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Die atomare Bedrohung kommt aus zwei Richtungen. Erstens in Folge eines möglichen GAU, des größten anzunehmenden Unfalls, bei der friedlichen Nutzung der Kernkraft zur Energieversorgung. Zweitens aus der militärischen Eskalation bis hin zum Atomkrieg. So unterschiedlich beide Szenarien sind, so ähnlich verheerend können die Folgen sein. Hinzu kommt: Die Frage "wohin mit dem radioaktiven Abfall?" ist weiterhin ungelöst, nicht nur in Deutschland, sondern rund um den Globus. Dennoch steht eine Renaissance der Atomkraft gleich aus mehreren Gründen bevor. Neue Minireaktoren versprechen Energie an Ort und Stelle, wo sie gebraucht wird - und den Investoren das große Geld. Die kommerzielle Nutzung der Kernfusion steht vor dem Durchbruch. Bislang arbeiten alle Atomreaktoren "nur" mit der Kernspaltung. Die um ein Vielfaches gewaltigere Kernfusion kommt bisher lediglich an zwei Stellen zum Einsatz: in der Sonne und anderen Sternen sowie in Atombomben. Hinzu kommt die absehbarer Nutzung der Atomkraft bei der anstehenden Eroberung des Weltalls, etwa zur Energieversorgung von Siedlungen auf dem Mond und Mars. Über allem schwebt das Damoklesschwert der militärischen Nutzung angesichts neuer Waffengattungen von Drohnen mit Künstlicher Intelligenz und Killersatelliten im All. Die Zuspitzung der Konflikte zwischen den USA, Russland und China lässt die atomare Bedrohung heute so aktuell werden wie zu Zeiten des Kalten Krieges.
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Seitenzahl: 284
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„In Wirklichkeit gibt es nur die Atome und das Leere.“
Demokrit
„Ich war dagegen aus zwei Gründen. Erstens waren die Japaner bereit, sich zu ergeben, und es war nicht notwendig, sie mit dieser schrecklichen Sache zu treffen. Und zweitens, ich hasste den Gedanken, dass unser Land das erste sein würde, das solch eine Waffe einsetzt.“
Dwight D. Eisenhower
„Ich weiß nicht, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.“
Albert Einstein
„Ein Dritter Weltkrieg könnte das Ende der Zivilisation bedeuten.“
Wladimir Putin
„Atomkraft war niemals auf die kommerzielle Stromerzeugung ausgelegt, sondern auf Atomwaffen. Atomstrom war, ist und bleibt unwirtschaftlich. Darüber hinaus ist Atomkraft mitnichten sauber, sondern aufgrund radioaktiver Strahlung für über eine Millionen Jahre gefährlich für Mensch und Natur.“
Christian von Hirschhausen
Vorwort
Die vermeintliche gebannte Gefahr kehrt wieder
Warnung, dass das Undenkbare doch denkbar ist
Die Entdeckung der Radioaktivität
Erste Experimente zur Radioaktivität
Begriffe im Wandel
Erste zivile Verwendung der Kernenergie
Kernkraft in Deutschland seit 1957
Unfälle und Katastrophen führen zum Ausstieg
Die deutsche Kernkraft und der Krieg in der Ukraine
Die atomare Apokalypse
Little Boy und Fat Man töten Hunderttausende
Zar-Bombe: die stärkste jemals gezündete Kernwaffe
Kubakrise – die Welt am Abgrund
Angst vor der Apokalypse
Ausstieg aus der Abrüstung
Die Vernichtung der Erde
Die Vereinten Nationen sind machtlos
Die Ohnmacht internationaler Organisationen
Das Kriegstriumvirat
Raketen gegen China – und zurück
China schließt atomaren Erstschlag nicht mehr aus
Das arabische Atom
Rüder Ton statt ständiger Beschwichtigung
Ist Nuklearterrorismus denkbar?
Der Bundeskanzler warnt vor einem Atomkrieg
Russland mischt Europa auf
Das russische Weltbild
Perestroika und Glasnost
Putin träumt von Großrussland
Der Kampf um die Ukraine begann 2004
Die UNO schaltet die OSZE ein – vergebens
Krim gehörte zu Russland seit Katharina der Großen
Die Heimat der Schwarzmeerflotte
Russland greift nach Syrien
Vier Jahrzehnte Assad
Der Plan der UNO für Syrien
Private Söldner auf dem Vormarsch
Russlands Charme-Offensive in Afrika
Putins Weltgeschichte als Kinderfilm
Operation „Eiserne Faust“
Die russische Invasion in der Ukraine
Der deutsche Schmusekurs mit Russland
Kampfgeist der Ukrainer und des Westens
Deutschland bereitet sich auf den Krieg vor
Es geht um Gas und Geld
Die „Heilige Verpflichtung“ Amerikas
Der Mut der Ukrainer und ihres Präsidenten
Komiker, Korrumpist, Kriegsheld
Die Welt stimmt gegen Russland – China nicht
Bündnisvertrag zwischen China und Russland 2022
Wladimir Putin: „die Schwachen schlägt man“
Putin erobert die Herzen der Deutschen
Kopfgeld auf Wladimir Putin ausgesetzt
Kriegstreiber Joe Biden
Viele Waffen provozieren viel Krieg
Russland macht in der Ukraine nicht Halt
UNO: Die Welt befindet sich in nuklearer Gefahr
Die friedliche Nutzung der Kernkraft
Vom Atomminister zum Atomausstiegsgesetz
Über 400 Atomreaktoren in 32 Ländern
Atomweltmeister USA
Atomexporteur Russland
China: Mehr Erneuerbare Energien statt Atomkraft
Frankreich setzt auf die Atomwirtschaft
Atomkraft – nein danke!
Sonnenenergie als Alternative zur Atomkraft
Von der APO zur grünen Partei
Organisierter Widerstand gegen die Kernkraft
Brokdorf und Gorleben als Symbole des Widerstands
Der Green Deal der Europäischen Union
Wie die EU Atomstrom grün machen will
Deutschland versus Frankreich
Angst vor der Versorgungslücke
Das deutsche Klimaproblemjahr 2021
Wie ein Kernkraftwerk funktioniert
Reaktortypen im Überblick
Rückschläge, immer wieder Rückschläge
Neue Generationen: Minikraftwerke
Mini-Atomkraftwerke
TerraPower
Der Rolls-Royce unter den Atomkraftwerken
Atom-Startups NuScale und Okli
Kompaktreaktoren mit mehr oder weniger Risiko
Der jüngste Schrei: Thorium
Schwimmende Atomkraftwerke
Wohin mit dem Atommüll?
Mülltrennung für eine halbe Ewigkeit
Sicher unter der Erde für eine Million Jahre
Jodtabletten gegen Radioaktivität
Die wohl aussichtslose Suche nach dem Endlager
Die Bundesgesellschaft für Endlagerung
Symbole für die Ewigkeit
Heiß wie die Sonne: die Kernfusion
1917 fing die Kernfusion an
USA, Frankreich, Südkorea und China
ITER – das global-europäische Projekt
Das Tokamak-Prinzip
China lässt die „Künstliche Sonne“ scheinen
Gates und Google investieren in Kernfusion
Hochtemperatur-Supraleiter als Schlüssel
Das Prinzip der Wasserstoffbombe friedlich nutzen
Deutscher Versuchsreaktor Wendelstein 7-X
Atomkraft im Weltraum
Kernkraft auf dem Mond
Wettrüsten im Weltraum
Ronald Reagans Krieg der Sterne
Artemis Accords: Die USA regeln das Weltall
Die US Space Force hebt ab
Die Raumpatrouille der Orion
Geheimer „Space Plane“ X-37B
Das NATO-Bündnis gilt auch im All
China mischt mit
Himmlischer Palast im Weltraum
Mondgöttin trifft Jadehase
Chinas Raumfahrttraum ist größer als die Enterprise
Risikomanagement und Katastrophen
Die Katastrophe von Tschernobyl
WANO und INES für mehr Sicherheit
Die Katastrophe von Fukushima
Verstrahlte Ozeane
Wieviel Strahlung verträgt der Mensch?
Folgenabschwächung statt Totalvermeidung
Ausblick
Trugschlüsse der Vergangenheit
Schwarze Schwäne voraus
Das Undenkbare kann Realität werden
Über die Autoren
Jamal Qaiser
Marc Ruberg
Bücher im DC Verlag
Über das Diplomatic Council
Quellenangaben und Anmerkungen
Die atomare Bedrohung kommt aus zwei Richtungen: erstens in Folge eines GAUs, des größten anzunehmenden Unfalls bei der friedlichen Nutzung der Kernkraft zur Energieversorgung, und zweitens aus der militärischen Eskalation bis hin zum Atomkrieg. So unterschiedlich beide Szenarien sind, so ähnlich verheerend können die Folgen für die betroffenen Menschen sein, im schlimmsten Fall sogar für die gesamte Menschheit. Daher werden beide Aspekte im vorliegenden Buch in eigenen Kapiteln separat dargestellt – wenngleich es durchaus Überschneidungen gibt. So strebt die Kernfusion, einst als Atombombentechnologie Inbegriff des Schreckens, zügig einer friedlichen Nutzung zur Energieversorgung entgegen. Ein eigenes Kapitel ist dem wachsenden Berg an Atommüll gewidmet, weil sich der radioaktive Abfall schon seit vielen Jahren zu einem der größten Probleme der Menschheit anhäuft, ohne dass eine praktikable Lösung in Sicht wäre. Darüber hinaus befasst sich das vorliegende Buch mit der Nutzung der Kernkraft im Weltall, weil davon auszugehen ist, dass mit der Eroberung des Weltraums in den nächsten Jahrzehnten ein neues Kapitel der Menschheit aufgeschlagen wird, bei dem die atomare Energie eine wesentliche Rolle spielen wird. Der Aufbruch ins All steht ebenso wie eine neue Generation besonders sicherer Kernkraftwerke als Beispiel dafür, dass die Nutzung der Atomenergie das „dual use“-Prinzip besonders anschaulich verdeutlicht: Die Technik kann zum Guten wie zum Bösen verwendet werden. Es liegt am Menschen, für welche der beiden Seiten er sich entscheidet.
Mit dem geplanten Atomausstieg in Deutschland sollte die Gefahr eines Kernkraftwerkunfalls zumindest hierzulande gebannt sein. Ebenso schien mit dem Ende des Kalten Krieges die Gefahr eines Atomkriegs weitgehend ausgeschlossen. Doch auf beiden Feldern, der friedlichen Nutzung zur Energiegewinnung und dem militärischen Einsatz im Spannungsfeld zwischen den USA, China und Russland, wächst die atomare Bedrohung wieder von Jahr zu Jahr. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Ursachen.
So verspricht die Kernkraft tatsächlich eine saubere Energieversorgung – solange kein gravierender Unfall passiert. Neue Technologien, neue Marktmitspieler, das Streben nach einem schnellen Ausstieg aus fossilen Energiequellen, die Angst vor Engpässen bei der Energieversorgung, die Diskussion um die Einstufung der Kernkraft als „grüne Energieform“ durch die Europäische Union, die Notwendigkeit atomarer Reaktoren zur Energieversorgung bei der anstehenden Eroberung und Besiedlung des Weltraums – all diese Faktoren haben die vor allem in Deutschland lange Jahre verpönte friedliche Nutzung der Atomenergie wieder „salonfähig“ gemacht.
Die Kernkraft als militärische Drohkulisse hat vor allem durch die Zuspitzung des Konflikts zwischen der heute noch alleinigen Supermacht USA und dem Aufstreben der Volksrepublik China zu einer ebenbürtigen Supermacht zu tun. Seit Frühjahr 2022 ist zudem klar geworden, dass die Atommacht Russland keineswegs gewillt ist zurückzustecken. Spätestens seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 ist das Schreckgespenst eines atomaren Kriegs wieder lebendig geworden. Immerhin befinden sich 90 Prozent der Atomwaffen in den Händen der USA und Russlands – also der beiden Mächte, die sich im Osten Europas feindlich gegenüberstehen.1 In beiden Ländern laufen nach Recherchen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI umfassende und kostspielige Programme, um die Atomsprengköpfe, Trägersysteme und Produktionsstätten zu modernisieren.
Gleiches gilt für die weiteren Atomwaffenstaaten, zu denen SIPRI Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea zählt. Sie haben allesamt neue Waffensysteme entwickelt oder stationiert oder dies zumindest angekündigt.
Angesichts dieser Entwicklungen ist eine aktuelle Auseinandersetzung mit der atomaren Bedrohung unerlässlich, und zwar mit beiden Szenarien: dem möglichen aus dem Ruder laufen bei der friedlichen Nutzung und dem Albtraum eines Atomkriegs.
In diesem Sinne haben wir das vorliegende Buch als eine Warnung geschrieben. Es stellt eine Warnung dar, dass das Undenkbare eben doch denkbar ist und – schlimmer noch –, dass das Undenkbare im schlimmsten Fall auch eintreten kann. Die Augen vor der Gefahr verschließen und darauf vertrauen, dass es „schon nicht so schlimm kommen wird“, kann keine Strategie für unsere Zukunft sein. Angesichts des Bedrohungspotenzials durch die Atomkraft, gleichgültig, ob durch den militärischen Einsatz oder durch einen gravierenden Unfall bei der friedlichen Nutzung, ist es zwingend notwendig, den Weg der maximalen Sicherheit zu beschreiten: Wir müssen alles daran setzen, das Schlimmste zu verhindern.
Jamal A. Qaiser, Marc Ruberg
Um das Potential der atomaren Bedrohung zu verstehen, ist eine Auseinandersetzung mit der Kernkraft unerlässlich. Bei der Atomenergie geht es nämlich nicht „nur“ um die Explosionskraft, die schon schlimm genug ist, sondern weit darüberhinausgehend um die radioaktive Strahlung. Daher wird in diesem Kapitel eine Tour d’Horizon gegeben, um das Thema einzuleiten und die heutige und künftige Diskussion in ihren Kontext zu stellen.
Um das Jahr 1890 wurden erste Experimente zur Radioaktivität durchgeführt. Antoine Henri Becquerel und Marie und Pierre Curie waren die ersten Wissenschaftler, die sich mit der Erforschung von Kernreaktionen befassten. Das Ehepaar Curie prägte den zuvor unbekannten Begriff Radioaktivität. Es bezeichnet die Eigenschaft instabiler Atomkerne, ionisierende Strahlung auszusenden. Der Atomkern wandelt sich dabei unter Aussendung von Teilchen in einen anderen Kern um oder ändert unter Energieabgabe seinen Zustand, wobei eine radioaktive Strahlung entsteht. Dabei kann es sich um Alpha- (Heliumkerne), Beta- (Elektronen) oder die besonders durchdringenden Gammastrahlen (elektromagnetische Strahlung) handeln.2
Atomsorten mit instabilen Kernen nennt man Radionuklide. Diese kommen völlig unabhängig vom Menschen in der Natur vor; radioaktive Substanzen finden zahlreiche Anwendungen, etwa in der Nuklearmedizin oder in der Archäologie zur Altersbestimmung mit der Radiokarbonmethode.
Uran (benannt nach dem Planeten Uranus) ist der häufigste Rohstoff für den Betrieb von Kernkraftwerken. Es handelt sich dabei um ein Schwermetall, das „von Natur aus“ radioaktiv ist und vorwiegend unter Aussendung von Alphastrahlen zerfällt. Für den Menschen ist Uran übrigens nicht aufgrund seiner relativ geringen Strahlung gefährlich, sondern aufgrund seiner chemischen Giftigkeit: In einer hohen Dosis über einen längeren Zeitraum aufgenommen, kann es Blut, Knochen und Nieren dauerhaft schädigen. Uran kommt nicht nur überall in der Erdkruste, sondern auch in den Ozeanen in riesigen Mengen vor.
Erwähnenswert ist die Halbwertszeit, also der Zeitraum, in dem sich die radioaktive Abstrahlung halbiert, denn dieser Faktor hat entscheidenden Einfluss auf eine Risikoabschätzung. So beträgt die Halbwertszeit des Uranisotops 234 beispielsweise 245.000 Jahre. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, wenn die deutsche Gesetzgebung für radioaktiven Abfall eine sichere Lagerung über eine Million Jahre (!) fordert.3
Kurzer Ausflug in die Chemie: Als Isotope bezeichnet man Atomarten, deren Kerne gleich viele Protonen, aber unterschiedlich viele Neutronen enthalten. Sie stellen daher das gleiche chemische Element dar, sind aber unterschiedlich schwer. Natürlich auftretendes Uran besteht zu etwa 99,3 Prozent aus dem Isotop Uran-238 und zu 0,7 Prozent aus Uran-235. Letzteres ist nicht nur durch thermische Neutronen spaltbar, sondern es ist zudem neben dem äußerst seltenen Plutonium-239 das einzige bekannte natürlich vorkommende Nuklid, das zu einer Kernspaltungs-Kettenreaktion fähig ist. Deshalb wird es in Kernkraftwerken und Kernwaffen als Primärenergieträger genutzt (wobei in Waffen auch Plutonium-239 zum Einsatz kommt).4 Sämtliche Uranisotope sind radioaktiv.
Die Weltproduktion von Uran betrug im Jahr 2019 etwa 53.656 Tonnen. Große Förderländer sind Australien, Kanada, Russland, Niger, Namibia, Kasachstan, Usbekistan, Südafrika und die USA. Der Verbrauch wird von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) durch den Neubau von Kernkraftwerken für das Jahr 2030 auf 93.775 bis 121.955 Tonnen geschätzt. 5 Schätzungen der IAEO, der Umweltorganisation Greenpeace und der Atomwirtschaft darüber, wie lange die bestehenden Uranvorkommen für die Energieerzeugung reichen werden, liegen zwischen 20 und 200 Jahren.6
Um Uran zur Energiegewinnung für den Menschen zu nutzen, genügt indes nicht die bloße Lagerung, sondern es bedarf einer Kernspaltung, bei der ein Atomkern unter Energiefreisetzung in zwei oder mehr kleinere Kerne zerlegt wird. Diese Kernspaltung kann auch als Kernfission bezeichnet werden (im Unterschied zur Kernfusion, bei der mehrere kleinere Atomkerne zu einem größeren Atomkern zusammengebracht werden).7
Im Jahr 1938 entdeckten Otto Hahn und Fritz Straßmann die sogenannte induzierte Kernspaltung von Uran, die 1939 von Lise Meitner und Otto Frisch theoretisch erklärt wurde. Damals wurde klar, dass eine sogenannte Kettenreaktion möglich ist, weil bei jeder durch ein Neutron ausgelösten Kernspaltung mehrere weitere Neutronen freigesetzt werden.8
Zuerst wurden diese Erkenntnisse für die militärische Forschung während des Zweiten Weltkrieges genutzt. Im Rahmen des Manhattan-Projekts gelang Enrico Fermi am 2. Dezember 1942 die erste kontrollierte nukleare Kettenreaktion in einem Kernreaktor in Chicago (Chicago Pile One). Während das Ziel des von Robert Oppenheimer geleiteten Manhattan-Projekts mit der ersten erfolgreich gezündeten Atombombe am 16. Juli 1945 (Trinity-Test) erreicht wurde, gelang es einer deutschen Forschungsgruppe unter Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker bis zum Kriegsende nicht, einen funktionierenden Kernreaktor zu entwickeln.9 Wäre diese damals unter dem Namen „Uranprojekt“ erfolgte Entwicklung im Dritten Reich erfolgreich gewesen, stünde die Welt heute möglicherweise unter deutscher Herrschaft.
Als einer der ersten prägte der Physiker Hans Geitel 1899 den Begriff Atomenergie für die im Zusammenhang mit radioaktiven Zerfallsprozessen auftretenden Phänomene. Später kamen die Synonyme Atomkernenergie, Atomkraft, Kernkraft und Kernenergie hinzu.
Die Verwendung dieser Begriffe hat eine politisch-ideologisch motivierte Verschiebung erfahren. In den 1950er Jahren war Franz Josef Strauß Bundesminister für Atomfragen. Eine 1955 in Genf abgehaltene Konferenz mit hochrangigen Wissenschaftlern trug den Titel International Conference on the Peaceful Uses of Atomic Energy und wurde in deutschen Medien als Atomkonferenz bekannt. In der Folge dieser Konferenz wurde 1957 die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) gegründet. Der Lobbyverband der an der Technik interessierten deutschen Unternehmen wurde 1959 als Deutsches Atomforum ins Leben gerufen. In den folgenden Jahrzehnten distanzierten sich die Befürworter der Technik von der Vorsilbe Atom und verwendeten in Deutschland ausschließlich Kern. Parallel dazu geschah im englischen Sprachraum eine Verschiebung von atomic zu nuclear. Als Grund gilt die unerwünschte Assoziation mit dem zunehmend negativ besetzten Begriff der Atombombe; die technisch-physikalische Rechtfertigung betont, dass die relevanten Prozesse im Kern ablaufen, und nicht im gesamten Atom, dessen chemische Eigenschaften von der Atomhülle bestimmt werden. Kritiker behielten dagegen die Vorsilbe Atom sowohl in der Eigenbezeichnung Atomkraftgegner als auch in Slogans wie etwa „Atomkraft? Nein danke!“ bei. Sie sprachen weiterhin von Atomenergie und Atomkraftwerken mit der Abkürzung AKW.10
Das Synonym Atomkernenergie wurde in der ersten Zeit der technischen Nutzung verwendet11 (Namensänderung des Atomministeriums in Bundesministerium für Atomkernenergie 1961) und findet bis heute als atomrechtlicher Begriff etwa beim Länderausschuss für Atomkernenergie Anwendung.12
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die militärische Forschung fortgesetzt und parallel dazu die zivile Verwendung der Kernenergie entwickelt. Ende 1951 erzeugte der Versuchsreaktor EBR-I (Experimental Breeder Reactor) im US-Bundesstaat Idaho erstmals elektrischen Strom aus Kernenergie.13 Das erste Kraftwerk zur großtechnischen Erzeugung von elektrischer Energie wurde 1954 mit dem Kernkraftwerk Obninsk bei Moskau in Betrieb genommen. Es war das weltweit erste wirtschaftlich genutzte Kernkraftwerk.14
Am 17. Oktober 1955 eröffnete die britische Königin Queen Elizabeth II. an der englischen Nordwestküste das Kernkraftwerk Calder Hall, das als erstes kommerzielles Atomkraftwerk gilt. Die Queen deklamierte: „Mit Stolz eröffnen wir Calder Hall, Englands erstes Atomkraftwerk, das uns alle benötigte Elektrizität liefert, ohne Kohle oder Öl dafür nutzen zu müssen.“ Tatsächlich produzierte die Anlage jedoch nicht vorrangig Strom, sondern Plutonium für den in direkter Nachbarschaft gelegenen Reaktor Windscale, in dem schon seit 1950 Plutonium zum Atombombenbau gewonnen wurde. Das moralische Dilemma der „Dual Use“, der Möglichkeit, eine Technologie für friedliche und militärische Zwecke zu verwenden, spielte also von Anfang an eine maßgebliche Rolle bei der Kernkraft und ist bis heute für ein zwiespältiges Verhältnis vieler Menschen zu dieser je nach Anschauung Zukunfts- oder Teufelstechnologie verantwortlich. Unter den Ehrengästen in Calder Hall war übrigens auch der deutsche Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß, ein Verfechter der atomaren Bewaffnung der kurz zuvor neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland.15
In Deutschland wurde 1957 in Garching bei München der erste Forschungsreaktor in Betrieb genommen. Als erstes bundesdeutsches Kernkraftwerk speiste 1961 das AKW Kahl immerhin 15 Megawatt Strom ins westdeutsche Versorgungsnetz ein. 16 1966 nahm in der damaligen DDR das Kernkraftwerk Rheinsberg seinen Betrieb auf.17
Der Ausbau der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland erfolgte zu dieser Zeit nicht etwa, weil eine Energieknappheit herrschte, sondern war primär auf das Engagement staatlicher Instanzen zurückzuführen. Hingegen fungierten die Energieversorgungsunternehmen lange Jahre als der bremsende Faktor bei der Durchsetzung der Kernenergie“. 18 Das auffallend starke staatliche Interesse lässt sich damit erklären, dass in den Anfangsjahren der entscheidende Antrieb für das deutsche Kernenergieprogramm darin bestand, damit die Option auf eine Nuklearbewaffnung zu schaffen. Während die deutsche Atompolitik in Fortsetzung des Atomprojekts während der Nazizeit zunächst auf den Schwerwasserreaktor setzte, übernahm man in den 1960er Jahren das günstigere amerikanische Konzept des Leichtwasserreaktors, was damals als ein „Sieg der Ökonomen über die Techniker“ interpretiert wurde.19
Mit dieser Nachahmung der Amerikaner ergaben sich für Deutschland allerdings einige Probleme: So waren die zivilen amerikanischen Reaktoren in Anbetracht des Status der USA als Atommacht derart gewählt, dass sie von den militärischen Uran- und Plutoniumanlagen profitierten, womit eine fließende Grenze zur Militärtechnik eine Grundvoraussetzung der dortigen Reaktorentwicklung war. Deshalb war die Eignung der amerikanischen Reaktortechnik für Deutschland insoweit fraglich, dass sich Deutschland damit für alle Zeiten als Nichtatommacht begriffen hätte.
In den 1960er Jahren wurden zahlreiche weitere Kernkraftwerke mit deutlich höherer Leistung gebaut. So hatte das 1966 in Betrieb gehende Kernkraftwerk Gundremmingen eine Leistung von 250 Megawatt. In den 1970er Jahren wurde insbesondere nach der ersten Ölkrise 1973 der Bau von Kernkraftwerken forciert. Diese Reaktoren, wie beispielsweise der Block B des Kernkraftwerks Biblis, leisteten etwa 1,3 Gigawatt. Im Zuge der Proteste der Anti-Atomkraft-Bewegung gegen den Bau des Kernkraftwerks Wyhl 1975 in Deutschland entstand eine größere Opposition gegen die zivile Nutzung der Kernenergie. Gegen den Bau der Kernkraftwerke Brokdorf und Grohnde in den 1970er und 1980er Jahren gab es ebenfalls heftige Proteste.
Die Kritik an der Kernkraft verstärkte und verschärfte sich insbesondere durch das schwere Reaktorunglück im Kernkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg (USA) am 28. März 1979, bei dem es erstmals zu einer partiellen Kernschmelze kam.20
Am 26. April 1986 ereignete sich die Katastrophe von Tschernobyl, bei der nach einer Kernschmelze auch in Westeuropa große Mengen von Radioaktivität niedergingen. In der Folge nahm insbesondere in Europa die Kritik an der Nutzung der Kernenergie deutlich zu. Im Jahr 2000 wurde in Deutschland auf Druck der Bundesregierung mit dem „Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität“ der Ausstieg aus der kommerziellen Nutzung der Kernenergie bis etwa 2020 beschlossen.21
Zwar wurden in Folge dessen bis 2005 zwei Kernkraftwerke vom Netz genommen, aber 2010 beschloss die Bundesregierung eine Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke um bis zu 14 Jahre. Dieser Beschluss war von Anfang an politisch und gesellschaftlich stark umstritten, wobei sich der Widerstand nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima in Japan seit März 2011 verstärkte. Der schwere Unfall in Fukushima hatte gezeigt, dass der weltweit verbreitete Leichtwasserreaktor den Ansprüchen an Sicherheit nicht in jedem Fall genügt. Als Reaktion darauf verkündete die Bundesregierung im März 2011 zunächst ein dreimonatiges Atom-Moratorium; schließlich wurde im Atomkonsens der Ausstieg bis zum Jahr 2022 beschlossen, die acht ältesten Kernkraftwerke wurden sofort stillgelegt.22
Zum Jahreswechsel 2021/22 gingen drei weitere deutsche Atomkraftwerke vom Netz, nämlich die Meiler in Gundremmingen an der Donau, Grohnde an der Weser und Brokdorf an der Elbe. Grohnde hatte seit seiner Inbetriebnahme im Jahr 1984 mehr als 400 Terrawattstunden Strom produziert – ein Weltrekord, der 2021 sein Ende fand.23 Für die drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 stand laut Planung das Betriebsende 2022 fest24 – bis Russland im Frühjahr 2022 in die Ukraine einmarschierte und im Zuge der darauf folgenden Sanktionspolitik die Energieversorgung in Deutschland in Bedrängnis geriet, nachdem Russland die Gaslieferungen gedrosselt hatte. Diese Entwicklung, die als unvorhersehbar galt, führte zum politischen Ruf nach Verlängerung der Laufzeiten für die verbleibenden Kernkraftwerke, etwa durch Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, Bayerns Regierungschef Markus Söder und Bundesfinanzminister Christian Lindner.25 Wirtschaftsverbände forderten die Bundesregierung zu einem Energiemoratorium auf: „Im Klartext heißt das, der staatlich forcierte Ausstieg aus der Kohle muss unverzüglich ausgesetzt werden und die verbliebenen Kernkraftwerke müssen über das Jahresende hinaus am Netz bleiben. Andernfalls besteht die reale Gefahr eines flächendeckenden Blackouts. Eine hochindustrialisierte Volkswirtschaft wie Deutschland braucht eine verlässliche Energieversorgung mit einem Höchstmaß an Unabhängigkeit.“26
Die drei deutschen Energieerzeuger E.ON, RWE und EnBW lehnten allerdings eine Verlängerung der Laufzeiten für ihre Atomkraftwerke ab.27 Zugleich stellte der 2022 amtierende Wirtschaftsminister Robert Habeck klar, dass er einen Weiterbetrieb der drei verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland für unwahrscheinlich halte. Die Vorbereitungen für deren Abschaltung seien schon so weit fortgeschritten, dass die Kraftwerke „nur unter höchsten Sicherheitsbedenken und möglicherweise mit noch nicht gesicherten Brennstoffzulieferungen weiterbetrieben werden könnten“.28 Es kam dennoch sicherlich einer politischen Sensation gleich, dass ausgerechnet ein Minister der Grünen Partei den Weiterbetrieb von Kernkraftwerken in Deutschland auch nur in Erwägung zog. Eine Verlängerung der Laufzeiten wegen der Lage nach der russischen Invasion in die Ukraine lehnte auch Bundeskanzler Olaf Scholz ab.29 Indes sprach sich im Sommer 2022 bei einer bundesweiten Umfrage eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung von immerhin 56 Prozent für eine Verlängerung aus.30 Die Angst, im Winter 2022/23 frieren zu müssen, weil die Gaslieferungen aus Russland ausbleiben, war offenbar größer als die Sorge um einen atomaren Unfall.
Die Energiekonzerne RWE, Vattenfall, E.ON/Preussen Elektra und EnBW, die jahrzehntelang in deutsche Kernkraftwerke investiert hatten, wurden im Rahmen des Ausstiegs mit einer Entschädigungssumme von 2,43 Milliarden Euro abgefunden. 31 Denn das Ende der Probleme beim Abschalten eines Kernkraftwerks ist mit der Stilllegung keineswegs erreicht, wie der Rückbau des bereits 2011 vom Netz genommenen Atommeilers in Biblis zeigte. Mehr als zehn Jahre später, im Jahr 2022, wurde immer noch nach einer Deponie für den Restmüll gesucht, insgesamt rund 340.000 Tonnen Abfall. Einen besonders problematischen Teil stellte der sogenannte „freigemessene Abfall“ dar, bei Biblis betrifft das etwa 10.000 Tonnen. Der Begriff bedeutet, dass laut Messungen die von diesem Teil ausgehende radioaktive Strahlung so minimal ist, dass kein Gesundheitsrisiko besteht. Aber es war praktisch unmöglich, eine Gemeinde mit einer Mülldeponie zu finden, die diesen Messergebnissen vertraute und sich bereiterklärte, den vermeintlich „sauberen“ Atomschrott aufzunehmen.32
Somit ist Deutschland künftig wohl frei von aktiven Kernkraftwerken.33 Damit hätte sich Deutschland vor Mitte der 2020er Jahre anscheinend endgültig von einer Technologie verabschiedet, die ungefähr zum gleichen Zeitpunkt von vielen Nationen rund um den Globus als besonders zukunftsträchtig eingestuft wird. Das hängt entscheidend mit der deutschen Angst vor dem „Größten Anzunehmenden Unfall“ (GAU) zusammen, einem Atomunfall mit unzähligen Toten und auf sehr lange Zeit irreparablen Schäden, aber auch mit der Urangst vor der Kernkraft, die aus den Atombombenabwürfen des Zweiten Weltkriegs und der atomaren Bedrohung der Welt während des Kalten Krieges resultiert.
Die Entwicklung der Atom- oder Kernwaffentechnik begann im Zweiten Weltkrieg. Am 16. Juli 1945 führten die USA den ersten Kernwaffentest durch. Zur Beendigung des Zweiten Weltkriegs in Asien gab US-Präsident Harry S. Truman am 26. Juli 1945 im Namen der Vereinigten Staaten, der Republik China (das heutige Taiwan) und des Vereinigten Königreichs (Großbritannien) die sogenannte Potsdamer Erklärung ab, in der er die japanische Führung zur sofortigen und bedingungslosen Kapitulation aufforderte und als Drohung hinzufügte:
„Die volle Anwendung unserer militärischen Macht, gepaart mit unserer Entschlossenheit, bedeutet die unausweichliche und vollständige Vernichtung der japanischen Streitkräfte und ebenso unausweichlich die Verwüstung des japanischen Heimatlandes.“34
Als Japan nicht darauf einging, warfen die USA die Atombomben „Little Boy“ auf Hiroshima am 6. August 1945 und „Fat Man“ auf Nagasaki am 9. August 1945 ab; es sind bis heute die bislang einzigen Einsätze von Atomwaffen in einem Krieg geblieben. Die Explosionen töteten rund 100.000 Menschen sofort, beinahe ausschließlich Zivilisten. An Folgeschäden starben bis Ende 1945 weitere 130.000 Menschen. In den nächsten Jahren kamen etliche hinzu – insgesamt etwa eine viertel Million Menschen.35
Sechs Tage nach dem zweiten Bombenabwurf gab der japanische Kaiser Hirohito mit der Rede vom 15. August die Beendigung des „Großostasiatischen Krieges“ bekannt. Mit der Kapitulation Japans endete am 2. September 1945 der Zweite Weltkrieg auch in Asien, nachdem er in Europa mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht bereits seit dem 8. Mai 1945 vorüber war.36
Mit dem Atombombeneinsatz stellten die USA klar, dass sie nicht nur in der Lage waren, jedes Land auf diesem Planeten mehr oder minder zu vernichten, sondern dass sie auch die Entschlossenheit dazu besaßen. Diese Lehre mag heute etwas in den Hintergrund gerückt sein, aber vergessen ist sie bei den meisten politisch Handelnden rund um den Globus sicherlich nicht.
Die UdSSR entwickelte ab 1949 Atombomben. Am 30. Oktober 1961 ließ die Sowjetunion die Zar-Bombe explodieren; die stärkste jemals gezündete Kernwaffe löste die größte von Menschen verursachte Explosion in der Geschichte der Menschheit aus. Der Pilz der Wasserstoffbombe stieg 67 Kilometer in die Höhe, das ist fast achtmal höher als der Mount Everest, der höchste Berg auf unserem Planeten. Die Detonation war noch aus mehr als 1.000 Kilometern Entfernung zu sehen, wie Video aufnahmen zeigten, die von Russland erstmals Ende 2021 freigegeben wurden.37
Damit war klar: Es sollte nicht allein den USA überlassen bleiben, durch Atomkraft, die überall auf der Welt zur Explosion gebracht werden könnte, die Dominanz rund um den Globus zu erlangen. Während des Kalten Krieges kam es zu einem Wettrüsten, auf dessen Höhepunkt die beiden verfeindeten Seiten zusammen rund 70.000 Atomsprengköpfe besaßen. Ihr gemeinsames Kernwaffenarsenal hatte gegen Ende des Kalten Krieges eine Sprengkraft von mehr als 800.000 Hiroshima-Bomben.38
Die Zar-Bombe war übrigens der letzte oberirdische Nuklearbomben-Test, danach verpflichteten sich die Atommächte, ihre Arsenale des Schreckens fortan nur noch unterirdisch zu testen. Bis heute haben weltweit mehr als 2.000 Atomtests durch acht Staaten stattgefunden. Die USA und die Sowjetunion bzw. Russland haben 85 Prozent davon durchgeführt. Seit 1992 halten die USA ein Atomtest-Moratorium ein. Die Sowjetunion bzw. Russland testete zuletzt 1990, Großbritannien 1991. Indien testete eine Atomwaffe bereits 1974. Frankreich führte eine letzte Serie 1995 durch, China 1996, 1998 folgten Indien und Pakistan und schließlich Nordkorea zwischen 2006 und 2017. 39 Die insgesamt 528 Tests in der Atmosphäre, unter Wasser, auf der Erdoberfläche und im Weltraum haben Berechnungen zufolge zu einer Strahlenbelastung auf der Erde geführt, die nach Berechnungen an der Universität München für mehr als drei Millionen Krebstote weltweit verantwortlich ist.40
Am 17. April 1961 wurde das kommunistische Kuba, direkt vor den Toren der Vereinigten Staaten von Amerika gelegen, durch rund 1.300 Exilkubaner von Guatemala aus angegriffen, um die kubanische Regierung unter Fidel Castro abzusetzen und die Insel wieder dem westlichen Einfluss unter Führung der USA zuzuführen. Tatsächlich agierten die Angreifer mit verdeckter Unterstützung des US-Geheimdienstes CIA, wie sich im Nachhinein herausstellte. Doch zunächst waren die USA dreist genug, vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen jedwede Beteiligung an der Invasion abzustreiten. Erst Tage später übernahm US-Präsident John F. Kennedy die Verantwortung für die aus Sicht seiner Regierung missglückte Aktion; Fidel Castro blieb weiterhin an der Macht. Es war ein politisches Debakel sondergleichen.41
Aus der wahrscheinlich nicht unberechtigten Furcht vor einem erneuten US-gestützten Angriff trieb Fidel Castro die Annäherung Kubas an die Sowjetunion voran. Zu einer Art „Showdown“ im Kalten Krieg kam es im Oktober 1962, als die UdSSR sowjetische Mittelstreckenraketen auf Kuba stationieren wollte, also in unmittelbarer Nähe der USA. Es war eine Reaktion auf die zuvor erfolgte Stationierung US-amerikanischer Jupiter-Mittelstreckenraketen auf einem NATO-Stützpunkt in der Türkei, unmittelbar an der Grenze zur Sowjetunion.42
Das war zu viel für John F. Kennedy: Der US-Präsident drohte mit dem Einsatz von Atomwaffen. Die akute Gefahr einer Vernichtung der halben oder auch der ganzen Erde durch einen Atomkrieg schien noch nie so groß gewesen zu sein wie in der Kubakrise. Atomare Mittelstreckenraketen galten damals sozusagen als „Non-plus-Ultra“, weil sie, im Unterschied zu den bereits vorher verfügbaren Interkontinentalraketen, das feindliche Territorium erreichen konnten, bevor der Gegner Abwehrmaßnahmen einzuleiten oder einen Gegenschlag auszulösen vermochte.
Doch sowohl die Führung der UdSSR als auch der USA scheuten vor der Apokalypse eines atomaren Weltkrieges zurück. Es wäre der Dritte und vermutlich zugleich der letzte Weltkrieg der Menschheit gewesen. Schließlich einigte man sich darauf, dass die Sowjetunion auf die Stationierung auf Kuba verzichtet und die USA im Gegenzug garantieren, keinen weiteren Angriff auf die Insel durchzuführen. Erst mit deutlicher Zeitverzögerung sollten die USA zudem ihre Mittelstreckenraketen aus der Türkei abziehen, damit sie nicht als Verlierer in der Kubakrise dastünden.43
Aus dieser Beinahe-Vernichtung der Welt zogen sowohl die USA als auch die UdSSR Konsequenzen. Die Atommacht wurde aus den Händen der Militärs genommen und dem jeweiligen Regierungschef direkt unterstellt. Die Codes für den Abschuss von US-Nuklearwaffen befinden sich seit dieser Zeit in einem Koffer, zu dem nur der US-Präsident Zugang hat; ähnlich wird es seitdem in Russland gehandhabt. 1963 wurde der sogenannte „Heiße Draht“ eingerichtet, eine direkte Fernschreiberverbindung zwischen den Regierungssitzen beider Länder, um im Krisenfall den schnellen Kontakt zu ermöglichen und durch sofortige Verhandlungen eine Eskalation abwenden zu können. Zudem begann der Einstieg in bilaterale Verhandlungen zur Rüstungskontrolle.44
So führte die Kubakrise zu einer allmählichen Entspannungspolitik der beiden Supermächte. Diese Phase war über lange Zeit hinweg durch rüstungsbegrenzende Verhandlungen und Vereinbarungen wie SALT (Strategic Arms Limitation Talks), ABM (Anti-Ballistic Missile Treaty) oder INF (Intermediate Range Nuclear Forces) gekennzeichnet – wohlgemerkt, stets zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite.45
Im Herbst 2018 schreckte die US-Regierung die Welt mit der Ankündigung auf, die Vereinigten Staaten von Amerika würden aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme – Intermediate Range Nuclear Forces – aussteigen. Das am 8. Dezember 1987 geschlossene bilaterale Abkommen zwischen den USA und der Sowjetunion, das zum 1. Juni 1988 auf unbegrenzte Dauer in Kraft trat, sah die Vernichtung aller landgestützten Flugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 bis 5.500 Kilometern vor. Da dies sowohl Atomraketen kurzer als auch mittlerer Reichweite umfasste, war auch von einer „doppelten Nulllösung“ die Rede. Die beiden Staaten verpflichteten sich, keine neuen Raketen mit diesem Zielradius zu bauen und alle bereits bestehenden Waffensysteme dieser Art bis auf die letzte Rakete abzubauen.
Die Vereinten Nationen haben übrigens mit der Abrüstung atomarer Kurz- und Mittelstreckenraketen nichts zu tun, das IFN-Abkommen ist ein rein bilateraler Vertrag zwischen den beiden großen atomaren Supermächten. Genau genommen hat die UNO seit dem Zweiten Weltkrieg zu einem der wichtigsten Themen der Weltpolitik – Atomwaffen – wenig bis nichts beigetragen. Wenn es um existenzielle Fragen für ihre eigenen Länder geht, verhandeln die Großmächte seit jeher lieber direkt miteinander.
Wenn es um die potenzielle Vernichtung der Erde durch Atomwaffen geht, haben die Vereinten Nationen traditionell nicht viel zu melden. Der Atomwaffensperrvertrag, auch Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen oder auf English Non-Proliferation Treaty (NPT) genannt, wurde am 1. Juli 1968 von den USA, der Sowjetunion und Großbritannien sowie später von Frankreich und China unterzeichnet und trat am 5. März 1970 in Kraft. Das war mitten im Kalten Krieg und während des Wettrüstens der beiden Supermächte USA und Sowjetunion.
Immerhin diente die UNO als Gesprächsforum für Atomfragen. Schon 1961 hatte Irland in der UNO-Generalversammlung vorgeschlagen, die Verbreitung von Nukleartechnik zu verbieten und im gleichen Jahr erklärte US-Präsident John F. Kennedy ebenfalls vor den Vereinten Nationen: „Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind lebt unter einem nuklearen Damoklesschwert, das an einem seidenen Faden hängt, der jederzeit zerschnitten werden kann durch Zufall, Fehlkalkulation oder Wahnsinn.“ Die Doktrin der nuklearen Abschreckung, also im Falle eines wie auch immer gearteten Angriffs der Gegenseite mit einem Atomschlag zu antworten und damit die Welt in die Luft zu sprengen, hatte an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Das bis dato wirksame Gleichgewicht des Schreckens barg zudem die Gefahr, dass Atomwaffen in den Besitz weiterer Staaten oder sogar von Terroristen gelangen würden. Zwischenzeitlich sind mehr als 190 Staaten dem Abkommen beigetreten, was sicherlich von hoher symbolischer Kraft ist, aber sachlich eher unbedeutend, weil der Großteil der Unterzeichner gar keine Atomwaffen besitzt und die Verpflichtung, sich auch künftig keine zuzulegen, nur das manifestiert, was ohnehin außerhalb der Planung oder Reichweite dieser Länder liegt. Entscheidend sind die fünf offiziellen Atommächte, die diesen Status dadurch erlangten, dass sie vor dem 1. Januar 1967 eine Kernwaffe gezündet hatten, und die sich verpflichteten „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen ... über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle“.
Dies ist die einzige bindende Verpflichtung zur vollständigen Abrüstung der Atomwaffenstaaten in dem multilateralen Vertrag. Bemerkenswert ist dabei allerdings, dass vier Staaten den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet haben: Indien, Israel, Pakistan und Südsudan, obgleich mindestens zwei davon – Israel und Pakistan – zweifelsohne über Kernwaffen verfügen. Nordkorea trat im Januar 2003 aus dem Vertrag aus und ist wahrscheinlich in die 2020er Jahre mit Atomwaffen in Sprengkopfgröße, die in ballistische Raketen passen, eingetreten.46 Damit kann man zusammenfassend feststellen: Der Atomwaffensperrvertrag war eine gute Idee und er wird der Welt nicht schaden, aber ob er von tatsächlichem Nutzen ist, wenn die Großmächte ohnehin direkt verhandeln und eine Reihe von Atomstaaten überhaupt nicht dabei sind, darf bezweifelt werden.