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Egal, ob in den dunklen Londoner Gassen oder auf dem platten Land: Sherlock Holmes hat immer den richtigen Riecher! Bei jedem seiner Fälle gelangt er auf ungewöhnliche Weise zu seiner ganz eigenen Schlussfolgerung - und liegt dabei jedes Mal genau richtig. Die Sammlung enthält 8 seiner berühmtesten Kurzgeschichten, darunter wahre Klassiker wie "Der blaue Karfunkel" oder "Das getupfte Band". Mit einem Vorwort von Jonathan Stroud.
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Seitenzahl: 334
Sir Arthur Conan Doyle
Die außergewöhnlichen Fälle des
Sherlock Holmes
Nach der deutschen Übersetzung von Rudolf Lautenbach unter Heranziehung des Originaltexts neu bearbeitet von Friedrich Stephan
Der Herausgeber
Friedrich Stephan,geboren 1944, ist Lehrer für Englisch und Latein und Lehrerausbilder für Englisch im Ruhestand. Er betreut die von seiner verstorbenen Frau Freya Stephan-Kühn begründete umfangreiche historische Kinderbuchsammlung Stephan-Kühn, in der sich viele deutsche und internationale Kinderbuchklassiker befinden. Für die Reihe der ARENA-Kinderbuchklassiker hat er mehrere englische Texte neu ins Deutsche übersetzt, andere gekürzt und bearbeitet. Darüber hinaus hat er sich lange Jahre im Bundeswettbewerb Fremdsprachen engagiert und ist passionierter Großvater.
1. Auflage 2017 © Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017 Alle Rechte vorbehalten Herausgegeben von Friedrich Stephan Vorwort: Jonathan Stroud Einbandillustration: © Tony Cliff 2015, zuerst erschienen bei Puffin Books Ltd., 2016 ISBN 978-3-401-80732-4
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Inhalt
Vorwort
Das gefleckte Band
Der blaue Karfunkel
Das Reigate-Rätsel
Silberstrahl
Sechsmal Napoleon
Der vermisste Dreiviertel
Haus Rotbuchen
Der Detektiv auf dem Sterbebett
Vorwort
von Jonathan Stroud
Noch nie etwas von Sherlock Holmes gelesen? So geht’s:
Du beginnst im Detektivbüro in der Baker Street 221B. Holmes und sein Freund Watson sitzen am Kamin, in dem die Holzscheite knistern und knacken. Außen wabert dichter Nebel gegen das Fenster. Dann plötzlich – Fußtritte auf der Treppe, jemand hämmert gegen die Tür. Ein Klient stürzt herein, die Augen weit aufgerissen, völlig aufgelöst und er hat eine furchterregende Geschichte zu erzählen …
Und schon ist es um dich geschehen: Du bist von der Geschichte gefangen. Ganz gleich, wie oft du es versuchst, du schaffst es nicht, dich loszureißen.
So war es von Anfang an. Wenn im viktorianischen Zeitalter ein neues Abenteuer von Sherlock Holmes in der Zeitschrift Strand erschien, standen die Leute um den Block herum Schlange, um ein Exemplar zu ergattern und die Geschichte zu verschlingen. Als Arthur Conan Doyle in »Das letzte Problem« dem Leben seines Helden ein Ende setzte, erhob sich auf der ganzen Welt ein Schrei der Empörung. Viele banden sich ein schwarzes Armband als Trauerflor um; Doyle wurde mit Briefen überschwemmt, in denen die Rückkehr von Holmes gefordert wurde. Am Ende gab er nach, ließ seinen Helden wiederauferstehen und wurde zum bestbezahlten Autor der Welt.
Seit dieser Zeit sind Millionen von Menschen seinem Bann verfallen. Ich war neun oder zehn, als ich zum ersten Mal die Gesamtausgabe mit allen Sherlock-Holmes-Geschichten aufschlug. Im Inhaltsverzeichnis fand ich Geschichten wie »Der Vampir von Sussex«, »Der zweite Fleck« oder »Der Detektiv auf dem Sterbebett«. Die musste ich einfach lesen! Und das habe ich, eine nach der anderen: auf langen Autofahrten oder mit der Taschenlampe unter der Bettdecke. Ich hörte erst auf, als ich jede einzelne durchgelesen hatte.
Was machte diese Erzählungen so besonders? Eine Zeit lang dachte ich, es sei dieser Detektivkram. Ich beschloss, so zu werden wie Sherlock Holmes. Ich untersuchte Fußspuren im Schlamm, entzifferte geheime Botschaften, beobachtete Fremde und zog (falsche) Schlüsse über ihren Charakter. Dann nahm ich mir vor, wie Holmes ein Meister der Verkleidung zu werden, und lief mit einem angeklebten Schnurrbart herum, auf dem Kopf einen Schlapphut und unter dem Regenmantel ein Kissen. Zu meinem großen Ärger wurde ich von jedem, dem ich begegnete, erkannt (und ausgelacht). Da wurde mir unmissverständlich klar: Ich würde nie ein richtiger Detektiv werden. Also gab ich mein Vorhaben auf und wandte mich wieder den Büchern zu.
Als ich sie erneut las, erkannte ich, dass es nicht so sehr die Detektivarbeit war, die mich in ihren Bann zog, als vielmehr der Zusammenhang, in den Doyle sie eingebettet hatte. Da war die Atmosphäre im viktorianischen London: die nebligen Straßen, die flackernden Gaslampen, die ratternden Kutschen, die plötzlich aus dem Dunkel der Nacht auftauchten. Da waren die seltsamen Leute, die bei Holmes an die Tür klopften: die verzweifelten Männer, die verletzlichen Frauen, die Herzöge und Minister, die Kaufleute und die kleinen Gauner. Aber das Wichtigste waren die Charaktere Holmes und Watson selbst und die besondere Beziehung zwischen ihnen. Holmes ist ohne Zweifel brillant, intellektuell ist er jedem überlegen, er ist scharfsinnig und hat eine unübertreffliche Beobachtungsgabe. Und doch würde er einem mit diesen Gaben sehr bald auf den Geist gehen, wäre da nicht Watson an seiner Seite. Watson ist vielleicht nicht so klug wie Holmes (vielleicht nicht einmal so klug wie wir), aber er ist treu, tapfer, anständig und mutig – und ein guter Pistolenschütze. Holmes kann einfach nicht ohne ihn auskommen und es ist diese enge Freundschaft, die in uns den Wunsch weckt, die beiden in jeder Geschichte zu begleiten.
Und was das für Geschichten sind! Dieser Sammelband enthält eine Auswahl der besten. Hier wird (unter anderem) der Fall eines auf mysteriöse Weise verschwundenen Rennpferdes gelöst und ein gestohlener Edelstein an einem sehr merkwürdigen Ort wiedergefunden. Vor allem aber mag ich »Das gefleckte Band« mit einer Jungfrau in Nöten, einem Unhold, der Eisenstangen mit bloßen Händen verknotet, einem geheimnisvollen Todesfall und einer langen Nachtwache, in der … Nun, das muss man schon selber lesen. Es ist ein Meisterwerk, das auf vierzig Seiten mehr an Spannung und Nervenkitzel hervorruft, als die meisten Autoren in einen ganzen Roman zu packen vermögen. Und es zeigt überaus deutlich, warum Holmes und Watson für immer leben werden: Denn egal mit welch bizarren Geheimnissen oder dunklen Verbrechen er sich konfrontiert sieht, der große Detektiv ist imstande, »das menschliche Herz zu durchschauen«. Dann zieht er mit Watson an seiner Seite los, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Die Viktorianer waren sich sicher: Das war die Art von Helden, die sie sich wünschten, und es ist auch heute noch die Art von Helden, von der wir alle träumen, jeden Tag.
Übersetzt (und im letzten Absatz leicht an die Auswahl für die deutsche Ausgabe angepasst) von Friedrich Stephan
Das gefleckte Band
Wenn ich die Aufzeichnungen durchgehe, die ich mir in den letzten acht Jahren unserer Zusammenarbeit gemacht habe, um die Methoden meines Freundes Sherlock Holmes zu studieren, so finde ich unter den etwa siebzig Fällen viele, die man als tragisch, einige, die man als komisch, eine ganze Reihe, die man nur als merkwürdig bezeichnen könnte. Kein einziger aber verdient das Prädikat alltäglich. Holmes ließ sich nämlich bei seiner Tätigkeit weit mehr von der Liebe zu seinem Beruf bestimmen als von dem, was sie ihm materiell einbrachte. Daher lehnte er seine Mitwirkung stets ab, wenn die Nachforschungen sich nicht auf einen ungewöhnlichen oder geradezu fantastischen Vorgang richteten. Unter all den verschiedenartigen Fällen kann ich mich jedoch an keinen erinnern, der ebenso viele merkwürdige Züge aufwies wie jener, der mit der in Surrey weithin bekannten Familie der Roylotts of Stoke Moron in Verbindung stand. Die Sache ereignete sich kurz nachdem ich zu Holmes in die Wohnung in der Baker Street Nummer 10 gezogen war. Ich hätte vielleicht schon früher darüber geschrieben, hätte ich nicht versprochen, Stillschweigen darüber zu bewahren, ein Versprechen, von dem mich aber im letzten Monat der bedauerlich frühzeitige Tod der Dame entbunden hat, der ich es gegeben hatte. Vielleicht ist es ganz gut, dass der wahre Sachverhalt jetzt ans Licht kommt, denn wie ich hörte, haben sich über den Tod des Dr. Grimesby Roylott in weiten Kreisen Gerüchte verbreitet, die jene Ereignisse noch grässlicher ausmalten, als sie in Wirklichkeit waren.
Es war an einem Aprilmorgen des Jahres 83, als ich beim Erwachen Holmes vollständig angekleidet an meinem Bett stehen sah. Gewöhnlich stand er spät auf, und da die Uhr auf dem Kaminsims erst ein Viertel nach sieben zeigte, blinzelte ich ihn einigermaßen überrascht, vielleicht sogar etwas ärgerlich an, denn ich ließ mich nicht gerne in meinen Gewohnheiten stören.
»Es tut mir sehr leid, dass ich dich wecken muss, Watson«, sagte er, »aber es geht heute Morgen keinem im Hause besser. Frau Hudson ist zuerst herausgeklopft worden, sie hat mich aufgeweckt und jetzt kommt die Reihe an dich.«
»Was gibt es denn? Brennt es?«
»Nein, eine Klientin ist da. Eine junge Dame, anscheinend in großer Aufregung, die darauf besteht, mich zu sprechen. Sie wartet unten im Empfangszimmer. Wenn sich aber junge Damen in solcher Herrgottsfrühe den Gefahren der Hauptstadt aussetzen und fremde Leute aus dem Schlaf reißen, werden sie wohl etwas sehr Drängendes auf dem Herzen haben. Und wenn es sich als ein wirklich interessanter Fall entpuppte, würdest du diesen doch sicher gern von Anfang an verfolgen. Ich dachte, ich sollte dir dazu auf jeden Fall die Chance geben.«
»Das war sehr nett von dir, mein Lieber, das möchte ich um keinen Preis verpassen.«
Nichts bereitete mir größeres Vergnügen, als Holmes bei den Untersuchungen, die sein Beruf mit sich brachte, Schritt für Schritt zu begleiten. Ich bewunderte es, wenn er mit seinen kühnen Schlussfolgerungen, die wie spontane Eingebungen schienen, aber stets streng logisch abgeleitet waren, Licht in das Dunkel der ihm vorgelegten rätselhaften Fälle brachte. Also kleidete ich mich hastig an und war nach wenigen Minuten so weit, um meinen Freund ins Empfangszimmer unten zu begleiten. Eine schwarz gekleidete, verschleierte Dame saß am Fenster und erhob sich bei unserem Eintritt.
Holmes stellte sich vor, begrüßte sie freundlich und erklärte ihr, indem er auf mich deutete: »Hier ist mein vertrauter Freund und Kollege Dr. Watson, vor dem Sie ebenso frei reden können wie vor mir. – Frau Hudson hat ja Feuer angemacht, wie ich sehe, das war vernünftig von ihr. Bitte, setzen Sie sich nur an den Kamin; ich lasse Ihnen gleich eine Tasse heißen Kaffee bringen, Sie zittern ja ordentlich.«
»Aber nicht vor Kälte«, antwortete die Dame mit leiser Stimme, indem sie der Aufforderung Folge leistete.
»Weshalb denn sonst?«
»Vor Angst, Mr Holmes, vor Schrecken.« Bei diesen Worten schlug sie den Schleier zurück und wir sahen nun, dass sie sich tatsächlich in einem Zustand starker Erregung befand; ihr Gesicht war angstverzerrt und bleich, ihre Augen flackerten vor Furcht, als wäre sie ein Stück Wild auf der Flucht vor den Jägern. Ihren Zügen und ihrer Figur nach musste man sie für dreißigjährig halten, jedoch zeigte ihr Haar bereits Spuren von Grau und es lag etwas Müdes und Abgezehrtes in ihrer ganzen Erscheinung.
Holmes musterte sie mit seinem alles durchdringenden Blick. »Sie müssen keine Angst haben«, sagte er in beruhigendem Tone, indem er sich über sie beugte. »Wir werden gewiss bald alles in Ordnung bringen. Sie sind heute früh mit der Bahn angekommen, wie ich sehe.«
»Woher wissen Sie das?«
»Nun, ich sehe die eine Hälfte der Rückfahrkarte, die Sie in Ihrem linken Handschuh stecken haben. Sie müssen früh aufgebrochen sein und hatten dann bis zur Bahn eine gehörige Strecke in einem zweirädrigen Einspänner auf schlechten Wegen zurückzulegen.«
Mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens starrte die Fremde meinen Freund an.
»Nein, ich bin kein Hellseher«, fuhr Holmes lächelnd fort. »Aber der linke Ärmel Ihrer Jacke ist an nicht weniger als sieben Stellen mit noch ganz nassem Schmutz bespritzt. Kein anderes Fuhrwerk als ein Einspänner wirft Schmutz in dieser Weise auf, besonders, wenn man vorne links neben dem Kutscher sitzt.«
»Das mag sein, wie es will, jedenfalls treffen Sie mit Ihren Schlüssen das Richtige«, versetzte sie. »Ich fuhr vor sechs Uhr daheim fort, brauchte 20 Minuten bis nach Leatherhead und traf mit dem ersten Zuge hier an der Waterloo-Station ein. – Es kann nicht länger so weitergehen, ich halte es nicht mehr aus, ich werde wahnsinnig! Ich habe niemanden, an den ich mich wenden könnte – niemanden; nur ein einziger Mensch nimmt Anteil an mir, aber helfen kann er mir auch nicht. Man hat mir von Ihnen erzählt, Mr Holmes. Eine meiner Bekannten, Frau Farintosh, der Sie einmal in ihrer schrecklichen Bedrängnis Beistand leisteten, hat mir Ihre Adresse gegeben. Ach, meinen Sie nicht, Sie könnten mir vielleicht ebenfalls helfen und die furchtbare Finsternis, die mich umgibt, wenigstens durch einen schwachen Schimmer erhellen? Momentan bin ich allerdings nicht in der Lage, Sie für ihre Dienste zu entlohnen, aber in einem Monat oder spätestens sechs Wochen, wenn ich verheiratet und im Besitz meines Vermögens bin, sollen Sie mich nicht undankbar finden.«
Holmes entnahm seinem Schreibtisch ein kleines Buch mit Aufzeichnungen über frühere Fälle und schlug darin nach.
»Farintosh«, murmelte er, »ach ja, jetzt erinnere ich mich an den Fall. Es handelte sich um ein Opaldiadem. Das war noch vor deiner Zeit, Watson. – Ich kann Ihnen versichern, dass ich mich Ihres Problem mit der gleichen Sorgfalt annehmen werde wie seinerzeit dem Ihrer Freundin. Was das Honorar betrifft, seien sie beruhigt. Meine Tätigkeit selbst ist mir Lohn genug. Es steht Ihnen aber frei, mir meine etwaigen Auslagen zu einer Zeit, die Ihnen genehm ist, zu ersetzen. Und nun bitte ich Sie, uns alles mitzuteilen, was helfen könnte, um uns ein Bild von dem Fall zu machen.«
»Ach«, begann unsere Besucherin, »das Schreckliche an meiner Lage ist gerade, dass meine Befürchtungen so unbestimmter Natur sind und mein Verdacht sich nur auf Kleinigkeiten stützt, die jedem andern vermutlich bedeutungslos erscheinen. Selbst er, von dem ich am ehesten Rat und Hilfe erwarten dürfte, tut alles, was ich ihm darüber erzähle, als Einbildung einer Frau mit überreizten Nerven ab. Er sagt es nicht gerade heraus, allein ich merke es an seinen beschwichtigenden Antworten und ausweichenden Blicken. Aber Sie, Mr Holmes, sollen ja imstande sein wie nur wenige, das menschliche Herz zu durchschauen. Ihr Rat wird mir gewiss einen Weg durch all die Gefahren zeigen, von denen ich jetzt umgeben bin.« Fragend hob sie den Blick zu Holmes.
»Ich bin ganz Ohr«, ermunterte er sie.
»Ich heiße Helen Stoner und wohne zusammen mit meinem Stiefvater an der Westgrenze von Surrey. Er ist der Letzte der Roylotts von Stoke Moran, die eine der ältesten Familien Englands waren.«
Sherlock Holmes nickte. »Der Name ist mir bekannt«, sagte er.
»Die Familie gehörte einst zu den reichsten in ganz England und ihre Besitzungen erstreckten sich bis über die Grenzen von Surrey hinaus bis hin nach Berkshire im Norden und Hampshire im Westen. Im vorigen Jahrhundert jedoch kam der Besitz viermal hintereinander in leichtsinnige Hände, und als sich zu Beginn dieses Jahrhunderts dann auch noch einer der Erben dem Spiel ergab, war der Ruin der Familie endgültig besiegelt. Ein paar Morgen Land und der zweihundert Jahre alte Familiensitz, auf dem aber hohe Hypotheken lasteten, war alles, was übrig blieb. Der vorige Gutsherr harrte noch bis zu seinem Tode dort aus, indem er das schwere Los eines verarmten Edelmannes trug. Sein einziger Sohn dagegen, mein jetziger Stiefvater, sah ein, dass er sich den neuen Verhältnissen anpassen musste. Er erhielt von einem Verwandten ein Darlehen, das ihm ein Medizinstudium ermöglichte. Dann ließ er sich in Kalkutta nieder. Hier konnte er sich aufgrund seiner vorzüglichen Fähigkeiten als Arzt und seiner unbeugsamen Willenskraft eine große, gut gehende Praxis aufbauen. Im Jähzorn über einen Diebstahl in seinem Hause erschlug er jedoch einen eingeborenen Diener und entging nur mit Mühe einem Todesurteil. Er erhielt eine lange Freiheitsstrafe, nach deren Verbüßung er verbittert und enttäuscht nach England zurückkehrte.
Während seines Aufenthalts in Indien heiratete Dr. Roylott meine Mutter, die junge Witwe des Generalmajors Stoner von der Bengalischen Artillerie. Meine Zwillingsschwester Julia und ich waren damals erst zwei Jahre alt. Die Mutter besaß ein beträchtliches Geldvermögen, das nicht weniger als tausend Pfund im Jahr einbrachte. Dieses überließ sie, solange wir bei ihm lebten, vollständig unserem Stiefvater, jedoch mit der Bedingung, im Falle unserer Verheiratung jeder von uns beiden eine gewisse Summe jährlich auszuzahlen. Bald nach unserer Rückkehr nach England kam meine Mutter bei einem Eisenbahnunfall in der Nähe von Crewe ums Leben. Das ist jetzt acht Jahre her. Nun gab Dr. Roylott seine Versuche auf, in London als Arzt zu praktizieren, und zog mit uns in das alte Herrenhaus der Familie in Stoke Moran. Da die Hinterlassenschaft meiner Mutter unsere Bedürfnisse reichlich deckte, hätten wir ein zufriedenes und glückliches Leben führen können.
Aber etwa zu dieser Zeit ging mit unserem Stiefvater eine schreckliche Veränderung vor. Anstatt freundschaftlichen Verkehr mit unseren Nachbarn anzuknüpfen, die anfangs hocherfreut darüber waren, wieder einen Stoke Moran auf dem alten Familiensitz einziehen zu sehen, schloss er sich in sein Haus ein. Wenn er es jemals verließ, geriet er mit jedem, der ihm in den Weg lief, in heftigsten Streit. Ein geradezu krankhafter Jähzorn war überhaupt bei den Männern in dieser Familie erblich und bei meinem Stiefvater war dieser wohl durch den langen Aufenthalt in den Tropen noch verstärkt worden. Die Folge war, dass er in eine Reihe hässlicher Streitigkeiten verwickelt wurde, die ihn zum Schrecken des ganzen Dorfes werden ließen. Alles ergriff bei seinem bloßen Anblick die Flucht, denn er verfügt über gewaltige Körperkräfte und kennt in seiner Wut keine Grenzen.
Vorige Woche erst warf er den Dorfschmied über das Brückengeländer ins Wasser und ich musste alles, was ich an Geld hatte, zusammenkratzen, damit die Angelegenheit nicht wieder vor Gericht gebracht wurde. Mit keinem Menschen hielt er Freundschaft, außer mit herumziehenden Zigeunern. Diesen erlaubte er auf den paar Morgen Brachland, die von all dem Besitztum noch geblieben sind, ihr Lager aufschlagen. Oft kehrte er in ihren Zelten ein, ja er begleitete sie sogar wochenlang auf ihren Wanderzügen. Seine Leidenschaft sind indische Tiere, die er sich aus Kalkutta kommen lässt. Gegenwärtig besitzt er einen Geparden und einen Pavian, die er in seinem Anwesen frei umherlaufen lässt und die den Dorfbewohnern denselben Schrecken einjagen wie ihr Herr selbst.
Nach dieser Schilderung werden Sie mir sicher glauben, dass meine Schwester und ich kein leichtes Leben geführt haben. Niemand wollte bei uns bleiben und lange Zeit mussten wir die ganze Hausarbeit allein verrichten. Obgleich Julia erst dreißig Jahre alt war, als sie starb, hatte sie doch bereits graue Haare wie ich auch.«
»Ihre Schwester ist also gestorben?«
»Ja, vor zwei Jahren, und gerade ihr Tod ist es, über den ich mit Ihnen sprechen will. Bei der Art von Leben, die ich Ihnen gerade geschildert habe, werden Sie verstehen, dass wir wenig Gelegenheit hatten, mit jemandem unseres Standes und unseres Alters zu verkehren. Wir hatten jedoch eine Tante, die unverheiratete Schwester meiner Mutter, Frau Honoria Westphail, die in der Nähe von Harrow wohnt. Die durften wir gelegentlich für kurze Zeit besuchen. Vor zwei Jahren lernte Julia bei einem solchen Besuch über Weihnachten einen pensionierten Major der Marine kennen, mit dem sie sich verlobte. Unser Stiefvater erhob gegen die Verbindung keine Einwendung; doch vierzehn Tage vor der Hochzeit trat das schreckliche Ereignis ein, das mich meiner einzigen Gefährtin beraubte.«
Holmes, der mit geschlossenen Augen in seinen Armstuhl zurückgelehnt, den Kopf im Kissen vergraben, zugehört hatte, schlug nun die Lider ein wenig auf und warf einen Blick auf die Erzählerin.
»Bitte erzählen Sie, so genau sie können, und in allen Einzelheiten, was passiert ist«, sagte er.
»Das wird mir nicht schwerfallen, denn alle Ereignisse dieser entsetzlichen Zeit haben sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. – Das Herrenhaus ist, wie gesagt, sehr alt und gegenwärtig wird neben dem Hauptgebäude in der Mitte, wo sich die Wohnzimmer befinden, nur der eine Flügel bewohnt. Hier befinden sich im Erdgeschoss die Schlafzimmer. Das erste ist das von Dr. Roylott, das zweite war das meiner Schwester, das dritte ist meins. Zwischen den einzelnen Zimmern gibt es keine Verbindung, aber alle drei Türen befinden sich auf demselben Gang. – Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
»Vollkommen.«
»Die Fenster der drei Zimmer öffnen sich zum Park hin. An jenem schrecklichen Abend also hatte sich Dr. Roylott zeitig in sein Schlafzimmer zurückgezogen, obgleich wir wussten, dass er sich noch nicht zur Ruhe begeben hatte, denn meine Schwester fühlte sich durch den Geruch der starken indischen Zigarre belästigt, die er zu rauchen pflegte. Sie kam deshalb in mein Zimmer herüber, um noch eine Zeit lang mit mir über ihre bevorstehende Hochzeit zu plaudern. Es war elf Uhr, als sie mich wieder verließ; an der Tür blieb sie jedoch stehen und schaute noch einmal zurück.
›Sag mir, Helen‹, fragte sie, ›hast du jemals ein Pfeifen vernommen, wenn nachts alles totenstill ist?‹
›Nein, niemals.‹
›Es kann doch wohl nicht sein, dass du nachts im Schlaf pfeifst, oder?‹
›Ganz bestimmt nicht, wie kommst du auf so etwas?‹
›In den letzten Nächten ertönte etwa um drei Uhr morgens ein leiser heller Pfiff. Ich habe einen leichten Schlaf und bin davon aufgewacht. Woher der Laut kam, kann ich nicht sagen – vielleicht aus dem Nebenzimmer, vielleicht auch vom Park her. Ich wollte dich nur fragen, ob du es auch gehört hast.‹
›Nein, das hab ich nicht. Das müssen diese schrecklichen Zigeuner im Park gewesen sein.‹
›Höchstwahrscheinlich; aber es wundert mich doch, dass du es nicht auch gehört hast, wenn es wirklich vom Park herkam.‹
›Ich schlafe eben fester als du.‹
›Nun ja, es ist ja ohnehin nicht von Bedeutung‹, sagte sie lächelnd und ging. Unmittelbar darauf hörte ich, wie sich der Schlüssel im Schloss ihrer Schlafzimmertür drehte.«
»Haben Sie sich denn nachts regelmäßig eingeschlossen?«, fragte Holmes.
»Immer.«
»Warum das?«
»Ich glaube, ich habe bereits erwähnt, dass unser Stiefvater einen Geparden und einen Pavian hielt; wir fühlten uns deshalb nicht sicher, wenn unsere Türen nicht verschlossen waren.«
»Verständlich. Aber erzählen Sie nur weiter!«
»Ich konnte in jener Nacht keinen Schlaf finden. Ein unbestimmtes Vorgefühl drohenden Unheils bedrückte mich. Sie erinnern sich, dass meine Schwester und ich Zwillinge waren, und Sie wissen sicher auch, wie eng die Bande zwischen zwei Seelen sind, die sich so nahestehen. Es war eine unheimliche Nacht. Draußen heulte der Wind und der Regen schlug klatschend gegen die Läden. Plötzlich ertönte mitten durch das Tosen des Sturmes ein wilder Angstschrei. Ich erkannte die Stimme meiner Schwester. Rasch sprang ich aus dem Bett und stürzte auf den Korridor hinaus. Während ich meine Tür öffnete, war mir, als hörte ich ein leises Pfeifen, wie meine Schwester es beschrieben hatte, und wenige Augenblicke darauf ein klirrendes Geräusch wie vom Fall eines schweren metallenen Gegenstandes. Wie ich durch den Gang rannte, wurde die Zimmertür meiner Schwester geöffnet und bewegte sich langsam in ihren Angeln. Starr vor Angst wartete ich auf den Anblick, der sich mir bieten würde. Da sah ich beim Schein der Flurlampe meine Schwester unter der Tür erscheinen; schreckensbleich, die Hände Hilfe suchend ausgestreckt, schwankte sie hin und her, als wäre sie berauscht. Ich eilte auf sie zu und schlang die Arme um sie, aber gerade in diesem Augenblick versagten ihr die Knie. Sie stürzte zu Boden, wand und krümmte sich wie in furchtbaren Schmerzen und ihre Glieder zogen sich krampfhaft zuckend zusammen. Ich meinte zuerst, sie habe mich nicht erkannt, aber als ich mich über sie beugte, stieß sie plötzlich mit einer Stimme, die ich nie vergessen werde, die abgebrochenen, undeutlichen Worte hervor: ›Oh, mein Gott! Helen! … Band! … gefleckt!‹ Sie machte den Versuch, noch etwas zu sagen, wobei sie mit dem Zeigefinger in der Luft in Richtung Schlafzimmer des Doktors deutete, als ein neuer grässlicher Krampfanfall ihr die Worte im Munde erstickte. Ich war gerade dabei, diesen zu Hilfe zu rufen, da kam er mir bereits im Schlafrock entgegengeeilt. Als er meine Schwester erreichte, hatte sie schon das Bewusstsein verloren. Er flößte ihr noch Cognak ein und ließ auch ärztliche Hilfe aus dem Dorfe herbeiholen, aber es nützte alles nichts mehr, sie wurde immer schwächer und starb, ohne dass sie noch einmal zu sich gekommen wäre. Und das war das schreckliche Ende meiner geliebten Schwester.«
»Einen Augenblick!«, unterbrach sie Holmes. »Haben Sie das Pfeifen und das metallische Geräusch ganz bestimmt wahrgenommen? Könnten Sie darauf schwören?«
»Genau das hat mich auch der Leichenbeschauer der Grafschaft bei der Untersuchung der Todesursache gefragt. Ich bin zwar ziemlich überzeugt, dass ich beides gehört habe, aber ich kann mich natürlich auch getäuscht haben. Bei dem tosenden Sturm in der fraglichen Nacht krachte das alte Haus ja in allen Fugen.«
»War ihre Schwester angekleidet?«
»Nein, sie trug nur ihr Nachtgewand. In der rechten Hand hielt sie noch ein herabgebranntes Zündholz und in der linken eine Zündholzschachtel.«
»Sie hat also noch Licht gemacht und sich umgeschaut, als das Geräusch entstand. Das ist von Wichtigkeit. Und zu welchem Ergebnis gelangte der Leichenbeschauer?«
»Da Dr. Roylott ja für sein verdächtiges Verhalten in der ganzen Grafschaft bekannt war, untersuchte der Richter alles mit großer Sorgfalt. Er war jedoch nicht imstande, eine bestimmte Todesursache zu entdecken. Aus meinen Mitteilungen ging hervor, dass die Tür von innen verschlossen gewesen war, und die Fenster waren durch altmodische Läden mit breiten Eisenstäben verrammelt, die jede Nacht vorgelegt wurden. Auch die Wände und der Fußboden wurden untersucht, aber nirgends wurde ein Anhaltspunkt gefunden. Der Kamin ist zwar recht groß, aber mit vier starken Eisenstäben vergittert. Meine Schwester war also zweifellos ganz allein, als ihr Geschick sie ereilte. Auch von einer Einwirkung äußerer Gewalt war keine Spur an ihr zu entdecken.«
»Und Gift – wie steht es damit?«
»Die Leiche wurde von ärztlicher Seite daraufhin untersucht. Es ließ sich nichts dergleichen feststellen.«
»Und was meinen Sie, woran die Arme starb?«
»Ich glaube an einem Nervenzusammenbruch infolge eines unsäglichen Schreckens, obgleich ich keine Ahnung habe, was diesen hervorgerufen hat.«
»Hielten sich zu jener Zeit Zigeuner auf dem Gelände auf?«
»Ja, es sind fast immer einige da.«
»Und was glauben Sie, was Ihre Schwester mit ›Band‹ und ›gefleckt‹ meinte?«
»Bei dem Zustand, in dem sie sich befand, weiß ich gar nicht, ob sie damit überhaupt etwas meinte. Dann aber wieder kommt mir der Gedanke, sie hätte vielleicht nicht ›Band‹, sondern ›Bande‹ gesagt und sich damit auf die Zigeuner im Park und mit ›gefleckt‹ auf die bunten Kopftücher bezogen, die viele von diesen tragen.«
Holmes schüttelte den Kopf, als sei er ganz und gar nicht befriedigt.
»Wir tappen noch ganz im Dunkeln«, meinte er, »aber bitte, erzählen Sie nun weiter.«
»Zwei Jahre sind seitdem vergangen und mein Leben wurde einsamer denn je. Vor einem Monat jedoch hat ein lieber langjähriger Bekannter um meine Hand angehalten. Er heißt Armitage – Percy Armitage –, zweiter Sohn von Mr Armitage aus Crane Water bei Reading. Mein Stiefvater hat keine Einwände. Daher wollen wir noch in diesem Frühjahr heiraten. Seit zwei Tagen werden an dem westlichen Flügel unseres Wohnhauses Ausbesserungen vorgenommen. Dabei wurde eine Wand meines Schlafzimmers durchbrochen. Ich musste deshalb in das Zimmer, in dem meine Schwester starb, umziehen und in ihrem Bett schlafen. Stellen Sie sich nun meinen wahnsinnigen Schrecken vor, als ich in der letzten Nacht plötzlich ebenfalls das leise Pfeifen vernahm, das Vorbote ihres Todes war. Ich sprang aus dem Bett und zündete die Lampe an, vermochte aber nichts Beunruhigendes im Zimmer zu entdecken. Zu aufgeregt, um wieder einschlafen zu können, kleidete ich mich an und schlich mich, sobald es dämmerte, aus dem Hause, ließ mir in dem gegenüberliegenden Gasthaus ›Zur Krone‹ einen Wagen anspannen und fuhr nach Leatherhead und von da mit dem Morgenzug weiter nach London, um Sie aufzusuchen und um Ihren Rat zu bitten.«
»Das war das Vernünftigste, was Sie tun konnten«, bestätigte Holmes. »Aber haben Sie mir auch alles gesagt?«
»Ja, alles.«
»Nein, das haben sie nicht, Miss Stoner. Sie schonen Ihren Stiefvater.«
»Warum? Was wollen Sie damit sagen?«
Statt einer Antwort schlug Holmes die Rüsche über dem rechten Handgelenk der Erzählerin zurück.
Fünf kleine blaue Male, sichtlich von fünf Fingern herrührend, zeichneten sich auf ihrem Arm ab.
»Sie sind misshandelt worden«, sagte Holmes.
Tief errötend bedeckte sie die Stelle wieder. »Er ist ein rauer Mann«, sagte sie. »Vielleicht weiß er selbst kaum, wie stark er ist.«
Ein langes Schweigen folgte. Holmes blickte, das Kinn in die Hand stützend, in das prasselnde Kaminfeuer. »Eine höchst rätselhafte Sache«, sagte er zuletzt. »Ich hätte noch tausenderlei Fragen, ehe ich mir darüber im Klaren bin, welchen Weg wir einschlagen müssen. Wenn wir heute noch nach Stoke Moran fahren, könnten wir dann die Räumlichkeiten ohne Wissen Ihres Stiefvaters besichtigen?«
»Er hat zufällig erwähnt, dass er heute in einer sehr wichtigen Angelegenheit hier nach London fahren werde. Vermutlich wird er den ganzen Tag fort sein und dann wären Sie völlig ungestört. Wir haben zwar zurzeit eine Haushälterin, aber die ist alt und einfältig und ich könnte sie leicht eine Weile ablenken.«
»Ausgezeichnet. Du hast doch nichts gegen diesen Ausflug, Watson?«
»Nicht das Geringste.«
»Dann werden wir uns also beide im Laufe des Tages einfinden. Und was tun Sie jetzt, Miss Stoner?«
»Ich möchte gerne noch ein paar Sachen erledigen, wo ich gerade hier bin. Doch will ich mit dem Zwölfuhrzug zurückfahren, sodass Sie mich rechtzeitig zu Hause antreffen werden.«
»Sie dürfen uns bald nach Mittag erwarten. Ich habe selbst zuerst noch einige Angelegenheiten zu erledigen. Wollen Sie nicht noch bleiben und etwas frühstücken?«
»Nein, ich muss gehen. Es ist mir schon leichter ums Herz, seit ich Ihnen anvertraut habe, was mich bedrückt. Auf Wiedersehen also, bis heute Nachmittag.« Sie zog den schwarzen Schleier wieder über ihr Gesicht und verließ das Zimmer.
»Nun, was hältst du von der Sache, Watson?«, fragte Holmes, sich in seinen Stuhl zurücklehnend.
»Die Geschichte scheint mir dunkel und rätselhaft.«
»Sogar sehr dunkel und sehr rätselhaft.«
»Und doch, wenn tatsächlich Fußboden und Wände ganz in Ordnung sind und durch Tür, Fenster und Kamin nichts hereinkommen konnte, muss die Schwester zur Zeit ihres rätselhaften Todes zweifellos allein gewesen sein.«
»Wie erklärst du dir dann aber das nächtliche Pfeifen und die eigentümliche Äußerung der Sterbenden?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Zähl einmal alles zusammen: dieses nächtliche Pfeifen, die Anwesenheit einer Zigeunerbande, die mit dem alten Doktor auf vertrautem Fuß stand, die Tatsache, dass dieser offenbar das größte Interesse daran hatte, eine Heirat seiner Stieftochter zu verhindern, die mögliche Andeutung der Sterbenden auf eine Bande und dann auch noch an den metallenen Klang, den Miss Helen Stoner gehört hat und der sehr wohl von der Wiederbefestigung der Vorlegestange an einem Fensterladen herrühren könnte. Scheint es nicht, als hätten wir allen Grund, hieraus eine Lösung des Rätsels abzuleiten?«
»Aber was sollen denn die Zigeuner getan haben?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Also da ließe sich doch so manches einwenden.«
»Das sehe ich auch so. Gerade deswegen begeben wir uns heute nach Stoke Moran. Ich muss mich überzeugen, ob die Einwendungen stichhaltig sind oder sich widerlegen lassen. – Aber was zum Teufel ist denn hier los?«, stieß er plötzlich aus.
Mit einem Mal war nämlich die Zimmertür aufgeflogen und eine gewaltige Männergestalt füllte den Türrahmen fast völlig aus. In seiner sonderbaren Bekleidung mit schwarzem Zylinder, Frack und Gamaschen und Reitpeitsche, die er durch die Luft sausen ließ, sah er halb wie Geschäftsmann, halb wie ein Gutsverwalter aus. Auf seinem breiten, mit zahllosen Runzeln übersäten, sonnenverbrannten Gesicht spiegelten sich alle schlechten Leidenschaften. Er wandte den Blick bald mir, bald meinem Freunde zu und dabei gaben ihm seine tief liegenden, gelb unterlaufenen Augen und die weit vorstehende schmale, fleischlose Nase das Aussehen eines grimmigen alten Raubvogels.
»Wer von euch beiden ist Holmes?«, blaffte er.
»Das bin ich, Sir. Aber ich hatte noch nicht das Vergnügen …«, antwortete mein Freund ruhig.
»Ich bin Dr. Grimesby Roylott von Stoke Moran.«
»Nehmen Sie bitte Platz, Herr Doktor«, sagte Holmes verbindlich.
»Fällt mir nicht ein. Meine Stieftochter ist da gewesen. Ich bin ihr nachgegangen. Was hat sie Ihnen erzählt?«
»Es ist noch etwas kalt für die Jahreszeit!«, gab Holmes zur Antwort.
»Was sie Ihnen gesagt hat, will ich wissen!«, schrie der andere wütend.
»Trotzdem soll sich, wie ich höre, die Krokusblüte ganz gut anlassen«, fuhr Holmes unerschütterlich fort.
»Versuchen Sie nur ja nicht, mich abzulenken!«, rief unser Besucher, machte einen Schritt nach vorn und schwang seine Reitpeitsche. »Ich kenne Sie, Schurke. Habe schon von Ihnen gehört. Sie sind Holmes, der Schnüffler!«
Mein Freund lächelte.
»Holmes, der Wichtigtuer!«
Sein Gesicht erheiterte sich immer mehr.
»Holmes, der Für-Scotland-Yard-seine-Nase-in-alles-Stecker!«
Jetzt lachte Holmes hell auf. »Sie sind ja äußerst witzig«, sagte er. »Wenn Sie hinausgehen, machen Sie die Tür zu, es zieht ganz spürbar.«
»Ich gehe, aber erst, wenn ich gesagt habe, was ich zu sagen habe. Lassen Sie sich nur nicht einfallen, Ihre Nase in meine Angelegenheiten zu stecken. Meine Tochter war da – ich weiß es, ich bin ihr nachgegangen! Ich rate keinem, mir in die Quere zu kommen! Da, sehen Sie her!« Damit trat er rasch auf den Kamin zu, nahm den Schürhaken und bog ihn mit seinen mächtigen braunen Händen vollständig krumm.
»Sehen Sie nur zu, dass Sie mir nicht unter die Finger kommen!«, schrie er Holmes noch zu, warf den verbogenen Schürhaken wieder in den Kamin und schritt hinaus.
»Na, das ist ja ein recht liebenswerter Bursche«, meinte Holmes lachend. »Ich bin zwar nicht ganz so massig wie er, aber wenn er noch einen Augenblick dageblieben wäre, hätte ich ihm zeigen können, dass meine Finger an Kraft den seinen nicht viel nachstehen.« Dabei nahm er den stählernen Schürhaken und bog ihn mit einem Ruck wieder gerade.
»Stell dir nur vor, besitzt er doch die Unverschämtheit, mich mit Scotland Yard in Verbindung zu bringen. Aber dieser Zwischenfall macht unser Vorhaben nur noch reizvoller. Ich hoffe bloß, dass unsere kleine Freundin es nicht büßen muss, dass er ihrer Spur folgen konnte. – Aber nun wollen wir frühstücken, Watson, und dann will ich mich zum Nachlassregister begeben, um einiges in Erfahrung zu bringen, was uns in dieser Sache vielleicht von Nutzen sein könnte.«
Es war ungefähr ein Uhr, als Holmes von seinem Ausgang zurückkam. Er hatte ein Blatt Papier in der Hand, das ganz mit Notizen und Zeichnungen bedeckt war.
»Ich habe mir das Testament der Frau Roylott zeigen lassen«, sagte er. »Um genau festzustellen, was genau ihr Wille war, musste ich den gegenwärtigen Wert der Anlagen feststellen, die sie vererbt hat. Der Gesamtertrag, der zur Zeit ihres Todes fast elfhundert Pfund im Jahr betrug, beläuft sich jetzt infolge des Rückgangs der Agrarwerte höchstens noch auf siebenhundertfünfzig Pfund. Damit hätte jede der Töchter im Falle einer Eheschließung eine Rente von zweihundertfünfzig Pfund beanspruchen können. Es liegt damit auf der Hand, dass für diese Perle von Mensch dann nur ein kümmerlicher Rest geblieben wäre, wenn beide Töchter sich verheiratet hätten und schon die Heirat einer Tochter für ihn mit einer ganz empfindlichen Einbuße verbunden gewesen wäre. Meine Arbeit heute Morgen war also nicht vergebens, habe ich doch jetzt den Beweis in Händen, dass er ein ganz starkes Motiv dafür hat, alles zu verhindern, was in Richtung Heirat seiner Stieftöchter ging oder geht. Und jetzt, mein lieber Watson, gilt es, keine Zeit mehr zu verlieren, zumal der Kerl Wind davon bekommen hat, dass wir uns mit seinen Angelegenheiten beschäftigen. Wenn du also bereit bist, wollen wir uns eine Droschke zur Waterloo Station bestellen. Ach ja, du hast doch noch deinen Eley No. 2? Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du ihn einstecktest. So ein Revolver ist ein vorzügliches Argument gegenüber Herrschaften, die stählerne Schürhaken krumm biegen. Wenn wir dann noch Kamm und Zahnbürste mitnehmen, so denke ich, dass wir alles haben, was wir brauchen.«
Am Bahnhof hatten wir das Glück, sofort einen Zug nach Leatherhead zu bekommen; dort nahmen wir einen Wagen, mit dem wir vier oder fünf Meilen weit durch die hübschen Sträßchen in Surrey fuhren. Es war ein herrlicher Tag, klarer Sonnenschein und Schäfchenwolken am Himmel. Die Bäume und Hecken am Wege erglänzten im ersten Grün und die Luft war erfüllt vom erfrischenden Geruch des feuchten Erdreichs. Ich zumindest empfand eindrücklich den seltsamen Gegensatz zwischen der lieblichen Verheißung auf Frühling und der unheimlichen Aufgabe, die auf uns wartete. Holmes saß vorne im Wagen, den Hut ins Gesicht gezogen, mit untergeschlagenen Armen und gesenktem Haupte, tief in Gedanken. Plötzlich fuhr er auf, klopfte mir auf die Schulter und deutete auf etwas jenseits der Weiden am Wegesrand. »Sieh dorthin!«, rief er.
Ich sah einen sanften, dichten bewaldeten Abhang. Oben aus den Bäumen ragte der altersgraue Dachfirst eines Herrenhauses hoch hervor.
»Stoke Moran?«, fragte Holmes.
»Ja, Sir, das ist Dr. Grimesby Roylotts Haus«, erwiderte der Kutscher.
»Da, wo die Umbauarbeiten im Gang sind, da wollen wir hin«, bemerkte Holmes.
»Dort drüben liegt das Dorf«, fuhr der Mann fort, indem er auf die Dächer deutete, die in einiger Entfernung zur Linken sichtbar wurden; »aber wenn Sie zu Roylotts Hause wollen, sind Sie früher dort, wenn Sie hier aussteigen. Die kleine Bank hilft ihnen, den Zaun zu übersteigen, und nehmen Sie den Fußweg über die Felder.«
»Die Dame ist Miss Stoner, wie mir scheint«, sagte Holmes und hielt die Hand über die Augen. »Ja, ich glaube, es wird das Einfachste sein, wenn wir Ihrem Rat folgen.«
Wir stiegen aus und bezahlten den Kutscher. Der Wagen wendete und ratterte auf der schlechten Straße zurück nach Leatherhead.
»Ich hielt es für zweckmäßig«, meinte Holmes, während wir über den Zaun stiegen, »den Mann glauben zu lassen, wir seien wegen der Bauarbeit oder zu irgendeinem andern geschäftlichen Zweck hergekommen. Das beugt vielleicht unnützem Gerede vor. – Guten Tag, Miss Stoner, Sie sehen, wir haben Wort gehalten.«
Mit dem Ausdruck deutlich sichtbarer Freude kam unsere Klientin von heute Morgen uns entgegengelaufen. »Ich habe Sie so sehnlich erwartet!«, rief sie und drückte uns warm die Hand. »Es hat sich alles wunderbar gefügt. Dr. Roylott ist unterwegs in London und wird schwerlich vor heute Abend zurückkommen.«
»Wir hatten unterdessen das Vergnügen, seine Bekanntschaft zu machen«, entgegnete Holmes und schilderte ihr kurz, was wir mit ihm erlebt hatten.
Sie wurde kreidebleich, als sie dies hörte. »Er ist mir also nachgegangen?«, fragte sie fassungslos.
»So scheint es.«
»Er ist so unberechenbar und gerissen, man ist eigentlich nie sicher vor ihm. Was wird er wohl sagen, wenn er nach Hause kommt?«
»Er ist es, der auf der Hut sein muss. Möglicherweise wird er feststellen, dass ihm jemand auf der Spur ist, der noch unberechenbarer und gerissener ist als er selbst. Auf jeden Fall müssen Sie sich heute Nacht vor ihm einschließen. Wird er gewalttätig, so bringen wir Sie zu Ihrer Tante nach Harrow. Jetzt müssen wir aber unsere Zeit nach besten Kräften ausnützen, also führen Sie uns bitte gleich in die Zimmer, die wir zu besichtigen haben.«
Das Gebäude mit seinen grauen, moosbewachsenen Quadersteinen bestand aus einem hohen Mittelbau, an den sich rechts und links wie die Zangen eines Krebses je ein leicht gerundeter Seitenflügel anschloss. Am linken Flügel waren die zerbrochenen Fenster mit Brettern vernagelt und das Dach teilweise eingestürzt – ein Bild des Verfalls. Der Mittelbau befand sich in etwas besserem Zustand, während der rechte Flügel einen verhältnismäßig neuen Eindruck machte. Die Vorhänge an den Fenstern und der blaue Rauch, der sich über den Schornsteinen kräuselte, zeigten an, dass hier die Familie wohnte. An der Außenwand war ein Gerüst errichtet und das Mauerwerk durchbrochen, wiewohl momentan weit und breit nichts von Bauarbeitern zu sehen war. Holmes ging langsam auf dem schlecht gepflegten Rasen im Park vor den Fenstern auf und ab und untersuchte diese aufs Genaueste von außen.
»Dieses Fenster gehört wohl zu Ihrem früheren Schlafzimmer, Miss Stoner, das mittlere zu dem Ihrer Schwester und das letzte Zimmer, das an den Mittelbau grenzt, ist Dr. Roylotts Schlafzimmer?«
»Ganz richtig. Aber gegenwärtig schlafe ich in dem mittleren.«
»Für die Zeit der Bauarbeiten, nehme ich an. Allerdings kommt es mir nicht gerade vor, als ob hier an der Außenwand eine Ausbesserung dringend nötig gewesen wäre.«
»Stimmt genau. Ich glaube, dass das nur ein Vorwand war, um mich aus meinem Zimmer zu vertreiben.«
»Ja, das bringt einen zum Nachdenken. Und an der anderen Seite des schmalen Flügels befindet sich wohl der Korridor, von dem aus man in diese drei Zimmer gelangt. Der hat natürlich auch Fenster.«
»Ja, aber nur so kleine, dass kein Mensch dadurch eindringen könnte.«
»Da Sie ja nachts abschlossen, war ihr Zimmer und das ihrer Schwester ja ohnehin von der Flurseite her unzugänglich. Wären Sie jetzt einmal so freundlich, in Ihr Zimmer zu gehen und die Läden zu schließen?«
Das tat Miss Stoner. Nachdem die Läden verschlossen waren, versuchte Holmes auf jede mögliche Weise erfolglos, sie von außen zu öffnen. Nirgends konnte er den geringsten Spalt entdecken, in dem sich etwa ein Messer hätte ansetzen lassen, um die Stange anzuheben, mit denen sie verriegelt waren. Dann untersuchte er mit der Lupe auch die Angeln, doch die waren aus starkem Eisen und saßen fest im Rahmen. »Hm«, meinte er und rieb sich verlegen das Kinn, »meine Theorie scheint sich nicht zu bewahrheiten. Hier konnte kein Mensch hereinkommen, wenn die Läden geschlossen waren. Nun, wir werden ja sehen, ob die innere Besichtigung vielleicht Licht in die Sache bringt.«