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Brillant, weiblich, rasant: Mit dem packenden Psychothriller "Die Anwältin" liefert Autorin und Juristin Bonnie Kistler authentische Hochspannung um eine erfolgreiche, knallharte Verteidigerin, die diesen einen Fall besser verloren hätte … »Ein explosiver Page-Turner!« Publishers Weekly Kelly McCann ist brillant, knallhart und liebt es zu gewinnen. Sie ist die perfekte Anwältin. Ihr Spezialgebiet: die Verteidigung von Männern, denen Sexualverbrechen vorgeworfen werden - fälschlicherweise, so stets ihr Plädoyer. Bis sie, unmittelbar nach seinem Freispruch, die grauenvolle Wahrheit über einen ihrer Mandanten aus erster Hand erfahren muss. Darüber sprechen kann sie mit niemandem. Nicht, ohne alles zu verlieren. Aber ihren Peiniger deshalb ungestraft davonkommen zu lassen, ist für Kelly keine Option. Stattdessen verbündet sie sich mit seinen anderen Opfern und gemeinsam schmieden sie einen Plan. Und auf diesem steht nur eines: Rache! Doch irgendjemand, so scheint es, hat es auf die Frauen abgesehen … "Einfach … wow! Ein rasanter Thriller, den man nicht weglegen kann, mit allem, wonach sich Lesende verzehren. Ein absolutes Highlight. Herzzerreißend, teuflisch und mit einem schockierenden Ende." Jaime Lynn Hendricks Wenn eine Anwältin zum Opfer genau des Mannes wird, den sie eben noch verteidigt hat, endet ihr Kampf um Gerechtigkeit. Und ein gnadenloser Rachefeldzug beginnt! - Nervenaufreibend, genial, perfide: Dieser hochspannende Thriller ist ein absoluter Page-Turner!
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Seitenzahl: 472
Bonnie Kistler
… und plötzlich ist sie selbst das Opfer
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch von Kristina Lake-Zapp
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Kelly McCann ist eine brillante und knallharte Anwältin. Ihr Spezialgebiet: die Verteidigung von Männern, denen Sexualverbrechen vorgeworfen werden - fälschlicherweise, so stets ihr Plädoyer. Bis sie die grauenvolle Wahrheit über einen ihrer Mandanten aus erster Hand erfahren muss. Darüber sprechen kann sie mit niemandem. Nicht, ohne alles zu verlieren. Aber ihren Peiniger deshalb ungestraft davonkommen zu lassen, ist für Kelly keine Option. Gemeinsam mit seinen anderen Opfern schmiedet sie einen Plan. Und auf diesem steht nur eines: Rache! Doch irgendjemand, so scheint es, hat es auf die Frauen abgesehen …
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
Motto
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Dank
Anmerkung der Autorin
Für all die, die zum Schweigen gebracht wurden
und die nicht länger schweigen wollen
Der Schriftsteller ist in seiner Epoche situiert: Jedes seiner Worte findet einen Widerhall. Auch sein Schweigen.
JEAN-PAUL SARTRE
Da war es, das Gefühl: der Rausch, der Nervenkitzel, die freudige Erregung, die wie flüssiges Gold durch ihre Adern flossen. Es traf sie in dem Moment, als sie vor die Türen des Gerichtsgebäudes trat. Andere Anwälte verspürten diesen Rausch, wenn sie sich zu Beginn oder am Ende der Verhandlung erhoben oder wenn die Geschworenen ihr Urteil verkündeten. Doch für Kelly McCann war es genau dieser Moment, die Siegesrunde, ihre triumphale Streitwagenfahrt durchs Kolosseum, während die Zuschauer auf den Tribünen jubelten. Es war besser als Drogen. Besser als Sex – zumindest als das, woran sie sich erinnerte. Ein Orgasmus war einer etwa zwanzigminütigen Anstrengung geschuldet, wohingegen das hier – das! – der Lohn für wochenlange Gerichtsverhandlungen, monatelange Vorbereitung und jahrelange Opfer war.
Die Menschenmenge drängte sich auf dem Gehsteig vor dem Gericht, ergoss sich auf die Straße. Die Reporter hatten sich nach vorn durchgedrängelt, im Hintergrund standen die Nachrichten-Vans der Fernsehsender mit ihren Dachantennen, die wie Radioteleskope in den Himmel ragten, auf der Suche nach extraterrestrischer Intelligenz. Kameras blitzten, als Kelly das Gebäude verließ und oben an der Treppe stehen blieb. Sie blickte in ein Meer von Gesichtern und Mikrofonen, die sich ihr entgegenreckten. Die Medien hatten sich versammelt – was ihrem Team geschuldet war –, genau wie die Demonstranten – was wiederum den Medien geschuldet war –, die handgeschriebene Schilder hochhielten. #ME TOO und GERECHTIGKEIT FÜR REEZA und NEHMT VERGEWALTIGUNG ERNST! und GLAUBT REEZA!. Einige von ihnen waren seit dem Tag der Jury-Auswahl dabei, und ihre Schilder waren mittlerweile eingerissen und aufgeweicht vom Regen – ein stolzes Zeichen ihrer Ausdauer.
Auf der anderen Seite hatten sich die Gegendemonstranten versammelt, zahlenmäßig ungefähr gleich stark. Auch sie hielten Plakate in die Höhe: GERECHTIGKEIT FÜR GEORGE! DR. B. DARF NICHT ENTLASSEN WERDEN! und – was am häufigsten vertreten war – RETTET UNSEREN RETTER!. Vielleicht ein wenig übertrieben, aber es war nicht das erste Mal, dass er so bezeichnet wurde. Immerhin war er der Mann, der möglicherweise Alzheimer geheilt hatte.
Kelly blieb stehen, um den Fotografen ihre Aufnahmen zu ermöglichen. Sie war formell gekleidet, trug einen schwarzen Hosenanzug und eine weiße Bluse, dazu eine Schildpattbrille. Ihre blonden Haare hatte sie zu einer festen Banane hochgesteckt und bis auf ihren Ehering auf Schmuck verzichtet. Ebenfalls verzichtet hatte sie auf die zu erwartenden »vernünftigen« flachen Schuhe. Stattdessen war ihre Wahl auf ein Paar schwarze Pumps mit Zehn-Zentimeter-Absätzen gefallen. Da sie selbst nur eins achtundfünfzig groß war, brauchte sie diese zusätzlichen Zentimeter.
Dies war ihr unverkennbarer Look, seit sie während ihrer Anfangszeit im Büro der Staatsanwaltschaft mitbekommen hatte, dass ihre Kolleginnen und Kollegen sie »die Cheerleaderin« nannten. Auch wenn ihre Highschool-Vergangenheit nie publik geworden war, hatte sich dieser Spitzname nicht vermeiden lassen. Sie war nun mal eine zierliche Blondine mit einem Südstaatenakzent, einer Vorliebe für leuchtende Farben und etwas zu viel Begeisterung für ihren Job. An ihrer Größe konnte sie nichts ändern, an ihrem Akzent wenig, doch die leuchtenden Farben hatte sie sofort verbannt.
Ihr Team bildete eine V-Formation hinter ihr, wie Gänse auf dem Weg nach Süden. An der Spitze ihre Mitarbeiterin Patti Han, eine brillante junge Anwältin, deren Talente auf dem Stuhl neben Kelly verschwendet waren. Als Nächste kam Kellys Assistentin Cazzadee Johnson, eine langbeinige Schönheit, deren Kompetenz und Gelassenheit ebenfalls unverzichtbar für Kellys Erfolg waren. Zwei Männer bildeten die Nachhut: der Anwalt aus Philadelphia, der als ihr lokaler Berater fungierte, und der Anwalt aus der Vorstadt, ihr hyperlokaler Berater – beide weiß und beide so unscheinbar, dass Kelly sie regelmäßig miteinander verwechselte. Auch sie galten als unverzichtbar, allerdings nur, weil die hiesige Verfahrensordnung dies vorschrieb – eine Möglichkeit, die Anwälte und Anwältinnen der Stadt vor in fremdem Revier wildernder Konkurrenz aus anderen Bundesstaaten zu schützen, zum Beispiel vor Kelly. Javier Torres, ihr Ermittler, zählte ebenfalls zum Team. Auch er war anwesend, wenngleich nicht auf den Stufen vor dem Gerichtsgebäude. Er lief Patrouille, schlich geschmeidig wie ein Panther durch die Menge.
»Zehn lange Monate«, begann Kelly, »hat Dr. Benedict die Last einer falschen Anschuldigung tragen müssen.« Ihre Stimme schallte die Stufen hinunter bis auf die Straße. »Sein Ruf wurde beschmutzt. Seine Familie traumatisiert. Er erhielt Hassbriefe und sogar Todesdrohungen. Zudem wurde er an der Ausübung seiner Arbeit gehindert – seiner lebenswichtigen, kritischen Arbeit. All dies ist der abscheulichen Macht falscher Bezichtigungen geschuldet. Und das Schlimmste daran ist, dass er all das stillschweigend ertragen musste. Unser Rechtssystem sieht vor, dass er kein Wort zu seiner eigenen Verteidigung hervorbringen durfte.«
Selbstverständlich war es Kelly gewesen, die ihm verboten hatte, sich zu äußern, aber das musste die Menge nicht wissen.
»Heute haben endlich zwölf aufrechte Männer und Frauen das Wort für ihn ergriffen und diese schreckliche Anschuldigung entkräftet.« Sie gestattete sich ein Lächeln, ein breites, strahlendes Lächeln, das wie das Licht des Sonnenaufgangs auf die vor dem Gerichtsgebäude versammelte Menge fiel. »Die Geschworenen kamen zu dem Ergebnis, ihn in allen Punkten freizusprechen – nicht schuldig!«
Die Demonstranten begegneten ihrer Erklärung mit Buhrufen, doch sie hörte nur den Applaus und das Jubeln der Gegendemonstranten. Als gute Cheerleaderin hatte sie genau gewusst, wie sie ihre Seite aufpeitschen musste, um die andere zum Verstummen zu bringen. Diese Methode funktionierte auch heute noch. Triumphierend riss sie beide Arme in die Höhe, und Team Benedict brüllte seine Zustimmung und ließ das Blut in ihren Adern schneller fließen.
Dieser Moment war ihre Entschädigung für alles, was sie geopfert hatte und was sie noch auf sich nehmen würde. Seit zehn Jahren tat sie nichts anderes, als Männer zu verteidigen, denen Sexualverbrechen vorgeworfen wurden. Sportler und Musiker waren ihr täglich Brot, gelegentlich kam ein CEO hinzu. Es war eine schmutzige Arbeit – die Anschuldigungen an sich waren schmutzig, genau wie die grenzwertigen Taktiken, um sie zu entkräften. Die dreisten Wege, Zweifel zu säen. Mitunter kam sie sich selbst beschmutzt vor, als würde Dreck an ihren Händen kleben – dunkle Flecken ihrer Komplizenschaft. Doch Momente wie dieser ließen die Flecken verschwinden. Es war, als würde man ein Streichholz an Zunder halten und die Flammen aufflackern sehen. Läuterung durch Feuer, Silber im Schmelzofen.
Sie liebte es zu gewinnen. Sie lebte, um zu gewinnen. Das war das ganze Geheimnis ihres Erfolgs. Ihre Siege waren nicht ihrer übermäßigen Brillanz im Gerichtssaal geschuldet. Sie besaß nicht mehr Talent als eine Durchschnittsanwältin oder ein Durchschnittsanwalt. Was sie dagegen besaß, war diese beständige Siegeslust.
Schon früh im Leben hatte sie begriffen, dass sie weder bei sportlichen noch bei akademischen Wettbewerben je mehr als den zweiten Platz erringen würde. Also fand sie andere Möglichkeiten, um ihren Drang, sich mit anderen zu messen, zu befriedigen: bei den Cheerleaderinnen, in der Theater-AG, im Debattierklub. Die juristische Fakultät war eine natürliche Folge, die Strafprozessarbeit der krönende Abschluss. Die meisten ihrer Fälle erledigte sie zügig und ohne großes Aufheben, doch zwei, drei Mal pro Jahr brachte sie sie vor Gericht. Stets im Interesse ihrer Mandanten, wie sie behauptete, doch zugegebenermaßen auch, um ihren Ruf als Spitzenanwältin hochzuhalten. Und genauso fühlte sie sich im Augenblick: Sie stand an der Spitze.
»Ich möchte mich bei den Geschworenen für ihren Einsatz bedanken!«, rief sie. »Sie haben mehr als drei Wochen ihres Lebens geopfert, haben endlose Stunden der Zeugenaussagen und noch mehr Stunden sorgfältiger Beratungen auf sich genommen. Doch am Ende haben sie Dr. Benedict zur Gerechtigkeit verholfen und damit all den Menschen auf der ganzen Welt die Hoffnung zurückgegeben, die auf Dr. Benedict und seine lebensrettende Arbeit angewiesen sind!«
Der Jubel wurde noch lauter, so laut, dass er die Proteste der Gegendemonstranten und -demonstrantinnen erstickte.
»Dank dieser Geschworenen und ihres herausragenden Einsatzes muss Dr. Benedict nun nicht länger schweigen. Doktor?«
George Carlson Benedict, Doktor der Medizin, schlurfte nach vorn, um Kellys Platz am oberen Treppenabsatz einzunehmen – ein fünfzigjähriger, grauhaariger Mann mit Brille in einem leicht zerknitterten grauen Anzug. Seine Schultern waren gebeugt, zweifelsohne von der jahrelangen Arbeit am Mikroskop.
Er sah nicht aus wie ein Multimillionär, aber als Mehrheitsaktionär von UniViro Pharmaceuticals fiel er mit Sicherheit in diese Kategorie. Er sah auch nicht aus wie eine internationale Berühmtheit, wenngleich er eine war. Es kam selten vor, dass einem Wissenschaftler so viel Anerkennung gezollt wurde, doch Dr. Benedict hatte es geschafft. Er war der Mann, dem es vielleicht, hoffentlich, gelungen war, die meistgefürchtete Krankheit der Welt zu heilen. Dafür hatte man ihm schon die Presidential Medal of Freedom verliehen, eine der beiden höchsten zivilen Auszeichnungen in den Vereinigten Staaten von Amerika, und gewiss winkte bereits der Nobelpreis für Medizin.
Kelly trat beiseite, als ihr Mandant sich räusperte und den Geschworenen in seinem gewohnt tiefen, monotonen Tonfall dankte. Die Kameras blitzten erneut, und Kelly lächelte geblendet in die grellen Lichtexplosionen.
Als sie wieder etwas erkennen konnte, sprang ihr ein Gesicht aus der Menge entgegen, so plötzlich, als hätte sie es herangezoomt. Eine elegante Brünette um die fünfzig, groß und attraktiv, selbst mit den zu schmalen Schlitzen verengten Augen und den angewidert verkniffenen Lippen. Kelly erstarrte für einen Moment bei diesem unerwarteten Anblick, dann schwenkten ihre Augen wie eine Kamera etwa sechs Meter nach rechts und zoomten ein anderes Gesicht heran. Dieses gehörte einer jungen, ziemlich hübschen Frau mit kurzen braunen Haaren und tief liegenden Augen hinter Brillengläsern. Sie blickte genauso gehetzt drein wie an dem Tag, als Kelly ihr zum ersten Mal begegnet war. Anschließend schwenkte die visuelle Kamera nach links, fuhr zurück und stellte ein drittes Gesicht ganz hinten in der Menge scharf. Eine weitere Frau, eine magere Blondine mit scheuem, verschämtem Blick – sehr jung. Drei verschiedene Gesichter, drei verschiedene Frauen, drei verschiedene Fälle mit einem gemeinsamen roten Faden.
Undeutlich hörte sie, wie jemand ihren Namen sagte. Es war Dr. Benedict, der sich mit seiner roboterhaften Stimme bei ihr für ihre harte Arbeit bedankte.
Sie hatte nicht erwartet, diese Frauen jemals wiederzusehen, weder hier noch sonst wo. Ihre Fälle waren abgeschlossen, die Rechnungen beglichen, die erforderlichen Unterlagen unterschrieben und versiegelt. Sie suchte nach Javi Torres, ihrem Ermittler, entdeckte ihn in der Menge und zog eine Augenbraue in die Höhe. Er nickte ihr zu, um ihr zu bedeuten, dass er die Frauen ebenfalls bemerkt hatte und sie selbstverständlich im Auge behielt. Kelly war sich sicher, dass er ihre Namen kannte, während sie sich lediglich an ihre Jobs und die Gelder erinnern konnte, die geflossen waren: CIO: zweieinhalb Millionen Dollar. Forscherin: fünfhunderttausend Dollar. Reinigungskraft: zwanzigtausend Dollar. Geld, das ihnen bezahlt wurde, damit sie die Non-Disclosure-Agreements, die Geheimhaltungsvereinbarungen, unterschrieben. »Die NDA-Frauen« nannte Kelly sie daher.
Ihr Herz fing an zu hämmern, ein zweiter Adrenalinschub pulste durch ihren Körper. Sie sollten nicht hier sein. Sie durften nicht hier sein. Dass sie es doch waren, konnte nur eines bedeuten: Ärger. Kelly zwang sich, tief Luft zu holen und die Frauen nacheinander genauer ins Auge zu fassen. Sie hielten keine Plakate hoch, schienen nicht Teil irgendeiner Gruppe zu sein. Sie sahen einander nicht an. Sie schienen sich nicht einmal zu kennen. Was auch nicht möglich sein konnte. Anscheinend waren sie nicht gekommen, um eine Szene zu machen. Das würden sie nicht wagen.
Kelly hielt erneut Ausschau nach Javi, und er begegnete ihrem Blick und zuckte mit den Achseln. Das hier hat nichts zu bedeuten, sollte diese Geste sagen. Ihr Puls normalisierte sich wieder.
Jetzt dankte Dr. Benedict seiner Gattin Jane, die die üblichen drei Schritte hinter ihm stand. Jane Benedict war eine füllige Frau mit rosigen Wangen und einem Helm aus grauen Löckchen. Ihre Augen hinter den Brillengläsern strahlten, als sie ihren Mann anblickte.
Anschließend dankte der Doktor dem Vorstand von UniViro, der ihm während der zurückliegenden Tortur zur Seite gestanden hatte, doch plötzlich brach an einer Ecke des Gerichtgebäudes Tumult aus. Ein Ruf ertönte, dann ein ganzer Chor von Rufen, und ein Teil der Menge drängte zum rückwärtigen Teil des Hauses. Die Kameras und Mikrofone folgten.
Kelly wusste, was das bedeutete: Dr. Reeza Patel, das vermeintliche Opfer, versuchte, sich unbemerkt zur Hintertür hinauszustehlen. Sie würde kein Glück haben: Die Menge und die Medien wären ebenfalls dort, um sie bei ihrer qualvollen Niederlage auf dem Walk of Shame, dieser traurigen Perversion des Walk of Fame, zu begleiten.
Ein Mann trat vor, um die Benedicts zu dem Wagen zu bringen, der für sie bereitstand. Es war Anton, Benedicts allgegenwärtiger Schatten. Ob Anton sein Vor- oder Nachname war, konnte Kelly nicht mit Bestimmtheit sagen, genauso wenig, wie sie seine genaue Funktion kannte. Er war ein Koloss von einem Mann, glatzköpfig, mit tiefen Stirnfalten wie ein Shar-Pei.
Kelly signalisierte ihrem Team, sich an der anderen Ecke des Gerichtsgebäudes zu versammeln. Sie wiegelte die schleimerischen Glückwünsche ihres lokalen Beraters ab und kam gleich zur Sache. Nun galt es, Organisatorisches zu erledigen. Die Reminder an die letzten Einlassungen so schnell wie möglich abzuarbeiten. Sich um die Logistik zu kümmern – schließlich mussten sämtliche Akten zusammengepackt und nach Boston zurückgeschafft werden. Ihre Assistentin Cazzadee hing bereits am Telefon und buchte die Flüge. Der Anwalt aus Philadelphia bot an, sie ins Hotel in der Innenstadt zu fahren. Kelly lehnte ab – sie brauchte eine Stunde für sich allein. Doch sie bedeutete Patti und Cazz, bei dem Mann einzusteigen, und versprach, für den Rückflug am Airport zu ihnen zu stoßen.
Patti zögerte und warf einen nervösen Blick über den Platz vor dem Gerichtsgebäude.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Kelly. »Er wird es schon allein nach Hause schaffen.«
Patti errötete und verschwand im Wagen. Sie war in Javier verliebt und bildete sich ein, niemand wüsste es, doch die traurige Wahrheit war, dass es außer Javier alle wussten.
Keine zwanzig Minuten später traf Kellys Uber ein, und sie ließ sich mit einem langen, zittrigen Seufzer auf die Rückbank sinken.
»Harter Tag?«, fragte der Fahrer.
Ein harter Tag, ein harter Monat, ein hartes Jahrzehnt, dachte sie, ohne zu antworten. Drei Wochen lang hatte sie auf dieser Bühne gestanden, während Dutzende Menschen unablässig ihr Auftreten, ihre Kleidung und Gesichtsausdrücke unter die Lupe nahmen. Jedes Wort, das sie sagte, hatte Konsequenzen. Jeder Ausrutscher konnte fatal sein. Jede unbedachte Reaktion ein Signal für die Geschworenen, das sie nicht senden wollte. Nach alldem war sie fest entschlossen, während der nächsten Stunde niemandem etwas vorzuspielen, und erst recht nicht ihrem Uber-Fahrer. Er deutete ihr Schweigen richtig und fuhr los, ohne noch etwas hinzuzufügen.
Binnen Minuten wichen die Backsteinfassaden der Bezirksstadt den sanften Hügeln der offenen Landschaft. Es war Ende September, der Sommer tat einen letzten Atemzug, die vorüberziehenden Felder und Wiesen wirkten bereits welk und trocken im Licht der Spätnachmittagssonne.
Kelly schloss die Augen und sackte gegen die gepolsterte Rückenlehne, doch bald schon fing ihr Nacken an zu kribbeln. Sie verlagerte ihr Gewicht nach links auf der Suche nach einer bequemeren Position – ohne Erfolg. Das war das Problem mit dem reinigenden Feuer der Beifallsbezeigungen: Es brannte aus, wenn der Beifall endete, und sie blieb mit Schlacke im Haar, Ruß an den Händen und dem Geschmack von Asche auf der Zunge zurück.
Dieser Fall war besonders schmutzig gewesen. Reeza Patel war eine promovierte Virologin, die in Benedicts Forschungsteam gearbeitet hatte. Vor einem Jahr hatte sie es gewagt, einen seiner Beiträge zu korrigieren – schlimmer noch, sie hatte es in Gegenwart anderer getan. Wenn man ihr glaubte, hatte er sie daraufhin vergewaltigt, sozusagen als Vergeltung. Es war eine brutale, abscheuliche Vergewaltigung gewesen, die sie bis ins kleinste Detail schilderte.
Doch man glaubte ihr nicht. Der Treibsand bei der Sache war die Tatsache, dass Benedict sie nur Tage vor dem mutmaßlichen Übergriff gefeuert hatte. Womöglich hatte seine Vergeltung genau darin bestanden, wohingegen Patels Vergewaltigungsvorwürfe ihre eigene Vergeltung für ihre Entlassung sein konnten. Diese Umstände gaben Kelly jede Menge Material, mit dem sie arbeiten konnte. Im Kreuzverhör grub Patel sich tiefer und tiefer ein, bis sie schließlich im Treibsand versank. Die Geschworenen kauften ihr ihre Geschichte nicht ab, und sie sprachen Benedict frei.
Kellys Telefon summte in dreistimmiger Disharmonie, während Benachrichtigungen über Anrufe, Textnachrichten und E-Mails eingingen. Sie konnte das Handy nicht abstellen – vielleicht versuchten Todd oder die Kinder, sie zu erreichen –, doch sie konnte es auch nicht ignorieren. Wie ein pawlowscher Hund war sie darauf konditioniert, auf jedes Pingen und Zwitschern zu reagieren.
Kelly schlug die Augen auf und warf einen Blick aufs Display. Die Reporter überschwemmten sie bereits mit einer Flut von E-Mails, die sie allesamt löschte, ohne sie zu lesen.
Eine Sprachnachricht von Harry Leahy, ihrem Seniorpartner, der sich fast schon in den Ruhestand verabschiedet hatte, wurde ebenfalls angezeigt. Viele andere Siebzigjährige waren mittlerweile dazu übergegangen, Textnachrichten zu versenden, aber Harry schien es zu gefallen, zu den Dinosauriern zu gehören, und leider waren ihre Geschicke an ihn gebunden. »Ruf mich an«, war zu hören, als ob das mehr wäre als eine »Verpasster Anruf«-Benachrichtigung.
Sie rief ihn nicht an. Das hatte Zeit bis morgen. Stattdessen schrieb sie Todd und den Kindern, dass sie heute Abend wieder zu Hause wäre. Todd antwortete sofort mit einem Daumen-hoch-Emoji, gefolgt von einem Partyhut-Emoji und einem Puh-Emoji mit einer Schweißperle auf der Stirn. Letzteres konnte sie ihm nicht verübeln. Im Laufe der Jahre hatten sie sich eine gute Arbeitsteilung überlegt, doch wenn sie nicht in der Stadt war, musste er sich ganz allein um die Kinder kümmern. Er hatte eine Pause verdient.
Sie schaute von ihrem Handy auf. Der Straßenrand zog verschwommen an den Wagenfenstern vorbei. Die offene Landschaft war einer achtspurigen Autobahn gewichen, die auf einer Seite von Büroparks und auf der anderen von Wohnsiedlungen flankiert wurde. Das UniViro-Gelände befand sich irgendwo links, zusammen mit den Hauptsitzen Dutzender anderer pharmazeutischer, biotechnischer und Medizinbedarfsunternehmen. In diesem Teil am Stadtrand von Philadelphia waren die Pharmariesen ansässig – ein Beschäftigungsmagnet für Biowissenschaftler und verantwortlich für einen Großteil der Abwanderung hoch qualifizierter Fachkräfte aus Südostasien, zu denen, wenn Kelly sich recht erinnerte, auch die Eltern von Dr. Reeza Patel zählten. Die Branche war lange Zeit durch Preisskandale und die Opioid-Epidemie in Verruf geraten, doch dank George Benedict sonnte sie sich plötzlich wieder im himmlischen Glanz öffentlicher Wertschätzung. Medikamente waren großartig, Impfstoffe wunderbar.
Kelly veränderte erneut ihre Position. Ihr rechtes Bein war eingeschlafen, und sie musste es schütteln, um wieder Gefühl hineinzubringen. Dieses Problem war während des Prozesses wiederholt aufgetreten. Sie hatte einfach zu lange reglos im Gerichtssaal und im Besprechungszimmer gesessen. Morgen musste sie unbedingt Zeit für eine ausgiebige Joggingrunde finden.
Ihr Telefon summte. Das war der Anruf, auf den sie gewartet hatte. »Javi?«, fragte sie. »Was gibt’s?«
»Nichts«, teilte der Ermittler ihr mit. Er hatte früher als Polizist gearbeitet, aber sein Verhalten hatte nichts Einschüchterndes oder Wichtigtuerisches an sich. Mit gleichmütiger Stimme erstattete er ihr Bericht. »Sie haben sich in drei verschiedene Richtungen zerstreut. Keine Telefonate. Keine Gesten untereinander, zumindest keine, die ich bemerkt hätte. Sie haben sich nicht einmal angesehen.«
»Okay. Gut.«
»Ich bin einer von den dreien nachgegangen, LaSorta …«
»Bitte hilf mir kurz auf die Sprünge …«
»Die CIO-Lady. Hey, rate mal, was für einen Wagen sie fährt … Einen nagelneuen Porsche!«
Na klar: die zweieinhalb Millionen.
»Ich bin ihr gefolgt, um herauszufinden, ob sie sich anschließend mit jemandem trifft, aber sie ist direkt Richtung New Jersey gefahren. Dort wohnt sie mittlerweile. Vor der Brücke habe ich umgedreht.«
»Gut. Danke, Javi.«
»Ich mache mich jetzt auf den Weg. Wenn du willst, komme ich am Hotel vorbei und hole dich ab, falls du lieber fahren als fliegen möchtest.«
Sie lachte. »Sechs Stunden mit dir in einem Auto? Wahrlich unwiderstehlich.« Noch als sie es aussprach, wusste sie, dass es zahllose Frauen gab, die seine Gesellschaft unwiderstehlich finden würden, ganz gleich, wo.
Das Handy summte in ihrer Hand. Ein weiterer Anruf ging ein. Beim Anblick des Namens stieß sie ein erschrockenes »Was?« aus.
»Ich sagte, solltest du noch etwas brauchen …«
»Nein, nein. Gute Reise.« Sie nahm den Anruf entgegen. »George?«
Dr. Benedicts spröde Stimme drang an ihr Ohr. »Sie haben doch nicht etwa gedacht, dass Sie mir so leicht davonkommen, oder?«
Doch, das hatte sie. Der Fall war abgeschlossen, ihr Job beendet. Genau das bläute sie ihrem Team stets ein: Schaut nach vorn. Niemals zurück. Keine Reue. Keine Vorwürfe.
»Leisten Sie uns heute Abend beim Essen Gesellschaft«, sagte Benedict. »Wir haben ein paar Gäste eingeladen, mit uns zu feiern.«
»Danke, aber um acht geht mein Flieger.«
»Dann buchen Sie auf morgen um.«
»Nein, tut mir leid. Ich muss noch heute zurück.« Sie war drei Wochen fort gewesen, ohne einen einzigen Abstecher am Wochenende. Während eines Prozesses gab es für Anwältinnen und Anwälte keine Wochenenden. Diese Zeit nutzten sie, um ihre Zeugen vorzubereiten.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag.« Er ließ nicht locker. »Ich lasse Sie anschließend per Hubschrauber nach Hause bringen.«
»Oh, vielen Dank, George, aber ich kann wirklich nicht …«
»Ich muss darauf bestehen. Um Janes willen. Sie möchte Ihnen persönlich danken.«
Bei der Erwähnung seiner Frau zögerte sie. »Meine Braut«, nannte er sie – was affektiert wirkte, dabei traf es in diesem Fall tatsächlich zu: Die beiden waren erst seit Kurzem verheiratet. Ehefrau Nummer zwei erschien Kelly als ausgesprochen überraschende Wahl für einen so mächtigen Mann – Ehefrau Nummer eins war eine kühle Blondine gewesen, die kurze Röcke und High Heels bevorzugte, während Jane die liebenswerte Großmutter in einem alten Schwarz-Weiß-Film hätte spielen können. Sie war eine Pflegefachkraft, die sich während des Endstadiums um Georges kranke Mutter gekümmert hatte.
In Kellys Augen war sie ihre beste Zeugin gewesen, selbst wenn – oder gerade weil – sie nichts anderes tat, als während des gesamten Prozesses stumm hinter ihrem Mann zu sitzen. Ihre äußere Erscheinung sprach für sie. Sie sah aus wie eine Frau, für die Sex nicht mehr als eine leicht peinliche Erinnerung war, was bedeutete, dass ihr Ehemann zu der Sorte Mann zählte, die sich ebenfalls nicht sonderlich viel daraus machte. Nein, er musste Kameradschaft, Freundschaft und einen guten Charakter schätzen, warum sonst hätte er sich für eine Frau wie sie entscheiden sollen?
Kelly hatte sich stets gefragt, welche Übereinkunft die beiden tatsächlich getroffen hatten. »Nun …«
»Sie werden noch vor Mitternacht zu Hause sein, das verspreche ich Ihnen.«
Sie lachte, ein schwacher Klang der Niederlage, und nahm seine Einladung an, genau wie sein Angebot, ihr einen Wagen zu schicken, der sie abholen, und einen Helikopter, der sie nach Hause bringen sollte.
Kelly legte auf und rief Cazz an. »Planänderung«, teilte sie ihrer Assistentin seufzend mit.
Im Hotel packte Kelly ihre Sachen zusammen, sorgte dafür, dass ihre Taschen und Aktenkartons nach Hause geschickt wurden, und schlüpfte in ein schlichtes schwarzes Kleid, das als Abendgarderobe durchgehen musste.
Benedict hatte ihr um achtzehn Uhr dreißig einen Wagen schicken wollen, und um Punkt achtzehn Uhr fünfundzwanzig fuhr ein himmelblauer Bentley vor dem Hotel vor. Anton stieg aus und richtete sich zu seiner vollen Größe auf wie ein Teleskopkran. Wortlos öffnete er Kelly auf der Beifahrerseite die Fondtür, und sie stieg wortlos ein. Anton machte sie nervös. Sie verstand einfach nicht, welche Rolle er in Benedicts Leben spielte. Mitunter schien er sein Assistent zu sein, dann wiederum nur sein Laufbursche, aber immer sein Fahrer. Neuerdings schien er auch als Bodyguard zu fungieren.
Er setzte sich wieder hinters Lenkrad und fuhr los, und Kelly ließ das Wageninnere auf sich wirken – die gesteppten Lederpolster, die Tabletttische aus Wurzelholz und all die anderen luxuriösen Annehmlichkeiten. Kein Wunder, dass Benedict für einen Milliardär gehalten wurde, obwohl er es nicht war. Noch nicht. Aber das würde nicht mehr lange dauern. Sobald die Arzneimittelzulassungsbehörde seinem Impfstoff grünes Licht gegeben hätte, würde der Preis seiner UniViro-Aktie in die Höhe schnellen. Und sobald der Impfstoff in Produktion ging, bekäme er aufgrund seines Lizenzvertrags mit dem Unternehmen einen Anteil an jedem Verkauf. In der ganzen Welt würden die Menschen Schlange stehen, um sich impfen zu lassen. Zweifelsohne würde Benedict zum Milliardär werden.
Schweigend lenkte Anton den Bentley durch die verstopften Straßen zur Stadtautobahn. Es herrschte dichter Feierabendverkehr, und die Fahrzeuge wechselten im Slalom die Spuren, drängelten von allen Seiten, um schneller voranzukommen. Kellys Armlehne enthielt eine Art Kontrollpanel. Sie betrachtete gerade die Knöpfe, als Anton in den Rückspiegel blickte und fragte: »Möchten Sie die Sichtblende hochfahren?«
Es kam ihr unhöflich vor, Ja zu sagen, trotzdem tat sie es. Sobald die lichtdurchlässige Trennwand zwischen ihnen eingerastet war, zog sie ihr Handy hervor und rief zu Hause an. Wenn sie unterwegs war, meldete sie sich jeden Abend um achtzehn Uhr dreißig, denn dann waren die Kinder mit dem Abendessen und hoffentlich auch mit den Hausaufgaben fertig.
»Hi, Mommy«, drang Lexies Stimme aus dem Handy.
»Hi, Schätzchen! Ich komme heute Nacht nach Hause!«
»Ich wei-heiß«, erwiderte ihre Tochter.
»Wie war’s in der Schule?«
»Gu-hut.« Lexie schmollte anscheinend.
»Was ist los, Süße?«
»Courtney ist hier.«
»Und?«
»Sie ist bei Daddy.«
»Das ist doch schön.«
»Ist es nicht! Sie redet nicht mal mit ihm. Sie starrt ihn einfach nur an!« Ihre Stimme klang nun nicht länger schmollend, sondern empört.
»Trotzdem. Das macht ihn glücklich.«
»Ich hasse sie.«
»Sag das nicht. Sie ist deine Schwester.«
»Haaalb.« Sie zog das Wort derart in die Länge, dass es ihre Verwandtschaft im Süden stolz gemacht hätte.
Kelly wechselte das Thema. »Wie lief der Sprachschatztest?«
»Ganz gut, glaube ich. He, Mommy, was bedeutet eigentlich mitschuldig?«
»Wow. Das ist ein ziemlich schwieriges Wort für die fünfte Klasse. Nun, wenn man jemandem dabei hilft, etwas Böses zu tun, macht man sich mitschuldig.«
»Und was genau bedeutet Verräter?«
»Ach, Liebling, das Wort kennst du. Du weißt schon, Benedict Arnold? Der Soldat, der im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zur gegnerischen Seite überlief und damit seinen eigenen Leuten wehtat?«
Lexie schwieg einen Moment lang. Dann: »Ich verstehe es nicht. Wie kann man seinem eigenen Geschlecht wehtun?«
Kelly verspürte einen Anflug von Panik, weil ihr kleines Mädchen von einer Verletzung seiner Genitalien sprach. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. »Oh. Hat Courtney vielleicht gesagt: Sie hat ihr eigenes Geschlecht verraten?«
»Ja! Und sie meinte dich damit! Warum?«
»Sie will damit sagen, dass sie mit dem Ausgang eines meiner Fälle nicht einverstanden ist. Das ist alles. Keine große Sache.« Erneut wechselte sie das Thema. »Wo ist dein Bruder?«
»In seinem Zimmer. Textet wahrscheinlich mit seiner Freundin.«
Kelly biss nicht auf den Köder an, denn sie glaubte nicht, dass Justin eine Freundin hatte. Zum einen war er erst vierzehn, zum anderen ein Nerd – unbeholfen und mit Brille – und stolz darauf. Sein einziges Interesse galt den Naturwissenschaften, der Mathematik und Videospielen. Was für sie in Ordnung war. Die Footballspielertypen erreichten schnell ihren Höhepunkt und verschwanden anschließend in der Bedeutungslosigkeit, die Nerds dagegen wuchsen heran, um die Welt zu regieren.
»Ich rufe ihn an und sage ihm, er soll rauskommen. Und wenn du morgen früh aufwachst, dann … bin ich da! Wir essen Pfannkuchen, okay?«
»Okay«, sagte Lexie, deutlich fröhlicher als bisher.
Kelly legte auf und rief Justins Handynummer auf.
»Yo, Mercy?«, hörte sie gleich darauf seine Stimme.
»Hey, Doomfist«, begrüßte sie ihn.
Die Namen gehörten zwei Figuren aus Overwatch, dem Videospiel, das sie fast jeden Abend gemeinsam spielten. Es war das Einzige, das Kelly zu spielen bereit war, da keine übermäßige Gewalt darin vorkam und es auch keine hypersexualisierten weiblichen Charaktere gab. Sie konnte ihren Sohn nicht davon abhalten, auch die anderen Spiele zu spielen, aber sie konnte ihn wissen lassen, dass sie dies missbilligte – das einzige Machtmittel von Müttern mit Kindern im Teenageralter.
»Wie war’s heute im Chemielabor?«
»Grauenvoll! Wir haben den ganzen naturwissenschaftlichen Flügel vollgestunken! Es hat abartig nach Fürzen gerochen.«
Sie lachte auf. »Und wie kommst du mit deinem Aufsatz über Gatsby voran?«
Er gab ein lautes Stöhnen von sich, das seine ganze Begeisterung zum Ausdruck brachte. »Ich kapier’s nicht«, sagte er. »Der Kerl ist megareich, richtig? Er kann jedes Mädchen haben, das er will. Warum klammert er sich so an diese dämliche Daisy?«
»Weil sie für ihn unerreichbar ist. Du weißt doch, wie er über das Wasser auf ihr Haus blickt? So nah und doch so fern? Er kann sie sehen, aber er kann sie nicht berühren, und diese Art der Sehnsucht und Frustration führt schließlich zur Besessenheit.«
»Hm«, machte Justin, und Kelly hörte förmlich, wie sich die Rädchen in seinem Gehirn drehten. »Ja. Das kann ich absolut verstehen.«
Sie lächelte. Es war schön zu wissen, dass ihr Sohn, der geborene Wissenschaftler, sich auch emotionale Themen erschließen konnte. »Hör mal, Justin, tust du mir einen Gefallen und leistest Lexie Gesellschaft, bis Courtney wieder weg ist?«
»Ja, ja.« Sein Tonfall wechselte abrupt. Jetzt klang er genauso mürrisch wie seine Schwester.
Anton nahm die Ausfahrt Gladwyne, um die Stadtautobahn zu verlassen, und schlagartig wurde es still im Wageninneren. Gladwyne war eine Vorstadtenklave fünf Meilen von der City entfernt und eines der reichsten Postleitzahlengebiete von ganz Amerika. Die Straßen hier waren schmal und führten über sanft gewellte Hügel, gesäumt von prächtigen alten Herrenhäusern aus grauem Sandstein und mit Schieferdächern. Die Spätsommertrockenheit hatte dieser Gegend nichts anhaben können – die Rasen waren üppig und grün und wurden dezent mittels unterirdischer Sprinkleranlagen bewässert.
Kelly prüfte ihren E-Mail-Eingang, dann steckte sie ihr Handy ein. Es waren weitere Interviewanfragen eingegangen, und sie löschte eine nach der anderen. Abgesehen von den sorgfältig verfassten Pressemitteilungen und ihren Statements am Tag der Urteilsverkündung auf den Stufen des jeweiligen Gerichtsgebäudes vermied sie jeglichen Kontakt mit den Medien. Das war ihr unerschütterlicher Grundsatz, seitdem sie vor drei Jahren nach dem Freispruch eines Mandanten – ein Rap-Star – ein katastrophales Interview gegeben hatte. Dabei war sie über eine einfache Frage gestolpert: ob sie selbst jemals Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden war. Sie hätte die Antwort verweigern sollen. Hätte sagen sollen: Hier geht es nicht um mich. Stattdessen hatte sie erwidert: Nein, aber ich war ja auch kein Partygirl. Sie hatte damit lediglich sagen wollen, dass die meisten Vergewaltigungen unter Bekannten stattfanden – während oder nach Partys. Dies war eine statistisch gesicherte Tatsache. Kelly selbst nahm fast nie an derartigen Veranstaltungen teil, ergo war es statistisch gesehen unwahrscheinlich, dass sie Opfer einer Vergewaltigung wurde. Sie hatte mit ihrer Antwort auf keinen Fall nahelegen wollen, dass Frauen, die Partys besuchten, einen Übergriff herausforderten.
Doch genau so fassten es alle auf. Über Nacht entstand im Internet ein ungeheurer Shitstorm. Man beschimpfte sie als »Victim-Blamerin«, als »Slut-Shamerin«, als würde sie tatsächlich die Opfer verantwortlich machen für das, was ihnen zugestoßen war. Vor ihrem Büro fanden Protestmärsche statt. Hunderte Frauen meldeten sich in den sozialen Medien zu Wort, mit Berichten über sexuellen Missbrauch, den sie eben nicht auf Partys erlebt hatten. Sondern bei der Arbeit. In öffentlichen Verkehrsmitteln. In Einkaufszentren. Sogar in der Kirche.
Sie versuchte, sich zu verteidigen. Die Reporterin hatte nur nach tatsächlich erfolgten Übergriffen gefragt, nicht nach anderen Formen sexueller Belästigung. Davon hatte sie jede Menge erlebt. Aber schmutzige Witze und anzügliche Blicke waren nicht dasselbe wie eine Vergewaltigung. Die Menschen, die vor dem Gerichtshaus mit ihren #ME TOO-Plakaten demonstrierten, ließen sie stets an Patienten denken, die in einer Krebsklinik über einen Niednagel klagten.
Doch jetzt war sie selbst auf dem Weg zu einer Party, und das nur, weil sie neugierig auf Jane Benedict war. Es war ihr ein Rätsel, wie eine so brave Frau einen Mann wie den Doktor heiraten konnte. Wenngleich sie ehrlich gesagt gar nicht wusste, was für ein Mann George Benedict war. Kelly hatte sich größte Mühe gegeben, genau das nicht herauszufinden.
Anton lenkte den Bentley auf die lange Zufahrt, die sich durch ein Wäldchen schlängelte. Die Bäume warfen lange Schatten auf den Wagen. Die Abenddämmerung senkte sich herab. Er umrundete einen Teich mit Wasserlilien, rollte an einem Irrgarten vorbei und bog um eine letzte Kurve, dann kam der herrschaftliche Wohnsitz der Benedicts in Sicht.
Palais traf es besser. Mit dem von griechischen Säulen gestützten Portikus und einer Rotunde auf dem Dach hätte es sich gut und gern um ein Kunstmuseum oder die US-Notenbank handeln können. Anders als seine Grausandstein-Nachbarn war das Haus der Benedicts aus behauenen Kalksteinblöcken erbaut. Ihre glatten, elfenbeinfarbenen Oberflächen wurden von der untergehenden Sonne in rosa Licht getaucht.
Die Wagen der anderen Gäste parkten auf einem kopfsteingepflasterten Vorplatz, diskret an der Seite des stattlichen Herrenhauses stand der Van eines Catering-Service. Als Anton vor der Eingangstreppe anhielt, öffnete sich die mit Glasscheiben versehene Flügeltür, und das Ehepaar Benedict trat heraus. Mrs Benedict winkte mit beiden Händen, als Kelly aus dem Wagen stieg. Während des Prozesses war sie stets in gedeckte Farben gekleidet gewesen, doch heute Abend hatte sie ein rosa Kostüm und eine dazu passende Bluse mit einer großen Schleife gewählt. Dr. Benedict trug sein übliches gedankenverlorenes Stirnrunzeln zur Schau und denselben zerknitterten grauen Anzug wie bei Gericht.
»Willkommen, willkommen!«, rief Jane Benedict und griff nach Kellys Händen. Ihre Augen hinter den Brillengläsern blickten sanft und freundlich. »Vielen Dank, dass Sie da sind, und für … für alles!«
»Danke für die Einladung, Mrs Benedict«, erwiderte Kelly, die dem Drang widerstehen musste, ein »Ma’am« hinzuzufügen. Die Frau erinnerte sie einfach zu sehr an die Damen, die sich zu Hause in Boston für die Kirche engagierten.
»Nennen Sie mich doch bitte Jane! Wir können Ihnen gar nicht genug danken für das, was Sie für uns getan haben.« Janes Tonfall war so variant, wie der ihres Mannes monoton war. Ihre Stimme stieg und fiel wie bei einer Sängerin, die Tonleitern übte. Früher hatte sie auf der onkologischen Station als Krankenschwester gearbeitet, und Kelly konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie mit einem Chemiecocktail in eines der Krankenzimmer stürmte und den Patienten munter aufforderte, sich aufzusetzen und die Tabletten zu schlucken. Na, sehen Sie – geht doch. Und jetzt runter damit!
»Ach, wozu lange reden? Ich würde Sie liebend gern umarmen!«, sagte Jane und drückte Kelly an ihren weichen Busen.
»Gehen wir rein«, schlug Benedict vor.
Seine Frau trat zurück, immer noch strahlend, nahm Kellys Hand und zog sie hinter sich her ins Entree, einen riesigen zylindrischen Raum, gekrönt von der Kuppel der Rotunde. Von irgendwo dahinter schallten Gelächter und leichte klassische Musik zu ihnen herüber.
»Es tut mir leid, dass Ihr Mann nicht dabei sein kann«, hallte Janes Singsang vom Marmorboden wider. »Ich nehme an, er ist in Boston?«
»Ja. Ja, das ist er.«
»Ist er ebenfalls Anwalt?«
»Ja, das ist er«, antwortete Kelly erneut.
Benedict räusperte sich. »Jane, meine Liebe, warum gesellst du dich nicht zu unseren anderen Gästen? Kelly und ich haben noch etwas Geschäftliches zu besprechen.«
»Gern, aber mach nicht zu lange.« Jane legte ihm zärtlich die Hand auf den Arm, und wieder einmal fragte sich Kelly, was die beiden zusammenhielt, diese liebenswerte Frau und diesen humorlosen Mann. »Die Gäste können es kaum erwarten, sie endlich kennenzulernen!« Sie drohte ihm spielerisch mit dem Zeigefinger, dann eilte sie auf ihren flachen Absätzen davon.
Kelly sah Benedict mit hochgezogener Braue an. »Etwas Geschäftliches?«
»Nun, ich spreche von Ihrem Erfolgshonorar.«
»Oh, ja. Natürlich.« Harry Leahy war für die finanziellen Dinge in der Kanzlei zuständig, und diesmal hatte er für einen Freispruch eine Prämie ausgehandelt. Normalerweise musste er sich nach dem Prozess an die Mandanten wenden, um das Geld einzutreiben. Es würde ihn freuen, wenn er erfuhr, dass Benedict das Erfolgshonorar noch am Tag des Erfolges entrichtet hatte. Vielleicht wäre er sogar so begeistert, dass er sie während der nächsten ein, zwei Wochen nicht wegen des nächsten großen Falls bedrängte.
»Gehen wir in mein Arbeitszimmer«, schlug Benedict vor und führte sie durch eine Tür zur Linken in eine lang gestreckte Galerie mit einer Fensterfront auf der einen und Kunstwerken auf der anderen Seite. Während Kelly ihm folgte, betrachtete sie die Gemälde. Sie waren überwiegend in Öl gemalt und zeigten fast ausschließlich Männer, die neben einem Untersuchungstisch standen, auf dem ein Patient auf dem Rücken lag, sich über die Bärte strichen oder auf ihre Taschenuhren blickten.
»Ich erkenne einen roten Faden«, sagte sie.
Benedict reagierte nicht. Stattdessen strebte er weiter auf das Ende der Galerie zu und öffnete eine Flügeltür. Dahinter befand sich ein grellweißer Raum, der eher aussah wie ein Labor als wie ein Arbeitszimmer. Anders als erwartet, standen an den Wänden keine Bücherregale, sondern weiße Bibliotheksschränke. Der Fußboden war aus strahlend weißem Marmor, der Schreibtisch bestand aus einer langen, abgeschrägten Glasplatte auf weißen Böcken. Dahinter sah Kelly einen weißen Bürostuhl, davor zwei weiße Polstersessel. Obwohl es keine Fenster gab, war es blendend hell.
»Nehmen Sie Platz.« Er setzte sich hinter den Schreibtisch und schlug sein Scheckheft auf.
Mit klackernden Absätzen ging sie über den Marmorboden zu einem der Sessel und wollte sich soeben setzen, als sich das Polster plötzlich bewegte. »Oh!«, stieß sie erschrocken hervor. Eine seidig glänzende weiße Katze sprang vom Sessel.
»Darf ich vorstellen? Jonas Salk.«
»Hallo, Jonas.« Kelly streckte die Hand aus, doch der Kater reckte seine Schnauze in die Höhe und stolzierte von dannen. Sie ging zum anderen Sessel. In der Luft lag ein seltsamer Geruch, wie von einem Desinfektionsmittel. Als wäre jede Oberfläche mit Alkohol gereinigt worden.
»Harry Leahy hat mir die Geschichte erzählt«, teilte Benedict ihr mit, ohne von dem Scheck aufzuschauen, den er ihr ausstellte.
»Welche Geschichte?«
»Wie er Sie auf die dunkle Seite gelockt hat.«
»Ach, das.« Sie lachte verlegen.
»Sie waren bei der Staatsanwaltschaft und haben Sexualverbrechen verfolgt. Er hat mir erzählt, dass Sie seine Mandanten vor Gericht gezerrt und tatsächlich jedes Mal gewonnen haben. Er hat immer wieder versucht, Sie abzuwerben, weil er wusste, dass eine Frau bei der Verteidigung solcher Fälle besser wäre als er, besser als jeder Mann. Die Erfolgschancen stehen um einiges höher. Also hat er Ihnen immer mehr Geld angeboten, sogar eine Partnerschaft, doch Sie haben jedes Mal abgelehnt. Sie wollten nichts damit zu tun haben. Er sagte, Sie wollten sich nicht die Hände schmutzig machen …«
»Nein, das war nicht der Grund …«
»… mit Mandanten wie mir.« Jetzt schaute Benedict auf und hielt ihren Blick fest, während er den Scheck aus dem Heft riss. Es klang, als hätte er ein Pflaster von einer Wunde gerissen.
Sie blinzelte zuerst. »Keiner seiner Mandanten war wie Sie, Dr. Benedict.«
Mit einem freudlosen Lächeln schob er ihr den Scheck über die Glasplatte seines Schreibtisches zu. Als sie den Betrag sah, hätte sie um ein Haar nach Luft geschnappt. Zweihunderttausend Dollar. Ihre Schlussrechnung würde ein Vielfaches betragen, doch die Zahl spiegelte eindrucksvoll die Stunden harter Arbeit wider, die sie und ihr ganzes Team geleistet hatten. Dieser Scheck war nur das Sahnehäubchen.
»Lassen Sie uns etwas trinken, um diesen Moment zu feiern.« Er stand auf und öffnete eine der weißen Schranktüren. Dahinter kamen Regale mit Gläsern und Flaschen zum Vorschein, außerdem ein Minikühlschrank. »Was darf ich Ihnen anbieten?«
Immer noch leicht benommen, sah sie von dem Scheck auf. »Oh, einen Gin, bitte, mit etwas Tonic. Ein ganz kleiner Spritzer genügt.«
Er griff nach einer Flasche, doch dann hielt er inne. »Warum mixen Sie ihn nicht selbst? Dann wird er genau so, wie Sie ihn gern hätten.«
Sie nickte, stand auf und ging hinüber zur Bar. Dort öffnete sie eine neue Flasche Gin, nahm ein Glas von einem der Regalböden und schenkte eine kleine Menge ein. Im Kühlschrank fand sie eine ungeöffnete Flasche Tonic, schraubte den Deckel ab und fügte einen winzigen Schuss hinzu. Benedict griff zu einer Flasche Scotch, bereitete sich seinen Drink zu und hielt sein Glas in die Höhe. »Auf einen weiteren Erfolg in Ihrer so erfolgreichen Karriere.«
Sie zuckte mit den Achseln und nahm einen Schluck. »Ich musste auch schon einige Niederlagen einstecken.«
»Diesmal glücklicherweise nicht.«
Sie kehrte zu ihrem Sessel zurück, und er setzte sich in den daneben, auf dem zuvor Jonas Salk gelegen hatte. Der Kater sprang vom Marmorboden auf den Schreibtisch und von dort weiter auf einen der Schränke.
»Apropos Niederlagen«, sagte Benedict, als Kelly sich zurücklehnte und die Beine übereinanderschlug. »Kennen Sie die Geschichte einer der größten pharmakologischen Pleiten aller Zeiten? Curare?«
»Nein, nicht, dass ich wüsste.« Sie nahm einen weiteren Schluck.
»Das war in den 1940ern. Curare ist ein lähmendes Gift, das die Ureinwohner für ihre Pfeilspitzen verwendeten. Als die westliche Medizin darauf stieß, dachte man, es würde ein ausgezeichnetes Narkotikum ergeben. Anders als die meisten anderen zu jener Zeit gängigen Medikamente machte Curare den Patienten vollkommen bewegungsunfähig. Das Letzte, was ein Chirurg gebrauchen kann, ist ein Patient, der um sich schlägt oder auch nur zuckt, wenn er sein Skalpell ansetzt. Curare lähmt die Muskeln.«
»Aha.« Ihr rechter Fuß fing an zu kribbeln, als würde er einschlafen. Sie löste die Beine und stellte die Füße nebeneinander auf den Boden. Sie musste wirklich dringend eine große Laufrunde drehen.
»Es gab nur ein Problem«, fuhr Benedict fort. »Die Patienten waren nach wie vor bei Bewusstsein. Sie konnten alles hören, alles fühlen. Konnten jeden einzelnen schmerzhaften Schnitt durch ihre Haut und bis in die Organe spüren. Nur schreien konnten sie nicht.«
»O mein Gott! Wie entsetzlich!« Nun war auch ihr linker Fuß eingeschlafen.
»Ich habe meine eigene Rezeptur entwickelt«, sagte er.
»Tatsächlich?« Sie stand auf, um den Blutstrom in ihren Füßen in Schwung zu bringen. »Zu welchem Zweck?«
»Für Situationen wie diese«, antwortete er und fing ihren Blick auf, als sie zu Boden ging.
Das Glas rutschte aus ihren Fingern und zerschellte auf dem Marmor.
»Es war im Tonic.« Er hob sie auf seine Arme. »Noch etwas, was Ihr Partner mir erzählt hat. Dass Sie immer einen Gin Tonic trinken.«
Das Entsetzen durchströmte sie so schnell wie das Betäubungsmittel. Sie fing an zu schreien, doch sie brachte nicht mehr als ein Gurgeln zustande. Sie versuchte, nach ihm zu schlagen, aber inzwischen waren auch ihre Arme eingeschlafen.
Er legte sie wie einen Leichnam auf die Glasplatte seines Schreibtisches. »Du hast mir einen Maulkorb verpasst«, sagte er. »Zehn Monate lang hast du mich mundtot gemacht. Du hast mich behandelt wie einen erbärmlichen Hund!« Die roboterhafte Stimme war verschwunden. Jetzt sprudelte förmlich ein gutturaler Schwall von Worten aus ihm heraus. »Wie ein Schoßhündchen! Setz dich hierhin! Stell dich dorthin! Zieh dies an! Tu das nicht! Bleib! Bei Fuß! Platz! Als wärest du der Alpha und ich dein beschissenes Weibchen! Ich! Der Mann, der Alzheimer kuriert hat! Ich werde den Nobelpreis gewinnen, und du wagst es, mich so zu behandeln? Wie ein Stück Scheiße, das du dir gar nicht schnell genug vom Hacken kratzen kannst. Und jetzt? Was nun, Frau Anwältin? Jetzt bist du mein Weibchen, und ich werde dich ficken!«
Mittlerweile war sie starr wie ein Eisberg, der im arktischen Meer unter einem blendend weißen Himmel dahintrieb. Sie spürte seine Hände auf ihrem Körper. Fühlte, wie er sie auf die Seite drehte. Hörte das metallische Ratschen, als er den Reißverschluss ihres Kleids öffnete. Hörte, wie ihre High Heels auf dem Boden aufschlugen. Er drehte sie wieder auf den Rücken. Sein Gesicht ragte über ihrem auf. Jetzt nahm er ihr die Brille ab, und sie versuchte, die Augen zu schließen, doch das war nicht möglich.
»So ein Pech«, sagte er. »Nein, in Wirklichkeit ist es perfekt. Du sollst es sehen. Du sollst alles mit ansehen.«
Die Lähmung hatte im ungünstigsten Moment ihre Augenlider erreicht. Nun waren ihre Augen weit aufgerissen und starr an die weiße Decke gerichtet.
»Soll ich dir sagen, was das Beste daran ist?«, fragte er, als er ihr das Kleid vom Leib zerrte. »Ich muss mir diesmal keine Sorgen wegen der DNA-Spuren machen.« Er zog die Anzugjacke aus. »Ich muss kein Schweigegeld zahlen. Das hier wird mich keinen einzigen Cent kosten. Denn du wirst es nicht wagen, Anzeige zu erstatten. Du wirst niemals auch nur ein Wort über diese Sache verlieren. Wirst keiner Menschenseele etwas davon erzählen.« Er streifte ihr das Höschen ab. »Denn alles, was du proklamierst, alles, wofür du stehst, wäre im Eimer, wenn du zugibst, dass einer deiner Mandanten tatsächlich ein Vergewaltiger ist. Dein Ruf wäre ruiniert. Du würdest genauso gedemütigt werden, wie du mich gedemütigt hast. Deine hochkarätigen, vermögenden Mandanten könntest du vergessen.« Er hakte ihren BH auf. »Dein Höhenflug wäre vorüber. Und die Staatsanwaltschaft würde dich auch nicht zurücknehmen nach all dem, was du getan hast. Vorausgesetzt, du könntest dir eine Rückkehr überhaupt leisten, was ich bei den exorbitanten Kosten, die deine Haushaltsführung verschlingt, für ausgeschlossen halte. So, Frau Anwältin«, höhnte er, »sieht meine Rache aus. Jetzt bist du diejenige, die einen Maulkorb bekommt.«
Sein Gesicht kam näher, abstoßend und hassverzerrt. Mit aller Kraft, die ihr noch blieb, versuchte sie, die Augen zu schließen, um das, was folgen würde, auszublenden, doch es gelang ihr nicht.
Sie konnte alles sehen.
Sie konnte alles spüren.
Auf seinem Hochsitz oben auf dem Schrank zog Jonas Salk die Vorderpfoten unter die Brust und beobachtete, was als Nächstes passierte.
Vergangenen März war ich in einen Autounfall verwickelt, weil an einer Kreuzung jemand auf meinen kleinen Honda auffuhr. Es war nicht nur die Schuld des anderen Fahrers (worauf er lautstark hinwies, nachdem er aus dem Wagen gesprungen war). Ich hatte nicht gleich Gas gegeben, als die Ampel auf Grün sprang, sondern war noch stehen geblieben und hatte wie benebelt durch die Windschutzscheibe gestarrt.
In den Tagen unmittelbar nach dem Zwischenfall hatte sich dieser Nebel häufig auf mich herabgesenkt. (»Der Zwischenfall«, so nannte ich in Gedanken das, was passiert war. Jede anschaulichere Beschreibung hätte doch nur Erinnerungen heraufbeschworen.) Allerdings ereignete sich der Unfall Monate nach dem Zwischenfall und wurde getriggert von etwas, was ich nicht greifen konnte. Ich fuhr vom Laden nach Hause, das war alles. Aber plötzlich tat ich das nicht mehr. Fahren, meine ich. Ich saß an einer grünen Ampel in meinem stehenden Auto, auf einer viel befahrenen Straße. Und wurde von hinten gerammt, so heftig, dass ich auf die Kreuzung geriet, wo ich mit einem anderen Wagen kollidierte und mein Airbag aufging.
Die Symptome am nächsten Tag waren heftig: Rücken- und Schulterschmerzen, hämmernder Kopfschmerz, der sich vom Nacken bis über die Schädeldecke ausbreitete, ein Hals, der so steif war, dass man meinen konnte, die Wirbel wären miteinander verschweißt. Der Arzt tat meinen Zustand als Schleudertrauma ab und verschrieb Paracetamol. Als die Symptome stärker wurden, schickte er mich zur Physiotherapie, was auch nicht half. Irgendwann wurden die Schmerzen so lähmend, dass ich kaum noch sehen konnte, also vermutete er, sie wären psychischer Natur. (Das ist oftmals der Fall bei Weichteilverletzungen – in Ermangelung eines nachvollziehbaren körperlichen Befunds greift die Schulmedizin häufig auf eine psychosomatische Diagnose zurück – das ist alles nur in deinem Kopf.)
(Das Gleiche galt für die Rechtswelt. War etwas wirklich passiert, wenn es keinerlei handfeste forensische Beweise dafür gab? Oder bildete ich mir alles nur ein? Schlimmer noch: Dachte ich es mir aus?)
In beiden Fällen war Durchhaltevermögen gefragt. Ich suchte den Arzt immer wieder mit denselben Beschwerden auf, bis er endlich einlenkte und ein Opioid verschrieb (wenngleich in der niedrigstmöglichen Dosis). Außerdem wandte ich mich immer wieder an den Bezirksstaatsanwalt – so lange, bis auch er endlich einlenkte und der Grand Jury eine Anklageschrift gegen George Benedict vorlegte.
Ich kämpfte hart – für beides. Doch während mir das Oxycodon ein wenig Erleichterung verschaffte, bewirkte das Gesetz nichts dergleichen.
Es war kein Rätsel, warum ich ausgerechnet heute an den Unfall dachte. Der Weg vom Gerichtsgebäude zu mir nach Hause führte über dieselbe Kreuzung. Die Wucht des Auffahrunfalls im März fühlte sich wie ein Übergriff an – als hätte sich eine feindliche Streitmacht mit einem Rammbock hinter mir versammelt. Auch heute hatte es sich angefühlt wie ein feindlicher Übergriff, als sich der Sprecher der Geschworenen erhoben und verkündet hatte: »Nicht schuldig.«
Es war genau wie in dem Moment, als der Wagen auf meinen Honda geprallt war. Ich hatte es nicht kommen sehen. Ich glaubte fest daran, dass der Gerechtigkeit Genüge getan würde, bis zu der Sekunde, als dies eben nicht geschah. Vielleicht waren es die Demonstrantinnen vor dem Gerichtsgebäude gewesen, die mir falsche Hoffnungen gemacht hatten. All die Frauen, die Schilder in die Höhe hielten, auf denen GLAUBT REEZA! und STOPPT SEXUELLEN MISSBRAUCH! stand. (Auf einigen davon war #ME TOO zu lesen, wofür ich weniger dankbar war. Du auch?, hätte ich am liebsten gesagt. Dann zieh selbst vor Gericht und hör auf, dir meinen Prozess zunutze zu machen.)
Es war nicht einmal ein Fall, bei dem Aussage gegen Aussage stand, denn George Benedict sagte gar nichts. Er trat nicht in den Zeugenstand; er hob nicht die Hand und schwor den Eid, die Wahrheit zu sagen, nichts als die Wahrheit; er saß nicht drei Tage lang in diesem Kasten wie ich, mit so starken Nackenschmerzen, dass mir die Tränen in die Augen traten.
Nein, in diesem Fall ging es einzig und allein um »Sie behauptet das, aber sie lügt«. Und um »Wo sind ihre Beweise?«. (Als wären die Worte aus meinem Mund nicht Beweis genug.)
Ich hatte tatsächlich einige DNA-Spuren beibringen können, aber nicht genug, denn ich hatte direkt nach dem Zwischenfall geduscht. Ich war Wissenschaftlerin – noch dazu Biologin –, daher hätte ich es besser wissen müssen. Aber das Bedürfnis, mich zu säubern, war ein körperlicher Zwang gewesen, vergleichbar mit Erbrechen – derKörper reinigte sich selbst.
Infolgedessen gab es fast keine forensischen Beweise dafür, dass Benedict überhaupt in meiner Wohnung gewesen war. Keine Samenspuren. Er hatte ein Kondom getragen, das er mitgenommen haben musste, denn ich konnte es anschließend nirgendwo finden. Die Polizei fand einige Haare von ihm auf meiner Kleidung und auf der Couch, außerdem Stofffasern, die zu der Tweedjacke passten, die er getragen hatte. Doch seine Anwältin tat dies ab. Am Ende zwang sie mich einzuräumen, dass ich eng mit dem Mann zusammengearbeitet und häufig im Labor und an Rednerpulten an seiner Seite gestanden hatte. Die Haare und Stofffasern hätten bei unzähligen anderen Gelegenheiten auf meine Sachen gelangt sein können, außerdem wäre es durchaus möglich, dass ich sie dort platziert hatte.
Und dann waren da noch die Fingerabdrücke – vielmehr: die nicht vorhandenen Fingerabdrücke. Wäre Benedict tatsächlich in meiner Wohnung gewesen, hätte er seine Fingerabdrücke am Türknauf, auf der Anrichte, überall hinterlassen müssen. Seine Anwältin blieb in diesem Punkt knallhart, vermutlich weil meine Erklärung mich entweder aussehen ließ wie eine Idiotin oder wie eine Lügnerin: Benedict hatte mit Latexhandschuhen vor der Tür gestanden und sie die ganze Zeit über angelassen.
Warum sollten Sie einen Mann mit Latexhandschuhen in Ihre Wohnung bitten?, setzte seine Anwältin mir zu. Kam Ihnen das nicht seltsam vor?, fragte sie gleich darauf, den Blick den Geschworenen zugewandt. (Das machte sie wiederholt während des Kreuzverhörs: Sie tat so, als würde sie mir eine Frage stellen, dabei sprach sie in Wahrheit zur Jury.)
Nein, es war mir nicht seltsam vorgekommen. Er trug beinahe jedes Mal Latexhandschuhe, wenn wir uns begegneten. Genau wie ich. Bei der Laborarbeit wurden Latexhandschuhe für uns zu einer zweiten Haut. Wir waren Wissenschaftler. Unter den Geschworenen befand sich kein einziger Wissenschaftler.
Die weitaus entscheidendere Frage war natürlich, warum ich ihm überhaupt die Tür geöffnet hatte. Er hatte mich gefeuert; ich hatte bereits einen Anwalt engagiert, der ihn verklagen sollte – wir waren zu besagtem Zeitpunkt eindeutig Gegner. Es war mir nur einfach nie der Gedanke gekommen, dass er eine körperliche Gefahr für mich darstellen könnte. Als kleines Mädchen hatte ich gelernt, vor Männern auf der Hut zu sein, die zu freundlich waren, nicht allerdings vor einem Mann, der mich offenkundig hasste. Niemand hatte mich je vor einem Mann gewarnt, der mich voller Abscheu musterte. Ich hatte geglaubt, ich sei sicher vor einem Mann, der solche Gefühle für mich hegte, hatte gedacht, Vergewaltigung wäre ein Sexualverbrechen, kein Hassverbrechen. (Nun wusste ich, dass beides der Fall war.)
(Viele meiner Gedanken standen neuerdings in Klammern. Die Zwillingsbögen der Parenthese schienen meine gefährlichsten Gedanken einzukapseln. Auf diese Weise konnten sie langsam freigegeben und in kleinen Dosen vorsichtig aufgenommen werden.)
Ich war jetzt fast zu Hause, und der Schmerz nagte an meinem Rückgrat wie eine eingesperrte Ratte. Er triggerte mein Asthma (noch etwas, was mein Arzt für psychosomatisch hielt). Ich spürte, wie sich meine Bronchiolen zusammenzogen. Hörte das Pfeifen bei jedem Atemzug, deshalb griff ich nach meinem Albuterol-Inhalator auf dem Beifahrersitz und gab einen Stoß ab.
In meinem Fachgebiet bestand, genau wie in allen anderen Wissenschaften, eine Rechenschaftspflicht. Wenn etwas schiefging – wenn beispielsweise eine Probe kontaminiert war –, verfolgten wir jeden einzelnen Schritt zurück, um festzustellen, worin der Fehler bestand. Etwas war heute beim Prozess gründlich schiefgelaufen, und auf der Fahrt nach Hause überlegte ich, wer dafür verantwortlich sein mochte.
Ich selbst, weil ich ganz offensichtlich versäumt hatte, die Beweise sicherzustellen. (Oder weil ich zuvor selbst die Tür geöffnet hatte.)
Der Staatsanwalt, wegen seiner absolut glanzlosen Leistung vor Gericht. (Schlimmer als glanzlos. Er schien völlig eingeschüchtert zu sein von Benedicts Anwältin.)
Die Geschworenen. Ich hasste es, die Rassenkarte auszuspielen, aber die Fakten waren nun mal so: Benedict war ein weißer Mann, und ich war eine indischstämmige amerikanische Frau. Die Verfassung sprach nur dem Angeklagten, nicht aber dem Opfer eine Jury aus Geschworenen derselben sozialen Gruppe zu. Diese Jury bestand aus sechs Männern und sechs Frauen, neun davon weiß, zwei schwarz, eine Latina. (Man musste nur nachrechnen.)
Kelly McCann.
Hier könnte ich aufhören. Es war alles ihre Schuld.
Kelly McCann. Jeden Tag tadellos gekleidet. Überaus selbstbewusst. Kein einziges blondes Haar, das nicht an Ort und Stelle lag. Perfekt geformte Augenbrauen – Augenbrauen, die sie als Übertitel für die Worte verwendete, die aus ihrem Mund kamen. Eine hochgezogene Braue drückte Skepsis aus, zwei Überraschung. Gefurchte Brauen Missbilligung. Die Brille, davon war ich überzeugt, diente mehr der Show als der Sehschärfe. Dünne, grausame Lippen, die sich zu einem gekünstelten, angedeuteten Lächeln verzogen, was mich in Gedanken umgehend in meine Zeit an der weiterführenden Schule zurückversetzte, die mich auf das College oder die Universität vorbereiten sollte.
Meine Eltern hatten Opfer gebracht, um mich dorthin schicken zu können, und tatsächlich schaffte ich es mittels dieser Schule später nach Harvard. Doch ich hasste sie. Es wimmelte dort nur so von affektierten weißen Mädchen, die genauso waren wie Kelly McCann. Die Cheerleaderinnen, die Sportlerinnen, die beliebten Mädchen, alle so überzeugt davon, dass sie gemocht und bewundert wurden, dass sie sich nie wegen irgendetwas Gedanken machten. Die Türen öffneten sich automatisch für sie, und auf magische Weise oder göttliches Geheiß wurden ihnen die Stühle zurechtgerückt. Diese Mädchen ließen sich erst dann dazu herab, ihre braune Mitschülerin wahrzunehmen, als sie einen Preis gewonnen hatte. Oh, Reezy, ich wünschte, ich wäre soklug wie du!, riefen sie auf eine Weise, die den Eindruck erweckte, Intelligenz wäre etwas ziemlich Kurioses. Wenn ich einen Asthmaanfall bekam, gurrten sie: Oh, du Arme, aberdann tauschten sie Blicke, die besagten: Bin ich froh, dass ich nicht so anfällig bin wie die. (Ich hatte mich dummerweise geschmeichelt gefühlt, als sie mich »Reezy« nannten – ein Spitzname war ein Zeichen der Zuneigung, richtig? –, bis mir klar wurde, dass sie das nur taten, weil es sich auf »Piepsi« reimte, wegen meines pfeifenden Atems.)
Fairerweise muss ich sagen, dass die Mädchen ihr Verhalten als vollkommen selbstverständlich betrachteten, da ihre Mütter Cliquen bildeten, die noch um einiges ausgrenzender waren als die ihrer Töchter. Ich sah ihnen zu, wie sie auf dem Schulparkplatz miteinander tratschten, in ihren Golfpullovern und Tenniskleidern, dicht beisammenstehend, in kleinen Gruppen, um die anderen auszuschließen, auch wenn ihre Stimmen weit über ihre eng gesteckten Grenzen hinausgetragen wurden. Meine eigene Mutter marschierte in Sari und Turnschuhen an ihnen vorbei und wünschte ihnen einen guten Morgen, und sie grüßten zurück, nickend, mit einem angedeuteten Lächeln – und dann brannten sie mit ihren Augen Löcher in Moms Rücken.
Meine Eltern flehten mich an, auf eine Anklageerhebung zu verzichten. Das würde mich für den Rest meines Lebens verfolgen, behaupteten sie. All meine Abschlüsse, meine akademischen Auszeichnungen, meine Forschungsdurchbrüche, meine Veröffentlichungen wären dann vergessen. Ich würde für immer als die Frau bekannt sein, die einen großen Mann der Vergewaltigung beschuldigt hatte. Sie zweifelten nicht an meiner Geschichte, das schworen sie. Dennoch – ich musste damit abschließen, und die einzige Möglichkeit, das zu schaffen, war, diesen Schritt zu gehen.
Sie beschlossen, nicht am Prozess teilzunehmen. Sie wollten mich nicht in Verlegenheit bringen, behaupteten sie. (Ich wusste, dass es ihre eigene Verlegenheit war, die sie davon abhielt.)