Die aussergewöhnliche Reise eines gewöhnlichen Helden - Anne Pötzsch - E-Book

Die aussergewöhnliche Reise eines gewöhnlichen Helden E-Book

Anne Pötzsch

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was passiert mit einem Helden, wenn seine Geschichte erzählt ist? Der Höhenflug des berühmten Weltenretters Alec Blackwood endet abrupt, als es ihm gelingt, seinen Erzfeind nach über acht Jahren Kampf zu besiegen. Einzig die renommierte Rehabilitationsgesellschaft für Matadoren bietet ihm und seinen Heldengefährten im Ruhestand ein Zuhause. Leider ist sie der traurigste Ort, den Alec je gesehen hat. Hier soll er seine innere Ruhe finden, doch stattdessen driftet Alec mehr und mehr ab, bis sich sogar seine ehemaligen Kollegen von ihm abwenden. Aber Alec ist vom Pech verfolgt und sobald die eigentümliche Freidenkerin Ruby vor seiner Haustür auftaucht, muss das Schicksal seinen Lauf nehmen. Ehe er sich versieht, wird er wieder hinauskatapultiert – in eine ihm unbekannte Welt voll von stockendem Verkehr, wütenden Ex-Freundinnen und nervenaufreibenden Zufällen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Widmung

Für meine Familie.

(Weil sie mich umbringen würden, wenn ich mein erstes Buch

stattdessen meinen Katzen widmen würde.)

Über die Autorin

Anne Pötzsch schreibt gerne Bücher (wie unerwartet) und probiert sich dabei in den unterschiedlichsten Genres aus. Mit ihrer Armee aus Kuschelkatzen lebt sie irgendwo in der Pampa in Deutschland.

Impressum

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalt keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

2. korrigierte Auflage 2023

Copyright © 2021 by Anne Pötzsch

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Auerbach Verlag, Leipzig,

Oststraße 40 – 44, 04317 Leipzig

Alle Rechte vorbehalten.

Titelmotiv: © Macrovector/stock.adobe.com, © ohishiftl/stock.adobe.com

Umschlagsgestaltung: Florian Pötzsch

Satz: Kim Trank

ISBN: 978-3-948537-09-8

ISBN EPUB: 978-3-948537-26-5

2. Auflage 2023

www.auerbach-verlag.de

Vorwort

*

Held, Bedeutungen:

1a.) Durch große und kühne Taten besonders in Kampf und Krieg sich auszeichnender Mann edler Abkunft (um den Mythen und Sagen entstanden sind)

1b.) jemand, der sich mit Unerschrockenheit und Mut einer schweren Aufgabe stellt, eine ungewöhnliche Tat vollbringt, die ihm Bewunderung einträgt

1c.) jemand, der sich durch außergewöhnliche Tapferkeit im Krieg auszeichnet und durch sein Verhalten zum Vorbild [gemacht] wird

2.) jemand, der auf seinem Gebiet Hervorragendes, gesellschaftlich Bedeutendes leistet

3.) männliche Hauptperson eines literarischen o. ä. Werks

Duden, 2021

Gedicht

Am Meer

Brich, brich, brich

An die grauen Klippen, o Meer!

Und ich wollte, ich könnte es sagen,

Warum mir das Herz so schwer.

O glücklich der Fischerknabe,

Der spielt mit der Schwester im Sand,

O glücklich der Junge, der jauchzend

Treibt seinen Kahn an Land.

Und die stolzen Schiffe ziehn hin,

Wo die schimmernde Küste sich dehnt –

Doch ach, die Hand, die du nie mehr drückest,

Die Stimme, die nie mehr tönt!

Brich, brich, brich

Am Fuß deiner Klippen, o Meer!

Für den holden Tag, der versunken ist,

Gibt’s nie eine Wiederkehr.

Alfred Lord Tennyson, übersetzt von L. L. Schücking

TEIL 1

Du hast mal gesagt,

Vor so langer Zeit,

Ich wäre eine junge Seele

Und es gäbe niemanden sonst,

Der so viel Zauber

Auf den spröden, alten Seiten

Eines unlesbaren Buches finden könnte.

Jetzt bin ich alt, verdorben.

Dieses Feuer in meinen Adern,

Kann nicht einmal mehr

Die Finger des ärmsten Bettlers

Wärmen.

Hast du mich deswegen verlassen?

– König Lugh von Tírhain, Fragmente der Briefelegien

I

Jeder Ausdruck von Emotionen war ein Ausdruck von Schwäche. Darum schrie Alec nicht, als Nisesh ihn in die Rotorblätter schubste.

Schnell drehten sie sich, so schnell, dass ihr metallenes Glänzen vor seinen Augen verschwamm. Ein hohes Kreischen, dass die Ohren bluteten, dann war sein Schwert verschwunden. Ein dumpfes, pochendes Stocken und er zog die Hand aus den wirbelnden Metallblättern. Heißes Blut spritze ihm ins Gesicht und roter Schmerz überflutete all seine Sinne wie ein Lauffeuer. Alec schrie nicht.

Ein Glänzen in seinem Augenwinkel. Er duckte sich, rollte aus dem Weg, als seine Beine ihn nicht mehr hielten, gerade noch rechtzeitig, bevor das Schwert ihm den Kopf zertrümmerte. Ein Scheppern, dann fiel, verkohlt und zerstückelt, Schrott auf seinen Gegner nieder. Der Schutt konnte Nisesh zwar nichts anhaben, aber er lenkte ihn ab, lange genug für Alec hinter einem hohen Felsen zu verschwinden.

Auf Xanders Hilfe war immer verlass, doch jetzt musste sein Bruder abhauen. Schnell, bevor Alec dem ein Ende setzte, ganz nach Plan.

Keuchend, auf allen vieren, kauerte er sich hinter einen gezackten Stein. Der Schmerz war allgegenwärtig, fraß sich in sein Denken, bis nichts mehr übrig war abgesehen von einem einzigen, letzten Willen, an den er sich klammerte wie an ein Rettungsseil. Beende es, Alec. Jede Pore in seinem Körper kämpfte dagegen an. Blut rann über seine Hand, in seinen Ärmel, seinen Pullover hinunter, bis er ihm schwer und nass an der Brust klebte.

Nisesh schrie vor Wut. »Wo hast du dich versteckt, du kleine Ratte? Komm raus zum Spielen!«

Alec wollte aufstehen, sich wehren, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Sein Fuß stieß gegen etwas Warmes, Weiches. Eine tote Wache, aufgedunsen von Ceciels Blutmagie, ein Schwert in der schlaffen Hand. Wäre Ceciel nur hier. Sie wehrte die Feinde außerhalb der Höhle ab. Wenn alles plangemäß verlief, würde es hier drinnen zu gefährlich für sie werden.

»Ich muss dich nicht suchen«, säuselte Nisesh.

Es war kaum Materie von ihm übrig, denn die Magie, die seinen Körper inzwischen beherbergte, hatte von ihm Besitz ergriffen und ihn zu einem schwarzen Nebel in Menschenform gemacht.

»Ich spiel keine Versteckspiele mehr, nie mehr. Was, Junge?«

»Alec!«

Nisesh gackerte. Er hatte Xander fest im Griff, stand oben auf seiner Teufelsmachine.

»Ja, ja! Ruf doch, ruf doch nach deinem Bruder.«

Xander musste aus dieser Höhle verschwinden. Jetzt. Sonst wäre der komplette Plan zunichtegemacht.

Alec fasste einen Entschluss. Er sah an seiner rechten Hand hinunter, kaum zu erkennen wegen all des Blutes. Er zählte. In seinem Kopf drehte es sich, wirbelte saure, brennende Kotze nach oben. Er schluckte sie runter. Zwei. Es fehlten nur zwei.

Er schob den einen, rotglänzenden Arm unter den anderen, eng an die Brust, biss die Zähne zusammen, bis seine linke Hand den Pulloversaum zu fassen bekam. Eine Welle kreischenden Schmerzes durchfuhr ihn, als er einen Fetzen Stoff herausriss. Ein Arm gebrochen, am anderen fehlten zwei Finger. Er robbte zu der toten Wache, schmeckte das Blut in seinem Mund.

»Ooh Charlie«, flüsterte Nisesh, einen Namen, der so lange nicht mehr mit Alec in Verbindung gebracht worden war, dass er unwirklich und falsch in seinen Ohren klang. »Ist er dir denn ganz egal, dein kleiner Bruder?«

Xander wand sich unter der finsteren Gestalt.

Alec zwang sich, die tauben Finger um den Griff des Schwertes zu legen, als er den verhassten Namen hörte. Es war zu groß für ihn. Er stopfte den Stofffetzen in den Mund, wickelte ihn mit Hilfe seiner Zähne fest um die Hände. Innerhalb von wenigen Augenblicken war der Stoff mit Blut vollgesogen.

»Na, wenn du meinst«, Nisesh gähnte, »ich find’s sowieso besser, ihn gleich umzubringen.«

Die Höhle schwankte, als Alec sich aufrichtete. Er kletterte Niseshs Magie-Generator hinauf, ein Bein nach dem anderen, schleppend, zitternd, das blutige Schwert fest umschlungen.

Nisesh lachte. »Wäre ich nicht so nachsichtig, würde ich das glatt als Beleidigung auffassen. So willst du gegen mich kämpfen? Es wäre gnädiger, wenn du dich selbst erledigst.«

Aber Nisesh war nicht gnädig, genauso wenig wie Alec, der versuchte auf der glatten Oberfläche der Maschine Halt zu finden. Der Generator dröhnte unter seinen Füßen, ließ seine Knochen vibrieren, doch er spürte es nicht über das hitzige Pulsieren seines eigenen Körpers.

»Lass ihn los«, zischte er. Die Worte forderten mehr Kraft, als er verschenken konnte.

Nisesh deutete auf Xander, den er über den Abgrund hielt, die finstere, von Magie wabernde Hand an der entblößten Kehle des Bruders.

»Was, meinst du den hier? Gerne, wenn du unbedingt –.«

Alec stolperte ihm entgegen, ließ sein Schwert gegen das seines Gegners klirren. Der Aufprall hallte in seinen Knochen nach. Nisesh lockerte seinen Griff um Xanders T-Shirt und der Junge schrie. Die Klingen prallten erneut aufeinander und Alec spürte den Schlag im ganzen Körper.

»Armer Junge. Gib’s auf.«

Nisesh lachte, wirbelte um Alec herum wie ein Fómori aus Longfurt, war überall gleichzeitig. Alecs Arme schmerzten mit jedem Schlag, den er versuchte abzublocken.

»Ich hab’s dir doch gesagt, du bist kein Held. Da ist keine Prophezeiung für dich, kein Hellseher hat über dich gesprochen.«

Die Wut färbte Alecs Blickfeld rot. Er holte aus, hackte auf die schemenhafte Figur vor sich ein.

»Alec, Alec! Charlie! Hilfe!«

Das war nicht Nisesh. Das war Xander, der am Rand des Generators hing und mit klopfendem Herzen versuchte, wieder hinaufzuklettern. Aber die Stimme war weit weg und das breite Grinsen im unscharfen Gesicht Niseshs war so nah.

Der nächste Schlag zwang Alec beinahe in die Knie. Er wusste, den folgenden Angriff würde er nicht überleben.

Hastig tastete er die Konsole hinter sich mit dem Ellenbogen ab. Sie musste hier sein, ein kleiner Knopf, die Falle, die Xander angebracht hatte. Durch den roten Nebel hindurch sah Alec, wie Nisesh das Schwert hob, wurde einem Blitz von vergangener Menschenähnlichkeit in den rauchigen Augen gewahr, durch die freudige Erwartung, die darin funkelte.

Da geschah es.

Die bedrohlichen Silhouetten flohen, verflüchtigten sich wie Rauch, wirbelten davon, bis Nisesh verschwunden war. An seiner Stelle stand ein Mann, zitternd, das Gesicht zu einer starren Grimasse verzogen. Ein Mann ohne Magie.

Ganz nach Plan. Die Funktion des Generators war umgekehrt. Anstatt alle magische Aura der nahen Stadt auf Nishesh zu übertragen, wurde jeglicher Zauber aus der Umgebung gesaugt und er war all seiner Macht beraubt. Nur ein einfacher Mensch war übrig geblieben, verletzlich, fehlerhaft. Ohne einen Funken Magie, genauso wie Alec.

»Nicht, Charlie. Noch – noch nicht!«

Wieder Xander. Er hatte sich an der Maschine nach oben gezogen, stand an der Kante, taumelnd, das Gesicht weiß wie Papier.

Alec hörte ihn nicht über das Rauschen in seinen Ohren, das Pochen seines Herzens, als sich sein Schwert erneut, mit dem seines Gegners traf. Alec trieb ihn zurück, immer weiter dem Abgrund entgegen.

»Wow, Charlie! Wo kommt denn all die Wut her?«

Der Mann lachte und es war das unveränderte Lachen Niseshs in dieser verzerrten Maske aus menschlicher Haut.

»Weißt du, du wirst trotzdem nicht kriegen, was du willst. Mein Tod wird nichts daran ändern. Lustig, was? Du hast nun mal keine Magie.«

Niseshs Schwert schepperte gegen die Außenwand des Generators, als es in den Abgrund fiel.

»Du wirst kein Held sein. Niemals. Wir sind gleich, die Einzigen unserer Art, und ich war nie mehr wert als ein Staubkorn. Einfach unnütz. Was maßt du dich an, zu glauben, dein Schicksal wäre anders als meins?«

Das waren die letzten Worte Niseshs, denn Alec schlug ihm den Kopf ab. Es war nicht mehr sein eigenes Blut auf seinen Lippen, aber er schmeckte den Unterschied nicht.

»Ch-Charlie«, krächzte Xander, dann knickte er nach hinten über und fiel in die Tiefe.

Und endlich hörte Alec ihn. Ein dumpfer Aufprall und finstere, erdrückende Stille senkte sich über die Höhle.

»Xander?«, fragte Alec mit zitternder Stimme, die Augen feucht.

Er legte sich auf den Bauch, spähte in den Abgrund. Und dort fand er seinen Bruder, die Gliedmaßen in unmenschlichen Verrenkungen ausgestreckt. Er hatte die Brille beim Sturz verloren. Die Gläser waren zerbrochen, das Gestell verbogen wie sein eigener Körper. Sein Gesicht sah nach oben, fast anklagend. Offener Mund, blutige Lippen, verklebte Haare und leere Augen, tote Augen.

Der Generator hatte jeglichen Fetzen Magie aus ihm gesaugt, der bei Nisesh und Alec nicht vorhanden war. Aus Xander, dem einzigen anwesenden Geschöpf, das einen Funken Zauberkraft besaß. Das hatte ihm zu viel gekostet. Ihm fehlte die Kraft, die er benötigt hätte, um am Rand der Maschine stehen zu bleiben. Der Plan hatte nicht funktioniert, denn Alec hatte nicht warten können. Aber er schrie nicht.

Niseshs Kopf rollte über den Abgrund, sein Gesicht war zu einem grausigen Lächeln verzogen.

II

Manch einer würde behaupten, dass es grausam war, dass sie ihn nicht hatten sterben lassen.

Ceciel Morgen glaubte fest daran, dass ein jeder seine Bestimmung besaß, der es zu folgen galt, doch nie zuvor hatte sie sich die Frage gestellt, was geschehen sollte, wenn diese erfüllt war.

Die meisten Helden hatten das Glück, bei der Erfüllung ihres Schicksals zu sterben.

Das mag brachial klingen, dabei war allgemein bekannt, dass dies die einzige Chance war, sich für eine Sache – einen Glauben, ein Konzept – zu opfern, was größer ist als man selbst.

Denn die anderen Helden, die mit weniger Glück, mussten nach ihrem letzten Sieg weiterleben, nutzlos, nichts weiter als aus der Mode gekommene Verkaufsschlager. Und genauso werden sie in die Ecke geworfen, sobald sie nicht mehr zu gebrauchen sind.

Bald würde Alec zum Sperrmüll gehören und es gab keinen Zauberspruch dieser Welt, der das ändern könnte. Ceciels Vater hatte es vorausgesagt und trotzdem merkte sie, wie ihr Herz daran zerbrach. Da waren sie nun, er auf dem Bett, sie auf dem Stuhl daneben und sie schwiegen einander an, wie die unzähligen Male zuvor.

Und doch hatten sich die Dinge geändert, denn dies war kein Neuanfang, sondern ein Ende. So kam es Ceciel jedenfalls vor, die noch nicht gelernt hatte, dass oft beides ein und dasselbe war.

»Sie haben dir Weintrauben gebracht«, sagte Ceciel und in den letzten Jahren hatte er es sich angewöhnt, zu fragen: »Ohne Kerne?«

Alec zog seine Bettdecke höher. »Könntest du bitte die Heizung hochdrehen?«

Es war das Erste, was er gesagt hatte, seitdem die Faune ihn ins Krankenhaus eingeliefert hatten, und sollte Ceciel mit neuer Hoffnung füllen. Immerhin hatte sie mit zitternden Händen darauf gewartet, seine Stimme zu hören, um sich zu vergewissern, dass es wieder in Ordnung war. Jetzt konnte ihr unmöglich verborgen bleiben, dass sie verloren hatte.

Er wirkte so mager und zerbrechlich in dem dünnen Nachthemd des Krankenhauses und Ceciel wurde schmerzlich bewusst, dass er erst 18 Jahre alt war. Eingefallene Wangen, tiefe Augenringe, blasses Gesicht, Augen schwer von allem, was er gesehen hatte. Das war nicht mehr der Held, den sie gekannt hatte, den die Welt gekannt hatte. Es war unmöglich, zu erkennen, ob das Alec Blackwood war, oder ein Haufen Scherben. Ceciel hatte es stets als ihre Aufgabe angesehen, die Scherben wieder einzusammeln.

Es war grausam, dass sie ihn nicht hatten sterben lassen.

Ihr Magen zog sich zusammen und sie sprang auf, bevor sie sich auf den Boden übergeben konnte.

»Ich muss los, da ist so eine Parlamentsversammlung«, würgte sie hastig hervor.

Sie war nicht in der Lage, diesen Anblick zu ertragen, diesen Schatten, der Alecs Platz eingenommen hatte.

»Warte!«

Er griff nach ihrer Bluse, krallte sich an dem teuren Stoff fest. Er kannte Ceciels tiefste Abgründe und entlarvte ihre Ausrede, bevor sie ausgesprochen war. Aber seine Angst, dass dieser letzte Schatten Alec Blackwoods ebenfalls verschwinden würde, wenn sie den Raum verließ, war größer.

Sie blinzelte mit einem Schaudern auf die Überreste seiner bandagierten Hand und überwand sich schließlich, ihre Augen auf sein geschwollenes Gesicht zu richten.

»Bleib«, flüsterte Alec, »bitte.«

All die Scherben würden weiter voneinander fortgetragen werden. Sein Blick war so flehend, so hilflos, dass es für Ceciel nicht mehr zu ertragen war.

Sie riss sich von ihm los, stolperte ein paar Schritte rückwärts. »Charles. Ich kann nicht. Die brauchen mich da.«

Dann ergriff sie die Flucht.

Sie konnte die Leere nicht mehr sehen, die in sein Inneres drang, als sie verschwunden war. Wie er die Decke hochzog, bis zur Nase, die übrig gebliebenen Finger fest darin verhakt, während die salzigen Arme der Furcht nach ihm griffen.

Ceciel verschanzte sich hinter der Tür, starrte den weißen Krankenhausflur entlang wie in Trance. In ihrer rechten Hand hatte sie ein Blatt Papier zusammengeknüllt, das sie mit flinken Fingern entfaltete. Es war ein Flyer, auf dem mit großen Druckbuchstaben stand: Willkommen in der Rehabilitationsgesellschaft für Matadoren.

Alec Blackwoods Bestimmung hatte sich erfüllt, seine Geschichte war vorüber, die letzte Seite umgeblättert, doch Ceciel würde nicht den Rest ihres Lebens damit verbringen, ihn wieder zusammenzuflicken. Nein, ihre Geschichte hatte gerade erst begonnen.

»Willkommen in der Rehabilitationsgesellschaft für Matadoren«

Du hast das große Biest erschlagen, die Jungfrau in Nöten befreit, die Welt gerettet – dein Schicksal erfüllt. Was nun?

Versinke nicht in der Bedeutungslosigkeit und

ewigem Selbstmitleid, komm zu uns in die

Rehabilitationsgesellschaft für Matadoren!

Hier kannst du dich von deinem Endkampf erholen –

ganz ohne nervige Paparazzi und den schnöden Alltag,

den du nicht verstehst.

Genieße die wunderschöne Steilküste und die gesunde, salzige Luft von Tírhain, während wir dich mit unserem 5-Sterne-Service verwöhnen, bis du bereit für die Welt da draußen bist.

Nur zur Dunkelzeit! Bis zu 20% Wer-Werwolf1-Töter Rabatt auf all unsere Angebote!

1 Im Gegensatz zu den meisten Werwölfen können diese Exemplare ihren Blutdurst nicht kontrollieren. Sie sind dafür bekannt, in Vollmondnächten Menschenherzen zu verspeisen, wie die Barbaren.

Die erste Begegnung unserer Hauptfiguren erinnert an eine schlecht geschriebene Badboy-Schnulze

Es ist unabdinglich, sich seiner Angst zu stellen, jeden Tag, bis sie verschwunden ist.

Das hatte sein Mentor Mr Morgen Alec früher gerne erzählt und Alec hatte daran geglaubt. Wenn alle anderen schliefen, hatte er sich einer seiner Ängste gegenübergestellt und seinen Mut trainiert. Er hatte den Hund des Gärtners mit den funkelnden Knopfaugen gestreichelt. Er hatte das federleichte Gewehr in die Hand genommen, das extra für ihn angefertigt worden war, und es mit echten Kugeln geladen. Sogar für eine Stunde in sein Zimmer eingeschlossen hatte er sich, obwohl er meistens zitternd in einer Ecke gesessen hatte, den Arm vor dem Mund, um sich nicht zu übergeben.

Mittlerweile funktionierte diese Methode nicht mehr. Alec glaubte, dass es daran lag, dass er keine elf Jahre mehr alt war. Die Theorie, dass seine Angst zu gewaltig und sein Wille sie zu bewältigen zu schwach sein könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen. Denn die Furcht vor dieser Erkenntnis erfüllte ihn mit noch größerem Unbehagen.

Alte Angewohnheiten hielten sich, auch ohne Anhaltspunkt stand er hier und beobachtete die dichten Wolken bei ihrem schwerfälligen Tanz. Die Sonne versuchte, ihre langen Finger durch den undurchdringlichen Schleier zu winden, der den gesamten Himmel wie ein schwerer Vorhang aus Kälte und Eis umhüllte. Unter ihm krachten die Wellen mit voller Wucht gegen das Gestein. Unaufhaltsam, nicht zu bändigen, probierten sie die Küste um sich herum langsam aber sicher zu verschlingen.

Das Meer war hier überall, nicht nur in dieser brodelnden, grünen Suppe, die mit aller Gewalt gegen das Land ankämpfte, sondern auch in der Luft. Der eisige Wind peitschte ihm ins Gesicht, rasiermesserscharf, genauso unumgänglich und versalzen wie das trübe Wasser, das den ewigen Kampf zu seinen Füßen ausfocht.

Irgendwann würde es ihn ebenfalls holen. Eine andere salzige Hölle, die dieser doch so ähnlich war, lechzte mit gebleckten Zähnen an seiner Mantelspitze, zog ihn mit sich wie eine starke Strömung, würde nicht ruhen, bis er keine Kraft mehr zum Kämpfen hatte. Und er war bereits müde, so müde. Sie hatte sein Herz im frostigen, salzigen Griff, hielt seine Seele gefangen und wartete, dass sein Körper ihr hinterher sprang. Alec Blackwood hatte Angst, bald vom Meer verschlungen zu werden.

*

Ruby hatte erst zwei Tage in der Rehabilitationsgesellschaft für Matadoren verbracht und war kurz davor, die Flucht zu ergreifen.

Aber wer konnte ihr das schon verübeln? Es gab so einiges, das an diesem Ort nicht in Ordnung war. Was Rubys Aufmerksamkeit sogleich geweckt hatte und als ihr oberster Beschwerdepunkt galt, war das übermäßig stark ausgeprägte Schubladendenken. Ein Glück, dass sie nur zu Besuch hier war, und nicht das schwere Los gezogen hatte, hier zu wohnen. Es gab zu viele Gemeinsamkeiten mit dem grausamen Internat, in dem sie den Großteil ihrer Jugend verbracht hatte.

Um Rubys Standpunkt zu verdeutlichen, reicht es, sich zur Abendessenszeit im Speisesaal umzusehen. Neben der Theke saßen diejenigen, die die anderen Insassen – ich meine, Patienten – als »Die Langweiler« bezeichneten. Allgemein werden sie mit den Worten »depressive Nichtsnutze« beschrieben, denn sie verbringen den lieben langen Tag damit, von ehemaligen Heldentaten zu schwärmen. Und loben sie nicht die Vergangenheit, beschweren sie sich über die Gegenwart.

Wenn wir uns weiter in die Mitte des Speisesaals bewegen, treffen wir auf die sogenannten »Angeber«, die auch nach mehreren Jahren nicht zu dem Schluss gekommen sind, dass sie sich nicht auf einer Mission befinden, sondern im Ruhestand.

Fragt man eine andere Gruppe Patienten – Entschuldigung, Gäste – so ist Folgendes über die Angeber zu erfahren: »Solche Arschlöcher. Denken, sie können kommen und gehen wie sie Lust darauf hätten, dabei sind die wahrscheinlich schon so kaputt, dass sie sich nachts in den Schlaf weinen müssen.«

Denn, obwohl es in keinem Vertrag geschrieben steht, ist es äußerst kompliziert, die Rehabilitationsgesellschaft für Matadoren wieder zu verlassen.

Die Gruppe, mit der Ruby sich angefreundet hatte, war der Meinung, sie wären die Einzigen in dieser Anstalt – und nichts beschreibt diesen Ort besser – die noch bei Verstand waren. Aber um fair zu bleiben, das sagten alle Bewohner über sich. Und genauso wie die anderen Gruppen hatten sie sich keinen Namen gegeben. Wenn man allerdings die Ohren spitze, war hin und wieder ein geflüstertes »Weicheier« herauszuhören.

Als Ulf Knochenbrecher, der inoffizielle Anführer der Weicheier, Ruby auf eine Tour durch das Hauptgebäude mitgenommen hatte, war ihm die folgende Beschreibung für seine Gruppe eingefallen: »Wir sind die Einzigen, die verstanden haben, dass es hier eigentlich ganz schön ist. 5-Sterne-Küche, ein riesiger Fernseher und super W-Lan, was willst du mehr?«

Ruby hätte einiges von größerer Bedeutung aufzählen können, ohne mit der Wimper zu zucken, aber ausnahmsweise war es ihr gelungen, stillzubleiben. Sie war nicht hier, um laut ihre Meinung kundzutun, sondern um zu beobachten.

Es gab noch genügend kleinere Grüppchen, die verteilt im Speisesaal saßen, und deren Auffassungen ihr fremd waren. So verlegte sie sich von Diskussionen auf harmlose Fragen.

»Was ist mit denen da drüben?«, fragte sie und zeigte auf fünf düster dreinblickende Wesen in dunklen Kapuzen-Pullovern.

»Hm?«

Knochenbrecher hob den Kopf vom Teller. Er war ein Ork, einer von der großen Sorte, mit zwei gewaltigen Hauern, die ihm aus dem Mund ragten, und einem fehlenden Auge. Trotz seines erschreckenden Erscheinungsbildes – selbst für Orks war er kein Prince Charming – war er die gutmütigste Person, die in der Rehabilitationsgesellschaft für Matadoren hauste.

»Hm?«, wiederholte er und seine Stimme war tiefer als Donner-Grollen. »Ach, die da hinten.«

Er machte eine wegwerfende Bewegung mit der Pranke, wobei er den Teller seiner Sitznachbarin Lycia von der Tischkante fegte.

»Denken, es wäre besser, wenn sie unter sich bleiben, weil sie ja alles, was sie anfassen, automatisch zerstören müssen.«

Lycia lachte schrill auf, ohne den Blick von der Stelle zu nehmen, an der vor Kurzem ihr Teller gestanden hatte. Während Ruby überlegte, ob das nicht eher traurig als lustig war, änderte sich die Stimmung im Speisesaal.

Durch die Zeit im Internat hatte sie gelernt, solche unschönen Veränderungen vor den anderen zu bemerken. Selbst der kräftige Knochenbrecher zuckte zusammen und Ruby erschauderte. Für einen Herzschlag lang verharrten alle in ihrer Bewegung, verstummten so plötzlich, dass ihr Atem unanständig laut klang.

Ein Kichern durchbrach die Stille. Besteck klapperte, Knochenbrecher schlürfte weiter sein Abendessen auf, aber der Zauber war nicht gebrochen. Jeder wählte seine Worte mit Vorsicht, führte sein Essen mechanisch zum Mund.

Jemand war in die bekannte Atmosphäre eingedrungen und hatte sie zerstört. Er stand gegen die Theke der Essensausgabe gelehnt und die Angst der ehemaligen Helden prallte an ihm ab wie an einer Rüstung.

Bitte erwartet von unserer guten Ruby nicht, dass sie zu diesem mysteriösen, jungen Kerl, sofort eine leicht fragwürdige Bindung aufbaut. Bei dem handelt es sich, wie ihr bestimmt erraten habt, um niemanden Geringeres als Alec Blackwood. Ruby hatte keine Lust, bei derartigen Spielchen mitzuspielen. Alles, was sie an Alec fand, war eine schiefe Nase und ein Haufen brauner Haare, unter dem ein Paar müder Augen pausenlos die Ecken des Raumes ohne ehemalige Helden absuchte.

»Nicht hinsehen«, knurrte Knochenbrecher mit gesenkter Stimme, aus Angst, der Eindringling könnte sie von der anderen Seite des Saals aus hören.

Knochenbrecher war zwei Meter hoch, ging ähnlich weit in die Breite und hatte die Welt vor dem grausamen Orkkönig Wolfsfluch beschützt. Und jetzt wagte er es nicht, in Richtung Essensausgabe zu gucken. Nein, lieber beobachtete er den Fremdling aus den Augenwinkeln, als wäre er ein besessener Tiefseekraken, der jeden Moment zum Sprung ansetzt.

Dabei war Alec so müde, dass er niemanden anhüpfen könnte, wenn ihm denn der Sinn danach stand. Obwohl seine Augen nach Mord schrien, war die einzige Person, die er erledigen wollte, er selbst.

»Wer ist das?«, hauchte Ruby und versuchte, möglichst beeindruckt zu wirken, um Knochenbrecher nicht zu verstimmen.

Sie kniff die Augen zusammen, in der Hoffnung, besser sehen zu können. Es funktionierte nicht. Sie erkannte kaum, dass der Eindringling nur wenige Jahre älter war als sie selbst. Mit seinen schmalen Schultern und eingefallenen Wangen erinnerte er allerdings eher an einen Greis. Es brauchte geschlagene fünf Minuten, bis sie verstand, wen sie da vor sich hatte. Sie schlug ihre Faust gegen ihre Handfläche.

»Unmöglich!«

Jetzt war Ruby tatsächlich beeindruckt.

»Shhht!«, zischten Lycia und Knochenbrecher gleichzeitig.

»Unmöglich«, wiederholte sie etwas leiser. »Das ist – das ist –.«

Lycia nickte zustimmend. »Alec Blackwood, der Verdammte Auserwählte™.«

In der Rehabilitationsgesellschaft für Matadoren gab es eine ganze Menge Auserwählte, aber keiner von denen war der Verdammte Auserwählte™, die Krönung schlechthin. Als Alec Blackwood mit elf Jahren ins Geschäft eingestiegen war, hatten die Kinder, eingeschlossen Ruby, ihn vergöttert. Ein niedlicher, fast gewöhnlicher Junge, der zusammen mit seinem Bruder und seiner besten Freundin Monster abschlachtet und das Böse bekämpft. Dieses Konzept ist unsterblich.

»Ein Kindersoldat.« Knochenbrecher spuckte das Wort aus, als wäre es Gift.2 »Nimm dich vor denen in Acht, kleines Rotkehlchen. Die sind unberechenbar.«

»Hey!«

Lycia warf ihm einen bösen Blick zu, doch Knochenbrecher strich ihr nur beschwichtigend über den Kopf. Sie fiel fast vom Stuhl.

»Nicht du, du bist schon vor Jahren aus Clive Hall ausgezogen, dich konnten die nicht irremachen.«

Ruby rutschte weiter nach vorne, bis ihre Nase nur noch einen Fingerbreit von Knochenbrechers Hauern entfernt war. »Wer konnte sie nicht irremachen?«

»Na die Geister!«, riefen der Ork und Lycia im Einklang.

»Geister? Geister wie in Geister aus dem Jenseits?«

Mit Geistern war nicht zu spaßen und für jemanden, der gerade erfahren hatte, dass welche ganz in der Nähe hausten, leuchtete Rubys Lächeln zu gleißend.

Lycia nickte.

»Geister«, wiederholte sie und erschauderte. »Da gibts ein paar drüben, in Clive Hall – klingt ein bisschen wie cliff fall, Klippenfall, was? – bei uns Kindersoldaten, auch außerhalb der Rauhnächte, darum bin ich aus dem Haus so schnell wie möglich raus.«

Da sie eine Sirene war, merkte ein Mensch wie Ruby Lycia ihr Alter nicht an. Einzig jemand mit einem besseren Blick für die Magie, einem höheren Magiestandard, wäre in der Lage zu erkennen, dass sie höchstens in der Jugend Rubys Mutter gegen das Böse gekämpft hatte.

»Es gab so viele Selbstmorde, mussten ja ein paar im Vorhang nach Samhūn hängen bleiben«, fuhr sie fort.

Rubys Augen weiteten sich. »Selbstmorde?«

Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Blick wieder zu Alec Blackwood wanderte. Er hatte sich nicht bewegt, stand still wie eine Statue.

»Die Letzte soll ihr Zimmer gleich neben ihm gehabt haben«, flüsterte Knochenbrecher, insofern Orks flüstern können. Alle Köpfe am Tisch drehten sich ihm zu, total unauffällig.

»Lilian Sparks, du weißt schon, die mit den Drachen.«

Ruby nickte aufgeregt. Natürlich kannte sie Lilian Sparks, das Mädchen, das die Lóng gerettet hatte, Wächter von Magie und Weisheit. Ohne sie wäre die Welt nicht, was sie jetzt war. Da begriff Ruby und ihr Mund hing offen wie ein Scheunentor.

»Warte, möchtest du damit ernsthaft andeuten, dass sie –.«

Es gelang ihr nicht, die Worte aussprechen, zu schwer lagen sie auf ihrer Zunge. Das jemand wie Lilian Sparks an diesem Ort gelandet war und sich das Leben genommen hatte, erschien, der allgemeinen Meinung nach, undenkbar. Wenn Alec Blackwood vergöttert worden war, hatten die Kinder Lilian Sparks angebetet, mit Tieropfern und allem.

Knochenbrecher schnaubte abfällig. »Jedenfalls glauben die das.«

Mit »die« waren der Direktor und seine Mitarbeiter gemeint. Zum ersten Mal seit Rubys Ankunft äußerte er etwas gegen die Rehabilitationsgesellschaft für Matadoren.

»Meinen, sie habe sich von der Klippe gestürzt, weil sie manisch depressiv war. Aber sie hat nie besonders depressiv ausgesehen, war immer nett und freundlich.« Was allgemein das große Problem an manisch depressiv war. »Was ich glaube –.«

Knochenbrecher unterbrach sich, als eine Dryaden-Küchenhilfe Alec endlich seinen Teller hinschob.

Er nahm ihn mit nur einer Hand entgegen, schlängelte sich am Tisch der Langweiler vorbei, die wie zufällig die Füße einzogen, öffnete mit der anderen Hand die schwere Eichentür, als würde sie nichts wiegen, und verschwand. Der ganze Saal atmete erleichtert aus, dabei hatte er den ehemaligen Helden nicht einen einzigen Blick zugeworfen.

»Er isst ja gar nicht hier«, merkte Ruby an, obwohl sie es ihm bei all der Feindseligkeit kaum verübeln konnte.

»Macht er nie«, erklärte Lycia. »Wahrscheinlich veranstaltet er irgendeinen okkulten Scheiß mit dem Zeugs. Beschwört Todesfeen herauf oder so.«

Ja, es gab vieles, was für Ruby an diesem Ort nicht zu fassen war, aber als Vegetarierin und überzeugte Optimistin erschreckte sie nichts mehr als diese Aussage.

»Beschwörungen? Wie kannst du sowas nur sagen? Das ist Alec Blackwood, er hat uns alle gerettet. Warum sollte er –.«

Sie verstummte, als sie in Knochenbrechers matte Augen sah.

»Manche von denen kommen einfach nicht damit klar, dass sie hier sind«, sagte er und obwohl seine Stimme grollte wie eh und je, klang sie seltsam sanft. »Besonders die Kindersoldaten haben meist einen kleinen Knacks – nicht für ungut, Lycia – wollen nicht glauben, dass es vorbei ist. Und wenn sie’s dann doch mitbekommen, sorgen sie dafür, dass es genug Aufmerksamkeit um sie herum gibt. Wenn du mich fragst, hat Lilian sich niemals selbst von dieser Klippe gestürzt.«

Daraufhin herrschte Schweigen, zu schwer hing die Anschuldigung in der Luft.

»Oh!« Lycias Blick hellte sich auf. »Nachtisch!«

Diejenigen, die lange genug hier lebten, hatten gelernt, dass alle Dinge vergänglich waren – Gerüchte, Verdächtigungen, Morde – doch was blieb, das war der Nachtisch. Das Essen in der Rehabilitationsgesellschaft für Matadoren war köstlich, aber das Dessert stellte den Höhepunkt des kulinarischen Erlebnisses des Tages dar. Selbst Ruby konnte nicht verhindern, dass ihr das Wasser im Munde zusammenlief. Schoko-Brownies mit Nüssen waren einer der Gründe, dass die ehemaligen Helden sich hier festhielten.

In den paar Minuten Ruhe hinderte Ruby niemand mehr daran, richtig nachzudenken, und es kam nie etwas Funktionstüchtiges, oder eher gesagt, nicht zumindest halb Verrücktes, dabei heraus, wenn Ruby richtig nachdachte.

In ihrem ganzen Leben hatte sie keinen einzigen Geist gesehen. Eine pure Zumutung, wie sie entschied. Und überhaupt, wer war besser geeignet, ihr Bericht über die seltsamen Ereignisse an diesem Ort zu erstatten, als eine unsichtbare Macht?

Denn sie war sich ziemlich sicher, dass all diese Anschuldigungen gegenüber Alec übertrieben waren. Sie hatte lange genug im Internat überlebt, um zu verstehen, wie das funktionierte. Eine Gruppe suchte sich ein Opfer aus und erfand Gerüchte, wenn sonst nichts von Bedeutung geschah. Und es war offensichtlich, dass Alec Blackwood hier das Opfer war.

Ruby entschied, während sie eine Gabel voll Brownie in den Mund stopfte, dass sie die restlichen fünf Tage, die sie hier verbringen durfte, dafür nutzen würde herauszufinden, was um König Lughs Willen hier vorging. Nichts würde sie davon abhalten, nicht einmal die Tatsache, dass es kurzzeitigen Besuchern wie ihr nicht erlaubt war, das Hauptgebäude zu verlassen – wovon die Schlafräume in Clive Hall weit entfernt waren.

2 Und das war es.

Spoiler: Alec ist nicht so gruselig wie erhofft befürchtet

Alec stellte seinen Teller auf den Schreibtisch, dann fiel er mit dem Gesicht voran auf sein Bett und vergrub die zitternden Hände unter der Decke.

Das Meer forderte seinen Tribut. Es war die vierte Rauhnacht und die Wilde Jagd streifte zwischen den Wolken umher. Es war kalt und es war dunkel, ein Schleier aus gefrorenem Salz, der sich über die Erde gelegt hatte.

Er hatte Stunden in dieser Hölle verbracht, ohne ein Wort des Protestes, jetzt war es an der Zeit, sich selbst zu bemitleiden. Was für ein armes, erfrorenes Schwein er war, dass er den Rest seines armseligen Daseins ohne Sinn an diesem grauenhaften Ort verbringen musste. Kaum auszuhalten, all das Selbstmitleid.

Er zog sich die Decke über den Kopf und rollte sich darin ein, in der Hoffnung, sich dadurch aufwärmen zu können, und tat, als würde er schlafen. Ein fieser Hinterhalt, mit dem er versuchen wollte, seine Gedanken für eine Weile von sich abzulenken.3

Als Alec die Schritte hörte, überlegte er in der Tat, ob nicht doch Geister in Clive Hall existierten. Abgesehen von ihm wagte es nur das Personal, dieses Gebäude zu betreten, und auch die hielten sich zu dieser Uhrzeit fern. Es gab niemanden, der verrückt genug wäre, ihn zu besuchen.

Während andere Geschöpfe durch Reisen und Abenteuer aufblühten, hatten diese Alec verbittern lassen. Kaum 21 Jahre alt und schon sah er die Welt mit den abgehärteten und getrübten Augen eines viel älteren Mannes. Dieser Gegensatz verstörte Gäste und Personal gleichermaßen und hielt sie seit drei Jahren auf Abstand.

Xander hätte sich über ihn lustig gemacht, über den scharfen Zug um seinen Mundwinkel, aber Xander war nicht mehr da, und der Gedanke an ihn, ließ Alec fast an dem brennenden Verlust ersticken.

Das war es, was ihn vom glorreichen Helden in dieses Häufchen Elend verwandelt hatte. Müde, in der Hoffnung, diese unvorteilhafte Störung ignorieren zu können, griff Alec nach einem Buch und begann darin herumzublättern. Der Titel lautete Die Wissenschaft des Übernatürlichen und es war einer dieser Schinken, die niemand sonst zu lesen wagte. Wen interessierte, wie die Magie funktionierte? Allein durch Unwissenheit konnte sie wirken, allein Unwissenheit machte sie aus.

Aber nach Jahren des Kampfes mit Nisesh, der versucht hatte sich die gesamte Magie der Pryddah einzuverleiben, war alles Wunder für Zauber verschwunden. Auch zuvor hatte Alec sich mit der Magie nie wirklich verbunden gefühlt. Es war ein Draht, der ihm fehlte, und allein die Möglichkeit, sich all diese unerklärlichen Dinge mit dem erklären zu können, was er verstand, brachte ihm diese Welt näher.

Ein lauter Knall, als eine Tür – Nein, ein Fenster – zugeschlagen wurde, dumpfe Schritte, nicht mehr zu überhören. Verdächtige Schritte, als würde jemand versuchen durch die Gänge zu schleichen, ohne ordentlich gelernt zu haben, wie man schleicht.

Alec wollte sich das Kissen über die Ohren ziehen und das Geräusch ignorieren. Aber ein halb vergessener Instinkt, ein ewig andauerndes Pochen in seinem Kopf, das jetzt immer lauter wurde, die ständige Angst, die sich mit kalten Fingern an ihm festklammerte, ließ ihn automatisch in den Angriffsmodus übergehen.

Er hatte ein kleines Messer in sein Zimmer geschmuggelt, obwohl Waffen in der Rehabilitationsgesellschaft für Matadoren verboten waren, trug es in seiner Hosentasche, ein Gewicht, das ihn nach unten drückte. Kaum mehr als ein Zahnstocher, aber er hatte oft mit weniger gearbeitet. Er wollte danach greifen, doch eine plötzliche Übelkeit überkam ihn, als seine Finger über den hölzernen Griff strichen, die zwei Stümpfe das glatte Metall berührten.

Das Messer blieb, wo es war, als Alec langsam unter der Decke hervor rutschte, jeden seiner Schritte mit Bedacht setzte. Er öffnete mit einem sanften Klicken seine Zimmertür. Im Gegensatz zum Einbrecher wusste er, wie man richtig schleicht, hielt sich im Schatten versteckt, während er versuchte herauszufinden, welcher der Schlappschwänze mutig genug sein könnte, sich ins Kindersoldatenheim zu wagen. Ceciel würde den Störenfried wahrscheinlich in eine Kröte verwandeln, so wie sie Alec in eine Kröte verwandelt hätte, wenn ihr die Möglichkeit gegeben worden wäre. Denn dass dies ein Geist war, war schier unmöglich, jedenfalls versuchte er, sich das einzureden.

Alec hasste Geister, hasste den Gedanken, dass man auch im Tod keine Ruhe finden könnte, hasste diese leeren Augen, die transparenten Körper, die flüsternden Stimmen.

Er konnte den Gedanken nicht verhindern, dass er wiedergekommen sein könnte. Manche Geister hefteten sich an die Lebenden und suchten sie für alle Zeit heim. Und Mr Morgen, der ihm bereits zuvor im Tode als Mentor gedient hatte, war Alec nie wie jemand vorgekommen, der gut loslassen konnte.

Da waren sie wieder, die Schritte. Nein, Mr Morgen, der den Nuth’Aya, den mächtigsten Magiern dieser Welt, angehörte, würde sich niemals ungeschickt wie ein Troll im Porzellanladen an ihn heranschleichen.

Der Gang war dunkel, denn jemand hatte alle Gardinen zugezogen, doch Alec brauchte seine Augen nicht, um sich orientieren zu können. Er kannte dieses Haus gut genug, um zu wissen, dass sich der Lichtschalter nur eine Armlänge von ihm entfernt befand. Ein leichter Luftzug zog an seinem Ohr vorbei.

Jetzt!

Er schlug die Hand weg, die nach seiner Schulter griff, drückte auf den Lichtschalter, die Augen klugerweise geschlossen, um nicht geblendet zu werden.

Als er wieder ins Licht blinzelte, war Ruby gegen die grässliche Blumentapete gepresst, eine knochige Hand an der Kehle. Alec war enttäuscht. Ihr müsst verstehen, er hatte mit etwas Gefährlichem gerechnet, nicht mit einem rothaarigen Mädchen mit nervösem Lächeln, das ihn ansah, als hätte er versucht, sie umzubringen.4

»Du bist kein Geist«, platzte es aus ihr heraus.

Es war kein Wunder, dass Alecs dunkle Augenringe und buschigen Augenbrauen sie für einen Moment etwas anderes hatten vermuten lassen.

»Kein Scheiß«, knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und kam zu dem Entschluss, dass sie wohl nicht die hellste Kerze auf der Torte war.

»Tut mir leid, dass ich dich so überfallen habe«, sagte Ruby und lächelte ihn vorsichtig an.

Ein netter Versuch ihn davon zu überzeugen, sie wieder gehen zu lassen.

Er antwortete nicht, also fügte sie noch hinzu: »Ich dachte, du wärst ein Geist. Das ist nämlich so mein Ding, Ghostspotting. Jedenfalls momentan.«

Was nur eine halbe Lüge war.

Rubys Blick wanderte zu dem Messer, das eine Handbreit aus Alecs Hosentasche ragte. »Sag mal, sind Waffen hier nicht eigentlich verboten? Damit sich alle richtig entspannen können und so?«

Alec schnaubte. »Ist es nicht verboten, nachts durch die Gänge zu schleichen? Besonders, wenn man nur Besucher ist?«

Er hatte nicht einmal all seine Künste als Detektiv anwenden müssen, um das herauszufinden. Denn 1.) schlich sie für eine Heldin viel zu laut und 2.) war sie, wenn sie doch eine wäre, jung genug, um hier wohnen zu müssen, ein weiterer Kindersoldat. Was sie nicht tat, sonst würde sie nicht so grausam schleichen. Eine Beleidigung für alle Helden. Den kurzzeitigen Besuchern war Clive Hall aufgrund der geringen psychischen Belastbarkeit der Kindersoldaten verboten.

»Touché.«

Ruby zuckte grinsend mit den Schultern, aber ihr Blick huschte angespannt hin und her.

»Ich wollte auch gar nicht hier sein – also, ich meine, in Clive Hall. Wollte nur ein bisschen Spazierengehen, Geister suchen und dann«, ihre Augen wurden groß, »dann habe ich sie plötzlich gehört – die Musik und das Johlen und das Trampeln der Pferde. Sie zogen über den Himmel – die Wilde Jagd und Lother, Beschützer der Sídlethan, des Feenreiches, und Herr der Samhūn und der Toten, die darin leben, geheiligt sei sein Name, gleich voran! Du weißt schon, hörst du sie nicht in tiefster Nacht? In heulendem Wind kommt die Wilde Jagd geschwind! Wie in dem alten Kinderreim.«

»Jedes Kind weiß doch, dass man während der Rauhnächte nicht spazieren geht«, schnaubte Alec.

Kurz bevor ein Jahr in das nächste überging, wagten die Toten es wieder in die Pryddah, die Oberwelt, aufzusteigen. Sie durchbrachen den Vorhang, der den oberen Teil des weiten Flusses, auf dem die Welten der Lebenden schwammen, von dem unteren Teil des Flusses abtrennte, als wäre er Nebel. Niemand war verrückt genug, die Wilde Jagd zu provozieren, denn wer sie erblickte, ja, sich auch nur zufällig in ihrer Nähe aufhielt, der wurde mitgenommen auf ihren Höllentrip, immer dem Wind nach.

Ruby gab auf. »Also gut, wie wär’s damit: Wir verpfeifen uns einfach nicht gegenseitig.«

Obwohl das unkontrollierte Zucken Alecs Augenbraue andeutete, dass es, wenn sie ihn weiter nervte, bald niemanden mehr zu verpfeifen gab.

»Ich bin übrigens Ruby, Ruby Eljin.«

Sie versuchte, ihm die Hand hinzuhalten, ohne dass Alec sie erwürgte, und da wurde ihm endlich bewusst, wie harmlos sie war. Er ließ sie los, hielt die Fäuste jedoch geballt, zur Sicherheit. »Du solltest besser von hier verschwinden.«

Ruby, ganz die gute Abenteuerin, dachte nicht einmal daran, abzuhauen, nicht, wenn die Geister der Jagd über den Nachthimmel zogen.

»Du bist Alec Blackwood, stimmt’s?«, fragte sie und lächelte breit.

Alec seufzte. Er konnte Ruby auf den ersten Blick nicht leiden, denn ihre Augen funkelten freundlich und treu, als wäre alle Grausamkeit der Welt unbemerkt an ihnen vorbeigezogen. Alecs Augen waren erdig braun. Die Zeit hatte sie verhärten lassen und jetzt glänzten sie so kalt, dass jedem fröstelte, der das Pech hatte, unter diesen Blick zu geraten. Sie schnitten der armen Ruby das Fleisch von den Knochen, aber sie hatte sich fest vorgenommen, nicht wegzusehen.

»Verschwinde von hier«, wiederholte Alec. »Du musst nur in den Himmel sehen, dort warten hunderte Jäger, die vor ihrer Zeit gestorben sind. In Clive Hall gibt es keine Geister.«

Wenn, dachte Ruby entrüstet, dann nur, weil sie sich alle vor deinen bösen Blicken in Sicherheit gebracht haben.

»Hast du das schon mal überprüft?« Sie funkelte ihn herausfordernd an.

»Wieso sollte ich?«, erwiderte er mit der Gewissheit eines Geschöpfes, das wusste, dass es keine Gewissheit hatte.

Ruby sah ihn verständnislos an. »Aber möchtest du denn gar nicht wissen, was in deinem eigenen Haus los ist?«

Streng genommen war Clive Hall nicht sein Haus, obwohl Alec momentan als Einziger hier lebte.

»Eigentlich«, sagte er mit Nachdruck, »möchte ich, dass du von hier verschwindest.«

Und dieser Streit hätte sich wohl in alle Ewigkeiten fortgesetzt, wären sich nicht erneut Schritte zu hören, dumpfer und schwerer als Rubys. Ein Wächter. Alec stöhnte genervt auf. Dieser Tag wurde immer besser.

»Schnell«, zischte er und schob Ruby in sein Zimmer, bevor sie protestieren konnte.

Es war ein Werwolf mit glänzendem Fell und leuchtenden Augen. Der ideale Wächter für die Nacht, kaum brauchbar am Tag und furchteinflößend genug, um unerwünschte Gäste fernzuhalten, jedenfalls normalerweise.

Dieser Berg von einem Hund stellte die schwere Tatze nach vorne und legte drohend die Ohren an. »Was machst du hier, Blackwood?«

Geifer rann sein Kinn hinunter, ein Versuch bedrohlich auszusehen, der ihn eher wie einen Patienten im Irrenhaus erscheinen ließ. Keinerlei Manieren, die Werwölfe von heute.

Gedankenversunken fuhr Alec sich durch die Haare. »Es ist nichts, ich dachte nur, ich – Ach, unwichtig.«

Der Wolf schlug ungeduldig mit seiner Rute und zeigte die Zähne. »Was?«

Ein anderer Gast hätte jetzt eine Beschwerde beim Direktor wegen Unhöflichkeit eingereicht.

»Ich dachte, dort wäre ein Geist gewesen«, erzählte Alec, »da, am Ende des Ganges. Du weißt ja, wie das ist, wenn Lother mit seinem Gefolge vorbeizieht. Sie spüren dieses Beben in der Realität mehr, als wir das tun. Aber dann habe ich das Licht angeschaltet und alles war wieder normal.«

Die Nackenhaare des Wolfes stellten sich auf und plötzlich hatte er eine große Ähnlichkeit zu seinem Verwandten, dem Pudel. Niemand mochte Geister, nicht einmal die Kreaturen der Nacht. Die ruhelosen Toten erinnerten daran, was mit jedem Geschöpf passieren würde, wenn dessen Zeit abgelaufen war.

Der Wolf zog den Schwanz ein und trat winselnd einen Schritt rückwärts.

»Wir haben hier keine Geister«, erklärte er wenig glaubwürdig, »sonst würden wir dich nicht hier wohnen lassen. Geh zurück in dein Zimmer.«

Der Wolf machte kehrt und jagte den Gang entlang, wobei er mit einem riesigen Satz über die Stelle sprang, an der Alec seinen Geist gesehen hatte. Die Sicherheitskräfte waren wirklich mies. Wer stellte schon Werwölfe zur Paarungszeit ein? Wegen seiner Unkonzentriertheit hatte der arme Kerl nicht einmal die Luft geprüft, sonst hätte er Ruby sofort gerochen. Um diesen ungebetenen Gast musste sich jetzt Alec kümmern.

»Danke«, war das Erste, was sie sagte, als er das Zimmer betrat.

Sie hatte sich auf seinen Drehstuhl gesetzt und kreiste in Gedanken verloren um sich selbst.

»Danke wofür?«, fragte Alec und versuchte, den alten Stapel Klamotten in einer Ecke zu verstecken. Um es mit den Worten seines geliebten Mentors, Mr Morgen auszudrücken: »Zeige deinem Feind nicht dein Innerstes, sonst wirst du berechenbar.« Und sein Zimmer war das Innerste, was Alec besaß. Ein Blick auf all die Unordnung genügte, um eine Analyse über seinen psychischen Zustand abzuschließen.

Allerdings summte Ruby eine fröhliche Melodie in dem chaotischen Zimmer des Helden, der sie vor Kurzem bedroht hatte, und das sagte alles über ihren psychischen Zustand.

»Na ja, du weißt schon«, sie fuchtelte mit ihren Händen herum, um ihren Standpunkt zu unterstreichen, »danke, dass du mich nicht verraten hast. Also willst du mich doch nicht loswerden.« Sie lehnte sich zufrieden in dem Drehstuhl zurück.

»Was hat das eine denn mit dem anderen zu tun?« Alec zuckte mit den Schultern. »Das ist nur so eine blöde Angewohnheit von mir.«

Ein Helden-Reflex, der ihn, wie er jetzt bemerkte, in eine missliche Lage versetzt hatte. Entweder scheuchte er Ruby weg, sie wurde entdeckt und er bekam den ganzen Ärger, weil er sie nicht gleich gemeldet hatte, oder er musste sich mit ihr rumschlagen, bis der Werwolf seinen Posten aufgegeben hatte. Beides war gleichermaßen anstrengend und er kam zu dem Entschluss, dass er sein Leben hasste.

»Ich hasse euch«, knurrte er, wütend auf Ruby und diesen Wolf und am meisten sich selbst.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte sie, ohne zu zögern, »sonst hättest du mir nicht geholfen. Es sei denn –.«

Eine weitere aufschlussreiche Handbewegung.

Alec hob eine Augenbraue. »Es sei denn, ich sperre dich ein und opfere dich für eines meiner dunklen Rituale?«

»Genau! Also weißt du sehr wohl, was die Anderen über dich erzählen.« Ruby lachte, bis sie bemerkte, dass er keine Miene verzog. »Du willst mich doch nicht wirklich …« Sie zog einen Finger über die Kehle. »Oder?«

Er schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nicht, solange du mich nicht nervst.«

»Dann muss ich es ihnen sagen – du wirst es ja nicht tun, offensichtlich. Das ist doch kein Leben, so ganz abgeschottet und allein«, entschied sie und rückte dabei den Zeiger der Alec-Genervt-Skala ein großes Stück nach oben.

»Mir gefällt’s«, erwiderte er schulterzuckend.

Er wollte schlafen. Immerhin, solange er einen gewissen Ruf besaß, musste er sich nicht überlegen, wie er sich korrekt zu verhalten hatte, es dachten eh alle von ihm, was sie sich in den Kopf gesetzt hatten. Nach sieben Jahren Höflichkeit und falschem Lächeln war das befreiend.

»Dieses Feuer in meinem Herzen kann nicht mal mehr die Finger der Bettler wärmen.«

»Was?«, knurrte Alec.

»Ach, das ist nur so’n Zitat aus den Fragmenten König Lughs.« Ruby zuckte mit den Schultern. »Oder so.«

»Fragmente?« Er hob eine Augenbraue. »So gut wie nichts ist aus der Regentschaft König Lughs bekannt. Schon vergessen?«

Sie legte den Kopf schief, beobachtete ihn, als wäre er ein Gemälde, dessen Aussagekraft sie nicht ganz verstanden hatte, völlig schamlos.

»Na, weißt du’s denn nicht? Die finden in den letzten Jahren immer mehr Brieffetzen, vom Wind getragen. Die sind von ihm, ganz klar. Niemand weiß, wo sie herkommen oder warum sie ausgerechnet jetzt auftauchen. Haben sogar ne Magie-Analyse deswegen durchgezogen und nichts gefunden.«

Im warmen Kegel Alecs Schreibtischlampe waren ihre Haare ein gleißender Schweif aus Glut, das flackernde Licht, das die Wilde Jagd über den Himmel trug.

Das bestätigte Alecs Theorie nur. Für ihn gab es zwei Gründe, aus denen sie hier sein könnte. 1.) Sie war lebensmüde. 2.) Sie war von der Presse. Wobei Letzteres das Erstere keineswegs ausschloss. Verrückt war sie auf jeden Fall. Sie trug einen orangenen Rock, auf den sie Schmetterlinge aufgenäht hatte, und normale Leute ließen sich in sowas nicht erwischen.

»Du willst also einen Geist sehen, ja?«

Wenn Alec von selbst damit anfing, hatte das vorherige Gesprächsthema ihn zutiefst verunsichert. Obwohl es unmöglich sein sollte, gelang es ihm, die Augenbraue ein Stück weiter zu heben, sodass er aussah wie eine besonders wütende Riesenkanadagans.

Ruby war so eingenommen von dieser Entdeckung, dass sie eine Weile brauchte, um seine Frage zu verstehen.

»Hm? Heißt das, du weißt, wo hier welche zu finden sind?« Aufgeregt beugte sie sich nach vorne und fiel fast vom sich weiter drehenden Stuhl.

»Nein«, erwiderte Alec düster. »Wie oft noch? Hier gibt es keine Geister.«

Das dämpfte Rubys gute Laune keineswegs.

»Wenn du das sagst, dann heißt das nur, dass du bis jetzt zu faul warst, nach ihnen zu suchen«, sagte sie mit einem Enthusiasmus, den jeder andere nur schwer mit den Worten »Geist« und »Suche« in Verbindung bringen könnte, am allerwenigsten Alec.

»Was haben sie dir eigentlich in der Schule beigebracht?«, fauchte er.

Es war spät und sein letzter Rest Geduld brauchte sich auf, ein explosives Gemisch.

»Ein Geist ist kein freundlicher Toter, der mal eben schnell durch den Vorhang spaziert kommt, um eine nette Tasse Tee mit dir zu trinken. Ein Geist ist eine verlorene Seele, die eines so grausamen Todes gestorben ist, dass sie ihren Weg in die Samhūn nicht mehr findet, von Rache und Angst und Schmerz getrieben, in diesem einen, grausamen Moment festgehalten, verzweifelt nach Lother suchend. Kannst du dir vorstellen, dass jemand mit dir reden möchte, der nicht wirklich hier ist und doch nicht fort, der nichts fühlen kann, abgesehen von dem, was er zu seinem Tode gefühlt hat, der vollkommen verzweifelt ist?«

Alec hustete. Seine Kehle war trocken. Seit langem hatte er wieder eine große Rede geschwungen und er erstickte fast daran. Es herrschte Stille, weil er nicht mehr sprechen konnte und Ruby den Moment auskosten wollte. Dieser Moment, der ihr versicherte, dass es ihr gelungen war, die Nuss zu knacken oder ihr zumindest einen Riss zuzufügen.

Dieser mickrige Ausbruch war das erste Stück echter Alec Blackwood, auf das sie einen Blick erhascht hatte. Jetzt war Ruby sich sicher, dass Knochenbrechers Anschuldigungen komplett unbegründet waren. 79% aller Geister waren Mordopfer und das Risiko, einen Geist zu erschaffen, würde Alec nicht freiwillig eingehen.5

»Bist du schon mal einem begegnet?« Rubys Frage war eher eine sanfte Feststellung.

Er nickte. »Ja.«

Seine Stimme war matt und er klang, als würde Sandpapier an seiner Kehle reiben.

»Dann musst du mir umso mehr helfen«, sagte Ruby. »Diese verlorenen Seelen, die hier hausen, da muss es doch bestimmt etwas geben, was sie retten kann.«

Sie war so jung und voller Hoffnung und nervig. Alec schloss die Augen und sah Mr Morgens rachsüchtigen Geist in Flammen aufgehen.

»Hier gibt es keine verlorenen Seelen«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Ruby funkelte ihn an. Vielleicht seid ihr genauso unwissend wie Alec und euch war nicht bewusst, dass Menschen funkeln können wie Diamanten oder in diesem Fall Rubine. Nun, es ist eine recht außergewöhnliche Kunst und Ruby beherrschte sie wie eine Meisterin.

Und Alec erkannte, dass er lange verloren hatte. Ihm war der unverzeihliche Fehler unterlaufen, sie zu unterschätzen. Was er für Irrsinn gehalten hatte, war Strategie und er wusste nicht einmal, warum sie hier war – wirklich hier war, denn jetzt durchschaute er die Geschichte mit der Wilden Jagd als einen schlechten Vorwand. Wer hatte sie hereingelassen, diese streunende Katze? Es war unmöglich, ohne ausdrückliche Erlaubnis eines Familienangehörigen oder Freundes in die Rehabilitationsgesellschaft für Matadoren zu gelangen, und ein Besuch durfte nie länger als eine Woche andauern.

Da erinnerte Alec sich wieder daran, wie egal ihm die Angelegenheiten der ehemaligen Helden waren. Dieses Mädchen war ihm egal. Allein, dass Ruby seine Kopfschmerzen verursachte, war von Bedeutung. Solange sie ihm seine Ruhe gewährte, erklärte er sich bereit, auf ihre lausigen Tricks hereinzufallen.

Alec seufzte. »Also gut, würdest du endlich von hier verschwinden, wenn ich dir beweise, dass es in Clive Hall keine Geister gibt?«

Ihr Gesicht hellte sich auf, blendete ihn. Sie hielt den Drehstuhl an. »Aber sicher doch!«

Da war es wieder, dieses unnatürlich breite Lächeln. Alec stöhnte und massierte die feine Narbe an seinem Kinn.

»Was bist du?«, fragte er und Ruby antwortete, obwohl er die Frage weder an sie noch jemanden anders gerichtet hatte.

»Zu einem Viertel Pixie, aber das macht nicht viel. Darum bin ich immun gegen Feenstaub und mit einem unerschöpflichen Optimismus gesegnet. In meinen Papieren steht einfach nur Mensch, ganz schön fies, was?«

Alec sah in ihre Augen und er hasste, was er dort entdeckte. Schon zu oft war er mit diesem Licht vertraut worden, zu oft hatte er gesehen, wie es wegen ihm erlosch. In Ceciel, in Xander und in sich selbst. Dieser unberechenbare Funke Hoffnung.

3 Es funktionierte nicht.

4 Was er nur getan hätte, wenn sie etwas bedrohlicher gewirkt hätte.

5 Sie war einfach, wie ihre Mutter oft sagte, zu optimistisch für diese Welt.

Nervig zu sein ist auch eine Superkraft

»Was haben wir jetzt vor?«, fragte Ruby mit einem Lächeln, dass den ganzen Raum aufhellte.

Alec hielt sich den Kopf. Seine neuste Theorie war, dass sie radioaktive Strahlung abgab und es ihm deswegen vorkam, als wäre eine Atombombe in seinem Gehirn explodiert. Sehnsüchtig sinnierte er über die Stunden verlorenen Schlafes und vergaß dabei, dass er die meiste Zeit wachgelegen hätte, ohne seinen Kopf von all den finsteren Gedanken abzubringen.

»Wenn du nach Geistern suchst, dann am besten an dunklen, abgelegenen Orten.« Was auf so gut wie jeden Teil von Clive Hall zutraf. »Die Meisten waren zu Lebzeiten ganz nette Wesen und wollen niemanden mit ihren Emotionen stören oder sie sind zu gefangen in ihrem Schmerz, um sich zu bewegen.«

Er hob seinen zerknitterten Mantel vom Boden auf. Da unten war es genauso eisig, wie auf den Klippen.

»Der beste Ort in Clive Hall, um dich loszuwer – äh, ich meine, dir zu beweisen, dass es hier nicht spukt, wäre der Keller. Wenn es dort keine Geister gibt, dann gibt es sie nirgendwo.«

Ruby stieß fast an die Decke, indem sie aufsprang. »Es gibt hier einen Keller?«

Jedes normale Geschöpf würde das misstrauisch stimmen, aber hier hatte der Keller seinen Zweck nicht erfüllt. Es machte eher den Anschein, als wäre Ruby diejenige, die versuchen würde, Alec umzubringen.

»Das ist aber ganz schön Klischee, was? Der böse Geist im dunklen Keller.«

Alec schnaubte. »Alles hier ist Klischee.«

Kritisch begutachtete er ihren Rock, ganz in knalligem Orange gehalten, den himmelblauen Pullover, die roten Haare.

»Hier, damit du weniger auffällst.«

Er warf ihr eine graue Mütze zu, die er noch nie in seinem Leben getragen hatte, und hoffte darauf, dass sie sich als versteckte Tarnkappe entpuppen würde.

»Stell dich nicht blöd an, dann wird dich niemand erwischen und ich übernehme keine Verantwortung, wenn du es schaffst dich umbringen zu lassen.«

Ruby nickte brav und zog sich die Mütze über die Ohren, ein krasser Kontrast, der ihre roten Haare nur weiter hervorbrachte. Alec musste dem Drang widerstehen, den Kopf gegen die Wand zu schlagen.

»Los jetzt, bevor der Chihuahua von einem Werwolf sich doch noch zusammenreißt und entdeckt, dass er hier Arbeit zu erledigen hat.«

Mit einem selbstzufriedenen Grinsen schlenderte Ruby durch die Tür, die er für sie aufhielt.

»Das ging aber schnell«, bemerkte sie. »Dafür, dass du so mürrisch tust, war es überraschend einfach, dich zu überzeugen.« Sie ließ ihm keine Zeit zu antworten, sondern stolzierte mit erhobenem Kopf weiter, während sie sich für ihren brillanten Plan lobte.

Alec zwängte sich an ihr vorbei und übernahm die Führung.

»Wer hat dich hierher eingeladen?«, fragte er eisig.

Dennoch schätzte Ruby den Versuch, den sie als Smalltalk deutete. »Oh.«

Sie holte zu ihm auf, obwohl Alec sich sehr bemühte, den Vorteil seiner langen Beine auszunutzen, um vor ihr zu fliehen.

»Oh, das ist eine wirklich lustige Geschichte. Und eine lange noch dazu, nun, ich glaube, ich könnte sie kürzen, aber –.«

»Erzähl einfach«, knurrte Alec.

Auf einer illegalen Mission in den Keller wäre es besser, stillzubleiben, doch da Rubys Schritte im ganzen Gebäude widerhallten, war sowieso alles zu spät und sie konnten sich in Ruhe unterhalten. Alecs Verdacht, dass sie eine Journalistin war, wuchs mit jedem Wort, das sie ausplauderte. Er hatte nicht vor, zu der Titelstory eines dieser langweiligen Klatschblätter verarbeitet werden.

»Also, es war so«, plapperte Ruby drauf los, »nach der Schule wollte ich ein Jahr Work and Travel machen, die Welt erkunden und so, war gerade in Byuo Aey, aber zum Lichterfest wollte ich wieder nach Hause kommen. Und dann hatte ich noch ein bisschen Zeit hinterher und hab mir überlegt, das zu nutzen, um mir unsere wunderschöne Insel ein bisschen genauer anzusehen.«

Ein kleiner Tipp für später: Zu gut ausgearbeitete Geschichten sind ein typisches Merkmal von schlechten Lügen. Um es mit einer weiteren Weisheit von Mr Morgen zu sagen: »Jede Lüge erzählt uns die Wahrheit.« Je länger Ruby redete, desto berechenbarer wurde sie. Zumindest hoffte Alec das.

»Also bin ich los, nur mit meinem Rucksack. Blöde Idee, so kurz nach Ende der Dunkelzeit alleine über das Land zu wandern, wenn die Nächte noch so viel länger sind als die Tage. Der Sturm vor vier Tagen hat mich umgehauen und ich war mitten im Nirgendwo, zum Glück habe ich die Rehabilitationsgesellschaft für Matadoren gefunden. Und obwohl sie keine Fremden aufnehmen, konnten sie mich schlecht wieder in den Sturm werfen, darum durfte ich eine Nacht bleiben. Die Zeit habe ich genutzt, um ein paar Gäste besser kennenzulernen und sie davon zu überzeugen, dass ich gerne noch ein Weilchen hierbleiben würde und schwups – hat Knochenbrecher mich als seinen Besucher anerkannt. Ein echt netter Kerl, auch wenn er manchmal eine seltsame Sichtweise hat. Und was hat dich hier her verschlagen?«

Alecs Kopf brummte. So viele Wörter. Wie konnte jemand nur so lange reden, ohne Luft zu holen? Sicher, dass alles ausgedacht war (niemand fand zufällig an diesen Arsch der Welt), versuchte er ihre Frage zu überhören.

Nicht mit Ruby. Sie fragte erneut und beinahe wäre er mit ihr wie mit jeder Bedrohung umgegangen, die ihm in den Weg kam, und hätte sie bewusstlos geschlagen. Aber nein, das hatte er wie ein zivilisiertes, kompetentes Geschöpf zu regeln. Mit Worten, ohne die Wahrheit zu sagen und ohne zu lügen.

»Dasselbe, wie alle anderen auch«, fauchte er grimmiger, als er es beabsichtigt hatte, und fügte angesichts Rubys nichtssagendem Blick hinzu, »ich habe gewonnen und dann war’s vorbei. Wo sollte ich denn sonst hin?«

Ihr Mund öffnete, schloss sich wieder, ohne dass ein Laut heraus kam. Aber Alec konnte die Ruhe nicht genießen. Die erstickende Leere nahm den Platz in seiner Brust ein, in den sich zuvor die Worte gebohrt hatten, die jetzt wie giftige Gase in der Luft schwebten.

Endlich räusperte Ruby sich. »Ach, scheiß drauf«, war alles, was ihr darauf einfiel.

Er lachte trocken. »Ja, scheiß drauf.«

Eine neue Theorie formte sich in seinem Kopf. Sie war ein Paparazzo6 und sie wollte sich bei ihm einschleimen. Er blieb so abrupt stehen, dass Ruby in ihn hineinstolperte.

»Hey!«, protestierte sie. »Was ist denn jetzt los?«

Er zeigte auf die alte Eisentür, von der bereits die Farbe blätterte, eingerahmt von grauem Gestein. Eindeutig eine Kellertür.

»Da gehts rein.«

Es war ein einfaches Schloss, auf dem sich der Rost ausbreitete, und selbst nach Jahren ohne Übung war es für Alec kein Problem, das zu knacken. Was für eine Enttäuschung.

»Was tust du da?«, fragte Ruby und beugte sich vorsichtig zu ihm hinunter. Sie kicherte. »Du brichst das Schloss auf? Und du machst das auch noch richtig gut! Mann, und du hast all deine kriminelle Energie verschwendet, indem du in ein Erholungsheim an der wunderschönen Küste Tírhains gezogen bist.«

Manchmal kam es Alec selbst surreal vor. Mit ein paar gezielten Handgriffen gab das Schloss nach. Die Tür schwang mit einem Quietschen auf und enthüllte eine pechschwarze Dunkelheit. Keine Lampen erhellten den Gang, keine Fenster ließen das fahle Mondlicht auf den Boden fallen.7 Seit Ewigkeiten war dieser Keller nicht mehr benutzt worden. Und während sich Alec in dieser Schwärze geschmeidig wie eine Katze fortbewegen konnte, musste Ruby auf andere Mittel zurückgreifen, um nicht die Treppe hinunter zu fallen.

»Was soll das?«

Alec hob schützend die Hände vors Gesicht. Das gleißende Weiß zerstörte sein Sichtfeld und sein Herz sprang ihm fast aus der Brust.

Ruby zuckte mit den Schultern. »Wir brauchen doch ein bisschen Licht, um uns da unten zurechtzufinden.«

Sie leuchtete mit der Taschenlampe ihres Handys die schmale Treppe hinunter. Ein neues Modell, bei dem die Lampe, wie bei einem Taschenmesser, an der Seite aufklappte.

»Meinetwegen«, knurrte Alec düster. »Bleib immer einen Schritt hinter mir, tritt nur dahin, wo ich hintrete, und verdammt noch mal, streng dich an, leise zu sein.«

Ein letzter, verzweifelter Versuch, sie loszuwerden, aber Ruby ließ sich nicht einschüchtern.

»Jetzt werde ich gleich einen richtigen Geist sehen«, zwitscherte sie wie einer dieser nervigen Vögel, die 6 Uhr morgens vorm Fenster singen.

Alec ballte seine Hände zu Fäusten und verschwand in der Dunkelheit. Das weiße Licht der Kamera tanzte über die morschen Holzstufen, die sich unendlich in die Tiefe wanden. Die Treppe stöhnte auf, als wäre sie lebendig, obwohl er versuchte, sie nur mit den Zehenspitzen zu berühren. Er zuckte zusammen, dabei hatte er entschieden behauptet, dass sich hier höchstens Spinnen versteckten. Hinter ihm hüpfte Ruby aufgeregt über die Stufen, wodurch der Lichtkegel hin und her schaukelte. Er hätte sie unterschreiben lassen sollen, dass sie freiwillig den Keller betreten hatte. Der Direktor würde ihm das niemals glauben, wenn sie erst mal tot war.

Die Treppe endete in einem Raum, der so vollgestellt war, dass es trotz seiner enormen Größe kaum genug Platz gab sich darin zu bewegen. Ein halb zusammengebrochenes Regal voller Spinnweben versperrte ihnen den Weg. Seit Alec der einzige Bewohner in Clive Hall war, sah der Direktor nicht mehr ein, hier unten zu putzen.

»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Ruby dicht neben Alecs Ohr. »Rufen wir einfach oh zeige dich du böser Geist oder tragen ein paar Formeln der Fómori vor?«