Louis’ willen.

Kaely lächelte dem Inhaber kurz zu und konzentrierte sich wieder auf ihre Akte, während Louis den wütenden Mann zum Ausgang führte.

»Er ist nicht der Einzige, der dich für verrückt hält, stimmt’s?«, wandte der Serienmörder leise ein.

»Nein, aber das bin ich ja gewöhnt. Und jetzt sei endlich still. Ich kann nicht mehr mit dir reden.«

Sie blätterte gerade noch einmal die Akte durch, als Louis an ihren Tisch trat. »Es tut mir leid, dass der Mann sich so unmöglich benommen hat. Das wird nicht wieder vorkommen, ma chère amie. Was möchten Sie denn heute gerne speisen?«, fragte er.

»Ich nehme Nizzasalat mit Lachs, Louis.«

»Eine gute Wahl. Délicieux. Und zu trinken einen Eistee?«

Sie nickte.

Früher hatte Louis immer gemeint, ein bisschen Wein könne ihr nicht schaden. Sie hatte eigentlich auch nichts gegen Wein, mied aber aus Angst vor Kontrollverlust Alkohol und Drogen jeder Art. Ihre Mutter war süchtig nach Schmerzmitteln gewesen, als Kaely 17 war. Zum Glück kam sie später davon los, aber den Kampf ihrer Mutter hautnah miterleben zu müssen, hatte in Kaely den Entschluss reifen lassen, Medikamente nur wenn unbedingt nötig zu nehmen. Langsam zog sie das Wasserglas, das sie als Weinglas für ihren unsichtbaren Tischgenossen verwendet hatte, wieder auf ihre Seite.

»Und für …?« Er deutete mit einem Kopfnicken auf den Stuhl ihr gegenüber.

»Schon gut, Louis. Ich weiß, dass da niemand ist. Es ist nur … es ist eine Art, Hinweise durchzuarbeiten. Es … es tut mir leid, dass ich Sie in Schwierigkeiten gebracht habe.«

Der Gastwirt schwieg einen Augenblick, bevor er versicherte: »Sie könnten mir nie Schwierigkeiten machen, mon amie. Wir sind Freunde und werden es immer bleiben. Mein Haus steht Ihnen immer offen. Wenn Sie nicht gewesen wären, würden die Leute immer noch glauben, André hätte sich das Leben genommen. Der Beweis, dass er Opfer eines Serienmörders geworden ist, hat meinem Jungen seine Würde wiedergegeben. Das hat seiner Mutter – und auch mir – eine Last abgenommen. Wir werden Ihnen immer dankbar dafür sein.«

»Ich habe einfach nur meine Arbeit getan, Louis. Nicht mehr.«

»Für Sie war es vielleicht nur ein Job, ma chère, aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel es mir bedeutet.« Mit einer Verbeugung wandte er sich um und ging zurück in die Küche. Kaely freute sich, dass das Restaurant d’André ein solcher Erfolg geworden war. Für Louis war es richtig heilsam. Er hatte sich mit Leib und Seele in seine Arbeit gestürzt und das hatte ihm ein Stück weit geholfen, mit seinem Schmerz fertigzuwerden.

Kaely wandte sich wieder ihrer Akte zu. Sie betrachtete die Berichte und Bilder, die vor ihr ausgebreitet lagen. Die Akte hatten sie per Eilboten aus Nashville kommen lassen, wo vor Kurzem drei Morde passiert waren. Wegen des Bundes-Serienmörderstatuts hätte Nashville auch vom FBI in Quantico Hilfe anfordern können. Aber der dortige Polizeichef hatte sich an Kaelys Vorgesetzten, Special Agent in Charge Solomon Slattery, den Leiter der FBI-Außenstelle in St. Louis, gewandt. Der Polizeichef hatte Solomon gebeten, Kaely als Erste die Akte prüfen zu lassen. Er befürchtete, dass es zu einem weiteren Mord kommen könnte, bevor das FBI genügend Personal bereitgestellt hätte.

Kaely las die Informationen noch einmal. Jedes der Opfer war zu Hause gestorben, erwürgt mit einem Gegenstand, der vom Tatort entfernt worden war. Der Gerichtsmediziner vermutete aufgrund der Würgemale eine Art Lederband, wollte sich aber nicht genauer festlegen. Nichts deutete auf Einbruch hin. Wer immer der Täter war – die Opfer mussten ihn freiwillig in ihre Häuser oder Wohnungen gelassen haben. Die Opfer kannten einander nicht und hatten auch sonst nichts gemeinsam. Der Täter musste jemand sein, von dem sie nichts Böses befürchteten. Vermutlich verkleidete er sich als Mitarbeiter eines öffentlichen Dienstleisters. Vielleicht jemand vom Stromanbieter, Kabelnetzbetreiber oder Wasserwerk. Aber die Opfer hatten unterschiedliche Anbieter für diese Dienste. Zwei davon waren zwar beim gleichen Stromversorger, aber einer lebte in einem Mietshaus, in dem alle Nebenkosten vom Eigentümer beglichen wurden. Natürlich hätte der Mörder seine Arbeitskleidung wechseln können, aber Kaely glaubte das nicht.

Er war zwar bis zu einem gewissen Grad organisiert, aber auch der Zufall spielte eine Rolle. Bei der Planung seiner Morde bewies er Organisation. Aber er konnte natürlich niemals sicher sein, ob die Leute zu Hause und für ihn erreichbar waren. Einer der Morde passierte, als ein Opfer einen Tag freigenommen hatte, um seine Mutter zum Arzt zu fahren. Das war eine spontane Entscheidung gewesen. Der Mörder konnte es unmöglich gewusst haben.

»Deine Vorgehensweise ist zwar immer gleich, aber was ist deine ganz persönliche Handschrift?«, flüsterte sie ihrem Gegenüber zu, so leise, dass niemand es mitbekommen konnte. »Was treibt dich dazu, Menschen zu töten?«

Sie bekam keine Antwort von ihrem Tischgenossen.

Während sie die Akte Seite für Seite noch einmal durchblätterte, brachte eine Bedienung ihr Essen. Hastig raffte Kaely die Fotos zusammen und klappte ihre Unterlagen zu, damit die junge Frau die verstörenden Bilder nicht sehen konnte. Zu Beginn ihrer Ausbildung in der Abteilung für Verhaltensanalyse hatten Kaely solche Bilder auch schockiert. Nun waren sie einfach wie Teile einer Art Puzzle. Es war nicht so, dass die Opfer ihr egal wären. Ganz im Gegenteil. Aber anders konnte sie ihre Arbeit nicht tun. Sie arbeitete für die Opfer. Ihre Art der Sorge war es, ihnen Gerechtigkeit zu verschaffen. Wenn sie an ihren Schicksalen zerbrach, wäre niemandem geholfen. Mit der Zeit hatte sie gelernt, um sich selbst und ihre Gefühle eine Mauer zu bauen. Zwar bekam diese Mauer manchmal Risse, aber Kaely schaffte es immer, sie irgendwie zu reparieren.

Sie dankte der Bedienung und nahm einen Bissen Lachs. Köstlich, wie immer. Nachdem die junge Dame gegangen war, nahm ihr Tischgenosse einen Suppenlöffel, begann seine Suppe zu schlürfen und bekleckerte das Tischtuch.

»Du hast keine Manieren«, stellte sie leise fest. »Du bist einfach gestrickt. Was immer dein Motiv ist, es muss einfach sein. Nichts Kompliziertes.«

Während er seine Suppe hinunterschlang, erkannte sie, dass er wohl ein sehr einfaches Leben führte. Anspruchslos. Eine kleine Wohnung oder ein Zimmer in einer Pension. Er besaß ein älteres Auto, hielt es aber vermutlich sauber. Warf keinen Müll in die Landschaft. Mochte keine Unordnung. Schnell schrieb sie ihre Gedanken auf ihren Notizblock. Sie wollte aufhören. Erst zu Hause mit ihrer »Befragung« fortfahren, aber es ließ ihr keine Ruhe. Sie musste der Sache auf den Grund gehen. Als hätte sie keine andere Wahl, als weiterzumachen, bis sie die Antwort gefunden hatte.

An einem Tisch in ihrer Nähe beglich ein Gast gerade seine Rechnung. Kaely hörte die Frau zu der Bedienung sagen: »Könnte ich vielleicht eine kleine Tüte für die Reste haben? Die bekommt mein Hund.«

»Natürlich, Ma’am«, sagte die Bedienung und räumte ein paar Teller ab. »Ich bringe Ihnen gleich eine.«

Kaely nahm noch eine Gabel von ihrem Lachs. Aber noch bevor sie sie zum Mund geführt hatte, hielt sie in der Bewegung inne. Das war es! Sie legte die Gabel wieder hin und sah erneut die Akte durch. Noch einmal las sie sorgfältig den Bericht des Gerichtsmediziners; dann die Notizen der Spurensicherung. Tatsächlich! Alles da!

Schließlich blätterte sie noch einmal die Vernehmungsprotokolle durch. Freunde, Angehörige, Nachbarn. Nach und nach formte sich vor ihrem inneren Auge ein deutliches Bild. Kaely fixierte ihr Gegenüber.

Dort saß ein Mann. Mittelgroß, etwas untersetzt, Anfang 30. Blond, schiefe Zähne und ein T-Shirt mit einem Schriftzug darauf.

»Du bist es also!«, sagte Kaely lächelnd.

»Nein, ich bin’s nicht!«, widersprach der Mann. Zwiebelsuppe tropfte auf sein T-Shirt. Darauf war ein Pandabär abgebildet und darunter ein Schriftzug: Ich sorge nicht nur für Tiere. Tiere sind mein Leben.

»Im Ernst?«, seufzte Kaely.

Sie zog ein Handy aus ihrer Handtasche. »Solomon?«, sagte sie, sobald er abgehoben hatte. »Ich habe was für Sie im Fall Nashville.« Sie hielt einen Moment inne. »Sie bekommen von mir ein Profil, aber ich kann ihnen auch gleich den Namen des Unbekannten von Nashville sagen.«

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2

Mit einem Kopfschütteln legte Special Agent Solomon Slattery, der Leiter der FBI-Außenstelle St. Louis, den Hörer auf. Er sollte Kaely Quinn mittlerweile kennen, aber sie war immer wieder für eine Überraschung gut. In all den Jahren beim FBI hatte er noch nie mit jemandem wie ihr zusammengearbeitet. Sie hatte nicht nur ein unglaubliches Talent. Sie war für ihre Tätigkeit geboren. Irgendwie war sie in der Lage, den verdorbensten Kreaturen, die diese Erde je hervorgebracht hatte, in die Seele zu blicken. Aber es war nicht nur das. Es war noch viel mehr.

Schnell wählte er eine andere Nummer. »Erwischt! Habe ich mir’s doch gedacht, dass du noch im Büro bist«, witzelte Solomon, als er die Stimme seines Freundes aus Nashville hörte.

Ein tiefer Seufzer drang an sein Ohr. »Ich versuche immer noch, diesen Kerl zu finden. Hast du was Neues für mich?«

»Wie wär’s mit einem Namen?«

Für einen Augenblick war es still in der Leitung. »Einem Namen?«, erwiderte Phil Thompson, der Polizeichef von Nashville, ungläubig. »Ich verstehe das nicht. Ich hatte ein Profil erwartet.«

Solomon lachte. »Sie meint zu wissen, wer euer Unbekannter ist.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Was du glaubst, ist deine Sache. Ich bin lediglich der Überbringer der Nachricht. Aber ich würde mal lieber nicht gegen sie wetten.«

Phil zögerte einen Moment. »Okay, spuck’s schon aus!«

Die Skepsis, die Solomon aus der Stimme seines Freundes heraushörte, ließ ihn schmunzeln. »Der Name eures Täters könnte Charles Morgan sein.«

»Nun mal langsam! Charles Morgan? Der Kerl, den wir nach dem zweiten Mord im Park vernommen haben? Seid ihr wahnsinnig? Der Typ könnte buchstäblich keiner Fliege was zuleide tun. Er ist einer von diesen wohltätigen Tierfreunden. Und arbeitet sogar für eine Tierschutzorganisation. Niemals!«

»Kaely hat euren Unbekannten als jemanden beschrieben, der sich für unerwünschte und misshandelte Tiere einsetzt. Er ist Vegetarier. Absolut unauffällig. Niemand, den man unter normalen Umständen verdächtigen oder auch nur bemerken würde. Wenn ihr Morgans Familienverhältnisse unter die Lupe nehmt, findet ihr bestimmt heraus, dass er als Kind von einem oder auch beiden Elternteilen misshandelt wurde, aber vermutlich eine Katze oder einen Hund hatte. Sein Tier wurde seine Familie. Mit Menschen kann er nichts anfangen. Hat wohl keine engen, dauerhaften Beziehungen. Aber Tieren fühlt er sich verbunden und versteht die Leute nicht, die keine haben wollen. Er hält sie tatsächlich für Egoisten, die für die Tiere verantwortlich sind, die keiner aufnimmt und die schließlich eingeschläfert werden. Das macht ihn zornig und er will Rache üben.«

»Das ist ja verrückt! Wie um alles in der Welt …?«

»Erstens haben eure Opfer nichts gemeinsam.«

»Das stimmt allerdings. Wir konnten keine Verbindung feststellen.«

»Keiner davon hat ein Haustier«, stellte Solomon sachlich fest.

»Da bin ich mir allerdings nicht so sicher.«

»Dann prüft das bitte.«

»Machen wir.«

»Ihr müsst auch eine Erklärung für die Tierhaare finden.«

»Welche Tierhaare?«, fragte Phil.

»Tierhaare auf den Kleidern der Opfer. Tierhaare bei ihnen zu Hause.«

»Wir haben nur ganz wenige gefunden. Bestimmt versehentlich dort eingeschleppt. Passiert andauernd. Freunde und Angehörige kommen zu Besuch und bringen ihre Tiere mit.«

»Kann sein, aber erklär mir mal die Hundehaare am Hals bei zwei Opfern.«

Solomon hörte, wie Phil Unterlagen durchblätterte. »Oh … okay.«

»Sie wurden mit einer Leine erwürgt. Einer Hundeleine.«

»Aber dieser Kerl … Ich meine …«

»Morgan ist stark genug, um jemanden von hinten zu erdrosseln, Phil. Vielleicht findet ihr bei den Opfern zu Hause eine Art Flugblatt. Du weißt schon – irgendeinen Spendenaufruf, zum Beispiel für ein Tierheim. Damit könnte er sich Zutritt verschafft haben. Selbst Leute, die keine eigenen Haustiere haben, können nur schwer Nein sagen, wenn jemand misshandelten Tieren helfen will.«

Diesmal sprach die Stille in der Leitung Bände.

»Ihr habt schon so was gefunden, stimmt’s?«

»Stimmt. Bei zwei Opfern in der Wohnung. Wir dachten, die seien in der Gegend verteilt worden.«

»Nein«, entgegnete Solomon. »Er hat sich damit Zugang verschafft. Weil er einen harmlosen Eindruck machte, haben die Leute ihn reingelassen.«

Phil schnaubte. »Jetzt warte mal. Die Opfer waren bereit, für den guten Zweck zu spenden, aber das war nicht genug?«

»Nicht für diesen Kerl. Vermutlich meint er, die wollen sich nur freikaufen.«

»Das ist doch Quatsch!«

»Oha … war das jetzt eine ernsthafte Bemerkung?«

»Nein. Also gut, wir sehen zu, dass wir ihn finden und noch einmal vernehmen. Ich halte dich auf dem Laufenden.«

»Ich bitte darum. Und … ach ja, dieser Kerl nimmt keine echten Trophäen mit, aber vielleicht entdeckt ihr ja leere Lebensmittelverpackungen aus den Wohnungen der Opfer. Ihr könntet sogar Spendengelder finden. Möglicherweise hat er sie noch nicht weitergeleitet, aber falls Schecks auftauchen …«

»Wir schauen. Und … Solomon …«

»Ja?«

»Ich danke euch. Es könnte sein, dass deine Agentin einen vierten Mord verhindert hat. Sie ist wirklich erstaunlich. Jemand wie sie ist mir noch nie begegnet.«

»Ich weiß. Und … übrigens, Phil, Special Agent Quinn ist sich durchaus bewusst, dass ihr es seid, die diese Fälle eigentlich lösen. Ohne Morgans Aussage in der Akte hätte sie diesem Kerl niemals auf die Spur kommen können.«

Vom anderen Ende der Leitung kam ein leises Lachen. »Ich weiß, dass sie Respekt vor uns hat, Solomon. Das ist einer der Gründe, warum wir sie so schätzen. Ich bin auch überhaupt nicht beleidigt. Nur sehr dankbar.«

»Seht einfach zu, dass ihr die nötigen Beweisstücke findet, um diesen Fall zu lösen, damit wir Kaely aus dem Spiel lassen können. In der Verhaltensanalyse sind ihre Alleingänge nicht so gern gesehen. Mach’s gut, Phil.«

»Du auch.«

Solomon legte auf und sah auf die Uhr. 20:30 Uhr. Eigentlich sollte er schon längst zu Hause sein, aber er war noch nicht fertig. Joyce, seine Frau, war in den letzten Monaten immer stiller geworden. Er wusste, wie sehr sie ihren Sohn Austin vermisste, der vor ein paar Monaten als letztes Kind das Haus verlassen hatte, um aufs College zu gehen. Ihre Tochter Teresa war nun im dritten Studienjahr und Hannah, ihre andere Tochter, schon verheiratet und lebte in Seattle. Das elterliche Nest war leer und Joyce fühlte sich verlassen und nutzlos. Er hatte gehofft, dass sie sich andere Beschäftigungen suchen und neue Interessen entwickeln würde. Aber bisher war das nicht geschehen. Sie schien so auf ihn fixiert und verlangte nach mehr Aufmerksamkeit, als er ihr geben konnte. Wenn er abends von der Arbeit kam, fühlte er sich körperlich und emotional ausgelaugt. Joyce wollte gern mit ihm auf eine zweiwöchige Kreuzfahrt in die Karibik gehen und lag ihm schon lange damit in den Ohren. Vielleicht würde es sich irgendwann machen lassen. Sein Stellvertreter konnte für eine Weile die Leitung übernehmen. Ron war zwar noch nicht lange da, aber er war eine hervorragende Vertretung. Und warum wehrte Solomon sich eigentlich innerlich gegen den Wunsch seiner Frau? Warum zog es ihn nicht nach Hause? Er griff zum Telefon und rief Joyce an, um ihr zu sagen, dass er nun endlich auf dem Weg sei. Sie klang bedrückt. Und er fühlte sich schuldig.

Kaely bremste vor dem Pförtnerhäuschen an der Einfahrt zu ihrem geschlossenen Wohnkomplex. Ernie Watts, der Wachmann, lächelte ihr zu und winkte sie durch. Als Polizist im Ruhestand sicherte er nun die Anlage, in der Kaely eine Eigentumswohnung hatte. Eigentlich hätte sie lieber auf dem Land gelebt, fernab der vielen Menschen. Aber Drohungen in der Vergangenheit machten einen gewissen Schutz unumgänglich.

Sie steuerte ihren Wagen auf ihren überdachten Parkplatz und stieg aus. Der Novemberwind blies ihr scharf ins Gesicht, als sie zu ihrer Eingangstür lief. Ihre Maisonettewohnung kam ihrem derzeitigen Lebensstil sehr entgegen. Sie war pflegeleicht und sicher, aber nicht mehr als ein Platz zum Schlafen und Arbeiten. Alex hatte oft gewitzelt, ihr Zuhause sei ungefähr so einladend wie ein Motelzimmer: schnörkellos, jedes Ding an seinem Ort, nichts, was nicht irgendwie funktional wäre. Aber genau so wollte Kaely es haben.

Sie schloss auf, trat ein und zog schnell die Tür hinter sich zu. Ihr erster Weg führte sie in die Küche, wo das Licht brannte. Ihre Freundin Georgie stand hinter der Küchentheke und lächelte sie an.

»Hallo«, begrüßte sie Kaely, als sie hereinkam. »Hast du Mr Hoover vergessen?«

Kaely seufzte. »Danke, dass du mich daran erinnerst. Eigentlich wollte ich gar nicht so spät kommen. Was wäre ich ohne dich?«

Ein Schmunzeln ging über Georgies freundliches, von braunen, welligen Haaren umrahmtes Gesicht. »Ich weiß nicht. Hoffentlich ist es okay für dich, dass ich mich reingelassen habe.«

»Klar. Du kommst immer genau zur richtigen Zeit.« Mr Hoover, Kaelys Kater, sprang auf die Anrichte und setzte sich. Ein schönes Kerlchen. Genau so hatte sie sich immer ihr erstes Haustier vorgestellt. Graue Streifen, eine weiße Nase und vier weiße Pfoten. Sie lächelte, als er anfing, laut zu schnurren.

»Bist du froh, dass du auf meinen Rat gehört und Mr Hoover in dein Leben gelassen hast?«, fragte Georgie.

»Ja. Du hattest recht. Er ist genial. Als Kinder durften wir keine Haustiere haben.«

»Ich weiß. Tut mir leid.« Ihre braunen Augen waren voller Mitgefühl.

»Danke, aber das ist schon okay. Vor allem jetzt, wo ich ihn habe.«

Der stattliche Kater schnurrte noch lauter, als habe er Kaelys Worte verstanden. Kaely hatte ihn richtig lieb gewonnen und sogar nach dem berüchtigten Direktor des FBI benannt. Bei ihren unregelmäßigen Arbeitszeiten und ihrer Eigenart, sich in Fälle zu verbeißen, war sie nicht so sicher gewesen, ob sie eine gute Haustierbesitzerin sein würde. Gut, dass Georgie immer in der Nähe war und sie daran erinnerte, was Mr Hoover brauchte. So war Kaely zuversichtlich, diesen Probelauf zu bestehen.

Kaely war sehr dankbar für Georgie. Eine Freundin, genau wie sie sie brauchte. Eine, mit der sie über alles reden konnte, die ihr aber andererseits nie zu nahetrat. Sie erinnerte Kaely an ihre beste Schulfreundin. Eine der vielen, die sie verloren hatte, nachdem ihr Vater festgenommen worden war.

»Was hattest du denn zum Abendessen?«, fragte Georgie.

Kaely goss sich ein Glas Eistee ein. »Den Nizzasalat mit Lachs. Er war ausgezeichnet, aber heute ist was schiefgelaufen.«

Georgie setzte sich auf einen der Stühle an Kaelys Küchentresen. »Wie meinst du das?«

»Ich war so in eine Akte vertieft, dass ich vergessen habe, wo ich war und ich … ich …«

»Du hast angefangen, mit jemandem zu reden, der gar nicht da war?«

Kaely nickte. »Ich kann das gar nicht glauben. Die Leute am Nachbartisch haben sich beschwert und Louis hat sie rausgeworfen. Das war mir vielleicht peinlich!« Kaely ließ sich auf den Stuhl neben Georgie fallen. Sie spürte die ersten Anzeichen von Spannungskopfschmerz und rieb sich die Schläfen. »Wie konnte ich bloß …? Vor allem nach dem, was in Quantico passiert ist …«

»Ach komm, meine Liebe, das war doch bloß ein Fehler. Sei nicht zu hart mit dir. Du verrennst dich so in deine Fälle, dass du manchmal vergisst, wo du bist.«

»Normalerweise nicht, aber Solomon hatte einen ganz dringenden Auftrag für mich. Und Louis besteht darauf, dass ich mich mindestens einmal im Monat zum Essen blicken lasse. Da dachte ich, ich könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Offensichtlich war das keine gute Idee. Aber keine Angst: Ich nehme in Zukunft keine Akten mehr mit in die Öffentlichkeit.«

Georgie nickte. »Gut. Nimm sie lieber mit nach Hause. Hier hast du den idealen Ort, wo du sie in aller Ruhe studieren kannst.«

Georgie spielte auf Kaelys Arbeitszimmer im oberen Stock an. Dort waren an einer Wand ein großes Whiteboard und eine riesige Pinnwand aufgehängt, die sie benutzte, um Beweisstücke zu sortieren. Manchmal half ihr das, Verbindungen und Muster zu erkennen, aus denen ein stichhaltiges Profil entstehen konnte. Sie nannte diesen Raum ihre Einsatzzentrale. Hier setzte sie sich mit Leib und Seele im Kampf gegen das Böse ein. In einer Ecke hatte sie auch einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen aufgestellt. Gewöhnlich führte Kaely hier ihre »Vernehmungen« durch. Dieser Raum war der einzige in ihrer Wohnung, der ihr wirklich etwas bedeutete. Wenn sie nicht schlief, verbrachte sie die meiste Zeit hier in ihrer Einsatzzentrale, arbeitete an Fällen, dachte nach, war einfach sie selbst.

»Irgendwann muss ich mal anfangen, mich wie andere Ermittler zu benehmen. Niemand sonst kommt auf so seltsame Ideen.«

»Na ja, du bist eben nicht wie jeder andere. Und deine Methode leuchtet absolut ein, wenn man bedenkt, wie du erzogen wurdest.«

»Dir vielleicht, aber anderen nicht. Zumindest nicht in Quantico.«

»Ach, vergiss doch Quantico! Du bist jetzt in St. Louis und dein Chef, dieser Special Agent Slattery, hält dich für genial. Gib einfach dein Bestes hier. Dann ist alles gut.«

Kaely lächelte. »Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne dich tun sollte, Georgie. Du schaffst es immer, mich wieder aufzubauen. Das weißt du doch, oder?«

Georgie nickte. »Ja, dafür bin ich schließlich da.« Die Stirn in Falten gelegt, blickte sie Kaely einen Augenblick lang besorgt an. »Wie geht es dir denn wirklich? Ich meine, jetzt, wo Alex weg ist?«

Kaely nahm noch einen Schluck Eistee und zuckte mit den Schultern. »Ich habe kein Problem damit. Es war seine Entscheidung.«

Georgie lächelte. »Okay, also noch einmal von vorne. Und diesmal sagst du mir die Wahrheit.«

Kaely blickte ihrer Freundin in die Augen. »Ich vermisse ihn«, gestand sie leise. »Aber ich musste ihn gehen lassen. Er wollte … mehr. Das konnte ich ihm nicht geben. Verstehst du das?«

»Schon. Aber weißt du, irgendwann musst du jemanden in dein Leben lassen. Das ist gesund. Ich sehe, dass du versuchst, dich selbst zu schützen. Deine Arbeit hat oberste Priorität für dich. Aber Menschen brauchen Liebe, Kaely. Du bist jetzt vierunddreißig. Willst du einmal heiraten? Kinder haben?«

»Ich weiß nicht. Eigentlich vermisse ich gar nichts.« Sie lächelte Georgie an. »Ich habe doch dich und Richard. Das reicht mir.«

»Das reicht nicht, Kaely, und das weißt du ganz genau.«

Kaely trank ihren Tee aus und stand auf. »Nein. Richard ist extra aus Des Moines hergezogen, damit ich nicht so alleine bin. Er ist für mich der Vater, den ich niemals hatte. Ich kann gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet.«

»Na ja, der gruselige Reporter ist dir auch aus Des Moines hierher gefolgt. Das hat dir ganz bestimmt nicht geholfen.«

»Aber Richard ist nicht Acosta. Das sollte dir doch klar sein.«

Dr. Richard Barton war ein langjähriger Freund der Familie. Er und seine Frau Bella hatten Kaelys Eltern sehr nahegestanden. Sie waren damals am Boden zerstört gewesen, als Kaelys Vater sich als der »Lumpenmann« entpuppte. Vor allem, weil Richard Familientherapeut war. Er machte sich solche Vorwürfe, dass er Kaelys Vater nicht durchschaut hatte. Nach Bellas Tod folgte Richard Kaely nach Virginia, um sie zu unterstützen. Als sie dann nach St. Louis versetzt wurde, zog auch er noch einmal um. Er und Georgie waren die einzigen Menschen, denen Kaely vollkommen vertraute. Wann immer sie Mitgefühl, ein offenes Ohr oder ein ermutigendes Wort nötig hatte, war Richard für sie da. Sie wusste tatsächlich nicht, was sie ohne ihn tun sollte. Und Georgie konnte sie Dinge anvertrauen, die sie nicht einmal Richard sagen würde.

»Ich mag Richard auch, aber er ist schon fast 60. Und auch nicht so richtig dein Typ.« Georgie lachte. »Du warst tatsächlich noch nie verliebt. Reizt es dich gar nicht, zu wissen, wie das ist?«

»Nicht jede Frau braucht einen Mann, um sich als vollwertig zu empfinden, Georgie.« Kaely deutete zur Tür. »So sehr ich dich mag, aber bitte geh jetzt. Ich brauche ein bisschen Schlaf.«

Sonst verabschiedete Georgie sich immer sofort, wenn Kaely bereit war, allein zu sein – aber heute rührte sie sich aus irgendeinem Grund nicht vom Fleck.

»Was ist denn los?«, fragte Kaely.

»Weißt du noch, als wir mal über … ein Gefühl geredet haben? Dieses Gefühl, dass was nicht stimmt? Als ob bald irgendetwas Schlimmes geschehen würde?«

Kaely schmunzelte. »Du meinst, so eine dunkle Vorahnung wie im Star-Wars-Film, den wir neulich gesehen haben?«

Georgie stand auf und sah Kaely in die Augen – todernst. »Irgendetwas braut sich zusammen, Kaely. Ich weiß zwar nicht, was, aber ich spüre es. Du nicht?«

Kaely schwieg, als Georgie ging, aber sie musste zugeben, dass auch sie dieses Bauchgefühl schon seit Tagen mit sich herumschleppte. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie löschte die Lichter. Während sie im Dunkeln dastand, versuchte sie, die vage Befürchtung drohender Gefahr abzuschütteln. Irgendetwas lauerte im Verborgenen und nahm sie ins Visier.

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3

Solomon hatte gerade seine zweite Tasse Kaffee ausgetrunken, als seine Assistentin mit einem seltsamen Gesichtsausdruck in sein Büro trat.

»Stimmt etwas nicht, Grace?«, fragte er.

»Tut mir leid, Solomon. Es ist schon wieder dieser Reporter vom St. Louis Journal.«

Er spürte einen Anflug von Unmut in sich aufsteigen. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich ihn nicht sprechen will. Schicken Sie ihn zu unserer Pressesprecherin.«

»Das habe ich ja versucht, aber er besteht darauf, mit Ihnen selbst zu sprechen. Angeblich steht Kaely Quinns Leben auf dem Spiel.«

»Ach, bitte! Er hat ihr schon so viel Ärger gemacht. Jetzt fängt er wieder damit an. Sagen Sie ihm, er soll verschwinden und sich nicht mehr hier blicken lassen.«

Jerry Acosta versuchte schon seit einem Jahr, einen Termin für ein Interview mit Kaely Quinn zu bekommen. Er war ein absoluter Plagegeist, der sogar die Frechheit besessen hatte, ihr von Virginia nach St. Louis zu folgen. Acosta war wild entschlossen, geradezu besessen von dem Gedanken, ein Buch über die Tochter eines Gewalttäters zu schreiben, die sich nun den Kampf gegen Gewalttäter zur Lebensaufgabe gemacht hatte.

In Quantico hatte Kaely wesentlich zur Aufklärung einiger schwerer Verbrechen beigetragen. Kaum hatte Acosta von der talentierten Profilerin erfahren, da plante er auch schon, ihre Geschichte zu Papier zu bringen. Erst dann erfuhr er von ihrer Vorgeschichte. Als er Kontakt zu ihr aufnahm, traf sich Kaely mit ihm, nur um ihm klarzumachen, dass sie nichts mit ihm zu tun haben wollte. Aber Acosta war hartnäckig. Er werde sie erst dann in Ruhe lassen, wenn sie ihm ein ausführliches Interview für sein Buch gewährt hätte. Das aber hatte sie bereits ausgeschlagen, weil sie ihm nicht so viel Macht über ihr Leben einräumen wollte.

Als ein Zeitungsartikel Kaely als Tochter des »Lumpenmanns« publik machte, beschloss der Leiter der Abteilung für Verhaltensanalyse, sie zu versetzen. Das FBI entschied sich für St. Louis, wo man bereit war, sie aufzunehmen. Ihre Vorgesetzten in Quantico hatten ihr versichert, sie nicht deshalb wegzuschicken, weil sie sie nicht mehr haben wollten. Sie sahen sich vielmehr gezwungen, Störungen im Team zu vermeiden – und Kaely vor Leuten zu schützen, die sie für die schrecklichen Taten ihres Vaters verantwortlich machten.

Kaelys Annahme, Acosta hätte bekommen, was er wollte, und würde sie nun in Ruhe lassen, war ein Irrtum. Er war tatsächlich in St. Louis aufgetaucht und hatte sogar schon einige Artikel über Kaely im St. Louis Journal veröffentlicht.

Solomon seufzte. Es war nicht einfach gewesen für Kaely, aber sie hatten es überstanden. Das dachten sie zumindest. Aber irgendwie hatte Acosta von Kaelys unkonventioneller Art, Profile zu erstellen, Wind bekommen. Bis heute wusste Solomon nicht, wer ihm das verraten hatte – vermutlich einer ihrer Mitauszubildenden in der Verhaltensanalyse in Quantico. Sie hatte Solomon gestanden, einer anderen Agentin, die sie für vertrauenswürdig hielt, davon erzählt zu haben. Doch diese hatte es trotzdem ausgeplaudert. Irgendwie musste es zu Acosta durchgesickert sein. Solomon fluchte leise. Es war kein Wunder, dass Kaely vielen Menschen nicht traute.

Da fiel ihm auf, dass er seine Arme gerade so stark gegen die Seiten seines Bürostuhls presste, dass sie schmerzten. Er versuchte bewusst, sich zu entspannen, aber es gelang ihm nicht. Was hatten sie nicht alles unternommen, um Kaely vor der Öffentlichkeit abzuschirmen. Aber Acosta verfolgte gnadenlos und ehrgeizig seine ganz persönliche Mission. Durch mehrere Anrufe bei der Zeitung hatte Solomon schließlich erreicht, dass die belanglose Kolumne über sie eingestellt wurde. Doch auch ohne immer neue Geschichten hatten die Menschen sie nicht vergessen. Sein Büro wurde ständig von Schriftstellern, Reportern und sogar Polizeibeamten belästigt, die etwas über die unglaubliche Kaely Quinn und ihre höchst ungewöhnliche Vorgeschichte erfahren wollten.

Solomon hatte von Anfang an beschlossen, Kaely zu behalten und die Störungen zu ignorieren. Langsam war der Hype abgeebbt. Aber nun war Acosta wieder aufgetaucht. Solomon hatte nicht die Absicht, ihm beim Schreiben seines Buches behilflich zu sein.

»Wie gesagt, Grace, schicken Sie ihn bitte zu Jacqueline Cross. Ich habe heute keine Zeit, mich mit ihm zu befassen.«

»Er sagt, er hat einen Brief. Etwas … Beunruhigendes. Eine Drohung gegen Agent Quinn. Er scheint fest davon überzeugt zu sein: Wenn Sie ihn nicht empfangen, steht Kaelys Leben auf dem Spiel.«

»Grace, bitte …«

Sie aber ließ sich nicht abwimmeln. Die Augen zu Schlitzen verengt, starrte sie ihn an. Solomon kannte diesen Blick und wusste, was er bedeutete. Für Grace war es bereits beschlossene Sache, dass er diesen Kerl empfangen sollte.

Er seufzte erneut, diesmal wesentlich lauter. »Also gut. Fünf Minuten, Grace. Und keine Sekunde länger.«

»Ja, Solomon«, entgegnete sie besänftigend. Er beschloss, die winzige Spur von Triumph in ihrer Stimme zu überhören.

Solomon griff nach seinem Kaffee und nahm einen Schluck. Kalt. Auch das noch! Acosta war ein aufdringlicher Lügner, der alles zu tun bereit war, um seine Story zu bekommen. Solomon hatte keine Ahnung, was er diesmal im Schilde führte, aber sicherlich war es wieder irgendein Trick, mit dem er das FBI dazu bringen wollte, ihm das ersehnte Interview zu gewähren.

Ein paar Minuten später trat Jerry Acosta in Solomons Büro. Heute wirkte er etwas verändert. Sein gewohntes schmeichlerisches Lächeln war verschwunden und er sah ein wenig nervös aus.

»Also, Acosta. Worum geht’s heute? Was immer Sie hierher treibt, Sie werden nicht mit Special Agent Quinn sprechen.«

Ohne Aufforderung ließ Acosta sich auf einen der Stühle vor Solomons Schreibtisch sinken. »Deshalb komme ich heute gar nicht. Es geht um … etwas anderes. Ich hatte das Gefühl, Sie sollten es sofort sehen.« Er griff in seine zerschlissene Aktentasche und zog einen wiederverschließbaren Plastikbeutel heraus. Darin befand sich offenbar ein Brief. Was hatte das zu bedeuten?

»Dieses Schreiben habe ich heute Morgen per Post bekommen. Zum Schutz habe ich es in die Plastiktüte gesteckt. Ich meine, falls Fingerabdrücke darauf sind. Beim Öffnen habe ich den Brief natürlich angefasst, meine müssen also auf jeden Fall darauf sein. Tut mir leid. Ich habe nicht gleich begriffen, was es war.«

Solomon nahm dem Reporter die Tüte aus der Hand und legte sie vorsichtig auf seinen Schreibtisch.

Druckbuchstaben auf billigem Notizpapier mit gelben Linien. Einfach aufzutreiben. Auch der Umschlag war einfach. Nichts Besonderes. Selbstklebend. Wahrscheinlich keine DNA-Spuren. Keine Absenderadresse. Abgestempelt in St. Louis. Bei näherem Hinsehen erkannte Solomon ein Gedicht.

Sieben kleine ElefantenEine Grabrede für Kaely Quinn

Sieben kleine Elefanten gingen mal spazieren.

Da stellte irgendwer im Wald

mit einem Schlag dort einen kalt.

Sechs kleine Elefanten packten ihre Sachen

und machten sich ganz schnell davon.

Noch hatten sie gut lachen.

Sechs kleine Elefanten schwammen im See.

Dabei ging leider einer drauf.

Er tauchte nicht mehr lebend auf.

Fünf kleine Elefanten packten ihre Sachen

und machten sich ganz schnell davon.

Noch hatten sie gut lachen.

Fünf kleine Elefanten saßen auf der Schaukel.

Da packte einer einen Strick,

ist irgendwann daran erstickt.

Vier kleine Elefanten packten ihre Sachen

und machten sich ganz schnell davon.

Noch hatten sie gut lachen.

Vier kleine Elefanten spielten mit dem Feuer.

Und einer kam – so ist das eben –

bei der Zündelei ums Leben.

Drei kleine Elefanten packten ihre Sachen

und machten sich ganz schnell davon.

Noch hatten sie gut lachen.

Drei kleine Elefanten setzten sich zum Essen.

Da legte nach dem ersten Bissen

einer sich aufs Ruhekissen.

Zwei kleine Elefanten packten ihre Sachen

und machten sich ganz schnell davon.

Noch hatten sie gut lachen.

Zwei kleine Elefanten spielten ganz allein.

Einer sorgte für Klarheit,

sagt’ dem Häscher die Wahrheit.

Eine Elefantendame packte ihre Sachen

und machte sich ganz schnell davon,

bald gab’s nichts mehr zu lachen.

Eine Elefantendame stand vor ihrem Richter.

Der befand sie für schuldig.

Nun war’s aus mit geduldig.

Jessica Oliphant packte ihre Sachen

und gab sich die Kugel,

um ein Ende zu machen.

Sag Jessica, dass die Elefantenjagd bald beginnt.

Warte nur ab!

Solomon ließ den Plastikbeutel fallen, als würde er brennen. Er fluchte laut und sprang von seinem Stuhl auf. »Was für ein faules Spiel treiben Sie diesmal?«, schrie er Acosta an. »Glauben Sie im Ernst, Sie dürften jetzt mit Agent Quinn sprechen? Da haben Sie sich aber getäuscht. Raus hier! Sofort!«

Der Reporter blieb sitzen, schlug aber nun einen deutlich gedämpften Ton an. »Bitte, Agent Slattery, glauben Sie mir: Dies ist kein Spiel. Ich … ich habe diesen Brief tatsächlich mit der Post bekommen. Eigentlich wollte ich ihn gleich meinem Chef zeigen. Aber dann habe ich es mir anders überlegt und ihn zuerst zu Ihnen gebracht. Auf der Rückseite ist eine Notiz vom Absender an mich.«

Solomon schnaubte angewidert, drehte den Beutel um und las:

Acosta,

übergeben Sie dies persönlich Solomon Slattery vom FBI, wenn Sie je wieder etwas von mir hören wollen. Wenn Sie das nicht tun, verlieren Sie nicht nur Ihre eindrucksvolle Story, sondern auch noch Ihr Leben.

Solomon drehte sich schier der Magen um. Würde ein Schleimer wie Jerry Acosta so weit gehen? Irgendwie konnte er sich das nicht vorstellen.

»Ich bitte Sie nicht um ein Interview mit Agent Quinn«, fuhr Acosta fort. »Es ist nur … dies könnte echt sein. Bitte nehmen Sie es ernst.« Er griff nach seiner Aktenmappe. »Ich habe eine Kopie von dem Brief, und nun muss ich zu meinem Chef.« Er schluckte. »Ich … ich musste mich an die Spielregeln halten. Um Special Agent Quinns willen.«

Nervös klopfte er mit den Fingern auf die Aktenmappe. »Tun Sie, was Sie für richtig halten, aber ich glaube wirklich, ihr Leben ist bedroht. Vielleicht steckt irgendein Verrückter dahinter, aber ich habe gar kein gutes Gefühl bei der Sache. Bitte tun Sie es nicht einfach so ab, nur weil Sie mich nicht ausstehen können.« Er hielt einen Augenblick inne. »Sie werden es mir bestimmt nicht glauben, aber ich habe Agent Quinn noch nie schaden wollen. Nicht einmal in Virginia. Es war nur eine Story. Ich möchte wirklich nicht, dass ihr etwas passiert.« Er wollte aufstehen, aber Solomon hielt ihn zurück.

»Wir brauchen Ihre Fingerabdrücke zum Abgleich mit den sonstigen auf dem Brief und dem Umschlag.« Solomon nahm den Hörer ab und tippte Grace’ Nummer. Er bat seine Assistentin, jemanden von der Spurensicherung zu schicken, der Acosta ins Labor begleiten würde.

Nachdem Solomon aufgelegt hatte, deutete er mit einer Handbewegung hinaus ins Vorzimmer. »Bitte warten Sie draußen«, forderte er Acosta auf. »Es kommt gleich ein Agent und begleitet Sie.«

»Ich habe es ziemlich eilig«, entgegnete Acosta stirnrunzelnd.

»Hören Sie, Acosta«, brummte Solomon. »Sie haben uns das hier gebracht. Jetzt arbeiten Sie bitte auch mit uns zusammen, damit wir prüfen können, was es damit auf sich hat.«

»Schon gut, schon gut. Aber Ihre Leute sollen ein bisschen Tempo vorlegen. Ich kann nicht den ganzen Tag bleiben.« Damit verließ Acosta Solomons Büro und zog die Tür hinter sich zu.

Solomon starrte auf das Gedicht auf seinem Schreibtisch. War das wieder nur ein übler Trick oder plante wirklich jemand, Kaely Quinn zu töten? In dem Moment, in dem er sich diese Frage gestellt hatte, war er sich tief in seinem Herzen ziemlich sicher, dass er die Antwort kannte.

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4

Immer noch starrte Solomon unschlüssig auf den Brief und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Einen Augenblick später wählte er erneut die Nummer seiner Assistentin.

»Grace, schicken Sie mir bitte Special Agent Noah Hunter.«

»Ja, Chef.«

Solomon legte auf und setzte sich. Sein Stuhl quietschte angenehm unter seinem Gewicht. Grace hatte schon mehr als einmal vorgeschlagen, ihn vom Hausmeister ölen zu lassen, aber Solomon wollte das nicht. Irgendwie beruhigte ihn das Geräusch.

Dies war eine verzwickte Angelegenheit. Kaely Quinn brauchte Schutz. Jemanden, der sie im Auge behalten würde, bis sie herausgefunden hätten, ob die Drohung ernst zu nehmen war. Das würde ihr natürlich nicht passen, genauso wenig wie jedem Ermittler, den er ihr zuweisen würde. Sie hatte eng mit Agent Alex Cartwright zusammengearbeitet, nachdem er vor einem Jahr nach St. Louis gekommen war. Mit der Zeit hatte er Kaely verstanden und ihr vertraut. Leider überschritt Alex dabei die rote Linie und verliebte sich in sie. Kaely allerdings war nicht der Typ für romantische Abenteuer. Ihre Arbeit war ihr Leben – daneben hatte nichts anderes Platz. Solomon hatte Cartwright von Anfang an davor gewarnt, aber der hatte seinen Gefühlen irgendwann doch nachgegeben. Jetzt war er weg.

Solomon zog Noahs Akte näher zu sich heran. Lange war er zwar noch nicht bei ihnen, aber er war der perfekte Mann. Ein Mitglied des Spezialeinsatzkommandos. Immer ernsthaft bei der Sache. Äußerst engagiert, pragmatisch und fleißig. Er war verheiratet gewesen, aber seine Frau war gestorben. Konnte man den Agenten glauben, die ihn kannten, hatte Noah kein Interesse, sich wieder auf eine Frau einzulassen. Solomon war nicht wohl dabei, Noahs Schmerz auszunutzen, um Kaely zu schützen, aber sie war ihm so viel wert, dass er kein Risiko eingehen konnte.

Ein lautes Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. »Kommen Sie rein«, rief er.

Die Tür ging auf und Special Agent Noah Hunter trat ein. Schlank, mit dunklem, welligem Haar, war er der Inbegriff eines professionellen FBI-Agenten. Ein Lächeln kam ihm nur selten über die Lippen. Er machte einen etwas angespannten Eindruck, als könne nichts und niemand ihn davon abhalten, erfolgreich seine Arbeit zu tun. Solomon ließ sich von dieser Anspannung tatsächlich ein wenig anstecken, aber das schadete gar nicht. Das Letzte, was er im Moment gebrauchen konnte, war ein lockerer, entspannter Agent. Er brauchte einen Kämpfer.

»Setzen Sie sich doch, Noah«, sagte Solomon.

»Ja, Sir.« Noah nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem gerade noch Acosta gesessen hatte.

Solomon lächelte ihm kurz zu. »Sie machen Ihre Sache großartig. Dank Ihrer Hilfe konnten wir dieses Drogenkartell zerschlagen, das in ganz Missouri sein Unwesen trieb. Ihr Teamleiter findet nichts als lobende Worte für Sie.«

Noahs blau-graue Augen weiteten sich bei diesem Lob ein wenig. »Danke, Sir. Es war mir eine Ehre, in diesem Einsatzkommando mitzuarbeiten.«

»Sagen Sie ruhig Solomon zu mir. Wir geben hier nicht so viel auf Titel.«

»Danke, Sir. Ich meine … Solomon.«

Solomon nickte. »Ich habe eine neue Aufgabe für Sie, Noah, eine, für die ich Sie besonders qualifiziert halte. Sie sollten wissen, dass ich sie nicht jedem anvertrauen würde.« Er schob Noah die Plastiktüte hin. »Jerry Acosta vom St. Louis Journal hat gerade dies hier gebracht. Er hat es mit der Post bekommen. Ich weiß noch nicht so genau, worauf diese Sache hinausläuft, aber ich denke, wir sollten sie ernst nehmen.«

Noah griff nach der Tüte und las den Brief, der darin steckte. Überrascht sah er auf. »Ist das eine Drohung gegen eine unserer Agentinnen?«

Solomon nickte. »Ich möchte, dass Sie das in die Hand nehmen. Als leitender Ermittler.«

Noah richtete sich auf seinem Stuhl auf. Offenbar war er überzeugt, dass Solomon ihm eine wichtige Mission anvertraute. Und damit hatte er recht.

»Und ich weise Ihnen für diesen Fall Special Agent Kaely Quinn als Co-Agentin zu.«

Noah biss die Zähne aufeinander und wurde kreidebleich. »Agent Quinn? Weil die Drohung auf sie abzielt?«

Solomon sah ihn stirnrunzelnd an. »Nein, das stimmt nicht ganz. Sie ist eine meiner besten Agentinnen und wir brauchen ihre Hilfe. Wenn Sie eine Zeit lang mit ihr zusammengearbeitet haben, werden Sie ihre Fähigkeiten zu schätzen wissen.«

Noah blickte ihn unschlüssig an, als wäge er seine nächsten Worte sorgfältig ab. »Okay. Ich, ich … ich meine, welche Rolle soll sie dabei spielen?«

»Wie gesagt, sie wird Co-Agentin. Kaely ist fokussiert und achtet auf kleinste Details. Sie erkennt Dinge, die die meisten anderen Agenten übersehen würden. Ihr Spezialgebiet ist es, Täterprofile zu erstellen. Da wird sie Ihnen sehr hilfreich sein. Mir ist natürlich klar, dass dieser Brief alleine da nicht viele Anhaltspunkte liefert. Aber Sie werden überrascht sein, was sie aus dem wenigen herauszieht. Und mit der Zeit bekommen wir ja hoffentlich noch mehr Hinweise. Dann kann sie Ihnen ein brauchbares Profil liefern, das Sie zu dem unbekannten Täter führen wird.«

Solomon zeigte auf den Brief. »Zunächst möchte ich, dass Sie beide dieses Gedicht zerpflücken. Sehen Sie zu, ob Sie etwas darin finden, was uns weiterbringt. Wir müssen lückenlos darüber Protokoll führen, wer das Beweisstück jeweils in seinem Besitz hat: zuerst Acosta, dann ich, dann Sie. Sie müssen es weiterschicken an das Labor in Quantico. Die Kollegen dort sollen nach Fingerabdrücken, DNA-Spuren und solchen Dingen suchen … Sie wissen ja, wie das läuft. Ich habe Acosta ins Labor geschickt, damit er seine Fingerabdrücke nehmen lässt.« Solomon fixierte Noah. »Leiten Sie den Brief dann an die Verhaltensanalyse weiter – zum Abgleich mit anderen Drohungen in ihrer Datenbank. Dieses Schreiben scheint zwar direkt auf Special Agent Quinn gemünzt zu sein. Aber es kann trotzdem nicht schaden, auf Nummer sicher zu gehen. Vielleicht möchten Sie eine Kopie an den Geheimdienst schicken. Auch dort sollten die Kollegen ihn durch ihre Datenbank laufen lassen.«

Für einen Moment wandte Solomon sich ab und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Hatte er etwas vergessen? Ihm fiel nichts ein. Dann richtete er den Blick wieder auf Noah. »Was Agent Quinn betrifft: Sie werden als Partner arbeiten. Zumindest so lange, bis wir die Situation vollständig abschätzen können.« Er musterte seinen Agenten. Noah wirkte nervös und ein wenig verstört. Aber das war nicht entscheidend. Er war ein ausgebildeter Ermittler. Und er würde tun, was ihm aufgetragen worden war. »Ich möchte sichergehen, dass Kaely nichts geschieht. Aber sie soll nicht erfahren, dass ich Sie gebeten habe, sie zu überwachen. Wie gesagt, das würde ihr nicht passen. Und offen gestanden kann ich ihr das auch nicht verübeln.«

Noah widersprach nicht, aber Solomon fiel der kräftige Puls an seiner Halsschlagader auf. »Also gut«, sagte Noah schließlich. »Wann soll ich anfangen?«

Solomon trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte und überlegte. »Ich möchte selbst mit Agent Quinn sprechen. Danach übergebe ich diesen Brief Ihnen und Sie beide können beginnen. Ich werde auch noch den Leiter Ihres Spezialeinsatzkommandos über Ihre neue Aufgabe informieren.«

»Ja, Sir.«