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Die Menschen ziehen nach New York auf der Suche nach Magie, und nichts kann sie davon überzeugen, dass es die nicht gibt. Charles Thomas Tester muss um das Essen auf dem Tisch kämpfen und hält sich mit Aufträgen von Harlem bis Red Hook über Wasser. Er weiß, welche Wirkung ein Anzug haben kann, dass ein Gitarrenkoffer unsichtbar macht und welcher Fluch auf seiner Haut geschrieben steht – ein Fluch, der die Aufmerksamkeit reicher Weißer und ihrer Polizisten auf sich zieht. Als er einer alten Zauberin im Herzen von Queens ein okkultes Buch liefert, stößt Tom die Tür zu einer unergründlichen Dimension der Magie auf und erregt die Aufmerksamkeit uralter Wesen, die man besser hätte ruhen lassen. Ein Sturm, der die ganze Welt verschlingen könnte, braut sich über Brooklyn zusammen. Kann Black Tom lange genug überleben, um zu sehen, wie er losbricht? Gewinner des Shirley Jackson Award, des This is Horror Award und des British Fantasy Award Eines der bester Bücher von NPR im Jahr 2016 und Finalist für den Hugo, Nebula, Locus, World Fantasy und Bram Stoker Award. People Magazine: »Geniale Neuinterpretation eines H. P. Lovecraft-Klassikers.« Alle fünf Bände der 24er-Ausgabe von Cemetery Dance Germany SELECT sind von Vincent Chong illustriert, haben illustrierte Vor- und Nachsatzpapiere sowie 3 Innenillustrationen. HINWEIS Gesamtausgabe & Farbschnitt: Die fünf Bände von Cemetery Dance Germany SELECT '24 - LOVECRAFTIAN VIBES sind ebenfalls als Gesamtausgabe im Sammlerschuber erhältlich. Die Hardcover der ersten Auflage der Gesamtausgabe werden einen digitalen Farbschnitt erhalten. Ein bestehendes CDG-SELECT-Abo (direkt beim Verlag) zählt ebenfalls in Bezug auf die erste Auflage der Gesamtausgabe mit Farbschnitt.
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Seitenzahl: 144
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von Victor LaValle
Illustriert von
Vincent Chong
Aus dem Amerikanischen von
Frauke Meier
Grimma
Buchheim Verlag
2024
Deutsche Erstausgabe
ISBN: 978-3-946330-41-7
ISBN E-Book: 978-3-946330-42-4
ISBN Schuberausgabe: 978-3-946330-45-5
© 2024 Buchheim Verlag, Olaf Buchheim, Grimma
Alle Rechte vorbehalten
Cover & Illustrationen: Vincent Chong
Lektorat: Dr. Frank Weinreich
Satz im Verlag
www.buchheim-verlag.de
www.cemeterydancegermany.com
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
THE BALLAD OF BLACK TOM
Copyright © 2016 by Victor LaValle
published in agreement with the author, c/o The Marsh Agency Ltd., London & Watkins/Loomis Agency, Inc New York.
DieBallade
von
BlackTom
Für H. P. Lovecraft, mit all meinen ambivalenten Gefühlen
TEIL 1 TOMMY TESTER
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TEIL 2 MALONE
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AUTOR
ILLUSTRATOR
Menschen, die nach New York ziehen, begehen immer den gleichen Fehler: Sie können die Stadt nicht sehen. Das trifft auf Manhattan zu, aber auch auf die Außenbezirke, sei es Flushing Meadows in Queens oder Red Hook in Brooklyn. Sie kommen auf der Suche nach der Magie, sei sie nun böse oder gut, und nichts kann sie überzeugen, dass es die gar nicht gibt. Allerdings ist das gar nicht so übel. Einige New Yorker haben gelernt, diesen Denkfehler zu nutzen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Charles Thomas Tester beispielsweise.
Der wichtigste Morgen fing mit einem Ausflug an, der in Charles’ Wohnung in Harlem begann. Er war angeheuert worden, eine Lieferung zu einem Haus draußen in Queens zu schaffen. Sein Zuhause teilte er sich mit seinem dahinsiechenden Vater Otis, einem Mann, der bereits vor sich hin starb, seit seine Frau nach einundzwanzig Ehejahren verschieden war. Sie hatten ein Kind bekommen, Charles Thomas, und obwohl er jetzt zwanzig war und damit exakt im richtigen Alter, um sein eigenes Leben zu führen, spielte er weiterhin die Rolle des pflichtbewussten Sohns. Charles arbeitete, um für seinen sterbenden Vater zu sorgen. Er legte sich ins Zeug, um Essen und Obdach zu bezahlen und von Zeit zu Zeit ein wenig Geld auf eine Zahl zu setzen. Gott wusste, dass er mehr nicht zusammenbekam.
Kurz nach acht Uhr morgens verließ er die Wohnung in einem grauen Flanellanzug; die Hosenbeine waren umgeschlagen und trotzdem abgestoßen, die Ärmel hingegen auffallend kurz. Guter Stoff, aber ausgefranst. Was Charles ein gewisses Erscheinungsbild verlieh. Er sah aus wie ein Gentleman ohne das Bankkonto eines Gentlemans. Er wählte die braunen Budapester aus Leder mit den ramponierten Zehenkappen und dazu eine dunkelbraune Schirmmütze anstelle eines Fedora. Der Mützenschirm verriet, wie alt und abgetragen das Stück war, doch auch das kam seinem Zweck entgegen. Als Letztes schnappte er sich den Gitarrenkoffer, ohne den sein Ensemble nicht vollständig gewesen wäre. Die Gitarre selbst ließ er zu Hause bei seinem bettlägerigen Vater. In dem Koffer lag nur ein gelbes Büchlein, nicht viel größer als ein Kartenspiel.
Als Charles Thomas Tester die Wohnung an der West 144th Street verließ, hörte er seinen Vater im hinteren Schlafzimmer die Saiten zupfen. Der alte Mann konnte einen halben Tag damit zubringen, mit dem Instrument und seiner Stimme das Radio an seinem Bett zu begleiten. Charles rechnete damit, noch vor Mittag zurück zu sein – mit leerem Gitarrenkoffer und gut gefüllter Brieftasche.
»Who’s that writin’«, sang sein Vater mit heiserer, aber dadurch umso reizvollerer Stimme. »I said who’s that writin’?«
Beim Gehen antwortete Charles mit der letzten Zeile des Chors: »John the Revelator«, peinlich berührt von seiner Stimme, die im Vergleich zu der seines Dads so gar nicht melodisch klang.
In der Wohnung hieß Charles Thomas Tester schlicht Charles, aber auf der Straße kannte ihn jeder als Tommy. Tommy Tester, der stets einen Gitarrenkoffer dabeihatte. Das lag jedoch nicht daran, dass er Musiker werden wollte; tatsächlich konnte er sich kaum ein paar Songs merken und seine Singstimme ließ sich – freundlich ausgedrückt – höchstens als unstet beschreiben. Sein Vater, der seinen Lebensunterhalt als Maurer verdient hatte, und seine Mutter, die ihr ganzes Leben lang als Hausbedienstete arbeitete, hatten beide die Musik geliebt. Dad hatte Gitarre gespielt, und Mutter konnte wahrhaft auf den Klaviertasten lustwandeln. Da war es nur natürlich, dass Tommy Tester gern aufgetreten wäre. Tragisch war nur, dass er kein Talent hatte. Er sah sich selbst als Entertainer. Es gab andere, die hätten ihn eher als Betrüger bezeichnet, als Schwindler und Gauner, aber er selbst dachte niemals so über sich. Kein guter Scharlatan würde so etwas tun.
In der Kleidung, die er gewählt hatte, sah er definitiv aus wie ein schillernder, heruntergekommener Musiker. Er war ein Mann, der Aufmerksamkeit erregte, und er genoss das. Er stolzierte in Richtung Bahnstation, als ob er auf dem Weg zu einem Auftritt wäre, um dort zusammen mit Willie »The Lion« Smith zu spielen und so Geld für die Miete einzusammeln. Tommy hatte tatsächlich einmal mit Willies Band gespielt. Nach einem einzigen Song hatte Willie ihn wieder rausgeworfen. Und dennoch trug Tommy noch immer den Gitarrenkoffer mit sich herum wie ein Geschäftsmann stolz seinen Aktenkoffer auf dem Weg zur Arbeit.
In den Straßen von Harlem war 1924 das Chaos ausgebrochen, als Schwarze aus dem Süden und aus der Karibik eingetroffen waren. Ein sowieso schon überfüllter Stadtteil hatte plötzlich noch mehr Leuten Unterschlupf bieten müssen. Tommy Tester gefiel es so. Früh am Morgen durch Harlem zu gehen, das war, als wäre man ein einzelner Blutstropfen in einem riesigen Körper, der gerade erwachte. Gebäude, Geschäfte, Hochbahngleise und etliche Meilen U-Bahn-Tunnel … Diese Stadt war lebendig; sie wuchs und gedieh bei Tag und bei Nacht.
Wegen seines Gitarrenkastens benötigte Tommy mehr Platz als die meisten anderen. Am Eingang in der 143. Straße musste er den Kasten über seinen Kopf heben, während er die Treppe zur Hochbahn hinaufstieg. Das kleine gelbe Buch rutschte im Inneren umher, was aber egal war, denn es wog nicht viel. Er fuhr mit der Bahn bis hinab zur 57. Straße, wo er in die Roosevelt Avenue Corona Line der Brooklyn Manhattan Transit umstieg. Das war sein zweiter Abstecher nach Queens, beim ersten hatte er einen besonderen Job übernommen, den er heute zu Ende bringen würde.
Je weiter Tommy Tester nach Queens hineingelangte, desto mehr fiel er auf. In Flushing lebten viel weniger Negros als in Harlem. Tommy zog seine Kappe tiefer. Zweimal betrat der Schaffner den Wagen, und beide Male hielt er inne, um sich mit Tommy zu unterhalten. Einmal um ihn zu fragen, ob er Musiker sei, wobei er auf den Kasten klopfte, als wäre es sein eigener, und das zweite Mal, um sich zu erkundigen, ob Tommy seine Haltestelle verpasst habe. Die anderen Passagiere taten desinteressiert, aber Tommy sah, dass sie seinen Antworten lauschten. Die hielt er kurz und einfach: »Ja, Sir, ich spiele Gitarre« und »Nein, Sir, ich habe noch ein paar Stationen vor mir«. Unauffällig zu sein, fügsam, sich unsichtbar zu machen – das alles waren nützliche Tricks, auf die ein schwarzer Mann in einem weißen Viertel zurückgreifen konnte. Überlebenstechniken. An der letzten Station, Main Street, stieg Tommy Tester mit all den anderen aus – vorwiegend irische und deutsche Migranten – und ging die Treppen hinunter auf die Straßenebene. Von hier aus hatte er noch einen langen Fußweg vor sich.
Unterwegs bewunderte Tommy die breiten Straßen und die sich um Gartenanlagen gruppierenden Häuser. Zwar war das Viertel, das aus holländischem und britischem Ackerland hervorgegangen war, enorm gewachsen und ziemlich modern, doch einem Jungen wie Tommy, der in Harlem aufgewachsen war, kam es rustikal und verblüffend weitläufig vor. Die offenen Arme der Natur wirkten auf ihn ebenso beunruhigend wie die weißen Menschen, denn beides war ihm fremd. Wann immer er auf der Straße an Weißen vorüberging, hielt er den Blick gesenkt und ließ die Schultern hängen. Männer aus Harlem waren für ihre Haltung bekannt – sie stolzierten einher wie Löwen. Hier draußen verbarg er das lieber. Er wurde beobachtet, aber nicht aufgehalten. Sein schlurfender Gang bot ihm eine gute Tarnung. Und endlich, mitten zwischen unzähligen Blocks frisch erbauter Gartenhofhäuser, erreichte Tommy sein Ziel.
Es war ein Privathaus, klein und geradezu verloren hinter einer Reihe Bäume. Das letzte Haus vor der Leichenhalle, die den Rest des Blocks beanspruchte. Das Gebäude wuchs wie ein Tumor aus dem Haus der Toten hervor. Tommy Tester ging die Eingangstreppe hinauf und musste nicht einmal klopfen. Er hatte die drei Stufen noch nicht erklommen, als schon die Haustür geöffnet wurde. Halb im Schatten stand eine große, hagere Frau auf der Schwelle. Ma Att. Das war der Name, unter dem er sie kannte, und der einzige, auf den sie reagierte. Der, unter dem sie ihn angeheuert hatte. Auf dieser Schwelle, bei halb geöffneter Tür. Es hatte sich bis Harlem herumgesprochen, dass sie Hilfe benötigte, und er war genau der Typ Mann, der ihr liefern konnte, was sie brauchte. Und so wurde er zu ihrer Tür gerufen und engagiert, ohne jedoch ins Haus eingeladen zu werden. Genauso würde es auch jetzt ablaufen. Er konnte den Grund verstehen oder zumindest erraten. Was würden die Nachbarn sagen, wenn diese Frau Negros in ihrem Haus ein und aus gehen ließe?
Tommy öffnete die Schnalle des Gitarrenkoffers und hielt ihn ihr offen hin. Ma Att beugte sich vor, sodass ihr Kopf ins Tageslicht geriet. Im Inneren lag das Buch, nicht größer als eine von Tommys Handflächen. Der Einband war fahlgelb. Drei Worte waren auf Vorder- wie Rückseite zu sehen: Zig Zag Zig. Nicht dass Tommy wüsste, was die Worte bedeuteten, oder sich auch nur dafür interessiert hätte. Er hatte dieses Buch nicht gelesen oder jemals nur mit bloßen Händen berührt. Er war angeheuert worden, das kleine gelbe Büchlein zu transportieren, und das war alles, was er getan hatte. Er war der richtige Mann für diese Aufgabe – teilweise weil er wusste, dass er nicht mehr als das tun sollte. Ein guter Gauner ist nicht neugierig. Ein guter Gauner will nur seinen Lohn.
Ma Att blickte von dem Buch dort im Kasten auf und sah ihn mit vage enttäuschter Miene an.
»Sie waren nicht in Versuchung hineinzuschauen?«, fragte sie.
»Dafür berechne ich mehr«, sagte Tommy.
Sie fand ihn nicht komisch. Sie schniefte nur kurz. Dann griff sie in den Gitarrenkasten und nahm das Buch heraus. Sie bewegte sich so schnell, dass kaum ein Sonnenstrahl das Buch traf, und dennoch, als es in die Dunkelheit von Ma Atts Heim gezerrt wurde, waberte eine dünne Rauchfahne durch die Luft. Selbst dieser flüchtige Kontakt mit Tageslicht reichte, um das Buch zu entflammen. Sie schlug einmal auf den Einband und erstickte den Funken.
»Wo haben Sie es gefunden?«, fragte sie.
»Es gibt da so einen Ort in Harlem«, sagte Tommy mit gedämpfter Stimme. »Er nennt sich die Victoria Society. Selbst die härtesten Gangster in Harlem fürchten sich davor. Das ist der Ort, an dem Leute wie ich mit Büchern wie Ihrem handeln. Und Schlimmerem.«
An dieser Stelle verstummte er. Geheimnisse hingen in der Luft wie der Geruch des angesengten Buches. Ma Att beugte sich tatsächlich vor, als hätte er ihr einen Köder zu schlucken gegeben. Aber Tommy sagte nichts mehr.
»Die Victoria Society …«, flüsterte sie. »Wie viel verlangst du, um mich dort reinzubringen?«
Tommy musterte das Gesicht der alten Frau. Wie viel würde sie wohl zahlen? Bestimmt ein nettes Sümmchen. Trotzdem schüttelte er den Kopf. »Ich würde mich schrecklich fühlen, sollten Sie dort zu Schaden kommen. Tut mir leid.«
Ma Att fixierte Tommy Tester, überlegte, wie schlimm etwas wie diese Victoria Society wohl sein könnte. Immerhin dürfte ein Mensch, der mit Büchern wie diesem kleinen gelben in ihrer Hand handelte, kaum zu der zerbrechlichen Sorte gehören.
Ma Att streckte die Hand aus und tippte mit einem Finger auf den an der Wand befestigten Briefkasten. Tommy öffnete ihn und fand sein Geld darin. Zweihundert Dollar. Er zählte es gleich dort, vor ihren Augen. Genug für sechs Monate einschließlich Miete, Essen und was er sonst noch so brauchte.
»Sie sollten nicht mehr in diesem Viertel sein, wenn die Sonne untergeht«, sagte Ma Att, klang dabei aber keineswegs besorgt um ihn.
»Ich werde noch vor der Mittagszeit zurück in Harlem sein. Und ich würde Ihnen nicht empfehlen, dort hinzugehen, ob bei Tag oder bei Nacht.« Er tippte sich an seine Kappe, klappte den leeren Gitarrenkoffer zu und wandte sich ab von Ma Atts Tür.
Auf dem Rückweg zur Bahn beschloss Tommy Tester, nach seinem Freund Buckeye zu sehen. Buckeye arbeitete für Madame St. Clair, die Königin der Zahlen in Harlem. Tommy dachte, er sollte heute Abend auf Ma Atts Adresse setzen. Sollte seine Zahl gewinnen, dann hätte er genug, um sich einen besseren Gitarrenkasten zuzulegen. Und vielleicht sogar eine eigene Gitarre.
»Das ist eine Klampfe.«
Tommy Tester musste gar nicht aufblicken, um zu wissen, dass er ein neues Ziel gefunden hatte. Er musste nur die Qualität der Schuhe des Mannes und das untere Ende seines edlen Gehstocks ins Auge fassen. Er zupfte an den Saiten, immer noch bemüht, sich an die neue Gitarre zu gewöhnen, und summte, statt zu singen, weil er sich eher wie ein talentierter Musiker anhörte, wenn er den Mund nicht aufmachte.
Der Ausflug nach Queens im letzten Monat hatte ihn dazu inspiriert, mehr herumzustreifen. In den Straßen von Harlem drängelten sich zu viele Sänger, Gitarrenspieler und Männer mit Blechblasinstrumenten, und jeder Einzelne von ihnen ließ seine kleinen Auftritte als beschämend erscheinen. Während Tommy gerade drei Songs auf seiner Liste hatte, hatte jeder dieser Männer dreißig oder gleich dreihundert. Aber auf dem Heimweg von Ma Atts Haus war ihm aufgefallen, dass ihm unterwegs nicht ein einziger Schrammler begegnet war. Sänger auf der Straße schienen in Harlem und unten in Five Points oder den neueren Teilen von Brooklyn recht normal zu sein, aber ein großer Teil der Stadt wirkte immer noch, als versuchte er gerade erst City zu werden. Keiner der Musiker aus Harlem würde sich in einen Zug nach Queens oder ins bäuerliche Brooklyn setzen in der Hoffnung, dort ein wenig Geld von bekanntermaßen knausrigen Immigranten abstauben zu können, die diese Orte besiedelten. Aber ein Mann wie Tommy Tester – der eigentlich nur so tat, als machte er Musik – versuchte es ganz bestimmt. Diese Osteuropäer und die irischen Paddys in ihren Vororten wussten vermutlich einen Scheiß über anspruchsvolle Jazzmusik, also mochte Tommys billige Kopie vor ihren Ohren durchaus bestehen.
Nach seiner Rückkehr von Ma Att hatte er das alles mit seinem Vater durchgesprochen. Otis Tester hatte ihm wieder einmal angeboten, ihm einen Job als Maurer zu verschaffen, ihn in seinem Beruf unterzubringen. Eine nette Geste, die Bemühung eines liebenden Vaters, aber nichts, was bei seinem Sohn funktionierte. Tommy Tester würde es nie laut aussprechen – das würde den alten Mann zu sehr schmerzen –, aber die Arbeit auf dem Bau hatte seinem Vater gichtige Hände und einen krummen Rücken eingebracht und weiter nichts. Otis Tester hatte einen Negrolohn erhalten, nicht den eines weißen Mannes – wie es 1924 eben üblich war –, und selbst das Geld wurde ihm bisweilen vorenthalten, wenn der Vorarbeiter ein bisschen mehr in der eigenen Tasche haben wollte. Was sollte ein Negro dagegen auch groß tun? Bei wem sollte er sich beklagen? Es gab zwar eine Gewerkschaft, aber Negros war es nicht erlaubt, sich ihr anzuschließen. Weniger Geld und unregelmäßige Bezahlung gehörten für sie zum Job. Genauso sicher wie das Anmischen des Mörtels, wenn die zuständigen Arbeiter nicht auftauchten. Die Unternehmen, die Otis Tester angeheuert und ihm stets versichert hatten, er sei einer von ihnen, hatten ihn noch an dem Tag ersetzt, an dem sein Körper endgültig streikte. Otis, ein stolzer Mann, hatte sich Mühe gegeben, seinem Sohn Pflichtgefühl anzuerziehen, ebenso wie Tommys Mutter. Aber die Lektion, die Tommy Tester stattdessen gelernt hatte, war, dass man sich besser selbst einen Weg suchte, um an Geld zu kommen, denn diese Welt war nicht daran interessiert, einen Negro reich zu machen. Und schließlich, worüber sollte sein Vater sich beklagen, solange Tommy die Miete zahlte und Essen heimbrachte? Als er mit Ma Atts Zahlen gespielt hatte, war das Ergebnis genau das gewesen, was er sich erträumt hatte, und er hatte sich eine gute Gitarre samt Koffer gekauft. Nun verbrachten Tommy und Otis die Abende damit, bis tief in die Nacht Harmonien zu spielen. Sogar seine Stimme war ein wenig besser geworden.
Dennoch hatte Tommy sich gegen eine Rückkehr nach Flushing, Queens, entschieden. Eine Gaunervorahnung hatte dazu geführt, dass er Ma Att nicht noch einmal begegnen wollte. Immerhin hatte in dem Buch, das er ihr gegeben hatte, eine Seite gefehlt, nicht wahr? Die allerletzte Seite. Und Tommy hatte mit Bedacht gehandelt. Ohne diese Seite war der Schinken nutzlos, harmlos. The Supreme Alphabet. Er hatte es nicht lesen müssen, um sich über seine Macht im Klaren zu sein. Tommy bezweifelte sehr, dass die alte Frau das Buch nur hatte haben wollen, um gelegentlich darin zu schmökern. Er hatte das Buch nicht mit bloßen Händen angefasst und kein Wort gelesen, dennoch gab es Möglichkeiten, den letzten Bogen Pergament gefahrlos herauszulösen. Und tatsächlich war die Seite in Tommys Wohnung geblieben, zusammengefaltet und versteckt in der alten Gitarre, die er stets bei seinem Vater ließ. Tommy war gewarnt worden, dass er das Buch nicht lesen sollte, und an diese Regel hatte er sich gehalten. Sein Vater war derjenige gewesen, der die letzte Seite herausgerissen hatte, und der konnte nicht lesen. Sein Analphabetismus hatte als Schutz einen guten Dienst getan. So trickst man das Okkulte aus: Umgeh die Regeln, aber brich sie nicht.
Heute war Tommy Tester zur Reformierten Kirche in Flatbush, Brooklyn, gefahren; so weit von zu Hause entfernt wie Flushing, aber ohne wütende