Die Bedrohung - Louis Greenberg - E-Book
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Die Bedrohung E-Book

Louis Greenberg

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Beschreibung

Unsere Welt, einige Jahre weiter. In den westlichen Gesellschaften hat es eine Rückbesinnung auf das Analoge gegeben, alles Digitale wird als Bedrohung empfunden. Green Valley, eine in sich geschlossene Kleinstadt und gleichzeitig Versuchsfeld der IT-Firma Zeroth, ist eine Ausnahme. Die Bewohner leben in einer perfektionierten virtuellen Realität. Doch dahinter verbirgt sich ein schreckliches Geheimnis …

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Das Buch

Unsere Welt, einige Jahre weiter. In den westlichen Gesellschaften hat es eine Rückbesinnung auf das Analoge gegeben, alles Digitale wird als Bedrohung empfunden. Green Valley, eine in sich geschlossene Kleinstadt und gleichzeitig Versuchsfeld der IT-Firma Zeroth, ist eine Ausnahme. Die Bewohner leben in einer perfektionierten virtuellen Realität. Doch dahinter verbirgt sich ein schreckliches Geheimnis …

Die Autoren

Hinter S. L. Grey verbergen sich die Bestsellerautoren Sarah Lotz und Louis Greenberg, die ihr Debüt mit dem Bestseller Under Ground vorlegten. Beide Autoren leben in Südafrika, Sarah in Capetown, Louis in Johannesburg. Als S. L. Grey beschäftigen sie sich mit der Frage, was passiert, wenn der Mensch in Extremsituationen geworfen wird.

LOUIS GREENBERG

DIE BEDROHUNG

Thriller

Aus dem Englischen von Frank Dabrock

Wilhelm Heyne VerlagMünchen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2017 by Louis Greenberg Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Studio Botschaft, München, unter Verwendung von © Plainpicture / Cultura / Rebecca Nelson; Adobe Stock / valerybrozhinsky Redaktion: Tamara Rapp Satz: Fotosatz Amann, Memmingen ISBN: 978-3-641-22406-6 V003
www.heyne.de

I

1

Davids Stimme war nichts weiter als ein merkwürdiges, gedämpftes Echo, das einer leisen, undeutlichen Simulation glich. Ich wickelte mir das straff gespannte Telefonkabel um den Finger und lauschte nach einer unterschwelligen Sprachmelodie, um mich zu vergewissern, dass es tatsächlich David und keine Zeroth-Simulation war.

»Was, wenn es zu spät ist?«, fragte er. »Ich meine, was, wenn sie inzwischen tot ist? Wenn ein Kind verschwindet, und es … na ja, innerhalb der ersten Stunden nicht gefunden wird …«

Diese verrauschte Abfolge ängstlicher, unsicherer Worte klang so gar nicht nach dem Mann, den ich mal dermaßen angehimmelt hatte, dass ich ihn heiratete. »So was darfst du nicht denken«, sagte ich. »Dazu gibt es keinen Anlass.« Ich hatte seit acht Jahren nichts mehr von David gehört und in dieser Zeit kaum an ihn gedacht. Die Nachricht, dass Kira vermisst wurde, kam mir seltsam unwirklich vor. Ich begriff einfach nicht, was dieser Umstand zu bedeuten hatte. »Wann hast du sie das letzte Mal gesehen? Ich meine, in der Wirklichkeit?«

»Äh …« David zögerte. »Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, gestern Abend. Aber was spielt das für eine Rolle – ob in der wirklichen Welt oder woanders?«

Fabian trat in den Türrahmen des Arbeitszimmers und warf mir einen besorgten Blick zu. Ich hob die Hand und formte mit den Lippen die Worte Alles in Ordnung, dann rollte ich mit dem Stuhl zur Tür und stieß sie mit dem Zeh ein Stück zu. Dabei spannte sich das Hörerkabel, sodass der Apparat hinter mir klirrend und polternd über den Schreibtisch rutschte.

»Vielleicht auch gestern Morgen«, fuhr David fort. »Ich bin mir sicher, dass ich gesehen habe, wie sie etwas gegessen und sich dann auf den Weg zum Mathecamp gemacht hat. Aber ich kann auch in den Protokollen nachschauen.«

Was David als Nächstes sagte, ging in dem heftigen Rauschen unter, und ich drückte den Hörer fester ans Ohr. Eigentlich hätte man meinen können, dass die Zeroth Corporation – oder was von ihr noch existierte – wenigstens in der Lage war, eine anständige Telefonverbindung zustande zu bringen. Das Rauschen wurde schwächer, und am anderen Ende der Leitung stöhnte David: »Oje. Meine kleine Zara. Was soll ich jetzt bloß tun?«

»Zara? Sie heißt Kira. Es ist doch Kira, die verschwunden ist, oder?« Vielleicht war das Ganze nur eine Verwechslung – und überhaupt nicht mein Problem.

»Ja, richtig«, erwiderte er, begleitet von erneutem Rauschen. »Zara ist eine von den anderen. Es ist nicht leicht … nicht leicht, den Überblick zu behalten, was –«

»Ja?«, fragte ich. »Du wurdest unterbrochen.«

»Manchmal ist es schwer zu sagen, was real ist.«

»Du musst dich erinnern, David. Es ist wichtig, dass du dich an jede Einzelheit erinnerst, damit ich dir helfen kann.«

»Ich werd’s versuchen.«

Ich drehte mich um und warf durch den Türspalt einen Blick in den Flur, wo ich Fabians Schatten sehen konnte, der eine beschützende Haltung eingenommen hatte. »Kannst du mich reinholen?«, murmelte ich in die Sprechmuschel. »Jetzt sofort?«

»Nach Green Valley?« Er machte eine Pause. »Das geht nicht. Das weißt du doch, Lucie«, fuhr er dann in einem bedächtigen Tonfall fort, als würde er einem kleinen Kind irgendetwas erklären, als wäre ich diejenige, die den Verstand verloren hatte. »Green Valley ist eine abgeschlossene Enklave. Da kommt niemand rein oder raus.«

»Das stimmt nicht, David«, sagte ich eindringlich. Vielleicht wollte ich auf diese Weise bloß meine Sorge um Kira verdrängen. Aber das Einzige, was mir spontan durch den Kopf schoss, war: Was für eine Chance sich Sentinel hier bot. Ich durfte mir diese Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen. »Ihr werdet mit Vorräten versorgt. Seit Green Valley von der Außenwelt abgeriegelt wurde, gehen dort Lieferanten ein und aus. Ich weiß, dass du eine Möglichkeit finden kannst. Jemand von außerhalb sollte versuchen, die Sache zu klären.« Inzwischen hatte sich Fabian in die Küche zurückgezogen. Ich konnte hören, wie er eine Flasche aus dem Kühlschrank nahm – trotzdem sprach ich immer noch mit gedämpfter Stimme. »Du brauchst mich. Kira braucht mich.«

»Okay«, sagte David schließlich. »Ich kann dafür sorgen, dass man dich reinlässt.« Dann fügte er hinzu, als wollte er sich selbst davon überzeugen: »Ich bin hier eine wichtige Persönlichkeit. Also komm ins Verbindungsbüro. Ich sag dort Bescheid.«

»Jetzt sofort? Kann ich heute noch vorbeischauen?«

»Ich werde alles Nötige veranlassen.«

»Geh nicht dorthin, Lucie.« Fabian trat aus der Küche auf mich zu, als ich das Arbeitszimmer verließ. »Du weißt, was Green Valley ist.«

»Nein. Nicht wirklich«, sagte ich.

»Aber du weißt, was es nicht ist«, sagte er. »Es ist nicht real.«

Realität, Wahrhaftigkeit, Essenz. Nach der Wende waren das nur noch leere Schlagworte, die genauso bedeutungslos waren wie die Schlagworte, die sie ersetzt hatten. Inzwischen waren zwölf Jahre vergangen, seit die Bürger der Industriestaaten die Regierungen und Unternehmen entmachtet und in einer analogen Revolution die Auswüchse und Übergriffe der digitalen Tyrannei zurückgeschlagen hatten. Überall auf der Welt hatten neue technikfeindliche Parteien wie Omega das Ruder übernommen und die digitale Wirtschaft zerschlagen. Das führte hier in Stanton schließlich dazu, dass sich die Überreste der Zeroth Corporation vier Jahre später in Green Valley vor der Außenwelt abschottete.

»Ich muss da rein. Man braucht meine Hilfe.«

»David braucht deine Hilfe.« Fabian folgte mir in unser Schlafzimmer und warf einen Blick hinaus auf den Himmel, über den dunkle Wolken jagten.

Während ich mir andere Sachen anzog, ging ich im Geist eine Liste mit den Punkten durch, die für meinen Besuch wichtig waren – die Schwachstellen im Überwachungssystem der Enklave, ihr Stromnetz, die Lieferwege und Abfallentsorgung und der Aufbau ihres Kommunikationssystems; außerdem fragte ich mich, welche Sachen ich mit hineinnehmen und was ich möglicherweise herausschmuggeln konnte. Nach unseren jahrelangen unentwegten Bemühungen standen wir kurz davor, als Gegenmaßnahme unser eigenes Überwachungssystem in Betrieb zu nehmen. Ursprünglich hatte Sentinel einen riskanten Einbruch in Green Valley geplant, um das dafür erforderliche Bauteil aufzutreiben, aber jetzt konnte ich direkt durch den Vordereingang dort hineinmarschieren. Mein Ausflug nach Green Valley konnte mir einen Karriereschub verschaffen. Als ich Fabian nicht antwortete, bohrte er nach.

»Ja – David. Dein Exmann, der dich verlassen hat, um sich in dieser massenüberwachten Echokammer mit Gleichgesinnten den sektenartigen Freuden von Green Valleys virtueller Realität hinzugeben.«

Ich drehte mich zu ihm um. Vor der stilvollen Eleganz der Wohnung, eingerahmt von schicken weißen Regalen voller revolutionärer Schriften, zeichnete sich die Silhouette von Fabians fein geschnittenem Profil ab; sein Blick war von einem unerschütterlichen Selbstvertrauen erfüllt, und ich fühlte mich in seiner Gegenwart so sicher wie bei unserer ersten Begegnung. Fabian war der zweite wichtige Mann in meinem Leben. Er hatte mir geholfen, meine dunkle Vergangenheit hinter mir zu lassen. David war der erste gewesen, und ich wusste, dass ich keine dritte Chance bekommen würde. Ich wollte mich nicht mit Fabian streiten, also versuchte ich, ihn zu beschwichtigen.

»Ich weiß, dass du dir meinetwegen Sorgen machst, und ich nehme an, du bist … verunsichert? … beunruhigt? … weil ich mich nach all den Jahren jetzt mit David treffe. Vertrau mir, Fabe, wegen David musst du dir wirklich keine Sorgen machen.«

»Seinetwegen mache ich mir auch keine Sorgen, sondern deinetwegen. Du weißt nicht, was für Zustände dort herrschen.«

»Aber du, ja?«, sagte ich.

»Nein, natürlich nicht, bloß –«

»Na also. Bist du denn gar nicht neugierig? All die Jahre hast du das, wofür Green Valley und Zeroth stehen, bekämpft, und jetzt willst du nicht mal wissen, was daraus geworden ist?«

»Ich glaube, dass sie immer noch das sind, was sie schon immer waren: ein heimtückisches Virus, das die Gesellschaft infiziert.« Er strich sich wütend die Haare aus der Stirn, sodass das Armband seiner schweren Uhr klimperte. »Während der Wende haben Zeroth und all die anderen ihr wahres Gesicht gezeigt. Ich weiß nicht, warum wir überhaupt zulassen, dass sie dort bleiben …«

In diesem Punkt waren wir völlig unterschiedlicher Meinung – offensichtlich blieben selbst die besten Beziehungen von so etwas nicht verschont. Fabian hasste Green Valley, die Beweggründe dahinter und das, wofür es stand: digitale Überwachung, Missbrauch von Persönlichkeitsrechten, kriminelle Machenschaften und Verschwörung. Offiziell war Fabian Tadic Kunstkurator, doch in Wirklichkeit war er noch sehr viel mehr – er war einer der größten Geldgeber und Unterstützer von Omega und einer der führenden Köpfe ihrer Denkfabrik. Die Omega-Partei und die neue politische Elite hatten sich ganz dem Kampf gegen die Überreste von Green Valleys gefährlichem Zukunftsentwurf verschrieben. Wenn Fabian gewusst hätte, womit ich in Wirklichkeit meine Zeit verbrachte – dass ich mit illegalen Computerprogrammen andere Menschen ausspionierte … Er hätte mich, genau wie die Leute in Green Valley, als Feind betrachtet.

Nicht alles, was ich Fabian über meine Arbeit erzählt hatte, war gelogen, tröstete ich mich. Zum Großteil war er darüber im Bilde. Er wusste, dass ich für die Polizei arbeitete – nicht bei der Polizei, wie ich mir immer wieder in Erinnerung rufen musste. Als beratende Analytikerin. Allerdings glaubte er, dass ich mich um ungeklärte Fälle und die Archivierung von Daten kümmerte. Tatsächlich war ich dafür ursprünglich eingestellt worden. In den vergangenen zwei Jahren jedoch hatte sich mein Zuständigkeitsbereich auf das Sentinel-Projekt verlagert, und davon durfte Fabian nichts wissen. Dieses Geheimnis vergiftete unsere Beziehung.

»Wegen der Menschenrechte?«, fragte ich schließlich. »Und der Verfassung, nehme ich an? Aber ihnen gehört das Grundstück, und sie tun nichts Verbotenes.«

»Soweit wir wissen.«

»Tja, jetzt habe ich die Gelegenheit, mich dort mal umzusehen und Bericht zu erstatten. Würdest du nicht gerne deine Vermutungen überprüfen?«

»Schon, nur verstehe ich nicht, warum du nach Green Valley gehen musst. Das ist vielleicht gefährlich. Die Stadt könnte eine Sondereinheit dorthin entsenden.«

»Aber man hat mich gebeten zu kommen und keine Sondereinheit. Herrgott, Fabe, wir können noch ewig darüber diskutieren … Ich muss jetzt los.«

Während ich meine Jacke aus dem Wandschrank holte und anzog, redete er hinter mir weiter. »Wer ist Kira?«

Ich erstarrte und beschloss, dass ich ihn lange genug angelogen hatte.

Ohne ihm in die Augen zu blicken nahm ich meine Tasche und öffnete die Tür. »Kira ist meine Tochter.«

2

»Sind Sie sicher, dass ich nicht warten soll?«, fragte der Taxifahrer, als ich aus dem Wagen stieg. »Falls Ihr Treffen nicht stattfindet.«

»Nein danke«, sagte ich und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld. Ich war von Fabians Wohnung direkt zum Revier gefahren, um Barbra Reeve, die Leiterin von Sentinel und meine inoffizielle Chefin, auf den neusten Stand zu bringen und ihre Anweisungen entgegenzunehmen. Von den vier Taxis, die ich vor dem Revier angehalten hatte, war der Fahrer dieses Wagens als Erster bereit gewesen, mich hier rauszufahren. Jetzt nickte er mir zu und brauste davon. Von der riesigen Betonmauer aus beobachtete ich, wie sich der gelbe Wagen auf der verlassenen Straße Richtung Stanton entfernte. Ich war nicht zum ersten Mal hier, aber die Mauer kam mir jedes Mal aufs Neue unfassbar hoch vor; sie ragte zweiunddreißig Meter in die Höhe und ging oben nahtlos in ein Betondach über.

Zu Beginn meiner Tätigkeit für die Polizei hatte ich dabei geholfen, in einer Art algorithmischem System ihre Fallakten zu archivieren, in einer analogen Version des alten digitalen Systems, das die Behörde hatte vernichten müssen. Am College hatte ich nach einer Phase der Orientierung als Hauptfächer Geschichte und Rechnungswesen belegt und zeigte ein gewisses Talent für die Datenanalyse. Da die Polizei dringend Zugang zu ihren eigenen Fallakten benötigte, nachdem die Idioten an den Wahlurnen beschlossen hatten, dass die Computer abgeschaltet werden sollten, bekam ich direkt nach meinem Examen dort einen Job. Das Internet und Intranet waren unverzichtbar gewesen, um Informationen zu speichern und abzurufen, und nun musste die Polizei als staatliche Behörde nach der Wende plötzlich darauf verzichten, genau wie die Krankenhäuser, Bibliotheken, Schulen und sämtliche Ministerien. Plötzlich gab es einen gewaltigen Bedarf an Leuten wie mir – Spezialisten für analoge Datenverarbeitung. Die Supersekretärinnen, wie die Presse uns nannte. Im Laufe der Zeit wurden die fähigsten unter den Datenanalysten von Sentinel angeheuert.

Offiziell hatte Sentinel als verdeckte Einheit operiert, die Zeroth und andere Technologieunternehmen überwachte, um das Wiederaufleben des digitalen Terrors zu verhindern, aber nach und nach erweiterte sich ihr Aufgabenbereich. Die Einheit wurde von zweifelhaften politischen Kräften und Lobbyisten finanziert und unterstützt, die wussten, dass Omega nicht auf Dauer an der Macht bleiben und nach ihrem Sturz erneut der Ruf nach einer schlagkräftigen Sicherheits- und Polizeibehörde laut werden würde. Diese Leute waren der Ansicht, dass der Sicherheitsapparat trotz politischer Umwälzungen weiterhin reibungslos funktionieren musste.

Auf der Fahrt hier raus hatte ich an Kira denken müssen. Die Zeit mit ihr kam mir wie die Erinnerung an ein anderes Leben vor, wie die Geschichte eines anderen Menschen. Das war einer der Gründe dafür, warum ich Fabian nicht von ihr erzählt hatte; ihre Existenz war nicht etwa ein großes, dunkles Geheimnis. Aber das war eine Lüge, die ich irgendwann selbst zu glauben begonnen hatte. Ich redete mir lieber ein, dass es mir nicht schwergefallen war, Kira zu verlassen. In Wirklichkeit hatte ich Jahre gebraucht, meine Entscheidung zu akzeptieren. Und jetzt, wo ich zu einer gewissen inneren Ruhe gefunden hatte, war sie verschwunden. Ich wollte mir lieber nicht ausmalen, wo sich das kleine Mädchen gerade befand, wer bei ihr war (schon gar nicht, was diese Person mit ihr anstellte) und wie sie sich dabei fühlte, falls sie – ich bekam Angst – überhaupt noch etwas fühlte. Da mich derartige Überlegungen nur in einen Zustand lähmender Panik versetzt hätten, wandte ich mich pragmatischeren Dingen zu und fragte mich, wie ich Fabian all das erklären sollte: meinen Entschluss, das Kind auszutragen, nachdem ich ungewollt schwanger geworden war, weil David das Baby unbedingt behalten wollte; wie ich ihm Kira bereitwillig überlassen hatte, als er sie mit nach Green Valley nehmen wollte; wie ich in den zehn Monaten mit diesem entzückenden kleinen Kind festgestellt hatte, dass ich keinerlei Muttergefühle empfand, und dass ich in den darauffolgenden Jahren irgendwann aufgehört hatte, mir deswegen Vorwürfe zu machen und in meiner eigenen emotional verkümmerten Kindheit nach Gründen dafür zu suchen.

Aber ich bereute nichts: Kira war ein Teil meines Lebens, der sich zum Guten entwickelt hatte. Mir war damals klar gewesen, dass sie bei David besser aufgehoben war, dass er sich in dem luxuriösen Umfeld von Zeroths vorstädtischer Traumwelt liebevoller um sie kümmern würde, als ich es je getan hätte. Zumindest hatte ich das bis vor ein paar Stunden geglaubt.

Der Wind wehte Müllreste über den Asphalt; das Taxi war inzwischen verschwunden, und ich starrte ins Leere. Ich wusste, dass ich Kira nicht helfen konnte, solange mich meine Panik fest im Griff hatte. Ich musste mich zusammenreißen und handeln.

Zu meiner Linken befanden sich die verbarrikadierten Geschäfte, verlassenen Häuser und der menschenleere Park jenes Bereichs, den wir als Sperrgebiet bezeichneten. Es handelte sich um die Ausläufer eines ehemaligen Mittelklasse-Vororts, von dem aus man früher einen Blick auf das üppig begrünte Gelände der Zeroth Corporation gehabt hatte. Doch nach dem Bau der Betonmauer, für die das Unternehmen dank seiner gut gefüllten Kriegskasse im Eilverfahren eine außerordentliche Baugenehmigung erhalten hatte, verlagerte sich das Leben in Stanton ein paar Straßen weiter, fort von Green Valley.

Die Luft im Schatten der Mauer war kühl und stickig. Es schien hier nichts Lebendiges zu geben, nicht mal ein paar Vögel oder Ratten. Auf der gesamten Betonfläche, die für die Sprayer aus der Stadt eigentlich eine ideale Leinwand abgab, konnte ich lediglich zwei oder drei hastig hingesprühte Graffitis entdecken. Diese wirren Schmierereien zeugten allerdings weniger von jugendlichen Sprayern, sondern mehr von den unsichtbaren Geistern, die sie verscheucht hatten. Soweit ich wusste, wagten es nicht einmal die Obdachlosen, die leer stehenden Häuser in Besitz zu nehmen. Der Schatten der Mauer war wie ein Fluch.

Fröstelnd hüllte ich mich in meine dünne Jacke, rückte meinen Rucksack zurecht und lief zu der Tür, die kaum von der Betonfläche zu unterscheiden war.

Es war eine kleine Tür aus Drahtglas, die wie ein ganz normaler Firmeneingang wirkte. Darauf stand in dem typischen Zeroth-Schriftzug, den man früher an jeder Ecke sehen konnte: Green-Valley-Büro für externe Kontakte. Ich ignorierte die Tatsache, dass ich gleich ein riesiges Grabmal betreten würde, und tat so, als würde es sich bei meinem Besuch um einen simplen, alltäglichen Geschäftsbesuch handeln. Ich musste mir ins Gedächtnis rufen, dass Zeroth sich an die Gesetze hielt. Egal, was Stantons Bürger sich in ihrer Fantasie ausmalten, Zeroth war immer noch eine Software- und Kommunikationsfirma, und die Bewohner von Green Valley hatten ihre Häuser auf einem Grundstück errichtet, das ihnen gehörte, mochte die Anlage auch noch so befremdlich erscheinen. In Stanton und dem Rest des Landes gab es jede Menge riesiger Einkaufszentren, Hotels und Bürokomplexe – warum sollte man Green Valley also anders behandeln? Es gab keinerlei Beweise dafür, dass die Enklave von Verbrechern, Zombies, Vampiren oder Mördern bewohnt wurde.

Hör auf, dir Gedanken zu machen, sagte ich mir und drückte den Klingelknopf.

Nach ein paar Sekunden öffnete sich mit einem Summen die magnetische Türverriegelung, und ich betrat den nach Weihrauch stinkenden Empfangsbereich des Büros. Darin befanden sich ein geschwungener Sperrholztresen sowie ein ausgeblichener Teppichboden mit Zeroths lindgrünem Augensymbol auf einem beruhigenden, himmelblauen Untergrund. Der Raum wirkte weniger wie ein Büro und mehr wie ein Wohnzimmer. Auf dem Tresen standen mehrere gerahmte Fotos, und die Zeroth-Plakate an den Wänden – »Zeroth: besser als die Nummer eins« – waren mit folkloristischen Gegenständen behängt. Von der Ecke eines ausgeschalteten Fernsehschirms spannte sich eine Kette mit Weihnachtsbeleuchtung in Form von Flamingos zu einem Aktenschrank, der mit einem feuerroten Batiktuch und einer japanischen Vase voller Plastikorchideen dekoriert war.

Ich warf einen Blick über die Schulter Richtung Tür, als wollte ich mich vergewissern, dass ich tatsächlich im richtigen Zimmer war. Aber daran bestand kein Zweifel. Ich wusste nur zu gut, dass es keine weitere Tür gab. Erst jetzt bemerkte ich eine Frau, die Jeans und ein adrettes rosafarbenes Sweatshirt trug. Sie war barfuß und saß auf einem der Sofas, die in den verblassten Blau- und Grüntönen der Firma bezogen und mit Überwürfen und Häkeldecken drapiert waren. Die Frau nippte an einem rosafarbenen Plastikbecher und sah mich neugierig an.

Ich nickte ihr zu, ging zum Tresen und reckte verlegen den Hals auf der Suche nach einer Glocke oder einer Empfangsdame.

Die Frau hinter mir auf dem Sofa leerte geräuschvoll ihren Becher und sagte nach einem Moment: »Ich komme.«

Ich drehte mich um. Die Frau rekelte sich, als hätte sie gerade geschlafen. Mit selbstbewusstem Gang, das Kinn in die Höhe gereckt und den Blick nach vorne gerichtet, trottete sie zum Ende des Tresens. Auf einmal erschien sie mir nicht mehr träge, sondern auf elegante Weise gelangweilt. Während sie an mir vorbeilief, bemerkte ich, dass sie wunderschöne Füße hatte und ihre Zehen grell lackiert waren. Sie trug ein Fußkettchen und zwei Zehenringe. Ihre Haare waren geschmackvoll gefärbt, und sie hatte glatte, gesunde Haut. Aufgrund ihrer Augenfältchen schätzte ich sie auf fünfundvierzig, aber sie wirkte jünger. »Dann lassen Sie mich mal sehen«, sagte sie und schaltete den klobigen Computer auf dem Schreibtisch an, der mich an meine Kindheit erinnerte.

Während der Rechner hochfuhr, schaute sie mir in die Augen und musterte mich mit professionellem Blick, um die Identitätsmerkmale in meinem Gesicht mit dem Foto in ihrer Datei zu vergleichen.

»Für heute war Besuch angekündigt. Ich wusste nur nicht genau, für wann. Offensichtlich sind Sie diese Person.«

»Ja. Mein Name ist Lucie Sterling«, sagte ich und streckte meine Hand aus.

Sie gab mir einen kräftigen Händedruck und taxierte mich mit ihren grünen Augen. »Ich heiße Gina Orban und bin zuständig für externe Kontakte.« Sie wandte sich wieder dem eingeschalteten Bildschirm zu und tippte etwas auf der Tastatur. Dann verzog sie das Gesicht. »Sind Sie David Sterlings Schwester? Aber ich schätze, das geht mich nichts an.«

»Ich bin seine Frau. Er wollte mich sehen«, sagte ich.

Gina Orban runzelte die Stirn. »Aber Mr. Sterling ist bereits verheiratet. Mit Eloise Parsons.«

Verheiratet? Ich gab mir größte Mühe, meine Überraschung zu verbergen – heirateten die Leute hier überhaupt? »Seine Exfrau. Ich bin seine Exfrau«, sagte ich.

»Geht mich ja eigentlich nichts an. Aber wir bekommen nicht oft Besuch hier, darum stelle ich so viele Fragen.« Mit zusammengekniffenen Augen, als wäre sie weitsichtig, starrte sie auf den Bildschirm und hob eine Augenbraue. »Der Besuch wurde von einem der Subwizards persönlich bewilligt.«

»Was ist ein Subwizard?«

»Ach, das ist Programmierersprache. Als Green Valley entwickelt wurde, waren die Computerleute alle noch kleine Jungs. Wahrscheinlich fanden sie es cooler, sich Wizard zu nennen als König oder Gott oder was auch immer. Mr. Sterling ist das, was man normalerweise als Gemeindevorsteher bezeichnet. Oder er war es. Ich weiß nicht genau. Ich bin nicht mehr auf dem neusten Stand.«

Ihr Tonfall – war sie respektlos, aufmüpfig oder illoyal? – überraschte mich. Ich hatte nicht damit gerechnet, im Empfangsbüro eines Unternehmens, das wir Außenstehende im Grunde für eine radikale Sekte hielten, auf ein derartiges Verhalten zu treffen.

»Wie auch immer«, sagte Gina Orban und trottete hinter dem Empfangstresen hervor. »Sind Sie mit dem Ablauf vertraut? Waren Sie schon mal hier?«

»Nein.« Sie wusste natürlich, dass ich zum ersten Mal hier war.

»Wir müssen Sie mit dem I ausstatten. Ich habe keine Ahnung, was Sie darüber wissen, aber es handelt sich um eine komplizierte Vorrichtung, und es ist ziemlich aufwendig, sie anzubringen. Darum ist es recht ungewöhnlich, dass man Ihnen eine Genehmigung für einen derart kurzen Besuch erteilt hat. Man kommt in Green Valley nicht einfach auf einen Tee vorbei. Ich vermute, dass der Besuch wichtig ist.«

»Ja«, sagte ich. »Allerdings.«

»Geht mich ja nichts an. Ich bin nur neugierig. In diesem Büro kommt nicht viel an.« Ich wusste nicht, ob sie Informationen oder Menschen oder irgendetwas anderes meinte.

Ich wollte endlich rein nach Green Valley, aber ich wollte auch nicht unhöflich sein. Sämtliche Informationen, die diese unbekümmerte, offensichtlich etwas einsame Mitarbeiterin ausplauderte, konnten nützlich sein. »Keine Sorge. Ist schon okay«, sagte ich. »Was muss ich tun?«

Sie führte mich durch eine der Türen am hinteren Ende des Empfangsraums. »Ich möchte, dass Sie all Ihre Sachen ausziehen und in eines der Schließfächer legen, zusammen mit elektronischen Geräten, Kontaktlinsen, Schmuck und Gepäck, also praktisch alles außer sich selbst. Bedecken Sie sich mit dem Handtuch aus dem Schließfach und klopfen Sie, wenn Sie fertig sind. Dann fangen wir an.«

Angesichts ihres sachlichen Tonfalls hatte ich das Gefühl, dass ich in ein Wellness-Hotel eincheckte – oder aber in einen Schlachthof. Ich protestierte: »Nach allem, was ich aus der Zeit weiß, bevor ihr … bevor eine Mauer um Zeroth gezogen wurde, handelt es sich bei dem I um eine Vorrichtung, die man im Auge trägt, eine Art Computerbildschirm. Ich weiß nicht, warum Sie mich bitten, meine …«

Sie lächelte. Es war ein wächsernes Lächeln; sie bewegte nur die Lippen, während der Rest ihres Gesichts vollkommen reglos blieb. »Computerbildschirm«, sagte sie spöttisch. »Wizard Weißbart würde es gar nicht gerne hören, dass man seine visionäre Arbeit als eine Art Computerbildschirm bezeichnet. Jedenfalls wurde die Vorrichtung weiterentwickelt. Nur damit funktioniert Green Valley als Ganzes. Im Grunde ist diese Vorrichtung Green Valley. Um sich dort aufhalten zu können, benötigt man das I.«

Wir wussten, dass die Technologie weiterentwickelt und verbessert worden war, und hatten sämtliche unserer Informationen dazu ausgewertet. Allerdings hatte ich nicht alle diese Informationen zu Gesicht bekommen, und es gab keinen einzigen Analytiker, der die Funktionsweise dieser Vorrichtung vollkommen verstand. Ich sagte mir, dass ich nicht verstehen muss, wie sie funktionierte, um sie zu benutzen, und plapperte damit im Geist den selbstgefälligen Spruch nach, der seit der Wende verpönt war. Früher hatten wir damit unser Gewissen beruhigt, uns von jeder Verantwortung freigesprochen und unser Schicksal in die Hände fremder, verführerischer Kräfte gelegt, jener Wirtschaftsunternehmen, von deren Wohlwollen wir mit gewissem Recht überzeugt waren.

Gina bemerkte mein Zögern. »Niemand zwingt Sie dazu. Sie müssen da nicht reingehen. Sie können Ihrem Mann – Ihrem Exmann – auch auf anderem Weg eine Nachricht zukommen lassen.«

Ich holte tief Luft. Ich hatte einen Auftrag zu erledigen. »Nein, natürlich will ich. David hat mich hergebeten. Außerdem bin ich neugierig, wie es da drin aussieht.« Ich sagte das auch, um mir selbst gut zuzureden, denn ich spürte, wie sich mein Herz verkrampfte. Ungeachtet der Chance, die mir dieser Besuch bot, fragte ich mich plötzlich, worauf zum Teufel ich mich da bloß eingelassen hatte.

»Also schön«, sagte sie, führte mich zum Umkleideraum und reichte mir ein verschnörkeltes Messingglöckchen – wahrscheinlich aus Tibet oder Persien, keine Ahnung. »Läuten Sie damit, wenn Sie fertig sind.«

Wie im Empfangsbüro hatte man die unpersönlichen Einrichtungsgegenstände im Umkleideraum etwas freundlicher gestaltet. Die vier Spinde waren pastellfarben gestrichen – in Mintgrün, Zartlila, Pfirsichorange und Himmelblau – und mit Hippie-Blümchen verziert. Auf der Lamellenbank aus Holz lagen arabische Kissen, und auf den Waschbecken standen Flaschen mit parfümierter Handcreme sowie Flüssigseife und Kerzen, von denen eine angezündet war. An dem breiten Spiegel über den Becken klebte ein handgeschriebenes Kärtchen: Was du hinter dir siehst, liegt nicht vor dir. Ich war nicht sicher, was das zu bedeuten hatte. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Art aufmunternden Kalenderspruch, aber für mich klang es irgendwie bedrohlich, als würde man mir eine Warnung zuraunen, die ich nicht verstand.

Ich entschied mich für den pfirsichfarbenen Spind. Die rostigen Scharniere quietschten beim Öffnen. Offensichtlich kamen nur wenige Leute hierher. Gina Orban wirkte ziemlich angeödet, und ich fragte mich, welche Auswirkungen dieser Zustand anhaltender Langeweile auf ihren Geisteszustand hatte. Mehrere handgemalte Gänseblümchen leuchteten mir entgegen, während ich meinen Rollkragenpullover auszog, und als ich meinen Hosenknopf öffnete, sah ich am Rand meines Blickfelds einen Schatten aufblitzen. Ich fuhr herum und blickte in den Spiegel. Da war nur ich, aber irgendwo in diesem Raum war immer noch der Schatten. Die Kerzenflamme flackerte und zuckte, als wäre etwas daran vorbeigehuscht.

Ich bin allein, sagte ich mir. Es ist sonst niemand hier. Dennoch trat ich an den Spiegel, drückte das Gesicht dagegen und schirmte es mit den Händen ab, um zu sehen, ob mich von der anderen Seite aus jemand beobachtete. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sich hinter dem Spiegel nur eine weiß geflieste Wand befand, zog ich mich rasch bis auf die Unterwäsche aus und griff nach dem großen Handtuch. Als ich es auseinanderfaltete, stieg eine kleine Wolke muffigen weißen Baumwollstaubs auf. Wahrscheinlich war das Handtuch nie benutzt worden und hatte dort eine Ewigkeit gelegen. Ich schüttelte es aus und wickelte es um meinen Körper, legte meine Sachen in den Spind und klopfte an die Tür.

»Den müssen Sie auch ausziehen«, sagte Gina beim Betreten des Raums, während sie einen flüchtigen Blick auf meinen BH-Träger warf. »Ich hab das alles schon gesehen.«

Widerwillig öffnete ich meinen BH und zog meine Unterwäsche aus. Das ist der Preis, den ich zahlen muss, um nach Green Valley zu gelangen, sagte ich mir. Aber er war bereits jetzt höher, als mir lieb war.

Gina hängte einen Kleiderbügel mit einem grün gesäumten himmelblauen Trainingsanzug an den Spind und stellte ein neues Paar Turnschuhe darunter. »Sobald ich Sie präpariert habe, können Sie das hier anziehen und reingehen. Nicht gerade der letzte Schrei, aber das spielt da drin keine Rolle. Die Leute können Sie nicht sehen, sie sehen nur Ihren Avatar.« Aus einem Schränkchen neben den Spinden nahm sie ein Tablet und ließ einen Finger darübergleiten, dann drehte sie es in meine Richtung. Darauf erschien das Bild einer Frau mit durchschnittlicher Statur. Sie trug eine blaue Hose, eine weiße Bluse sowie Schuhe mit flachen Absätzen und hatte glatte blonde Haare, die ihr bis auf die Schultern reichten. Ihr Gesicht war ebenmäßig geschnitten, sie hatte volle Lippen und eine kleine Nase, und ihre Augen waren etwas größer als die der meisten Menschen.

»Wer ist das?«

»Sie sind das.«

»Ich?«, sagte ich, obwohl ich wusste, was sie meinte. Trotzdem wollte ich, dass sie es mir erklärte. Aus Prinzip: Man durfte einem Menschen nicht einfach einen neuen Körper verpassen, ohne das zu erläutern.

»Das ist Ihr Avatar. So werden die Leute in Green Valley Sie sehen. Sie können Ihren Avatar gerne nach Ihren Vorstellungen gestalten, aber wir haben nicht viel Zeit.«

»Ist schon in Ordnung. Mir ist egal, wie er aussieht«, sagte ich, obwohl das nicht stimmte. Denn tatsächlich erregte mich die Vorstellung, für einen Tag diese imaginäre Blondine zu sein. Würden mich die Leute dann anders behandeln?

»Ich nenne sie Plain Jane«, sagte Gina. »Um ehrlich zu sein, ich hätte gerne ihre Figur, ihr Modelgesicht und ihre widerspenstigen Möpse. Sie ist natürlich ein Werk der Wizards.«

Der Sarkasmus ihrer Worte und ihre unverhohlene Feindseligkeit waren – wie vorhin, als sie Jamie Egus als »Wizard Weißbart« bezeichnet hatte – kaum zu überhören.

»Eine Frage, Gina«, sagte ich. »Warum sind Sie hier? Es scheint, als würden Sie … na ja, nicht voll hinter der Philosophie von Zeroth stehen.«

Sie lachte mit einem heiseren, ausdruckslosen Rasseln; es klang wie ein Echo, das durch ein verlassenes Haus hallte. »Legen Sie sich flach auf den Bauch, damit ich anfangen kann.«

Ich tat, was sie verlangte, und sie kniete sich neben mich und öffnete den Reißverschluss einer Aktentasche. »Ich wirke wohl extrem zynisch«, sagte sie. »Was Green Valley betrifft und Ihre Welt da draußen, in Stanton … Ich gehöre in keine von beiden.« Sie schlug das Handtuch zurück und rieb mein Kreuz mit einer kalten Flüssigkeit ein. »In der Blütezeit von Zeroth, bevor es wirtschaftlich bergab ging, war ich dort als Ergotherapeutin beschäftigt. Als das I entwickelt wurde, durfte ich einen Testlauf damit absolvieren, und danach zeigte ich so heftige Symptome von Übelkeit und Abneigung, dass mich das Team als Versuchskaninchen benutzte. Mit meinem Einverständnis natürlich. Man hätte mich nie dazu gezwungen, und ich wurde sehr gut bezahlt. Damals brachte die Firma einfache Virtual Reality Interfaces auf den Markt – erweiterte soziale Netzwerke, Gruppenspiele und Anwendungen für megarealistischen Cybersex. Aber der Hälfte der potenziellen Kunden wurde dabei schlecht, und statt sich zu amüsieren, kotzten sie auf das Bild ihres virtuellen Sexpartners oder des Drachen, gegen den sie gerade kämpften.« Sie rieb meinen Rücken weiter oben mit der Salbe ein, worauf meine Wirbelsäule zu kribbeln begann. Dann ritzte sie etwas in meinen Nacken und steckte mehrere Haarsträhnen an meinem Kopf fest. »Diese Leute litten unter einem Phänomen, das man Akzeptanzlücke nennt«, fuhr sie fort. »Mitten in ihrem virtuellen Urlaub in den Tropen wurden sie von einer urzeitlichen Panik befallen; alles wirkte unglaublich real, aber ihre Großhirnrinde wusste, dass es sich nur um eine Illusion handelte. Auf einer urzeitlichen, instinktiven und zellulären Ebene signalisierte ihnen der Bereich ihres Gehirns, der sich nicht täuschen ließ, dass man ihnen etwas vorgaukelte, dass sie in Todesgefahr waren. Das war eindeutig nicht gut fürs Geschäft und hinderte die Kunden daran, sich an die neuen Geräte zu gewöhnen. Die Entwicklungsabteilung ging davon aus, dass sie in neunundneunzig Prozent der Fälle die Symptome beseitigen konnte, wenn es ihr gelang, mich davon zu befreien. Und das hat tatsächlich geklappt. Ich bin eines der Versuchskaninchen, mit deren Hilfe Zeroth im Bereich der virtuellen Realität zum Marktführer aufstieg. Zwar führte das bei mir zu gewissen … Nebenwirkungen, aber man hat mich anständig behandelt, und ich kann hier ein ruhiges Dasein fristen.«

Im nächsten Moment rammte Gina mir etwas Spitzes ins Kreuz, und ich wollte schon aufschreien, als ich merkte, dass ich keinerlei Schmerzen empfand. Stattdessen breitete sich von der Stelle rasch ein kaltes Kribbeln aus, und durch meine Wirbelsäule jagte ein elektrischer Impuls. Ich spürte, wie mein Körper sich aufbäumte und krümmte, bis das Pulsieren wieder verflogen war. Ich stöhnte auf. »Was zum Teufel war das?«

»Tut mir leid. Der Lumbaltransponder ist immer ein bisschen unangenehm.«

Bevor ich nachfragen konnte, bohrte sie mir erneut etwas in den Nacken, und ich konnte mich nicht mehr rühren. Wieder fühlte ich dieses rhythmische, kalte Vibrieren, aber entweder war mein Körper nicht in der Lage, sich zu bewegen, um es auszugleichen, oder ich spürte nicht, wie er sich krümmte. Ich bekam lediglich vage mit, wie die Kissen von der Bank fielen und Ginas Hände sie wieder hinlegten, damit ich etwas bequemer lag, und wie gedemütigt ich mich fühlte, als ich unter der Bank meine zusammengeknüllte Unterwäsche sah. Falls ich hier sterben sollte, dachte ich undeutlich, führte den Gedanken jedoch nicht zu Ende, denn in diesem Moment wurden mehrere Krallen zwischen meine Haare geschoben und an meinem Kopf festgehakt. Ich nahm zwar auch diesmal keine Schmerzen wahr, aber instinktiv wurde in meinem Körper eine schmerztypische Reaktion ausgelöst, und er brüllte: Hier stimmt was nicht, unternimm was! Hau ab! Sonst stirbst du! Doch ich konnte mich nicht bewegen und verspürte kaum das Bedürfnis, etwas zu unternehmen. Um ehrlich zu sein, ich fühlte mich gut. Ich weiß nicht, wovor du Angst hast, entspann dich. Beim Anblick der zusammengeknüllten Unterhose musste ich an mein Kinderzimmer denken und daran, wie ich als Mädchen, umgeben von Abfällen, auf meinem Bett gelegen hatte, während das blecherne Scheppern meiner Kopfhörer mir Trost spendete. Dort war ich sicher und geborgen und hatte für einen kurzen Moment den Eindruck, dass ich einfach überhaupt nichts tun musste.

Dann ein Keuchen, eine Art Aufprall und ein Brennen in meinen Adern, und als ich die beruhigende Wärme von Ginas flacher Hand auf meinem Rücken spürte, wurde mir mit einem Mal wieder bewusst, dass ich nackt auf der Bank lag. »Okay«, sagte sie. »Das Kalibrieren dauert zehn Sekunden. Bleiben Sie liegen.« Sie rieb mir, wie eine Mutter ihrem weinenden Kind, mit ihrer warmen, weichen Hand über den Rücken. »Fertig. Wie fühlen Sie sich?«

Kurz darauf konnte ich den Kopf wieder drehen und sah, wie Gina auf das Tablet starrte. Ich schaute in die andere Richtung und bewegte Arme und Beine. Abgesehen davon, dass sich mein Kreuz und mein Nacken ein wenig schwerer anfühlten und ich in meinen eingeklemmten Haaren ein Ziehen spürte, ging es mir gut. Ich griff nach dem Handtuch, das jetzt meinen Unterkörper bedeckte, und zog es nach oben. »War’s das? Kann ich jetzt in diesen Overall schlüpfen?«

»Sicher. Warten Sie eine Minute, dann können Sie versuchen aufzustehen. Falls Sie Gleichgewichtsprobleme haben, nehme ich eine Feinabstimmung vor.«

Ich stemmte mich in die Sitzposition hoch und schlang das Handtuch noch enger um meinen Körper. Obwohl diese Frau lediglich tat, was ich verlangt hatte, fühlte ich mich missbraucht und war wütend. Aber sie hatte so weiche, einfühlsame Hände, dass ich nicht länger wütend bleiben konnte, selbst wenn ich es gewollt hätte. Dabei versuchte ich es. Ich dachte an all die Dinge, die mich sonst immer wütend machten – an Machos, Schläger, unerwünschte Anrufer und Stromausfälle –, aber das Gefühl jagte wie ein Schnellzug an mir vorbei, ohne dass ich es schaffte aufzuspringen, und dann war es fort. Da es mir nicht gelang, Wut darüber zu empfinden, dass mein Gehirn von einem Gerät kontrolliert wurde, versuchte ich es mit Angst. Ich dachte an eine Gruppe betrunkener Männer auf einer verlassenen Straße, an das Geräusch von splitterndem Glas und Fußgetrappel mitten in der Nacht. Ich spürte, wie meine Nebennieren Adrenalin ausschütteten, doch es verflüchtigte sich sofort wieder. Ich probierte es mit Empörung und Scham – nichts. Ich versuchte, etwas komisch zu finden. Versuchte zu lachen, aber die Laute erstarben, bevor sie mir über die Lippen kamen.

»Wir versetzen unsere Besucher in den vollen SSRI-Modus. Besonders, wenn sie nur kurz hier sind. Sie haben keine Zeit, sich an die Umgebung zu gewöhnen, darum balancieren wir Ihre Gefühle aus, indem wir mithilfe von Nanorobotern Ihren Serotonin- und Dopaminspiegel kontrollieren. Das kommt Ihnen vielleicht etwas merkwürdig vor. Aber ich habe gehört, dass es gleichzeitig eine beruhigende Wirkung hat. Es handelt sich um ein elektronisches Opiat. Fühlt es sich gut an?«

»Ich will nicht, dass es sich gut anfühlt«, sagte ich und brachte es endlich fertig, mich hinzustellen. Eigentlich wollte ich ihr gegenüber nicht so ehrlich sein, aber aus irgendeinem Grund … konnte ich nicht anders.

»Prima. Ihr Gleichgewichtssinn funktioniert bestens.« Gina wandte den Blick ab und verstaute ihre Ausrüstung diskret in ihrer Aktentasche, während ich in den Trainingsanzug stieg. Ich faltete meine Unterwäsche zusammen und legte sie in den Spind. Dabei vergewisserte ich mich, dass das Päckchen, das ich mitgebracht hatte, immer noch tief in der Innentasche meines Mantels steckte. »Was ich als Nächstes tun werde, empfinden einige Leute als ziemlich unangenehm, fürchte ich. Es tut mir leid, aber es ist notwendig: Wir müssen Ihre Aversionslevel überprüfen. Setzten Sie sich bitte bequem hin.«

»Aversionslevel?«

Gina nahm mit dem Tablet in der Hand neben mir Platz. Darauf waren mehrere Skalen zu sehen. »Anfangs haben die Besucher in Green Valley versucht, die Vorrichtung von Hand abzuschalten. Vielleicht litten sie unter Übelkeit, vielleicht waren sie überwältigt von all den Eindrücken – wer weiß. Vielleicht waren sie auch einfach nur gelangweilt. Einige von ihnen hielten es trotz der eindringlichen Warnung, sich nur in diesem Raum hier ordnungsgemäß trennen zu lassen, für angebracht, das I auszustöpseln und sich das Interface vom Körper zu reißen. Die Auswirkungen waren, sagen wir mal, weniger schön. Oder ›suboptimal‹, um es mit den Worten der Entwicklungsabteilung zu sagen. Man musste eine Möglichkeit finden, um das zu verhindern, also nutzten sie dafür die physiologischen Prozesse, die bei Usern ausgelöst werden, wenn sich wie bei mir die Großhirnrinde der virtuellen Welt widersetzt. Sie entwickelten ein Aversionssignal, das immer dann, wenn sich jemand an dem System zu schaffen macht, aktiviert wird. Es sorgt dafür, dass der Besucher physiologisch nicht in der Lage ist, die Vorrichtung zu entfernen. Außer in diesem Raum.«

»Eine Art elektronisches Hundehalsband?«, fragte ich. Soeben war mir schmerzlich bewusst geworden, dass sie meinen Körper mit einem gefährlichen elektronischen Schaltkreis verbunden hatte. »Eines, das dem Hund einen Stromschlag verpasst, sobald er das Grundstück verlässt?«

»Ja.« Gina zog die Mundwinkel zu einem kühlen Lächeln nach oben. »So was in der Art.« Und dann, ohne Vorwarnung, begann sie erneut, mich zu quälen.

Irgendwo im unteren Teil meines Kopfes, der tiefer hinabreichte, als es eigentlich möglich war, fing ich an zu zittern. Es fühlte sich an, als würden lauter kleine Wesen in Todesangst durch die Tunnel jagen, die plötzlich durch mein Gehirn führten. Und während sie sich, erfüllt von panischem Entsetzen, meinem Wahrnehmungszentrum näherten, begann ich zu ahnen, wovor sie flohen. Alles, was ich und diese unzähligen flüchtenden Schatten je gefürchtet hatten, hatte sich wie eine Faust zu einer einzigen Masse zusammengeballt. Sie bewegte sich so schnell, dass sie mich beim Aufprall zerschmettern würde; und bevor ich auch nur einen Schrei ausstoßen konnte, war sie da, und ich zersprang in tausend Scherben. Jede von ihnen brannte vor Furcht, und ich musste mich erleichtern.

Doch dann zog sich die Masse wie eine Explosion im Weltall, die vom Vakuum verschluckt wird, blitzartig wieder in sich zusammen.

Ich bemerkte das schwache Licht, das durch meine Augenlider drang, vorbei an meinen Fäusten, die ich gegen mein Gesicht gepresst hatte. Ich lag wie ein Embryo zusammengerollt auf dem Boden und spürte meine verkrampften Muskeln. Schließlich entspannte ich mich und hörte, wie mein Schrei von den Wänden widerhallte. Allmählich konnte ich mich wieder bewegen. Als ich die Arme lockerte und den Hals hob, sah ich auf dem blauen Linoleumboden eine Pfütze meines eigenen Urins.

»Die Aversionslevel sind kalibriert«, sagte Gina.

Ich hievte mich zurück auf die Bank, unfähig zu sprechen, unfähig, die Frau, die mich so quälte, anzuschreien. Wäre ich dazu in der Lage gewesen, hätte ich ihr die Hände um den Hals gelegt und das Leben aus ihr herausgepresst. Aber noch während ich das dachte, verflog dieses Gefühl wieder. Denn in einem verborgenen, umnebelten Bereich meines Verstands wusste ich, dass das nicht richtig war, und außerdem war ich ihr dankbar, weil sie es mir ermöglichte, meine Familie zu besuchen. Vor meinem geistigen Auge erschien Kiras kleines Babygesicht. Ich stellte mir vor, wie sie lächelte und kicherte.

Schließlich konnte ich meinen Mund wieder öffnen und mit den Lippen ein Wort formen. »Warum?«, war alles, was ich herausbrachte.

»Das I ist Green Valley«, wiederholte Gina. »So funktioniert das Ganze. Ich möchte Sie noch mal daran erinnern, dass das ein Vorgeschmack auf das war, was Sie erwartet, wenn Sie in Green Valley an dem I herumfummeln. Sollten Sie also irgendwelche Probleme haben und die Verbindung unterbrechen wollen, kommen Sie einfach her. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie nicht mehr weiterwissen.«

»Dann müssen Sie mir Ihre Nummer geben. Aber nehmen die Münztelefone hier überhaupt normales Geld?«

Gina blieb stehen und starrte mich an, und für einen Moment kam ich mir wie eine Idiotin vor. Natürlich gab es in Green Valley keine Münztelefone und auch keine Telefonnummern. »Benutzen Sie einfach das I. Fragen Sie einen der Betreuer, wenn Sie drin sind. Ich könnte Ihnen das jetzt zwar alles erklären, aber wir sollten uns besser beeilen. Ihre Besuchszeit endet um fünf. Sie wollen doch nicht den ganzen Tag damit verbringen, sich mit mir zu unterhalten, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. Mir war zwar klar, dass mein Tag angenehmer verlaufen würde, wenn ich kehrtmachte und direkt wieder nach Hause zurückfuhr, aber jetzt hatte ich es schon so weit geschafft …

»Also schön«, sagte Gina. »Fehlen nur noch die Linsen, dann können Sie rein.« Sie betrachtete die Pfütze vor meiner Hose auf dem Boden. »Ich werde Ihnen ein paar saubere Sachen holen. Damit hätte ich rechnen müssen«, murmelte sie und ließ mich auf der Bank sitzen, während ich versuchte, wieder gleichmäßig zu atmen.

Die Linsen waren die ältesten und bekanntesten Komponenten der I-Ausrüstung, und Barbra Reeve und Bill Schindler von Sentinel hatten mich beauftragt, eine davon in meinen Besitz zu bringen.

Zur Blütezeit von Zeroth trugen achtzig Prozent von Stantons Einwohnern das I – man benötigte es zur Kontoführung, für Gehaltszahlungen und zur Jobsuche, um seinen Punktestand in der Verkehrssünderkartei abzufragen, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen, Eintrittskarten zu kaufen und um überall bargeldlos zu bezahlen. Sicher, es gab Milliarden von Menschen, die ohne das I auskamen, aber sie waren arm und für die Marketingleute nicht von Interesse, und nur wenige von denen, die die Wahl hatten, entschieden sich bewusst dafür, eine Existenz am Rande der Gesellschaft zu führen.

Damals trug man in einem Auge eine Linse, die die Wirklichkeit mit einer zusätzlichen Ebene überlagerte – es handelte sich eher um eine erweiterte Form der Realität und weniger um eine virtuelle Alternativwelt. Als ich nach der Universität meinen ersten Job bekam, kaufte ich mir ein eigenes I, und für mehrere Jahre besaß ich stets die vorletzte Version davon. Wir wussten zwar, dass mir das weiterentwickelte I in Green Valley nichts Neues zeigen würde, aber natürlich war uns klar, dass vor allem die ausgeklügelten Signale an meine Seh-, Hör-, Geruchs- und Geschmacksnerven die Faszination dieser virtuellen Welt ausmachten. Barbra und Schindler vermuteten, dass die weiterentwickelte Linse auf die alte, bewährte Technologie zurückgriff, die am ehesten überflüssige Informationen enthielt und damit anfällig für einen Hackerangriff war. Dort würden sie wahrscheinlich, hinter veralteten Verschlüsselungsprogrammen, auf einen neuen Code stoßen. Außerdem war eine Linse klein genug, um sie zu verstecken und nach draußen zu schmuggeln. Darum hatte man mir eine falsche Linse und einen signalgeschützten Beutel mitgegeben. Niemand bei Sentinel hatte etwas von dem Spinaltransponder gewusst, den Gina an meinem Körper angebracht hatte. Ich vermutete, dass er meinen Tastsinn und meine Bewegungen minutiös kontrollierte. Die Unannehmlichkeiten der Installation und selbst die demütigende Panik, die ich während des Aversionstests empfunden hatte, waren nur noch eine vage Erinnerung, und ich sah meinem Besuch in Green Valley voll freudiger Erregung entgegen.

Verglichen mit dem Rest des Is verlief das Einsetzen der Linsen schmerzlos. Wie die Exemplare, die ich bereits kannte, glitten sie ohne größere Unannehmlichkeiten über meine Iris. Ich spürte kaum, wie sie sich an meine Augen anpassten, es war mehr eine Ahnung. Beim Einsetzen vibrierten sie kaum merklich, und ich fürchtete, dass gleich ein stechender Schmerz durch mein Gehirn jagen würde, doch sie schmiegten sich so perfekt an, dass ich sie gar nicht mehr spürte.

Gina führte mich zum Ausgang, auf dessen dunkler Tür die Worte »Green Valley Marktplatz« standen. »Ich hole Sie um fünf wieder ab«, sagte sie. »Genießen Sie Ihren Aufenthalt.«

3

Ich hatte das Gefühl, in der Erde zu versinken. Obwohl ich wusste, dass ich festen Boden unter den Füßen hatte, lief ich auf Zehenspitzen, als würde ich mir meinen Weg durch ein Sumpfgebiet bahnen. Ich stellte mir vor – oder spürte ich es tatsächlich? –, wie das Dröhnen meines Gehirns und das Knirschen meiner Knochen meine Ohren erfüllten, während sie die neuen Eindrücke verarbeiteten und sich darauf einstellten. Vor mir lag der Marktplatz, und zu meiner Überraschung sah er noch genauso aus wie damals, bevor man die Mauer um Green Valley gezogen hatte. Früher war in der Mitte der Touristenbroschüre für Stantons Bewohner und für die Besucher aus dem ganzen Land ein Foto davon abgedruckt gewesen: Besuchen Sie die wunderschöne Anlage der weltberühmten Zeroth Corporation in Stanton, der wir ME Music, Z-Play und das I verdanken. Die umweltfreundlichen Büroparks und das Wohndorf zeugen von den schonenden, innovativen Technologien, für die Zeroth bekannt ist.

Die Broschüre stammte aus der Zeit, bevor Green Valley unter Beton begraben wurde, und ich musste mir ins Gedächtnis rufen, dass der strahlend blaue Himmel und die Schäfchenwolken nur eine Illusion waren, die von einer Hardware in meinem Körper in meine Sinneszellen eingespeist wurde. Aber das Sonnenlicht fühlte sich warm an, wie echtes Licht. Ich machte ein paar vorsichtige Schritte unter den frühlingsgrünen Erlen – tatsächlich, in dem gesprenkelten Licht war es warm und im Schatten ein wenig kühler. Das war nicht möglich, aber genauso fühlte es sich an. Ein Vogel zwitscherte und flog davon, während ein Kind auf einem Skateboard an mir vorbeirollte.

Das Kopfsteinpflaster unter meinen Füßen war in den Broschüren als Beispiel für die beschauliche Atmosphäre in Green Valley angepriesen worden: Kleinstadtidylle in einer modernen Welt. Aber ich wusste, dass ich mich auf einer flachen, harten Fläche bewegte. Dass ich mich hier, direkt hinter der Mauer, ein gutes Stück abseits des Marktplatzes befand – oder abseits der Stelle, wo er früher einmal gewesen war. Plötzlich spürte ich ein flaues Gefühl in der Magengrube, und mir wurde schlagartig klar, dass der Marktplatz womöglich überall war, überall dort, wo der Nutzer ihn sehen wollte.

Nein, sicher nicht. Ich klopfte mit meinen Fingerknöcheln gegen einen Baum – er war massiv und aus Holz. Ich griff nach oben, zupfte eines der Blätter ab und rieb es zwischen meinen Fingern. Es riss auseinander und hinterließ eine grüne Flüssigkeit auf meiner Handfläche. Ich hätte schwören können, dass der Baum und das Blatt echt waren. Ich ging in die Hocke und fuhr mit den Fingerspitzen über den Boden, und obwohl ein Teil von mir wusste, dass dort nur nackter Asphalt war, spürte ich die geriffelte Oberfläche und die Kanten des kühlen Kopfsteinpflasters. Ich kratzte etwas Sand aus einer Ritze, und er blieb unter meinen Nägeln und an den Fingerspitzen hängen. Zugleich hatte ich das Gefühl, alles leicht verzögert wahrzunehmen, als würden die Schaltkreise in meiner Wirbelsäule eine Nanosekunde brauchen, um die Sinneseindrücke wiederzugeben. Nun, wahrscheinlich war ich einfach nur paranoid. Ich richtete mich wieder auf, brach ein Stück Rinde vom Baum ab und steckte es in meine Tasche.

Aber es ist nicht deine Tasche, meldete sich eine Stimme in meinem Innern zu Wort. Es ist die Tasche der Kleidung, die Zeroth dir geliehen hat.

Auf einmal tauchten am Rand meines Sichtfelds mehrere Schatten auf, und mein Magen fing an zu rumoren. Mir wurde schlecht. Aber ebenso plötzlich, wie die Panik begonnen hatte, verflog sie auch wieder, und als ich den Blick nach oben richtete und tief Luft holte, war meine Angst nur noch eine flüchtige Erinnerung. Ich dachte an die Nanoroboter, die meinen Organismus kontrollierten und zwischen meinen Synapsen und in meiner Wirbelsäule Signale übermittelten, und erneut empfand ich ein vages Gefühl der Dankbarkeit, weil sie mir halfen, meine Eindrücke zu verarbeiten.

Ich setzte mich in Bewegung und kam an jungen Müttern mit Kinderwagen und Personen mittleren Alters vorbei, die ihre Hunde Gassi führten. Ein Pärchen joggte vorüber; die beiden trugen Trainingsanzüge und hörten Musik aus Playern, die an ihre Oberarme geschnallt waren. Sie lächelten mich an. Ich lief zu dem weiß getünchten Pavillon hinüber, der auf einer viertelkreisförmigen Rasenfläche stand, und spähte über das Geländer. Vor mir befand sich die Ladenzeile der Main Street, die in den Artikeln über Green Valley angepriesen worden war, und die anderen drei Seiten des Platzes wurden von den eleganten Reihenhäusern gesäumt, um die wir die Leute hier so beneideten.

Erst in diesem Moment bemerkte ich, dass die Mauer verschwunden war. Beim Verlassen des Verbindungsbüros hatte ich mich nicht umgedreht, und jetzt erstreckte sich an der von Bäumen überschatteten Straße, wo eigentlich die Mauer hätte sein müssen, eine Häuserzeile und darüber der blaue Himmel. Autos waren keine zu sehen. Die Leute gingen zu Fuß, joggten oder fuhren mit dem Fahrrad.

In meinen Ohren ertönte eine sanfte Melodie, und vor mir materialisierte sich ein Mann. »Lucie?«, sagte er. Der Mann mittleren Alters hatte einen konservativen Haarschnitt und trug einen grauen Büroanzug und glänzende Slipper. Dazu ein weißes Hemd und eine blau gestreifte Krawatte, die von einer silbernen Krawattennadel geziert wurde. David hatte sich nie auf diese Weise gekleidet – seine Aufmachung war ihm nie wichtig gewesen; er betrachtete das Ganze als eine lästige Notwendigkeit, und dieser elegante, traditionelle Stil war viel zu zeitaufwendig und ausgefallen für ihn. Aber sein Gesicht mit den attraktiven, unverwechselbaren Zügen und der glatten Haut sah immer noch so aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Um mein Entsetzen über seinen konservativen Aufzug zu zerstreuen, richtete ich meinen Blick auf sein Gesicht.

Als ich vortrat, um ihn zu umarmen – diese selbstverständliche Geste der Vertrautheit hatte mein Körper seit Jahren vermisst –, schwebte David von mir fort, und ich begriff, dass es sich bei dem Bild meines Exmanns um einen Avatar handelte und dass er, was auch immer sich für ein Körper hinter dem Bild verbarg, nicht hier war; dies war ein Telefonanruf.

»Hi, David. Kannst du mich hören? Kannst du mich sehen?«, sagte ich, während rechts oben in meinem Blickfeld ein Bild der blonden Plain Jane erschien. Sie war von einem leuchtenden Kreis umgeben, der offensichtlich anzeigte, dass eine Verbindung zustande gekommen war.

»Du bist also hier«, sagte David. »In Green Valley.«

Mit einem verlegenen Blick auf die Blondine, die mich repräsentieren sollte, stieß ich hervor: »Das bin nicht wirklich ich, aber ich schätze, du weißt, dass ich es bin.«

»Keine Sorge, ich versteh schon«, sagte David abwesend und ohne zu lächeln. »Hör zu … äh, Lucie. Hier steht, dass ich dich hergebeten habe. Danke, dass du gekommen bist, aber ich weiß nicht, ob das … Ich kann mich nicht mehr erinnern, warum du hier bist.« Auf dem Gesicht des Avatars spiegelte sich teilnahmslose Leere.

»Herrgott noch mal, David.« Ich trat erneut vor, worauf das Bild zurückschwebte, ohne seine Größe zu verändern. »Ich bin hier, um dir bei der Suche nach Kira zu helfen.«

»Ach ja«, sagte er. »Ich kann mir so schlecht etwas merken.«

»Es ist schrecklich, was dieser Ort aus dir gemacht hat«, stieß ich hervor und versuchte, über diese schwache Verbindung all meine Gefühle der letzten acht Jahre zum Ausdruck zu bringen. »Du bist immer stärker gewesen als …«

Aber er hörte nicht mehr zu. Er fuhr herum und warf einen Blick auf etwas hinter sich, etwas, das ich nicht sehen konnte. Seine computergenerierten Augen waren von Angst erfüllt. »Nein, ich bin nicht –«, sagte David, bevor die Verbindung unterbrochen wurde und er verschwand. Der Kreis, der Plain Jane umgab, leuchtete rot auf, dann verschwand das kleine Bild ebenfalls.

Ich starrte immer noch auf die Stelle, wo David gerade zu sehen gewesen war. Eine Frau, die mit einem kleinen Kind an der Hand an mir vorbeilief, nahm offensichtlich keine Notiz davon – oder es war ihr egal –, dass ich mit verwirrtem Gesichtsausdruck mitten auf dem Gehweg stand und ins Leere starrte.

Gina Orban hatte irgendwelche Betreuer erwähnt. Ich musste einen von ihnen aufsuchen und fragen, wie ich David zurückrufen oder ausfindig machen konnte.

»Entschuldigen Sie«, rief ich der Mutter mit dem kleinen Kind hinterher. Sie drehte sich um und lächelte, während das Kind zu mir hochschaute und an seinem Finger knabberte. »Können Sie mir sagen, wie ich –«

Ich wurde von einer Melodie und einer sanften Stimme in meinem Kopf unterbrochen. Sie klang überaus vertraut, aber ich brauchte einen Moment, um sie einzuordnen. Dann fiel es mir wieder ein – es war die Stimme von Clara, der persönlichen digitalen Assistentin von Zeroth, eine von drei Stimmen, die man auf dem I auswählen konnte. Vor der Wende hatten Millionen von Menschen morgens nach dem Aufwachen vertrauliche Gespräche mit ihr geführt. Als hätte sich seitdem überhaupt nichts verändert, sagte sie: »Ich habe einen Termineintrag für Lucie Sterling.« Dann war Davids aufgezeichnete Stimme zu hören, und auch diesmal klang sie völlig ausdruckslos: »Ich treffe mich mit dir in fünf Minuten im Asbury Café.« Darauf fragte die Computerstimme: »Wollen Sie sich jetzt zum Asbury Café begeben?«

»Ja?«, sagte ich unsicher. Ich bemerkte, dass die Mutter auf dem Gehweg noch immer geduldig auf mich wartete, während das kleine Kind an ihrem Ärmel zerrte. Rasch schüttelte ich den Kopf und gab ihr mit meinem Gesichtsausdruck zu verstehen, dass alles in Ordnung sei, denn ich wollte nichts sagen, was den Computer durcheinanderbringen konnte. Die Frau nickte und lief weiter.

»Wie wollen Sie sich zum Asbury Café begeben?«

Ich hatte keine Ahnung, wie ich es in fünf Minuten dorthin schaffen sollte. Ich hatte bisher weder ein Auto noch ein Taxi noch einen Bus gesehen. »Wie weit ist es bis zum Café?«, fragte ich, als mir wieder einfiel, wie wir das I früher benutzt hatten; man sprach mit der Stimme, als handelte es sich um einen menschlichen Assistenten.

»Das Asbury Café befindet sich zweihundertdreiundsiebzig Meter von Ihrem derzeitigen Standpunkt entfernt. Die geschätzte Reisedauer unter den momentanen Verkehrsbedingungen beträgt eine Minute und zwanzig Sekunden.«

»Dann werde ich laufen.«

»Zeige Wegbeschreibung an. Zu Fuß. Zum Asbury Café«, sagte Clara, und vor mir erschien eine Karte mit einem blinkenden Pfeil und der Route über den Marktplatz.

Das Café befand sich direkt in der Main Street, und hinter einer Glasscheibe konnte ich junge Berufstätige sehen, die an Holztresen vor einer unverputzten Backsteinwand saßen oder an den großen Tischen ihrer Arbeit nachgingen. Alles sah genauso aus wie ein Bild aus der Zeroth-Werbung von vor zehn oder fünfzehn Jahren, und ich war mir sicher, dass ich einen Hipster mit einem Laptop neben seiner grünhaarigen Partnerin daraus wiedererkannte, sowie einen kahlköpfigen Mann mit der Statur eines Wrestlers in einem weißen T-Shirt, der an einem großen Tisch weiter hinten einen Proteinshake trank. Ich drückte die leichtgängige Tür auf und ließ meinen Blick über die Kunden wandern, und während ich beobachtete, wer zu mir aufschaute, versuchte ich vergeblich herauszufinden, wer von ihnen real war und wer zum Inventar gehörte. Sie wirkten alle so real wie die Menschen in den Cafés auf der anderen Seite der Mauer. Nur dass die Leute in Stanton mit Stiften auf Papier schrieben, Hautunreinheiten, Tränensäcke und dünnes Haar hatten und sich in der Regel unterhielten oder ein Buch lasen, statt auf elektronische Geräte zu starren.

Ich setzte mich an den Tresen neben dem Fenster, sodass David mich sehen würde, und ein extrem durchtrainierter Mann in einem engen Hemd trat zu mir, um meine Bestellung aufzunehmen.

»Ich warte nur auf jemanden.«

»Sicher«, sagte er und lächelte, sodass seine makellosen Zähne zum Vorschein kamen. »Sagen Sie Bescheid, wenn Sie was bestellen möchten. Wir haben frisch gebackene Muffins.« Mir stieg der intensive, warme Duft von Schokoladen- und Erdbeermuffins in die Nase. Oder besser, er wurde direkt in