Die Aspern-Schriften - Henry James - E-Book

Die Aspern-Schriften E-Book

Henry James

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Beschreibung

Leise gleitet seine Gondel durch den einsamen Kanal, bis sich vor dem jungen Literaten der mächtige Palazzo erhebt. Hinter den rissigen Mauern düsterer Grandezza lebt eine strenge Dame, einst die Geliebte des verstorbenen Dichters Jeffrey Aspern. Im Besitz der unnahbaren Frau vermutet der junge Mann einen literarischen Schatz: die Liebesbriefe des berühmten Dichters. Doch um an die wertvollen Schriften zu gelangen, muss er das Vertrauen der Signora und ihrer eigenwilligen Nichte gewinnen – um jeden Preis. Ein venezianischer Sommer voller Abgründe, der das Leben der drei ungleichen Gestalten für immer verändert.

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Über dieses Buch

Hinter den düsteren Mauern eines mächtigen Palazzos vermutet der junge Literat einen Schatz: Die Liebesbriefe des großen Dichters Jeffrey Aspern. Um an die wertvollen Schriften zu gelangen, muss er das Vertrauen der strengen Hausherrin und ihrer eigenwilligen Nichte gewinnen – um jeden Preis.

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Henry James (*1843–1916) entstammte einer intellektuellen und wohlhabenden Familie. Nach Abbruch des Jura-Studiums widmete er sich der Literatur und studierte in Amerika und Europa. Nach ausgiebigen Reisen gab er sein Romandebüt, bis heute gilt er als Meister der psychologischen Erzählungen.

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Bettina Blumenberg ist Schriftstellerin, Dramaturgin, Übersetzerin und Lektorin. Sie studierte klassische Philologie, Romanistik und Kunstgeschichte, lehrt Literatur- und Kulturtheorie und wurde mit dem Marburger Förderpreis und dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Henry James

Die Aspern-Schriften

Roman

Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Bettina Blumenberg

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Aspern-Schriften erschien erstmals 1888 in Fortsetzungen in der Zeitschrift Atlantic Monthly.

Diese Übersetzung erschien erstmals 2013 im Triptychon Verlag, München. Für die vorliegende Ausgabe hat die Übersetzerin den Text 2021 überarbeitet.

Originaltitel: The Aspern Papers

© des Nachworts by Bettina Blumenberg

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: John Singer Sargent, The Grand Canal, Venice (Painters/Alamy Stock Foto)

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-31149-7

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 05.01.2022, 14:08h

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Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

DIE ASPERN-SCHRIFTEN

1 – Ich hatte Mrs Prest ins Vertrauen gezogen …2 – Ich muss den Garten in Ordnung bringen …3 – Unser Haus liegt weit vom Stadtzentrum entfernt …4 – Vielleicht war es so, gleichwohl hatte ich sechs …5 – Die Abende verbrachte ich selten zu Hause …6 – Endlich traf ich sie eines Nachmittags, als ich …7 – Meine Befürchtungen, zu welchen Handlungen diese Seite ihres …8 – Wie sich herausstellte, wäre die Vorsichtsmaßnahme gar nicht …9 – Ich verließ Venedig am nächsten Morgen, unmittelbar nachdem …Venezianisches TrauerspielNachbemerkung der Übersetzerin

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1

Ich hatte Mrs Prest ins Vertrauen gezogen; ohne sie wäre ich wohl kaum einen Schritt vorangekommen, denn die wahrhaft Erfolg versprechende Idee in der ganzen Angelegenheit stammte aus ihrem wohlwollenden Munde. Sie war es, die den zündenden Einfall hatte und den gordischen Knoten löste. Es soll ja für Frauen nicht gerade leicht sein, sich eine großzügige und freie Sicht der Dinge anzueignen, zumal solcher Dinge, die unbedingt erledigt werden müssen. Doch manchmal schütteln sie einen kühnen Plan – zu dem ein Mann sich niemals aufgeschwungen hätte – mit unvergleichlicher Gelassenheit aus dem Ärmel. »Bringen Sie sie ganz einfach dazu, Sie als Untermieter bei sich aufzunehmen« – ich glaube nicht, dass ich ohne ihre Hilfe auf solch eine Idee gekommen wäre. Ich schlich vielmehr wie die Katze um den heißen Brei, wollte besonders findig sein und zerbrach mir darüber den Kopf, mit welchen Winkelzügen ich ihre Bekanntschaft machen könnte, und da kam sie mit diesem trefflichen Vorschlag, dass der erste Schritt, mit ihnen Bekanntschaft zu schließen, sein müsste, zunächst ihr Mitbewohner zu werden. Was sie über die Damen Bordereau wusste, ging kaum über meinen Kenntnisstand hinaus, vielmehr hatte ich aus England ein paar eindeutige Fakten mitgebracht, die ihr neu waren. Jahrzehnte zuvor habe man den Namen der Damen mit einem der berühmtesten Namen des Jahrhunderts in Verbindung gebracht, und heute lebten sie zurückgezogen in Venedig, lebten von äußerst bescheidenen Mitteln, ohne je Besuch zu empfangen, und unnahbar in einem abgelegenen und halb verfallenen alten Palazzo: So lässt sich der Eindruck meiner Freundin von den Damen zusammenfassen. Sie selbst hatte sich vor anderthalb Jahrzehnten in Venedig niedergelassen und dort eine Menge Gutes getan; doch in den Kreis ihrer Wohltaten waren die beiden scheuen, rätselhaften und, wie man grundlos vermutete, kaum gesellschaftsfähigen Amerikanerinnen – von denen man annahm, sie hätten im Laufe ihres langen Exils alle nationalen Eigenarten eingebüßt, zumal sie, wie ihr Name erkennen ließ, auf eine eher weitläufige französische Abstammung zurückblickten – niemals aufgenommen worden, und ihrerseits hatten sie niemals um einen Gefallen gebeten und wünschten keine Aufmerksamkeit. In den ersten Jahren ihres Aufenthalts in Venedig hatte sie einen Versuch unternommen, mit den beiden Kontakt aufzunehmen, doch dies war ihr nur mit der Kleinen gelungen, wie meine Freundin die Nichte nannte; allerdings stellte ich etwas später fest, dass sie in Zentimetern die größere war. Mrs Prest hatte erfahren, dass Miss Bordereau krank war, und da sie annahm, sie wäre bedürftig, war sie zu dem Haus gegangen, um ihre Hilfe anzubieten, damit sie sich keine Vorwürfe zu machen hätte, falls dort Leid herrschte, insbesondere amerikanisches Leid. Die »Kleine« hatte sie in der großen, aber kalten venezianischen sala mit ihrem verblichenen Glanz empfangen, in dem mit Marmorfußboden und einer düsteren Balkendecke ausgestatteten Empfangssaal des Hauses, und sie hatte ihr nicht einmal einen Platz angeboten. Das hörte sich für mich nicht sehr ermutigend an, der ich mich doch so schnell wie möglich niederlassen wollte, und in diesem Sinne äußerte ich mich gegenüber Mrs Prest. Scharfsinnig gab sie mir zur Antwort: »Aber nein, da ist doch ein großer Unterschied: Ich ging dorthin, um einen Gefallen zu erweisen, und Sie wollen um einen bitten. Wenn die beiden stolz sind, dann sind Sie in der richtigen Position.« Dann bot sie mir an, mir zunächst einmal das Haus der Damen zu zeigen – mich in ihrer Gondel dorthin zu begleiten. Ich verriet ihr, dass ich es mir bereits ein halbes Dutzend Mal angeschaut hätte; dennoch nahm ich ihr Angebot an, denn es schien mir verlockend, mich in der Nähe des Ortes aufzuhalten. Schon am Tag nach meiner Ankunft in Venedig war ich dorthin gefahren – jener Freund in England, dem ich zuverlässige Informationen darüber verdankte, dass die Papiere sich im Besitz der Damen befänden, hatte mir den Weg im Voraus beschrieben – und hatte das Gebäude mit Blicken belagert, während ich meinen Schlachtplan durchdachte. Jeffrey Aspern war, soweit ich wusste, niemals in dem Haus gewesen, doch ein ferner Nachhall seiner Stimme schien sich dort noch in der Luft zu halten wie eine allumfassende Vermutung, die im »sterbenden Fall« erlischt.

Mrs Prest wusste nichts von den Papieren, interessierte sich aber für den Grund meiner Neugierde, wie sie immer an den Freuden und Leiden ihrer Freunde Anteil nahm. Als wir dann aber in ihre Gondel stiegen und unter dem Sonnendach nebeneinander dahinglitten, durch das Schiebefenster zu beiden Seiten das strahlende Venedig als gerahmtes Bild im Blick, erkannte ich, wie sehr mein Eifer sie belustigte und dass sie mein Interesse an meiner in Aussicht stehenden Beute für einen vorbildlichen Fall von Monomanie hielt. »Man könnte meinen, Sie erhofften sich davon die Antwort auf das Geheimnis des Universums«, sagte sie. Ich hatte dieser Anschuldigung nur entgegenzuhalten, dass ich für den Fall, ich hätte zwischen dieser so erstrebenswerten Lösung und einem Bündel mit Jeffrey Asperns Briefen zu wählen, sehr wohl wüsste, welches für mich der größere Segen wäre. Sie nahm sich sogar heraus, seine Begabung unbedeutend zu nennen, und ich gab mir keinerlei Mühe, ihn zu verteidigen. Seinen Gott verteidigt man nicht: Jemandes Gott ist eine Verteidigung an sich. Darüber hinaus steht er heute, nachdem er vergleichsweise lange ein Schattendasein geführt hat, ganz hoch und für alle Welt sichtbar an unserem literarischen Himmel; er ist ein Teil des Lichts, in dem wir uns bewegen. Zu ihr sagte ich nur, dass er sicherlich kein Dichter für Frauen gewesen sei; worauf sie recht treffend zurückgab, dass er es zumindest für Miss Bordereau gewesen sei. Für mich war es eine unglaubliche Überraschung gewesen, in England herauszufinden, dass sie noch am Leben war: Es war, als hätte man mir eröffnet, Mrs Siddons lebte noch, oder Königin Caroline oder die berühmte Lady Hamilton, denn es war mir so vorgekommen, als gehörte sie einer solchen ausgestorbenen Generation an. »Aber sie muss doch unglaublich alt sein – mindestens hundert«, hatte ich erwidert. Doch als ich die vorhandenen Daten in Augenschein nahm, sah ich es nicht als zwingend geboten an, dass sie die übliche Lebensspanne schon weit überschritten haben müsste. Sicherlich befand sie sich in einem ehrwürdigen Alter, und ihre Beziehung mit Jeffrey Aspern hatte sich in einer Zeit abgespielt, als sie eine junge Frau war. »Damit entschuldigt sie sich«, sagte Mrs Prest ein wenig gouvernantenhaft und doch auch mit dem Unterton, als wäre sie beschämt, Worte im Munde zu führen, die so gar nicht zur Tonlage Venedigs passen wollten. Als brauchte eine Frau eine Entschuldigung dafür, den göttlichen Dichter geliebt zu haben! Er war nicht nur einer der glänzendsten Köpfe seiner Zeit gewesen – und in jenen Jahren, als das Jahrhundert noch jung war, hatte es, wie jedermann weiß, viele davon gegeben –, sondern auch einer der seelenvollsten und einer der bestaussehenden Männer.

Die Nichte verfügte Mrs Prest zufolge über ein weniger ehrwürdiges Alter, und es wurde die Vermutung geäußert, dass sie eher eine Großnichte war. Durchaus möglich; ich hatte nichts weiter zur Verfügung als das äußerst begrenzte Wissen aus der Hand meines englischen Freundes John Cumnor, eines ebenso leidenschaftlichen Aspern-Verehrers wie ich, der die beiden Frauen nie zu Gesicht bekommen hatte. Die Welt hatte, wie ich zu sagen pflege, Jeffrey Aspern anerkannt, aber Cumnor und ich hatten ihn zutiefst erkannt. Heute strömt die Menge zu seinem Tempel, aber Cumnor und ich haben uns als Priester dieses Tempels berufen gefühlt. Wir halten uns zu Recht, wie ich meine, zugute, dass wir mehr für sein Andenken getan haben als jeder andere, und das einfach dadurch, dass wir Licht in sein Leben gebracht haben. Er hatte nichts von uns zu befürchten, weil er nichts von der Wahrheit zu befürchten hatte, die zu ergründen, aus einem solchen zeitlichen Abstand heraus, unser einziges Interesse sein konnte. Sein früher Tod war der einzige dunkle Fleck auf seinem Ruhm, so darf man sagen, es sei denn, die Schriften in Miss Bordereaus Besitz sollten widersinnigerweise etwas anderes ans Licht bringen. Um 1825 wurde die Vermutung geäußert, dass er »sie schlecht behandelt« habe, genauso wie ein Gerücht umging, er habe mehrere andere Damen auf dieselbe meisterliche Weise, wie es im Londoner Volksmund heißt, »bedient«. Cumnor und ich hatten alles darangesetzt, jedem dieser Fälle nachzugehen, und es war uns jedes Mal gelungen, ihn mit bestem Gewissen von jedem Vorwurf der Anstößigkeit freizusprechen. Vielleicht beurteilte ich ihn nachsichtiger als mein Freund; auf jeden Fall wiegte ich mich in der Gewissheit, dass kein Mann unter den gegebenen Umständen einen aufrechteren Lebenswandel hätte führen können. Und diese Umstände waren fast immer schwierig und gefährlich. Die Hälfte der Frauen seiner Zeit hatte sich ihm, um es freiheraus zu sagen, an den Hals geworfen, und solange diese Tollheit wütete – zumal sie sich als sehr ansteckend erwies –, konnten Unfälle, manche davon schwer, nicht ausbleiben. Er war kein Dichter für Frauen, wie ich Mrs Prest gegenüber angemerkt hatte, zumindest nicht in der späten Phase seines Ruhms; doch war die Situation eine ganz andere gewesen, als die Stimme des Mannes noch beim Vortrag seiner Verse zu hören war. Diese Stimme war, wie jeder bezeugen konnte, eine der verführerischsten, die man je gehört hatte. »Orpheus und die Mänaden!«, hatte mein so und nicht anders vorausgesehenes Urteil gelautet, als ich zum ersten Mal in seiner Korrespondenz blätterte. Fast all diese Mänaden waren unvernünftig und viele von ihnen unerträglich. Es beeindruckte mich, dass er freundlicher und zuvorkommender gewesen war, als es mir an seiner Stelle – sofern ich mir eine solche Lebenslage für mich überhaupt vorstellen konnte – je möglich gewesen wäre.

Es war sicherlich an Seltsamkeit kaum noch zu überbieten, aber ich möchte hier keinen Raum verschwenden, um eine Erklärung dafür zu finden, dass die einzige lebende Informationsquelle, die bis in unsere Zeit überdauert hatte, von uns unbeachtet geblieben war, während wir es bei all den anderen Beziehungen und allen anderen Richtungen unserer Forschung nur mit Phantomen und Staub zu tun hatten, lediglich mit Schall und Rauch. Asperns sämtliche Zeitgenossen hatten, davon waren wir überzeugt, inzwischen das Zeitliche gesegnet; es war uns nicht vergönnt, in ein einziges Augenpaar zu blicken, in das auch seine Augen geblickt hatten, oder einen indirekten Kontakt in einer gealterten Hand zu spüren, die seine Hand einst berührt hatte. Am totesten von allen war uns die arme Miss Bordereau erschienen, und doch war sie die Einzige, die noch am Leben war. Im Laufe der Monate gingen wir bis zur Erschöpfung der Frage nach, die uns selbst befremdete, warum wir sie nicht schon früher ausfindig gemacht hatten, und das Fazit unserer Erklärung lautete, dass sie sich so still verhalten hatte. Die gute Dame dürfte gewichtige Gründe dafür gehabt haben. Aber es war eine bestürzende Erkenntnis für uns, dass Selbstauslöschung in einem solchen Ausmaß in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts möglich gewesen war – im Zeitalter von Tageszeitungen, Telegrammen, Fotografien und Reportagen. Sie hatte sich nicht einmal große Mühe damit gegeben – hatte sich nicht in einem verborgenen Schlupfloch vergraben, sondern sich mutig in einer Stadt niedergelassen, wo die Selbstdarstellung regierte. Ein offensichtliches Geheimnis ihres Sicherheitsgefühls hatte darin bestanden, dass Venedig so zahlreiche sehr viel größere Sehenswürdigkeiten beherbergte. Und dann war ihr auch der Zufall zu Hilfe gekommen, wie er sich zum Beispiel in der Tatsache zeigte, dass Mrs Prest sie mir gegenüber niemals erwähnt hatte, obwohl ich fünf Jahre zuvor drei Wochen in Venedig verbracht hatte – unmittelbar zu Füßen der besagten Damen. Tatsächlich hatte meine Freundin ihren Namen auch anderen Leuten gegenüber kaum je erwähnt; sie schien vergessen zu haben, dass die andere überhaupt noch existierte. Verständlicherweise verfügte Mrs Prest nicht über das Feingefühl eines literarischen Herausgebers. Indes konnte es auch nicht als Erklärung gelten, dass die alte Frau unserer Aufmerksamkeit entgangen war, wenn wir sagten, dass sie im Ausland lebte, denn unsere Nachforschungen hatten uns immer und immer wieder – nicht nur durch Korrespondenz, sondern auch durch persönliche Nachfragen – nach Frankreich, Deutschland und Italien geführt, in jene Länder, in denen Aspern, abgesehen von seinem folgenreichen Aufenthalt in England, so viele der allzu wenigen Jahre seiner Karriere verbracht hatte. Am Ende konnten wir uns glücklich schätzen, dass wir in all unseren Veröffentlichungen – mittlerweile ist wohl manch einer der Meinung, wir hätten des Guten zu viel getan – die Verbindung mit Miss Bordereau nur am Rande und auf die diskreteste Weise gestreift haben. Seltsam zu sagen, doch selbst wenn wir das Material zur Verfügung gehabt hätten – und wir haben uns häufig gefragt, was wohl damit geschehen sein mochte –, hätte uns die Behandlung dieser Episode die allergrößten Schwierigkeiten bereitet.

Die Gondel hielt an, vor uns lag der alte Palazzo. Es war ein Haus von jener Sorte, die in Venedig selbst im Zustand äußersten Verfalls noch den ehrwürdigen Namen trägt. »Wie hinreißend! Er ist grau und rosa!«, rief meine Begleiterin aus; und das ist die umfassendste Beschreibung, die man von dem Gebäude geben kann. Es war nicht besonders alt, vielleicht zwei oder drei Jahrhunderte; und es vermittelte nicht so sehr den Eindruck von Verfall als vielmehr von stiller Resignation, als hätte es seine eigentliche Bestimmung verfehlt. Doch seine breite Fassade mit dem steinernen Balkon, der von einem Ende des piano nobile, der Etage mit den Empfangsräumen, zum anderen reichte, wirkte durch die Verzierung mit verschiedenen Pilastern und Bögen durchaus architektonisch gestaltet; und die Stukkaturen, mit denen die Zwischenräume vor langer Zeit versehen worden waren, schimmerten rosig im Licht des Aprilnachmittags. Das Haus erhob sich über einem sauberen, melancholisch dahinfließenden, geradezu einsam wirkenden Kanal, an dem zu beiden Seiten eine schmale riva, ein bequemer Fußweg verlief. »Ich weiß nicht warum, schließlich gibt es hier keine Backsteingiebel«, sagte Mrs Prest, »aber diese Gegend ist mir immer eher holländisch als italienisch vorgekommen, sah mir mehr nach Amsterdam als nach Venedig aus. Es wirkt hier übertrieben sauber, aus welchem Grund auch immer; obwohl man hier zu Fuß entlanggehen kann, kommt fast nie jemand auf die Idee, dies zu tun. Es hat hier etwas so Abweisendes – bedenkt man seine Lage – wie ein protestantischer Sonntag. Vielleicht fürchten sich die Leute vor den Damen Bordereau. Offenbar hält man sie für Hexen.«

Ich habe vergessen, was ich darauf geantwortet habe – ich war zu sehr mit zwei anderen Überlegungen beschäftigt. Die erste drehte sich darum, dass die alte Dame in einem so großen und beeindruckenden Haus wohnte, dass sie wohl kaum unter Armut zu leiden hatte und folglich auch nicht mit dem Angebot verführt werden konnte, ein paar Zimmer zu vermieten. Ich teilte Mrs Prest diese Befürchtung mit, und sie wusste darauf eine sehr plausible Antwort. »Würde sie nicht in einem so großen Haus leben, wie könnte man dann überhaupt auf die Idee kommen, bei ihr Räume mieten zu wollen? Hätte sie nicht mehr Raum als genug zur Verfügung, gäbe es für Sie keinen Grund, an sie heranzutreten. Übrigens beweist ein großes Haus hier, und schon gar in einem solchen quartier perdu wie diesem abgelegenen Stadtteil, überhaupt nichts: Es lässt sich perfekt mit einem Leben in Armut in Einklang bringen. Halb verfallene alte Palazzi sind schon für fünf Schilling im Jahr zu mieten, wenn man unbedingt nach so etwas Ausschau hält. Und was die Leute betrifft, die darin wohnen – aber nein, solange Sie die sozialen Zustände in Venedig nicht genauso gründlich erforscht haben wie ich, können Sie sich keine Vorstellung von der Trostlosigkeit ihrer Behausungen machen. Sie leben von nichts, denn sie haben nichts, wovon sie leben könnten.«

Der andere Gedanke, der mir in den Kopf gekommen war, hatte etwas mit einer hohen, kahlen Mauer zu tun, die offenbar auf der einen Seite des Hauses einen Teil des Grundstücks umschloss. Ich nenne sie kahl, doch sie war über und über mit Flickstellen bedeckt, wie sie einem Maler gefallen würden, mit ausgebesserten Rissen, abbröckelndem Putz, hervorstehenden Backsteinen, die durch Verwitterung hellrosa geworden waren; ein paar kümmerliche Bäume und das Gestänge von wackeligen Spalieren ragten über den Mauerrand hinaus. Dieses Stück Grund war offenbar ein Garten, der zu dem Haus gehörte. Plötzlich kam mir in den Sinn, dass genau diese Zugehörigkeit mir meinen Vorwand lieferte.

Ich saß neben Mrs Prest und betrachtete all das (es war mit dem goldenen Glanz Venedigs überzogen) aus dem Schatten unserer überdachten Kabine heraus, und sie fragte mich, ob ich hineingehen wollte, während sie auf mich wartete, oder lieber ein anderes Mal wiederkommen wollte. Ich konnte mich nicht sofort entscheiden – womit ich zweifellos eine Schwäche zeigte. Ich wollte mich noch an dem Gedanken festhalten, dass man mir vielleicht doch Unterkunft gewähren würde, zugleich aber fürchtete ich einen Fehlschlag, und das würde bedeuten, wie ich meiner Begleiterin darlegte, dass ich keinen weiteren Pfeil mehr im Köcher hätte. »Warum keinen weiteren?«, fragte sie, während ich noch immer unentschlossen dasaß und mir die Sache durch den Kopf gehen ließ; und sie wollte wissen, warum ich nicht jetzt gleich und noch bevor ich es auf mich nähme, bei den Damen Untermieter zu werden – was immerhin furchtbar unbequem werden könnte, selbst wenn ich Erfolg damit hätte –, eine ganz andere Möglichkeit ergriff und den Damen ganz einfach und ohne Umschweife eine Geldsumme anböte. Auf diese Weise würde ich vielleicht bekommen, was ich wollte, ohne mir schlaflose Nächte zu machen.

»Verehrteste«, rief ich aus, »entschuldigen Sie die Ungeduld in meinem Tonfall, wenn ich Ihnen unterstelle, dass Sie genau die Tatsache vergessen haben müssen – über die ich gewiss mit Ihnen gesprochen habe –, die mich bewogen hat, mich Ihrem Einfallsreichtum anzuvertrauen. Die alte Dame wünscht es nicht, dass man ihre Erinnerungsstücke und Zeugnisse der Vergangenheit auch nur erwähnt; sie sind persönlich, heikel, intim, und sie sieht die Welt noch mit anderen Augen, in ihrem gesegneten Alter! Wenn ich gleich zu Anfang einen solchen Ton anschlage, habe ich das Spiel von vornherein verloren. Ich kann nur an meine Beute gelangen, wenn ich ihr Misstrauen zerstreue, und ich kann ihr Misstrauen nur dadurch zerstreuen, dass ich geschickte Kunstgriffe anwende. Scheinheiligkeit, Doppelzüngigkeit sind meine einzige Chance. Es tut mir leid, aber es gibt keine Niederträchtigkeit, die ich nicht um Jeffrey Asperns willen begehen würde. Erst muss ich mit ihr Tee trinken – dann kann ich das eigentliche Problem anpacken.« Dann erzählte ich ihr, wie es John Cumnor ergangen war, nachdem er ihr in höchst respektvoller Weise geschrieben hatte. Seinen ersten Brief hatte man offenbar gar nicht zur Kenntnis genommen, und der zweite war in äußerst brüsker Form, in sechs Zeilen, von der Nichte beantwortet worden. Miss Bordereau habe sie gebeten, ihm mitzuteilen, dass sie sich nicht vorstellen könne, was ihn dazu bewogen habe, sie zu belästigen. Sie verfüge über keinerlei literarische Hinterlassenschaften von Mister Aspern, und wenn sich solche in ihrem Besitz befänden, würde es ihr im Traum nicht einfallen, diese irgendjemandem zu zeigen, aus welchem Grund auch immer. Sie habe keine Vorstellung, wovon er überhaupt spreche, und bitte darum, er möge sie in Ruhe lassen. Auf keinen Fall wollte ich in dieser Weise behandelt werden.

»Mag sein«, sagte Mrs Prest nach einer kurzen Pause und in herausforderndem Ton, »vielleicht haben sie wirklich nichts. Wenn sie es strikt abstreiten, woher wollen Sie es dann wissen?«

»John Cumnor weiß es genau, aber es würde viel Zeit in Anspruch nehmen, Ihnen zu erklären, wie er zu seiner Überzeugung oder seiner stark begründeten Vermutung – stark genug, um sich gegen die durchaus verständliche Schwindelei der alten Dame behaupten zu können – gekommen ist. Übrigens misst er dem im Brief der Nichte enthaltenen Beweis große Bedeutung zu.«

»Ein im Brief enthaltener Beweis?«

»Sie nennt ihn ›Mister Aspern‹«.«

»Ich verstehe nicht, was das beweisen soll.«

»Es beweist Vertrautheit, und Vertrautheit lässt auf den Besitz von Erinnerungsstücken, von greifbaren Gegenständen schließen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mich dieses ›Mister‹ berührt – wie es die Kluft zwischen den Jahren überbrückt und mir unseren Helden näher bringt –, und ebenso wenig, wie sehr es mein Verlangen verstärkt, Juliana persönlich zu begegnen. Sie würden auch nicht ›Mister‹ Shakespeare sagen.«

»Würde ich es denn tun, wenn ich eine Schachtel voller Briefe von ihm hätte?«

»Natürlich, wenn er Ihr Liebhaber gewesen wäre und jemand diese Briefe haben wollte!« Und ich fügte hinzu, John Cumnor sei dermaßen überzeugt gewesen und durch Miss Bordereaus Tonfall nur umso überzeugter, dass er persönlich in dieser Angelegenheit nach Venedig gekommen wäre, hätte es nicht den Hinderungsgrund gegeben, dass er, um auch nur das geringste Vertrauen zu gewinnen, hätte abstreiten müssen, mit der Person identisch zu sein, die ihnen die Briefe geschrieben hatte, denn trotz Verstellung und Namensänderung würden die alten Damen sicherlich einen solchen Verdacht hegen. Sollten sie ihn unverblümt fragen, ob er nicht der von ihnen abgewiesene Briefschreiber sei, wäre es allzu unangenehm für ihn, lügen zu müssen; ich hingegen war zum Glück nicht in dieser Weise verstrickt, ich war ein unbeschriebenes Blatt – ich konnte leugnen, ohne zu lügen.

»Sie werden aber einen falschen Namen annehmen müssen«, sagte Mrs Prest. »Juliana lebt so abgeschottet von der Welt, wie man nur irgend leben kann, dennoch könnte sie von Mr Asperns Herausgebern gehört haben. Vielleicht besitzt sie sogar die von Ihnen veröffentlichten Bände.«

»Das habe ich bedacht«, entgegnete ich; und ich zog eine Visitenkarte aus meiner Brieftasche, die elegant mit einem gut gewählten nom de guerre bedruckt war.

»Sie übertreiben wirklich – dadurch machen Sie die Sache noch verwerflicher. Sie hätten den Namen auch mit Bleistift oder Tinte schreiben können«, sagte meine Begleiterin.

»So wirkt es glaubwürdiger.«

»Sie haben wirklich den Mut, der Ihrer Neugier angemessen ist. Doch für Ihre Korrespondenz wird es sich als ungünstig erweisen; in dieser Maskierung wird man Ihnen Ihre Briefe nicht aushändigen.«

»Mein Bankier wird sie für mich in Empfang nehmen, und ich werde sie jeden Tag bei ihm abholen. Das verschafft mir ein wenig Bewegung.«

»Soll das Ihr einziger Ausgang sein?«, fragte Mrs Prest. »Werden Sie mich denn gar nicht besuchen?«

»Aber Sie werden doch Venedig während der heißen Monate verlassen, lange bevor sich irgendein Ergebnis abgezeichnet hat. Ich hingegen habe mich darauf eingestellt, den ganzen Sommer hier zu schmoren – genau wie später im Jenseits, werden Sie jetzt wohl sagen! In der Zwischenzeit wird mich John Cumnor mit Briefen bombardieren, die mit meinem falschen Namen beschriftet sind, per Adresse der padrona.«

»Sie wird seine Handschrift wiedererkennen«, gab meine Begleiterin zu bedenken.

»Auf dem Umschlag kann er die Schrift verfälschen.«

»Sie sind mir ein feines Paar! Ist es Ihnen noch nicht in den Sinn gekommen, dass Sie zwar sagen könnten, Sie seien nicht Mr Cumnor, man Sie aber dennoch verdächtigen könnte, Sie seien in seinem Auftrag hier?«

»Aber ja, und ich sehe nur eine Möglichkeit, dieser Gefahr zu begegnen.«

»Und die wäre?«

Ich hielt einen Moment inne. »Der Nichte den Hof zu machen.«

»So, so«, rief meine Freundin aus, »warten Sie, bis Sie sie gesehen haben!«

2

Ich muss den Garten in Ordnung bringen – ich muss den Garten in Ordnung bringen«, sagte ich fünf Minuten später zu mir selbst, während ich oben in der lang gestreckten, düsteren sala wartete, wo der nackte Steinfußboden matt in einem schmalen Lichtstrahl schimmerte, der durch die geschlossenen Fensterläden fiel. Der Raum war imposant, wirkte aber irgendwie kalt und abweisend. Mrs Prest war in ihrer Gondel davongefahren, wollte mich aber in einer halben Stunde an einem nahe gelegenen Landesteg wieder abholen. Und ich war tatsächlich in das Haus eingelassen worden, nachdem ich den rostigen Klingelzug betätigt hatte, und zwar von einem kleinen, rotschopfigen und weißgesichtigen Dienstmädchen, das noch sehr jung und keineswegs hässlich war und klappernde Holzpantinen und ein zur Haube gebundenes Kopftuch trug. Sie hatte sich nicht damit begnügt, die Tür von oben mithilfe der üblichen Vorrichtung in Form eines knarrenden Flaschenzugs zu öffnen, obwohl sie zunächst von einem höher gelegenen Fenster auf mich herabgeschaut hatte und den misstrauischen Zuruf auf mich niedergelassen hatte, der in Italien jedem Akt des Einlassens vorausgeht. Ganz grundsätzlich ärgerte es mich, dass solche mittelalterlichen Sitten sich erhalten hatten, obwohl es mir als begeistertem, wenn auch höchst spezialisierten Antiquitätensammler eigentlich hätte gefallen sollen. Doch da ich mir fest vorgenommen hatte, mich von der Türschwelle an um jeden Preis gewinnend zu zeigen, nahm ich meine falsche Karte aus der Tasche und hielt sie ihr lächelnd entgegen, als wäre sie ein magisches Zeichen. Die Wirkung war tatsächlich entsprechend, denn es veranlasste sie, wie ich schon sagte, mir ganz bis nach unten entgegenzukommen. Ich bat sie, ihrer Herrin die Karte zu überbringen, auf die ich zuvor schon auf Italienisch die Worte geschrieben hatte: »Hätten Sie die Güte, einen Gentleman, einen Amerikaner auf Reisen, für einen kurzen Augenblick zu empfangen?« Die kleine Magd war nicht feindselig – vielleicht war damit schon etwas gewonnen. Sie errötete, sie lächelte und sah zugleich verschreckt wie auch erfreut aus. Ich konnte erkennen, dass mein Eintreffen eine große Sache war, dass Besuche in diesem Haus eine Seltenheit waren und sie ein Mensch war, der sich in einer lebhaften Umgebung wohlgefühlt hätte. Als sie die schwere Tür hinter mir ins Schloss fallen ließ, empfand ich die Gewissheit, meinen Fuß in der Festung zu haben, und ich nahm mir genauso fest vor, ihn dort zu belassen. Sie klapperte durch die feuchte, steinerne Eingangshalle, und ich ging hinter ihr her die steile Treppe – die mir noch steinerner vorkam – hinauf, ohne dass sie mich dazu aufgefordert hätte. Ich glaube, sie hatte eigentlich gemeint, ich sollte unten auf sie warten, aber das entsprach nicht meinen Vorstellungen, und so bezog ich meinen Posten im Empfangssaal. Am anderen Ende der weitläufigen sala