Die Beschützerin - Susanne Kliem - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Beschützerin E-Book

Susanne Kliem

0,0
7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Janne Amelung, erfolgreiche Event-Managerin bei einem Berliner Fernsehsender, muss ihre Abteilung vor Unternehmensberatern präsentieren. Die Atmosphäre ist angespannt – es steht viel auf dem Spiel. Umso erleichterter ist Janne, dass Vanessa Ott aus dem Beraterteam aufgeschlossen und sympathisch wirkt und sogar den privaten Kontakt zu ihr sucht. Janne lässt sich dankbar darauf ein – auch wenn sie das starke Interesse der Beraterin insgeheim irritiert. Aber Nein sagen ist nicht gerade ihre Stärke.
Kurze Zeit später hat sich Jannes Situation komplett gewendet: Sie wird zum Opfer von Mobbing und Intrigen, selbst ihre engsten Kollegen misstrauen ihr nun. Dann dringt jemand heimlich in ihre Wohnung ein, benutzt ihre persönlichsten Dinge. Als ihr eine Affäre angehängt wird und ihre große Liebe Gregor sich von ihr abwendet, erkennt Janne, dass sie Opfer eines teuflischen Plans ist. Aber wer steckt dahinter?
Es ist jemand, der sie ganz genau durchschaut und ihr immer einen Schritt voraus ist ...

Ein subtiler Thriller über Machtmissbrauch, Manipulation und die Angst, niemandem mehr trauen zu können.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 402

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Christiane

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. 1. Auflage

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014

bei carl’s books, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-12450-2V002www.carlsbooks.de

Prolog

In der Wohnung ist es vollkommen still. Das ist ihr wichtig gewesen, ein ruhiges Schlafzimmer. Doch sie mochte auch die Kinderstimmen am Nachmittag im Hof. Nun wird sie nie mehr an diesen Ort zurückkehren.

Du aber bist noch einmal hier. Du lehnst am Fenster. Die letzten Blätter der Esche leuchten gelb vor dem schmutzigen Grau der Hofmauer. Mit jedem Blatt, das zu Boden schwebt, verschwindet ein Stück des Sommers. Bald werden nur noch die kahlen Äste übrig bleiben. Einen endlosen kalten Winter lang.

Du betrachtest ein letztes Mal das Bild. Ein Fotopanorama auf Leinwand, so breit wie das Bett. Sandmulden, Wurzelgestrüpp, ausgedörrte Gräser. Graue Erde, erdrückt von einem schwefelgelben Himmel. Farben, die in der Hitze flirren. Den Tiger entdeckst du später, auf den zweiten Blick, dabei weißt du, dass er dort lauert, im Staub. Er verschmilzt mit der Steppe, den Körper zum Sprung bereit, die Augen auf das stumpfe Fell der Antilope gerichtet, die schon in wilden Zickzack-Sprüngen vor ihm flüchtet. Seine hungrigen Augen. Die Beute hat keine Chance. Es liegt eine tiefe Gewissheit in seinem Blick, dass er siegen wird.

Du wendest dich ab. Nur noch einmal ins Badezimmer schauen. An den Fliesen in der Dusche haften glitzernde Tropfen. Zart schwebt der Duft nach Rosen in der Luft, das Handtuch bewahrt noch die warme Feuchtigkeit ihres Körpers. Du spürst den Frieden dieses Ortes. Du selbst warst Teil davon, gehörtest dazu.

Verabschiede dich.

Kein Blut. Keine Spuren. Du willst diesen Ort so in Erinnerung behalten. Und deshalb soll sie nicht hier sterben.

Dennoch, in wenigen Stunden wird die Wohnung voller Menschen sein. Männer in weißen Overalls werden nach Hinweisen suchen. Sie fordern von diesem Ort eine Erklärung.

Beeil dich. Beende es.

Du gehst ins Wohnzimmer, streifst die Handschuhe über und setzt dich an ihren Schreibtisch. Die Farbe des Briefbogens erinnert an blassen Flieder. Es ist edles Büttenpapier, weich fließt die Tinte hinein, leicht fliegen die Worte dir zu. Du musst nichts erfinden. Du weißt, wovon du schreibst. Du malst die Buchstaben, das V von Verzweiflung, das A von Abschied. Und das T von Tod. Als ob du deine eigene Handschrift vergessen hättest. Du setzt die Unterschrift darunter, ein letztes Mal das schwungvolle K. Du faltest den Papierbogen, presst die Kanten zusammen, die zarten Fasern brechen. Dann steckst du ihn in den fliederfarbenen Umschlag und legst ihn aufs Kopfkissen. Auch hier ist der Geruch, ihr Duft. Hängt er im Betttuch? Ein kleiner Rest Wärme und Leben.

Du möchtest lächeln, doch dein Gesicht fühlt sich an wie gefroren.

Noch einmal streichst du über die Bettdecke.

Geh. Beende es.

Du ziehst die Tür hinter dir zu.

1

Als ich Vanessa Ott zum ersten Mal begegnete, hatte ich fast zwanzig Stunden durchgearbeitet. In der Hektik hatte ich meine Kleider vom Vortag angezogen und fühlte mich klebrig und verschwitzt. Seit Tagen kletterte das Thermometer auf dreißig Grad, und der Dresscode im Sender war außer Kraft gesetzt. Sogar der Vorstandschef lief kurzärmelig herum. Vanessa Ott schien die Hitze nicht zu spüren. Das fiel mir sofort an ihr auf. Ihr Make-up war perfekt aufgetragen. Sie trug eine langärmelige Bluse, deren Manschetten bis zu den Fingerknöcheln reichten, und die Hand, die sie mir zur Begrüßung hinstreckte, war kalt.

Das war an einem Montagmorgen gewesen, doch der Startschuss für die Ereignisse war bereits am Tag zuvor gefallen.

Wenn mir an diesem Sonntag jemand verraten hätte, dass meine wunderbaren Pläne ins Wasser fallen würden, hätte ich mich einfach im Bett umgedreht und weitergeschlafen. So aber blinzelte ich freudig in die ersten Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fielen. Gregor lag auf dem Bauch und hatte seinen Kopf ins Kissen vergraben. Er war nackt und seine Zudecke halb auf den Boden gerutscht. Ich betrachtete seinen Körper und widerstand der Versuchung, über seinen Rücken zu streichen. Ich wollte ihn noch nicht wecken, Gregor liebte es, am Wochenende auszuschlafen. Doch für heute hatten wir geplant, zum Segeln an die Ostsee zu fahren, und das lohnte sich nur, wenn wir rechtzeitig aufbrachen. Ich beschloss, ihm eine Schonfrist zu gönnen, ging leise ins Bad, dann in die Küche, machte mir einen Milchkaffee und setzte mich in die Werkstatt auf ein gemütliches, durchgesessenes Sofa im Empirestil. Tische und Stuhlgruppen, aber auch Truhen, Kommoden und Sofas aller Stilrichtungen warteten hier darauf, restauriert zu werden. Durch Spinnweben und Staub an den Fensterscheiben fiel diffuses Licht auf eine Welt ganz in Braun. Der Holzboden, die Werkbänke und Maschinen, die hölzernen Möbel, alles war bedeckt von einer Schicht aus Sägemehl, und der Anblick erinnerte mich an ein vergilbtes Bild auf einer alten Postkarte.

Ich hörte ein Rascheln in meinem Rücken und drehte mich um. Gregor stand in der Tür, das Haar verstrubbelt, er hatte sich eine Boxershorts angezogen.

»Hab ich dich geweckt?«, fragte ich.

»Ich konnte sowieso nicht mehr schlafen. Es ist einfach zu warm.« Er kam zu mir und küsste mich in die Halsbeuge. »Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«

Ich kontrollierte mit der Hand die Hochsteckfrisur, die ich zum ersten Mal ausprobiert hatte. Sonst trug ich mein rotblondes Haar meist offen, oder ich band ein buntes Tuch hinein. »Gefällt es dir?«

Er betrachtete mich. »Sieht ja sehr seriös aus. Aber man kommt besser an deine Pfirsichhaut heran. Lass mich nochmal probieren.« Seine Lippen wanderten über meinen Nacken und meinen Hals. »Klasse, die Frisur.« Er blickte auf. »Ist es gestern spät geworden?«

»Nicht sehr. Vielleicht halb zwei? Ich hab mir ein Taxi genommen.«

»Und? Wie lief die Preisverleihung?«

Er fragte das ohne besonderes Interesse. Als Event-Managerin beim Fernsehsender Alfa.Sat musste ich häufig zu Abendveranstaltungen, die meine Abteilung organisiert hatte. Gregor hatte fast nie Lust mitzukommen. Er mochte die Atmosphäre im Sender nicht. »Die sind doch alle überspannt in deiner Glamour-Glitzer-Fernsehwelt«, war seine Meinung. Das letzte Mal begleitet hatte er mich zur internen Weihnachtsparty. Dort war er allen aufgefallen, besonders die Kolleginnen waren von ihm fasziniert. Er besaß nichts von der aufgeregten Geschäftigkeit und manchmal künstlichen Fröhlichkeit, die wir bei Alfa.Sat an den Tag legten, sondern strahlte coole Gelassenheit aus.

»Es lief gut. Jörg hat wunderbar moderiert. Wir haben hinterher noch einen Sekt zusammen getrunken.«

Gregor runzelte die Stirn. »Jörg Ermgassen? Du hast mir nicht erzählt, dass er dort ist.«

Jörg war Moderator bei Alfa.Sat, ein bekanntes Fernsehgesicht, und er hatte eine Zeit lang vergeblich versucht, mit mir eine Affäre anzufangen. Abgesehen von meiner Beziehung zu Gregor hatte ich wenig Lust gehabt, eine seiner unzähligen Eroberungen zu sein und mein Foto in der Gala zu entdecken. Gregor schien ein bisschen eifersüchtig zu sein, und das gefiel mir. Ich stand auf und schmiegte mich an ihn. »Wärst du sonst mitgekommen, um auf mich aufzupassen?«

Er grinste. »Nö. Gestern war Champions League.«

Ich kniff ihn in die Hüfte, wo eine leichte Wölbung verriet, dass Gregor selbst nicht mehr so regelmäßig Sport trieb.

»Du Biest.« Er biss mir spielerisch ins Ohrläppchen. »Mach mir Kaffee, ich muss noch packen.«

Ich löste mich von ihm und ging zurück in die Küche. Meine Reisetasche stand schon an der Tür. In der letzten Zeit hatte ich viele Überstunden gemacht, und dieser Tag zu zweit erschien mir wie ein Geschenk. Wir würden segeln, dann den Anker werfen, in der Sonne liegen, baden, am Abend in einem Fischrestaurant essen und so spät wie möglich nach Berlin zurückfahren.

Das Segelboot hatte früher meinem Vater gehört. Meine ganze Kindheit hindurch war ich mit ihm darauf gefahren, während meine Mutter sich meist geweigert hatte, mit an Bord kommen. Ihr war es zu eng und unkomfortabel, und bei stärkerem Wind bekam sie Angst. Als mein Vater vor drei Jahren an Krebs gestorben war, hatte ich das Boot zum Verkauf angeboten. Doch als sich die ersten Interessenten meldeten, merkte ich, dass ich zu sehr daran hing. Als würde ich die letzte Verbindung zu meinem Vater kappen, wenn ich sein Boot weggab.

Gregor war im Schlafzimmer verschwunden. »Was meinst du, brauche ich einen Pullover?«, rief er durch die geöffnete Tür.

»Pack lieber einen ein. Auf dem Wasser kann es frisch sein.«

Mein Handy klingelte. Erstaunt sah ich, dass es Lucy Reeves’ Nummer war. Sie war die persönliche Referentin von Helmut Lehner, unserem Vorstand im Sender.

»Hallo Janne. Tut mir leid, dich am Sonntag zu stören, aber es gibt ein Problem. Du weißt ja, dass morgen früh die Unternehmensberater kommen.«

»Klar, Gunter von Hirten hat mir das schon vor Wochen gesagt.«

Seit mein Chef erfahren hatte, dass Bloomsdale Consulting den Sender umkrempeln würde, war er extrem nervös und reizbar. Er wollte seine Marketingabteilung so vorteilhaft wie möglich präsentieren und hatte sich akribisch vorbereitet.

»Janne, bitte entschuldige, das kommt jetzt sehr plötzlich, aber Helmut Lehner hat angeordnet, dass du das Bloomsdale-Team betreuen sollst.«

»Was? Wieso denn das?«

Sie zögerte. »Gunter von Hirten muss nach London. Eine Dienstreise, das hat sich kurzfristig ergeben. Ich weiß es auch erst seit gestern Abend. Und deshalb …«

»Ich soll das gesamte Marketing präsentieren?«, unterbrach ich sie fassungslos. Ich war mit meiner eigenen Event-Abteilung nur ein kleiner Teil davon.

»Lehner hat volles Vertrauen zu dir. Du machst das schon.«

Gregor stand, noch immer nur in Shorts, mit seinem Rucksack über der Schulter in der Tür und sah mich neugierig an. »Was ist los?«, formten seine Lippen lautlos.

Ich schüttelte unwillig den Kopf. »Lucy, da ist doch was faul. Diese Unternehmensberater bekommen horrende Tagessätze. Von Hirten hat sich wochenlang vorbereitet. Ich kann doch nicht aus dem Stegreif …«

Lucys Stimme klang bestimmt. »Du hast noch zwanzig Stunden, bis sie da sind. Es gibt keine Alternative. Und Janne …? Betrachte es als Chance.« Sie räusperte sich. »Ich kann mich auf dich verlassen?«

Ich unterdrückte ein Seufzen. »Natürlich.«

»Gut.« Sie legte auf. Ich ließ das Handy sinken.

»Was machst du für ein Gesicht? Ist jemand gestorben?«, fragte Gregor scherzhaft.

»Unser Sonntag ist gestorben«, sagte ich wütend.

»Sag nicht, du musst arbeiten.«

Ich erklärte ihm die Lage.

»Du hast seit Wochen malocht wie eine Blöde, dein Samstag geht für den Sender drauf, und nun willst du auch noch den Sonntag im Büro verbringen?«

»Ich find’s auch bescheuert, aber ich kann nichts machen. Befehl von oberster Stelle.«

»Wieso sagen die so was nicht früher?«

»Weiß ich nicht. Für mich klingt das Ganze vollkommen unlogisch.«

»An deiner Stelle würde ich mich weigern. Komm, wir fahren los.«

»Und morgen? Wie stehe ich denn da? Die Bloomsdale-Leute müssen einen erstklassigen Eindruck bekommen. Die entscheiden über die berufliche Zukunft meines Teams. Und auch über meine. Ich hab eine riesige Verantwortung. Versteh das doch. Ich muss mich vorbereiten.«

Gregor schüttelte den Kopf. »Wenn du das Boot kaum noch nutzt, dann kannst du es auch gleich verkaufen. Und dir das Geld für den Liegeplatz sparen.« Er warf seinen Rucksack in die Ecke und ging in die Werkstatt.

Ich folgte ihm. »Jetzt sei nicht sauer.«

Er schwieg.

Ich wollte ihn gern für den Abend zu mir einzuladen, aber ich wusste nicht genau, wann ich fertig sein würde. Ich sagte lieber nichts. Wenn ich es nicht schaffte, würde er noch enttäuschter sein.

Gregor blieb vor einem Barockstuhl mit zerkratzten Beinen stehen, befühlte den fadenscheinigen Seidenbezug auf der Sitzfläche. Ich trat zu ihm und küsste ihn zärtlich auf die Schulter.

Er nahm mich nicht in den Arm. »Na toll. Dann arbeite ich eben auch heute.«

»Hast du was Dringendes zu erledigen?«

»Beschläge für ein Sideboard.« Er zeigte lustlos auf eine Möbelgruppe. »Das Teil da aus Nussbaum. Der Kunde holt es morgen ab. Für das übliche Taschengeld.«

»Du bräuchtest mal wieder einen vernünftigen Auftrag.«

»Ein ruhiges Wochenende mit dir wäre auch nicht schlecht.«

»Komm, wir machen uns noch einen Kaffee …«

»Nein, du musst los.« Sein Gesicht war verschlossen, und ich wusste, dass alle Versuche, ihn aufzuheitern, sinnlos sein würden.

»Hab trotzdem einen netten Tag.«

»Du auch.« Er trat zu mir und wischte mir ein wenig Staub von der Hose. Wir küssten uns, und obwohl wir uns kaum berührten, spürte ich seine warmen Lippen.

»Wie siehst du denn aus?«, fragte mich Michaela, meine Assistentin, als ich sie Montagmorgen in unserer kleinen Mitarbeiterküche traf, gerade noch rechtzeitig vor dem ersten Termin mit Bloomsdale Consulting. »Hast du das Wochenende durchgefeiert?«

Ich grinste müde. »Schön wär’s. Ich bin seit gestern Morgen hier. Hab nur drei Stunden geschlafen. Und nicht mal Zeit zum Duschen gehabt.«

»Aber die neue Frisur sieht schick aus.« Michaela holte eine Tasse aus dem Schrank und stellte sie für mich in die Kaffeemaschine. »Erzähl mal, was war denn los?«

Ich erzählte ihr von Lucy Reeves’ Anruf und dass sie mich kurz danach bereits im Sender erwartet hatte. »Lucy hat mir Zugang zu allen Akten und Unterlagen der Marketing-Abteilung verschafft. Ich hab das Passwort zu Gunters Dienstcomputer.«

»Wahnsinn.« Michaela betrachtete mich fasziniert. »Freier Zugang zur Höhle des Löwen.«

Ich verschwieg ihr, welches Durcheinander ich in Gunter von Hirtens Dateienordnern vorgefunden hatte. Ich wollte ihn nicht bloßstellen. Aber es hatte mich eine Menge Zeit gekostet, mich in seinem chaotischen Ablagesystem zurechtzufinden.

»Wo ist er denn eigentlich?«

»Auf Dienstreise in London.«

»Ausgerechnet jetzt? Wo Bloomsdale Consulting kommt? Ich möchte wissen, was in deren Köpfen da oben vorgeht.«

Ich verzog den Mund. »Aus Lucy hab ich leider auch nicht mehr herausgekriegt.«

»Und warum hast du mich gestern nicht angerufen? Ich hätte dir doch helfen können.«

»Dann hätte ich dir dein Wochenende auch noch verdorben. Ich wusste doch, dass Steffen da ist.« Michaelas Freund wohnte in Frankfurt, und sie sahen sich nur alle paar Wochen.

»Er hätte Verständnis dafür gehabt.« Auf Michaelas Stirn bildete sich eine Falte. »Oder gab es einen Grund, dass du das lieber allein durchziehen wolltest?«

Ich blickte sie erstaunt an. »Hey, was redest du da? Ich hab es einfach nur gut gemeint.«

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, meinte Michaela, sichtlich irritiert.

»Wie wär’s mit ›Danke, Janne, dass du mir einen Sonntag im Büro erspart hast‹?«

Michaela wandte den Blick ab. »Okay … danke.«

Was war los? Glaubte sie, dass ich Informationen weitergeben wollte, von denen meine Mitarbeiter nichts wissen sollten? Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen.

»Michaela? Alles in Ordnung?«

Sie lächelte. »Ja, klar. Willst du noch Kaffee?«

»Unbedingt.«

Mir wurde bewusst, wie kompliziert die nächste Zeit werden würde. Ich war jetzt von Hirtens Stellvertreterin und musste an seiner Stelle die Mitarbeiter einschätzen und beurteilen. Alle würden mit Argusaugen beobachten, wie ich mich verhielt. Ich musste ab sofort aufpassen, was ich sagte.

Die Tür zum Konferenzraum hatte ich offen gelassen und wartete, an einen Fensterrahmen gelehnt, auf die Unternehmensberater. Sie kamen zu zweit, auf die Minute pünktlich, ein Mann im dunklen Anzug und eine sehr schlanke Frau in einer langärmeligen, cremefarbenen Seidenbluse und einem dunkelgrauen Stiftrock. Sie wirkten so förmlich, dass ich mir vorkam wie bei einem Bewerbungsgespräch.

»Guten Morgen, ich bin Janne Amelung«, begrüßte ich sie.

Das Gesicht der Frau war schmal. Das schwarze, glatte Haar trug sie auf Kinnlänge.

»Vanessa Ott, Bloomsdale Consulting.«

»Es freut mich, Sie kennenzulernen.« Wir gaben uns die Hand und tauschten unsere Visitenkarten aus. »Senior Consultant« stand auf ihrer. Auch ihr Kollege reichte mir seine Karte mit der gleichen Position.

»Mark Winter. Wie uns mitgeteilt wurde, vertreten Sie Gunter von Hirten als unsere Ansprechpartnerin für das Marketing.«

»Ja, das ist richtig«, entgegnete ich.

»Und in Ihrer eigenen Abteilung organisieren Sie diese … diese Spendengala für Kinder?«, fragte Mark Winter.

»Den Smiling Kids Day. Das Größte und Wichtigste von etwa hundertfünfzig Projekten, die wir im Jahr durchführen.«

Vanessa Ott lächelte. »Das Aushängeschild des Senders. Kompliment.«

»Und ein teurer Spaß«, sagte Mark Winter.

Spielten die beiden Good Cop, Bad Cop? Ich musste auf alles gefasst sein. Ich schätzte sie auf mein eigenes Alter, Anfang dreißig. Mark Winter trug eine dunkel umrandete Brille, war gut gebräunt und sah drahtig aus wie ein Marathonläufer.

»Frau Ott und ich werden uns zunächst einen Überblick über die Kosten-Nutzen-Struktur Ihrer Events verschaffen. Erfahrungsgemäß findet man im Bereich Charity eine Menge Einsparpotenzial. Seit wann gibt es diese Show?«

»Seit 2007, aber in den letzten zwei Jahren haben wir das Konzept erweitert«, sagte ich. »Wie Sie sicher wissen, treten internationale, prominente Gäste in der Fernsehshow auf. Parallel finden in Berlin und fünf weiteren Städten Klassik-Konzerte mit bekannten Sängern statt, zu denen live in die Sendung geschaltet wird.«

Mark Winter betrachtete mich so durchdringend wie ein Forscher ein seltenes Insekt. Er irritierte mich. Da niemand etwas entgegnete, erklärte ich weiter: »Die Zuschauer spenden per Anruf über ein Ted-System. Ein Großteil des Geldes geht an die Hilfsorganisationen, mit denen wir zusammenarbeiten. Das Geld wird in Kinderprojekte investiert, zum Beispiel …«

»Wir müssen noch nicht ins Detail gehen«, unterbrach er mich. »Zunächst verschaffen wir uns einen Überblick. Sie haben sicher ein schriftliches Konzept, das Sie uns vorlegen können?«

»Natürlich«, sagte ich. »Ich lasse es Ihnen gleich ausdrucken.« Ich rief Michaela an und gab durch, welche Unterlagen ich benötigte. Mark Winter legte unterdessen drei dicht beschriebene Papierbögen vor mir ab.

»Zunächst bearbeiten Sie bitte diesen Fragenkatalog zum abteilungsspezifischen Controlling. Es wäre hilfreich, wenn Sie uns die Informationen zügig liefern könnten.«

Ich überflog die ersten Punkte, froh, dass sie mit meiner Abteilung begannen. Hier fühlte ich mich auf sicherem Terrain. Ein internes Organigramm wurde gefordert. Ein weiteres, das die Abteilung hierarchisch in das Gesamtunternehmen einordnete, war schon vom Vorstand vorgelegt worden. Begriffe wie Profit-Center und Cost-Center sprangen mir ins Auge. Das konnte ja heiter werden.

Michaela kam mit den kopierten Unterlagen herein.

Während ich ihr die Blätter abnahm und Mark Winter reichte, betrat ein groß gewachsener Mann den Raum. Er hatte ein markantes, gut geschnittenes Gesicht und blondes Haar, das ihm in die Stirn fiel. »Mein Termin mit dem Vorstand ist beendet«, sagte er zu Vanessa Ott. »Ich bin dann im Headquarter.«

Sie wandte sich an mich und Michaela. »Dr. Helmut Eichstätt, Vice President von Bloomsdale Consulting.«

Michaela und ich stellten uns vor.

»Angenehm«, sagte er, doch sein Lächeln erreichte seine Augen nicht. Ein kühles Blaugrau.

Vanessa Ott strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Soll ich mich nachher melden?«, fragte sie.

»Von mir aus. Aber rechtzeitig«, gab Eichstätt zurück und verschwand mit energischen Schritten über den Flur.

Sie wandte sich mir zu. »Wir richten uns kurz in unserem Büro ein, und dann geht es los.«

Wie sich herausstellte, lag der Bloomsdale zugeteilte Raum nicht weit von meinem eigenen Büro entfernt. Ich begleitete die beiden. Unterwegs blickte Vanessa Ott rechts und links durch die geöffneten Türen und gläsernen Wände in die Büros, Mark Winter hingegen wandte nicht ein einziges Mal den Kopf zur Seite.

Einige Mitarbeiter hatten die Verbindungswände mit Postern zugehängt, um sich ein wenig Privatsphäre zu verschaffen, obwohl das von der Geschäftsführung nicht gern gesehen wurde. Wir sollten jederzeit erreichbar und ansprechbar sein, und wenn jemand gerade telefonierte, war das mit einem Blick zu erkennen. Von mir als Teamleiterin wurde erwartet, dass ich mit gutem Beispiel voranging, aber auch ich hatte ein großformatiges Plakat der Berlinale aufgehängt. Ich freute mich täglich daran, dass der smarte Hugh Jackman auf mich herablächelte und mir ein wenig Sichtschutz gab. Aber ich achtete gleichzeitig darauf, dass meine Tür immer offen stand.

»Hier ist es.« Ich führte die Unternehmensberater zu dem einzigen Raum auf der Etage, dessen Wände nicht aus Glas waren. Wir nutzten ihn manchmal als Abstellzimmer, hin und wieder auch, um Praktikanten unterzubringen. Zwei schlichte Resopalschreibtische waren in der Mitte zusammengestellt.

Vanessa Ott trat ein und öffnete das Fenster. Bestimmt war sie komfortablere Büros gewöhnt.

»Besonders groß ist es leider nicht«, sagte ich.

Sie lächelte. »Kein Problem, das wird schon gehen. Wir sind ja nur für ein paar Tage hier.«

»Gut. Ich lasse Ihnen einen frischen Kaffee bringen.«

Ich suchte Michaela. Obwohl ich dringend einige Telefonate erledigen musste, blieb ich noch einen Moment bei ihr in der Küche stehen.

»Die sind netter als ich erwartet habe«, meinte sie, während sie Espressobohnen in die Kaffeemaschine füllte. »Der Chef, dieser Dr. Eichstätt, sieht ja scharf aus. Das wäre mein Typ.«

»Wusste gar nicht, dass du auf Dressmen stehst.«

»Ich hab so meine Geheimnisse.« Sie kicherte. »Jedenfalls gefällt er mir besser als Mark Winter, das Brathähnchen.«

»Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf.« Doch auch ich musste lachen.

»Und wie findest du die Frau? Vanessa Ott? Hast du ihre Taille gesehen? Was trägt die? Höchstens zweiunddreißig, oder?«

»Kann sein.«

Michaela stellte zwei Tassen auf das Auffangsieb und drückte die Starttaste. Vanessa Ott und Mark Winter wollten ihren Kaffee schwarz und stark. Die Maschine röhrte.

»Wahnsinn, ich bin so dick geworden.« Michaela sah an sich hinunter. Sie war Diabetikerin und litt durch ihre Krankheit an Gewichtsschwankungen.

Ich betrachtete sie. »Finde ich nicht so schlimm. Klar, im Moment hast du ein paar Pfund mehr auf den Hüften, aber ich wette, das hast du bald wieder im Griff.«

»Ach Janne, wenn ich dich und deinen Optimismus nicht hätte«, meinte Michaela dankbar. »Aber trotzdem … so eine Figur wie diese Ott werde ich niemals haben.«

»Wozu auch?«

Michaela betupfte mit den Fingerspitzen ihre Wangenknochen. »Seit ich sie gesehen habe, fühle ich mich so ungepflegt. Kannst du das verstehen? Sie ist so … perfekt.«

Sie hatte recht, auch ich hatte mich vorhin dabei ertappt, Vanessa Ott anzustarren. Wie konnte sie eine derart makellose Haut besitzen, ohne ein Fältchen, ohne die kleinste Unreinheit? Michaela schwärmte weiter von Vanessa Ott, lobte ihre Eleganz, die Seidenbluse, die Handtasche und warf mit Namen von teuren Designerlabels um sich. Doch es fiel mir schwer, mich auf Michaelas Geplauder zu konzentrieren. Meine Gedanken schweiften zu Gregor. Wir waren für abends verabredet. Ich hatte ihm früh eine SMS geschickt, ihn zum Essen zu mir eingeladen, und er hatte zugesagt. Hoffentlich war er nicht noch sauer wegen des geplatzten Segeltages. Ich verdrängte den Gedanken. Das würde sich alles später klären. Jetzt musste ich meine ganze Kraft auf die Bloomsdale-Leute konzentrieren.

»Fertig?«, fragte ich. Michaela nickte und nahm das Tablett. »Auf in die Schlacht.«

Die nächsten zwei Stunden mit Vanessa Ott und Mark Winter vergingen wie im Flug. Ich gab ihnen einen groben Überblick über die Aktivitäten meiner Abteilung. Die Fragen, die sie mir stellten, waren sachkundig und klug. Ich fühlte mich gut vorbereitet, und die beiden schienen mit meinen Antworten zufrieden zu sein. Als ich sie, eingedeckt mit schriftlichen Informationen, für eine Stunde allein ließ, war ich bester Stimmung. Wenn es in den nächsten Tagen so weiterging, freute ich mich sogar auf die Zusammenarbeit. Mark Winter war auch jetzt nicht annähernd so freundlich gewesen wie seine Kollegin, er war eher der zurückhaltende Typ, aber ebenso sachlich und konstruktiv. Wenn ich an die Panik dachte, die sich seit Wochen im Sender verbreitet hatte … Viele Kollegen fürchteten den Einsatz der Unternehmensberater wie einen Weltuntergang und schaukelten sich gegenseitig hoch in ihrer Hysterie. Das kam mir nun völlig übertrieben vor. Ich war sogar ein wenig stolz, dass ich die Erste war, die von den beiden befragt wurde. Bisher hatte ich einen guten Eindruck gemacht, da war ich sicher.

Michaela wartete schon vor dem Aufzug auf mich. »Und? Wie ist es gelaufen?«

»Super. Ich glaube, mit den beiden haben wir richtig Glück, vor allem mit Vanessa Ott.« Ich erzählte ihr kurz von der Begegnung. Während wir nach unten fuhren, sah ich auf die Uhr. »Wir sind spät dran. Ich wünschte, ich hätte es schon hinter mir.«

Der Termin im Hotel de Rome, ein Treffen mit der Sängerin Miranda Glass, die sich für die Aftershow des Smiling Kids Day angeboten hatte, lag mir seit Tagen im Magen.

»Warum hast du nicht abgesagt?«, fragte Michaela. »Mirandas Ruf ist eine Katastrophe. Wenn wir sie nehmen, stehen wir als die Deppen da.«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie ist eine großartige Sängerin. Ich will mir lieber mein eigenes Bild machen, als der Klatschpresse zu glauben. Und die Gelegenheit ist doch perfekt. Sie hat im Rome ein Zimmer, es sind nur ein paar Schritte von hier …«

Die Eingangshalle des Hotels mit ihren hohen steinernen Säulen, den Blumenarrangements und den mit schwarzem Samt bezogenen Sitzgruppen faszinierte mich jedes Mal aufs Neue. Hier war es kühl und gleichzeitig behaglich, eine Welt für sich, abgeschieden vom Treiben auf dem Bebelplatz und den Touristenströmen Unter den Linden. Ein Hotelpage nahm uns in Empfang, und ich erklärte ihm, dass wir Miranda Glass und ihren Agenten Ralf Siebert im Opera Court treffen würden. Er führte Michaela und mich in den Raum mit eleganten Sitzgruppen, der den Hotelgästen als Aufenthaltsraum und Bibliothek offenstand, der aber auch für Veranstaltungen genutzt wurde. In einer Ecke stand ein schwarzer Flügel. Mirandas Agent hatte von sich aus vorgeschlagen, dass sie uns etwas vortrug. Er wusste, dass es nicht leicht sein würde, mich zu überzeugen.

Michaela und ich setzten uns.

»Hast du in der Presse noch mal was über sie gelesen?«, fragte ich. Michaela war immer auf dem Laufenden, was die Frauenzeitschriften und Boulevardblätter berichteten.

»Zum Glück nichts. Nach dem Konzert in München wurde sie ja böse verrissen. Diese Drogengerüchte. Seitdem ist sie wie vom Erdboden verschluckt.« Michaela machte es sich in dem ausladenden Ledersessel bequem. »Egal, wie sie heute drauf ist, du hast keine Garantie, dass sie nicht wieder zusammenklappt. Und was machen wir dann?«

»Sie hat seit sechs Monaten kein Engagement gehabt. Sie wird alles dafür tun, damit die Sache gut läuft«, sagte ich. »Ich möchte ihr eine Chance geben.«

Ich sah auf die Uhr. Es war fünf Minuten nach der verabredeten Zeit.

»Sie hat wirklich Nerven, dich warten zu lassen«, meinte Michaela. »In ihrer Situation …«

Wie aufs Stichwort erschien Ralf Siebert in der Tür. »Geht sofort los!« Er gab dem Hotelpagen ein Zeichen, die Verbindungstür zur Halle zu schließen. Ein schlaksiger junger Mann kam herein und setzte sich hinter den Flügel. Gleich nach ihm erschien Miranda Glass. Ich hielt kurz die Luft an. Sie war noch immer eine elegante Erscheinung in ihrem blauen, schmal geschnittenen Seidenkleid, aber ihr Gesicht wirkte grau und leicht aufgedunsen. Sie trug eine Sonnenbrille.

Ich stand auf, ging zu ihr und reichte ihr die Hand. »Janne Amelung von Alfa.Sat. Wir haben uns vor zwei Jahren beim Smiling Kids Day kennengelernt, das ist meine Mitarbeiterin, Frau Meiffert.«

Sie nickte, ließ jedoch nicht erkennen, ob sie mich oder Michaela wiedererkannte.

»Vielen Dank, dass Sie bereit sind, etwas für uns zu singen.«

»Es ist mir eine Freude. Ich würde sehr gern wieder bei der Aftershowparty auftreten.«

Sie nahm die Sonnenbrille ab. Ihre Augen blickten teilnahmslos. Sie ging zum Flügel und nickte dem Pianisten zu. Er schlug die ersten Takte an, und sie begann zu singen. »He left no time to regret …« Ausgerechnet Back to black, einen Song von Amy Winehouse, hatte Miranda gewählt. Ich versuchte, nicht an Amys tragisches Ende zu denken. Mirandas Stimme klang dunkler, rauchiger, als ich sie in Erinnerung hatte. Die Verbindungstür zur Halle öffnete sich, und Vanessa Ott kam herein. Michaela und ich sahen sie überrascht an. Sie blieb an der Tür stehen, bis der letzte Ton ausklang. Dann lächelte sie Miranda und Ralf Siebert zu und kam auf mich zu. Ich stand auf. »Brauchen Sie mich im Büro? Wir sind gleich fertig.«

»Nein, keine Eile.« Leise fügte sie hinzu: »Ich bin ein Fan von Frau Glass. Und als Sie vorhin sagten, dass Sie sie hier treffen, war ich einfach zu neugierig … Lassen Sie sich bitte nicht stören.«

»Miranda?« Ralf Siebert runzelte die Stirn. »Du wolltest doch One Moment in Time von Whitney Houston singen, nicht diese depressiven Sachen.«

»Mir war nicht danach«, entgegnete Miranda.

Ich spürte Michaelas Blick. »Zu riskant. Vergiss sie«, hieß das.

»Ich schlage vor, du singst noch einen zweiten Song.« Ralf Sieberts Munterkeit wirkte aufgesetzt, es fehlte nur noch, dass er in die Hände klatschte.

Miranda legte eine Hand an ihren Hals. »Ralf, ich glaube, es wäre besser, wenn … Meine Stimmbänder sind ein wenig angeschlagen.« Sie wandte sich zu mir, in ihren Augen sah ich die Qual, die es ihr bereitete, vorzusingen, als wäre sie eine Musikschülerin. »Es sei denn, Sie möchten noch etwas hören …«

»Nein, das ist völlig in Ordnung. Ihre Gesundheit geht vor.«

Ralf Siebert forschte in meinem Gesicht. »Sie konnten sich überzeugen. Miranda ist ganz die Alte, auch wenn sie eine Weile pausiert hat.«

Vanessa Ott stellte sich den beiden vor. »Ich bin ein großer Fan von Ihnen«, sagte sie zu der Sängerin.

»Danke.«

Ralf Siebert hielt uns die Tür auf. »Alles Weitere können wir bei einem Getränk besprechen.«

Wir verließen den Raum. Miranda verabschiedete sich an den Aufzügen.

»Du bleibst auf dem Zimmer, bis ich fertig bin?«

Der Agent sprach mit ihr, als wäre sie ein ungehorsames Kind.

Wir setzten uns in den Velvet Room, ein kleines, intimes Separee neben der Bar, dessen Wände mit braunem Samt bezogen waren. Auf einem Tisch standen eine Karaffe mit Wasser und Kristallgläser bereit.

»Entscheiden Sie sich für Miranda«, sagte Ralf Siebert. »An den Gerüchten ist nichts dran.«

Vanessa Ott hob die Augenbrauen. »Gerüchte? Sie ist auf der Bühne zusammengebrochen. Danach war sie in der Nervenklinik. Es stand in allen Zeitungen.«

Ralf Siebert lächelte gequält. »Na ja. Was die Medien so behaupten …«

»Sie wäre meine Wunschkandidatin für den Smiling Kids Day«, sagte ich. »Ihre letzte Show bei uns war ein Riesenerfolg. Aber die Entscheidung liegt nicht bei mir. Ich werde sie dem Vorstand vorschlagen.«

»Dann wünsche ich Ihnen, dass Sie sich nicht blamieren«, meinte Vanessa Ott.

Ihre Bemerkung ärgerte mich. Gerade eben hatte sie noch demonstriert, wie sehr sie Miranda bewunderte, und nun mischte sie sich in die Verhandlung ein, mit der sie nichts zu tun hatte.

Ich erhob mich. »Schicken Sie mir den Vertragsentwurf.«

Ralf Siebert nickte mir zu. Eine schwere Last schien von ihm abzufallen.

Wir verabschiedeten uns und verließen das Hotel. Nach der angenehmen Kühle schien sich die Luft draußen zu einer unsichtbaren Mauer aus Hitze verdichtet zu haben.

Vanessa Ott musterte mich. »Eine Event-Managerin mit weichem Herzen? Oder mit sentimentaler Ader?«

Ich suchte nach einer Antwort. Ihre Bemerkung hatte spöttisch geklungen, aber nicht vollkommen abwertend. Es kam mir vor, als habe ein Hauch von Erstaunen in ihrer Stimme mitgeschwungen. Hier ging es ums Geschäft, um die Interessen des Senders. Und natürlich hatte sie recht. Ich hatte keine Kopfentscheidung getroffen, sondern auf mein Herz gehört. Aber egal, was sie von mir dachte, ich würde dazu stehen.

Sie lächelte. »Lassen Sie sich nicht irritieren. Selbstverständlich bin auch ich dafür, dass Miranda Glass ihre Chance bekommen soll.«

»Sie haben vorhin nicht den Eindruck gemacht.«

Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sah plötzlich müde aus. »Zeigen Sie niemals, was Sie wirklich denken, wenn Sie erfolgreich sein wollen. Das ist unser Credo bei Verhandlungen. Die Haltung ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.« Sie lachte laut auf. »Und es funktioniert, oder nicht? Dieser Wurm von Agent hat ganz schön gezittert.«

Zurück im Sender ging mir das kurze Gespräch im Kopf herum. Warum war Vanessa Ott ins Hotel de Rome gekommen? Angeblich war sie Mirandas Fan, doch das nahm ich ihr nicht so richtig ab. Ich hatte eher das Gefühl, dass sie mir gefolgt war. Um mich zu beobachten? War das ein übliches Verhalten? Ich nahm mir vor, meine Freundin Ulla ausführlich zu der Arbeitsweise von Unternehmensberatern zu befragen. Schließlich hatte sie die ganze Prozedur erst letztes Jahr in ihrem Job durchgemacht. Und hatte ihn bei der Gelegenheit leider verloren. Doch jetzt war keine Zeit, sie anzurufen. Ein Meeting jagte das nächste – mit der Produktionsfirma, mit der Presseabteilung, und schließlich, als Höhepunkt, die Gesamtkoordinationsbesprechung mit der Sendeleitung des Smiling Kids Day. Ein paar Stunden normaler Arbeitsalltag, ohne die Bloomsdale-Leute. Doch kaum war ich zurück in meinem Büro, rief Mark Winter an.

»Wir brauchen dringend das Event-Rating, das Sie für uns erstellen wollten.«

Ich seufzte unhörbar. Dringend … Alles war immer dringend. Aber ich hatte Michaela schon gebeten, das Rating anzufertigen. Ich musste es mir nur holen.

»Ich bin gleich da«, versicherte ich.

»Das wäre schön.« Er legte auf.

Ich ging zu Michaelas Büro, das sie sich mit Heike und Evelyn, meinen zwei Junior-Event-Managerinnen, teilte. Schon von draußen sah ich, dass Michaela mehr auf ihrem Stuhl hing, als dass sie saß. »… aber diese Liste … sie braucht das dringend«, sagte sie gerade, als ich eintrat. Heike stand bei ihr, hatte ihre Hand auf Michaelas Schulter gelegt, Evelyn hatte einen Telefonhörer in der Hand.

»Red keinen Quatsch, du solltest wirklich zum Arzt gehen«, meinte Evelyn. Und zu mir gewandt: »Ihr geht’s nicht gut.«

»Was ist denn los?« Mein erster Gedanke war, dass Michaela unterzuckert war. Aber eigentlich achtete sie akribisch auf ihre Ernährung und hatte für Notfälle immer Medikamente dabei.

»Ich verstehe das nicht. Mir ist schlecht und schwindlig, alles gleichzeitig.«

»Du fährst jetzt zu deiner Hausärztin«, sagte ich. »Evelyn, melde sie dort an.«

»Hab ich gerade gemacht.«

»Dann ruf ein Taxi.«

»Aber was ist mit dem Rating für das Bloomsdale-Team?«, fragte Michaela.

»Das schaffe ich schon allein. Mach dir keine Gedanken.« Sie nickte.

Ich brauchte eine knappe Viertelstunde, um die Übersicht zu erstellen, druckte sie aus und ging damit zum Büro der Unternehmensberater.

»Endlich«, sagte Mark Winter, ohne von seinem Bildschirm aufzusehen.

»Bitte entschuldigen Sie. Ich musste meine Assistentin zum Arzt schicken. Deshalb hat es einen Moment länger gedauert.«

Mark Winter atmete geräuschvoll aus. »Frau Amelung, wir haben ein Riesenpensum zu absolvieren.«

Vanessa Ott sah ihn an. »Sie hat doch gesagt, dass Frau Meiffert krank ist. Was hat sie denn?«, fragte sie mich.

Ich hob die Schultern. »Vermutlich hat sie sich den Magen verdorben. Sie muss was Falsches gegessen haben.« Von Michaelas chronischer Erkrankung wollte ich ihnen nichts erzählen.

»Legen Sie das Rating auf meinen Tisch.« Winter stand auf und ging aus dem Zimmer. Dabei zog er seinen Fuß ein wenig nach, als habe er Schmerzen. Kaum hatte er Vanessa Ott den Rücken zugewandt, veränderte sich ihr Ausdruck. Sie grinste frech. »Er war heute Morgen joggen. Und ist über einen herrenlosen Hund gestolpert.« Ihre Unterlippe bebte, dann lachte sie los.

Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, entschied mich für ein verständnisvolles Lächeln. Mir wurde bewusst, dass ich zum ersten Mal mit Vanessa Ott allein in einem Raum war.

»Bitte entschuldigen Sie. Es ist nicht fair von mir, über Herrn Winters Unfall zu lachen.« Sie wurde wieder ernst. »Ich hoffe, ich hab Sie mit meiner Art nicht irritiert. Ich meine, vorhin, im Hotel. Sie wirkten nach dem Termin ein bisschen verstört.«

»Nein, überhaupt nicht. Ich war nur … erstaunt über Ihren Meinungswechsel.«

Sie kramte in ihrer Handtasche. »Vielleicht können wir irgendwann in Ruhe ein bisschen plaudern. Wo geht man denn hier in der Gegend zum Essen hin?«

»Meistens ins Nice Place. Quer über die Straße.«

»Ist das dieser Asiate?«

»Genau. Gilt als inoffizielle Kantine des Senders.«

»Hört sich gut an. Nehmen Sie mich mal mit?«

»Klar, gerne«, entgegnete ich. Mit ihr zu essen, ein Glas Wein zu trinken, zu plaudern, würde bestimmt Spaß machen. Ich war neugierig, sie kennenzulernen, und ihr ging es offenbar mit mir genauso. Die Zusammenarbeit würde leichter werden, wenn wir uns erst besser kannten und ein bisschen mehr darüber wussten, wie die andere tickt. Schließlich war sie maßgeblich an den Entscheidungen über meine Zukunft, über die meiner Abteilung und meiner Projekte beteiligt. Es war gut, wenn sie mich einschätzen konnte. Und vielleicht sogar mochte.

Mein Handy meldete eine SMS. Sven, mein Senior Projektleiter, schrieb: »Kommst du? Das Büfett ist aufgebaut.«

Ich stand auf. »Bitte entschuldigen Sie mich für ein paar Minuten.«

Sie sah mich fragend an.

»Unten findet gleich der Abschied von unserem Betriebsratsvorsitzenden Frank Oderthal statt. Ein Sektempfang. Meine Mitarbeiter haben alles organisiert, aber ich sollte kurz nach dem Rechten schauen.«

»Ist es okay, wenn ich Sie begleite?«

»Natürlich.« Offenbar konnte ich meine Überraschung nicht ganz verbergen, denn nun sagte sie: »Ich mache mir gern ein persönliches Bild der Mitarbeiter, über die ich eine Einschätzung abgeben soll.« Sie lächelte. »Und heute sind Sie an der Reihe.«

Im Konferenzraum stellte ich Vanessa Ott Sven und Britta, unsere Praktikantin, vor. Sie hatten das Mobiliar gegen weiß eingedeckte Stehtische austauschen lassen. In hohen, schlanken Glasvasen leuchteten Rosen und Bartnelken als hellrosa und purpurrote Farbkleckse.

Ich kontrollierte mit einem Blick das Büfett, Geschirr, Servietten, Besteck, Getränke. Alles war perfekt.

Der Raum füllte sich mehr und mehr. Frank Oderthal kam herein, ließ sich ein Glas Prosecco reichen und winkte uns zu.

»Schau mal, Promi-Alarm«, raunte Sven in mein Ohr und blickte weiter zum Eingang.

Ich drehte mich um und entdeckte Jörg Ermgassen. Auch er hatte mich gesehen.

»Weißt du, wieso er hier ist?«, fragte Sven, doch in diesem Moment begann das offizielle Programm, und alle verstummten. Die Abschiedsreden für Frank Oderthal wurden gehalten. Ich beobachtete Jörg. Ohne das Make-up, das er vorgestern Abend auf der Bühne aufgetragen hatte, sah er blass, schmal und gestresst aus. Seine neue Talkshow hatte keine guten Quoten. Sie wurde in München produziert, und dort war auch sein Arbeitsplatz. Nach Berlin kam er nur, wenn er Termine mit dem Vorstandschef hatte. Hoffentlich hatte er keinen Ärger. Der Applaus für Oderthal war noch nicht verklungen, da ging ich schon zu Jörg, bevor er von jemand anderem in ein Gespräch verwickelt werden konnte. Sämtliche Augenpaare, zumindest der weiblichen Belegschaft, waren dezent auf uns gerichtet.

»Was machst du denn hier?«

Jörg grinste. »Befehl von oben. Ich hab einen Termin bei Lehner.«

»Was ist los?«

»Überraschung.«

Ich sah ihn fragend an.

»Später«, flüsterte er. »Ich muss los. Drück mir die Daumen.« Er warf mir einen Handkuss zu, nahm im Vorbeigehen ein Glas Sekt vom Tablett einer Hostess und verschwand damit.

Inzwischen leerte sich der Raum. Auch die meisten Mitarbeiter meiner Abteilung hatten die Feier verlassen. Ich entdeckte Vanessa Ott in einer Ecke. Sie unterhielt sich mit Sven. Ich wollte zu ihnen gehen, aber Svens Gesichtsausdruck hielt mich davon ab. Er runzelte die Stirn und sah hochkonzentriert aus. Was ich da beobachtete, war kein Party-Small-Talk. Was konnten die beiden so Wichtiges zu besprechen haben?

Ich wandte mich den Resten auf dem Büfett zu, nahm eine Minibulette und steckte sie in den Mund. Da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und drehte mich um. Frank Oderthal stand hinter mir. Er hatte sein Jackett ausgezogen und seine Krawatte gelockert.

»Das hab ich überlebt.« Er lachte. »Nein, im Ernst, es war toll. Das habt ihr perfekt organisiert. Danke.«

»Das geb ich gern weiter.«

Während Oderthal mir gegenüber irgendwann zu einem vertrauten »Du« übergegangen war, siezte ich ihn als graue Eminenz des Senders weiterhin, eine Regelung, mit der wir uns beide wohlfühlten.

»Ich hoffe nur, man hat mir nicht angemerkt, wie sentimental ich war«, fuhr er fort.

»Nur ein ganz kleines bisschen.«

»Das wird ein komisches Gefühl sein, morgen früh nicht mehr ins Büro zu fahren. Trotzdem bin ich froh über mein Timing. In ein paar Wochen möchte ich nicht mehr hier sein.«

»Wegen Bloomsdale?«

»Ein Tsunami ist nichts dagegen. Ich habe so dies und das gehört, natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit.« Oderthal sprach leise, obwohl niemand in der Nähe stand. »Wenn die Aufforderung zu Einsparungen kommt, dann kleb nicht an den alten Konzepten. Du musst radikal denken. Sonst wird dein Projekt wegrasiert.«

»Der Smiling Kids Day?« Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Er konnte sich nur täuschen. Andere Events vielleicht, aber doch nicht dieses. »Das ist das Aushängeschild des Senders.«

»Du hörst nicht zu, Janne. Ich sage doch, gib das alte Denken auf. Vergiss das ›Aushängeschild‹. Der SKD ist eines unter vielen Projekten. Nichts ist mehr heilig.« Er schwieg einen Moment. Ich forschte in seinem Gesicht. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine Falte gebildet. Was meinte er mit ›radikalem Umdenken‹? Was hatte er erfahren? Würde er mir Details sagen?

Oderthal nahm sich eine Cherrytomate, steckte sie sich in den Mund und kaute. »Da ist noch was. Lehner hat mir gegenüber Andeutungen gemacht.«

»Über das Projekt?«

»Über dich.« Er lächelte. »Du bist keine typische Führungskraft. Und erst seit drei Jahren im Sender. Aber du fällst auf. Du hörst zu, du förderst deine Leute. Dein Team vertraut dir blind. Lehner beeindruckt das.« Sein Ausdruck wurde ernst, er senkte die Stimme. »Aber ich warne dich, Janne. Gunter von Hirten wird …«

Wie aus dem Erdboden gewachsen stand auf einmal Vanessa Ott neben mir. »Entschuldigung, ich wollte nicht stören.«

»Ich muss los. Wir bleiben in Kontakt«, sagte Oderthal, bevor ich die beiden einander vorstellen konnte. Er schnappte sich seine Jacke von einer Stuhllehne und verließ den Raum.

Vanessa Ott blickte ihm nach. »Ein beeindruckender Mann. Er wirkt so integer.«

»Ja, er wird von allen sehr geschätzt. Ich konnte mich immer an ihn wenden, wenn ich Rat brauchte. Er wird mir fehlen.«

Vanessa Ott zog die Augenbrauen hoch. »Auf mich wirken Sie nicht so, als ob Sie den Rat von alten Männern nötig hätten.« Sie lachte auf. »Auf jeden Fall danke, dass Sie mich mit zu dem Empfang genommen haben, es war sehr interessant.«

»Gerne.«

Wir gingen zum Aufzug.

So was Blödes, dass Vanessa Ott uns ausgerechnet in diesem Moment unterbrochen hatte. Oderthals Andeutung hörte sich ja fast so an, als dächte Lehner über meine Beförderung nach. Aber warum hatte er mich vor meinem Chef gewarnt? Was hatte er mir sagen wollen? »Gunter von Hirten wird …«? Von Hirten hatte keinen guten Stand, und vermutlich ahnte auch er das bereits. Ich fröstelte plötzlich. Das konnte die Erklärung für sein abweisendes Verhalten in den letzten Wochen sein. Er fürchtete mich als Konkurrentin. Stand auch die plötzliche Dienstreise damit in Zusammenhang? Wollten die Bosse ihn aus dem Weg haben? Vielleicht war die Zusammenarbeit mit Bloomsdale eine Art Eignungstest für mich. Was hatte Lucy Reeves gesagt? »Betrachte es als Chance.«

Der Aufzug kam, und wir gingen hinein. Vanessa Ott warf einen Blick in den Wandspiegel. Ihr sorgfältig geschminktes Gesicht war durchscheinend blass. Ich hätte einiges dafür gegeben, ihre Gedanken lesen zu können.

Ob sie in die internen Vorgänge eingeweiht war? Wusste sie von den angeblichen harten Einschnitten beim Smiling Kids Day? Vielleicht gab es längst eine festgelegte Marschrichtung beim Bloomsdale-Team, und die scheinbar objektive Begutachtung meiner Statistiken und Tabellen war nur vorgeschoben.

»Das Buffet sah gut aus«, sagte sie. »Aber ich bin nicht dazu gekommen, etwas zu essen. Was meinen Sie, wollen wir nicht auf einen Sprung ins Nice Place rübergehen?«

»Das wäre wirklich toll, nur leider kann ich jetzt nicht weg«, sagte ich. »Jeden Moment kommt Paul York, der Modedesigner. Er will uns die neue Hostessenkollektion zeigen.«

»Hostessenkollektion? Für so etwas hat der Sender Geld?«, fragte Vanessa Ott.

Ich war sofort auf der Hut. Sie war da, um nach Einsparpotenzial zu suchen. »Die Sachen sind zu abgetragen bei fast hundert Einsätzen im Jahr.«

»Das kann ich mir vorstellen. Darf ich mir die Kollektion mal ansehen? Von Mode verstehe ich etwas.«

Sie hatte nicht vor, mich aus den Augen zu lassen.

Als sich die Aufzugtür öffnete, hörten wir ausgelassenes Geplapper auf dem Gang. Heike, Evelyn und Britta rollten voll behängte Kleiderstangen in den Besprechungsraum. Meine Mitarbeiterinnen liebten es, Paul Yorks neue Kreationen selbst anzuprobieren. Sie wussten auch, dass Paul oft Musterstücke verschenkte.

»Ich komme gleich nach«, sagte Vanessa Ott und bog auf die Damentoilette ab.

Ich begrüßte Paul, der sich mit einem Notebook an einem der Tische niedergelassen hatte. Er stand auf und klatschte in die Hände. »Okay, wo sind meine Topmodels?«, rief er mit seinem amerikanischen Akzent.

»Die Sachen sind so schön, aber die Größen sind mal wieder eine Herausforderung«, seufzte Heike, die gegen überschüssige Pfunde ankämpfte, seit ich sie kannte.

»Michaela wird sich schwarz ärgern, dass sie Paul verpasst«, meinte Evelyn.

Pauls Blick wanderte kritisch über Heikes Hüfte hinüber zu Evelyns Beinen. »Komm her, Schatz, versuch mal, ob dieser Rock passt. Und die Jacke hier.« Er drückte Evelyn einen Bügel in die Hand. In diesem Moment kam Vanessa Ott in den Raum.

»Na, wer sagt es denn, das ist ein Model!«

Paul hielt Vanessa Ott für eine meiner Assistentinnen. Ich wollte erklärend einschreiten, doch Vanessa Ott schüttelte leicht den Kopf und zwinkerte mir zu. Paul reichte ihr einen gelben, taillierten Gehrock. »Die Farbe wird dir perfekt stehen. Mit dem schwarzen Haar zusammen, grandios!«

Vanessa Ott tauschte ihr eigenes Jackett gegen das Musterstück. Sie lief bis zum Ende des Raumes und kam zurück. Dabei stakste sie wie ein professionelles Model auf einem Laufsteg, setzte die Füße vor- statt nebeneinander. Der Gehrock war ihr zu weit, aber sie bewegte sich, als wäre er ihr auf den Leib geschneidert. Ihr Gesicht war maskenhaft, der Blick stechend.

»Großartig, Schatz, toll machst du das«, rief Paul.

Wir applaudierten. Vanessa verzog keine Miene, verharrte in einer perfekten Pose, einen Arm in die Hüfte gestemmt, ein Bein vorangestellt, streifte elegant die Jacke ab und reichte sie Evelyn. »Hier, du bist dran, Schatz!« Sie imitierte perfekt Pauls Akzent und versuchte gleichzeitig, Evelyn mit dem stechenden Modelblick zu taxieren, aber dann lachte sie prustend los. Paul und Evelyn lachten mit, auch ich lächelte. Ihre gute Laune war einfach ansteckend.

Nachdem ich mich für eine Auswahl aus Pauls Kollektion entschieden hatte, eilte ich in ein Meeting mit der Presseabteilung. Die Kollegen waren nicht glücklich über ein Engagement von Miranda Glass, aber es gelang mir, sie zu überzeugen. Direkt im Anschluss traf ich mit Sven einen Bühnenbildner wegen eines weiteren Events. Irgendwann sah ich auf die Uhr und bekam einen kleinen Schreck. Es ging auf acht Uhr zu, und ich wollte Gregor nicht warten lassen. Ich holte meine Tasche aus meinem Büro, schaltete den Computer aus und trat auf den Flur. Die Stimme eines Mannes hallte mir entgegen. Vor dem Aufzug standen Vanessa Ott und ein Fremder in einem dunkelblauen, zerknitterten Jackett. Ich blieb in meinem Türrahmen stehen, sie hatten mich noch nicht bemerkt.

»Ist genug Gras über die Sache gewachsen? Sind Sie das Versteckspielen leid?«, fragte der Fremde. »Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr Boss Sie decken wird.«

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«

»Machen Sie keinen Fehler. Ich grabe weiter, so lange, bis ich Beweise finde.«

Vanessa Ott lachte. »Da wünsche ich Ihnen viel Spaß. Aber ich rate Ihnen, passen Sie gut auf sich auf.«

»Drohen Sie mir etwa?«

»Wie käme ich dazu. Und jetzt machen Sie Platz. Sie stehen mir im Weg.«

Der Fremde rührte sich nicht. Sie ging um ihn herum, drückte auf den Knopf des Aufzugs, ein Surren aus einer anderen Etage verriet, dass er sich in Bewegung setzte. Die Tür der Herrentoilette öffnete sich, und Mark Winter kam heraus. Er blieb abrupt stehen und starrte den Mann an. »Vanessa, was ist …?« Er war mit wenigen Schritten neben ihr, obwohl er noch immer humpelte. »Was wollen Sie hier? Wie sind Sie hier reingekommen? Verschwinden Sie sofort, oder ich rufe die Polizei!« Er zog sein Handy aus der Jacke.

»Die Polizei?« Der Fremde lachte böse auf. »Auf die ist Verlass. Die Erfahrung haben Sie ja schon gemacht.«

Mark Winter riss die Hände hoch und stieß den Fremden hart vor die Brust, sodass der zurücktaumelte. Der Fremde wischte über den Stoff seiner Jacke, als klebe Dreck daran.

»Diesmal kriege ich Sie«, sagte er zu Vanessa Ott und war im nächsten Moment durch das Treppenhaus verschwunden.

Der Aufzug öffnete sich. Mark Winter ging voraus in die Kabine, doch Vanessa Ott blieb stehen.

»Vanessa …?«

»Alles in Ordnung, Mark. Danke. Geh nach Hause und kühl deinen Fuß. Ich muss noch kurz … Ich hab etwas im Büro vergessen.«

Die Aufzugtür schloss sich, und Mark Winter verschwand. Sie drehte sich in meine Richtung um. Ich ließ meine Bürotür laut ins Schloss fallen, und klapperte mit dem Schlüsselbund, so, als wäre ich gerade herausgekommen.

Sie kam auf mich zu. »Ah, Sie sind auch noch da? Das ist gut. Ich habe noch ein paar Fragen an Sie …« Ihre Stimme zitterte leicht. War sie durcheinander wegen der Begegnung mit diesem Mann? Was hatte er von ihr gewollt?

»Nur ein paar kurze Fragen … zu Ihrem Event-Rating,« sagte sie.

»Oh, kein Problem, aber hat das eventuell Zeit bis morgen früh?« Ich blickte auf die Uhr.

Sie legte eine Hand auf ihre Brust und atmete mehrmals heftig ein und aus.

»Frau Ott? Ist alles in Ordnung?«

»Sicher, mir ist nur …« Sie stützte sich an der Wand ab. »Mir ist ein bisschen schwindelig.«

»Kommen Sie in mein Büro. Setzen Sie sich erst mal hin. Ich hole Ihnen einen Schluck Wasser.«