Die besten Erzählungen und Kurzgeschichten - Robert Louis Stevenson - E-Book
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Die besten Erzählungen und Kurzgeschichten E-Book

Robert Louis Stevenson

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Beschreibung

Dieses eBook: "Die besten Erzählungen und Kurzgeschichten: Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde + Der Selbstmordklub + Die Stimmeninsel + Das Flaschenteufelchen und mehr" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Robert Louis Stevenson (1850-1894) war ein schottischer Schriftsteller des viktorianischen Zeitalters. Stevenson, der an Tuberkulose litt, wurde nur 44 Jahre alt; jedoch hinterließ er ein umfangreiches Werk von Reiseerzählungen, Abenteuerliteratur und historischen Romanen sowie Lyrik und Essays. Bekannt geworden sind vor allem der Jugendbuchklassiker Die Schatzinsel sowie die Schauernovelle Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die sich dem Phänomen der Persönlichkeitsspaltung widmet und als psychologischer Horrorroman gelesen werden kann. Einige Romane sind heute noch populär und verfilmt worden. Robert Louis Stevenson hat ein umfangreiches Werk von Romanen, Novellen, Reisebeschreibungen, Theaterstücken, Gedichten, Essays und Briefen hinterlassen. Inhalt: Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde Der Selbstmordklub Der Arzt und der Reisekoffer Das öde Haus Des Rajahs Diamant Frau von Vandeleurs Privatsekretär Die Geschichte des Gottesmannes Das Haus mit den grünen Jalousien Das Flaschenteufelchen Die tollen Männer Will von der Mühle Markheim Die krumme Janet Der Schatz von Franchard Die Stimmeninsel Der Strand von Falesa

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Robert Louis Stevenson

Die besten Erzählungen und Kurzgeschichten: Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde + Der Selbstmordklub + Die Stimmeninsel + Das Flaschenteufelchen und mehr

Die tollen Männer + Will von der Mühle + Markheim + Die krumme Janet + Der Schatz von Franchard + Des Rajahs Diamant + Der Strand von Falesa und mehr

Übersetzer: Marguerite Thesing und Grete Rambach

e-artnow, 2014
ISBN 978-80-268-2280-6

Inhaltsverzeichnis

Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Der Selbstmordklub (Erzählungen)
Der Selbstmordklub
Der Arzt und der Reisekoffer
Das öde Haus
Des Rajahs Diamant (Detektivgeschichten)
Frau von Vandeleurs Privatsekretär
Die Geschichte des Gottesmannes
Das Haus mit den grünen Jalousien
Das Flaschenteufelchen
Die tollen Männer
Will von der Mühle
Markheim
Die krumme Janet
Der Schatz von Franchard
Die Stimmeninsel
Der Strand von Falesa

Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Inhaltsverzeichnis

Inhlat

Die Geschichte der Tür
Auf der Suche nach Mr. Hyde
Dr. Jekyll ist ganz unbefangen
Die Ermordung von Sir Danvers Carew
Der Brief
Dr. Lanyons sonderbares Erlebnis
Die Begegnung am Fenster
Die letzte Nacht
Dr. Lanyons Aufzeichnungen
Henry Jekylls vollständige Darlegung des Falles

Die Geschichte der Tür

Inhaltsverzeichnis

Der Rechtsanwalt Utterson hatte ein zerfurchtes Gesicht, über das nie ein Lächeln huschte; er war kühl, wortkarg und verlegen in der Unterhaltung, schwerfällig in Gefühlsangelegenheiten, lang, hager, verstaubt und farblos — und doch irgendwie liebenswert. Kam er mit Freunden zusammen und war der Wein nach seinem Geschmack, so leuchtete aus seinem Blick etwas ungemein Menschliches — etwas, das sich beileibe nie in seine Rede verirrt hätte, das aber nicht nur bei solchen Gelegenheiten aus den Zügen seines Gesichtes, sondern öfter und deutlicher noch im Leben aus seinen Handlungen sprach. Er war hart gegen sich selbst, trank, wenn er allein war, Wacholderschnaps, um seine Schwäche für edlen Wein zu unterdrücken, und war, obgleich er eine Vorliebe fürs Theater hatte, seit zwanzig Jahren in keinem gewesen. Dabei war er voll Duldsamkeit gegen andere, ja bestaunte, manchmal fast neidisch, das Draufgängertum, das ihre Missetaten beseelte, und war im Notfall eher zu helfen als zu tadeln bereit. »Ich neige zu Kains ketzerischer Ansicht«, pflegte er bedächtig zu sagen: »Ich lasse meinen Nächsten zur Hölle fahren, wie es ihm beliebt.« Daher war es häufig sein Schicksal, daß er die letzte achtbare Bekanntschaft und der letzte gute Einfluß im Leben von Menschen war, die sich auf abschüssiger Bahn befanden. Und gerade sie ließ er auch nicht den Schatten eines veränderten Benehmens merken, solange sie bei ihm aus und ein gingen.

Allerdings war dies kein Kunststück für Mr. Utterson; denn er war von Natur zurückhaltend, und auch seine Freundschaften schienen in einer ähnlich gutmütigen Vorurteilslosigkeit begründet zu sein. Es ist das Kennzeichen eines bescheidenen Mannes, daß er seinen Freundeskreis fix und fertig aus den Händen der Vorsehung entgegennimmt, und so erging es dem Rechtsanwalt. Seine Freunde waren Verwandte oder Leute, die er schon lange kannte; seine Zuneigungen waren mit der Zeit gewachsen, gleich Efeu, und machten keinen Anspruch auf Tauglichkeit des Objekts. Daraus erwuchs zweifellos auch das Band, das ihn mit Mr. Richard Enfield, einem entfernten Verwandten und stadtbekannten Mann, verknüpfte. Vielen war es ein Rätsel, was diese beiden zueinander zog oder was sie wohl für gemeinsame Interessen haben mochten. Leute, die ihnen auf ihren Sonntagsspaziergängen begegneten, wußten zu berichten, daß sie nichts miteinander sprachen, außerordentlich gelangweilt dreinschauten und mit offensichtlicher Erleichterung das Erscheinen eines Bekannten begrüßten. Dabei aber legten beide Männer den größten Wert auf diese Ausflüge, betrachteten sie als Höhepunkt der Woche und gingen, um sie ungestört genießen zu können, nicht nur Vergnügungen aus dem Wege, sondern ließen auch Geschäft Geschäft sein.

Auf einem dieser Streifzüge geschah es, daß ihr Weg sie durch eine Seitenstraße in ein Geschäftsviertel Londons führte. Es war eine schmale, sogenannte ruhige Straße, in der jedoch an Werktagen ein ersprießlicher Handel getrieben wurde. Ihren Bewohnern ging es anscheinend gut, und alle strebten danach, daß es ihnen noch besser ginge. Was ihnen vom Gewinn übrigblieb, legten sie in der Verschönerung ihrer Häuser an, so daß die Läden dieser Durchgangsstraße etwas Einladendes an sich hatten, wie eine Reihe lächelnder Verkäuferinnen. Selbst sonntags, wenn sie ihre wahren Reize verbarg und verhältnismäßig menschenleer dalag, wirkte die Straße im Gegensatz zu ihrer schmutzigen Nachbarschaft wie ein weißer Rabe und bestach mit ihren frisch angestrichenen Rolläden und blankpolierten Messingschildern, ihrer allgemeinen Sauberkeit und einer gewissen heiteren Note sofort die Augen der Vorübergehenden und erregte ihr Wohlgefallen.

Zwei Häuser hinter einer Kreuzung wurde die Straßenfront linker Hand, und zwar nach Osten, von einem Hofeingang unterbrochen, und dort ragte der Giebel eines düsteren Gebäudes über die Straße empor. Es war zwei Stockwerke hoch, hatte keine Fenster, nur eine Tür im unteren Stockwerk und darüber eine leere, mißfarbene Wand und trug allenthalben den Stempel jahrelanger Verkommenheit und Vernachlässigung. Die Tür, an der man vergeblich nach Klingel und Klopfer gesucht hätte, war verwittert und schmutzig. Landstreicher fanden Unterschlupf in der Mauernische und entzündeten ihre Streichhölzer an den Türfüllungen, Kinder spielten auf den Stufen Kaufladen, Schuljungen bearbeiteten die Gesimse mit ihren Taschenmessern, und seit fast einem Menschenalter war niemand gekommen, der diese Zufallsgäste vertrieben oder ihre Spuren beseitigt hätte.

Mr. Enfield und der Anwalt gingen auf der anderen Seite der Straße, und als sie sich dem Eingang gegenüber befanden, hob Mr. Enfield seinen Stock und wies hinüber.

»Haben Sie jemals die Tür dort bemerkt?« fragte er und fuhr, als der andere genickt hatte, fort: »Sie ist in meiner Erinnerung mit einer äußerst seltsamen Geschichte verknüpft.«

»So?« sagte Mr. Utterson mit leichtem Schwanken in der Stimme, »und was war das?«

»Das war so«, berichtete Mr. Enfield: »In einer schwarzen Winternacht gegen drei Uhr kam ich vom andern Ende der Stadt und wollte nach Hause. Mein Weg führte mich durch einen Stadtteil, in dem buchstäblich nichts anderes zu sehen war als Laternen. Weit und breit — die Leute schliefen alle — waren die Straßen wie für eine Prozession erleuchtet und still wie eine Kirche, und schließlich geriet ich in den Zustand, in dem man sein Gehör anstrengt und immerfort lauscht und anfängt, sich nach dem Anblick eines Schutzmannes zu sehnen. — Auf einmal sah ich zwei Gestalten: die eine, ein kleiner Mann, der mit schnellen, schweren Schritten in östlicher Richtung dahinging, und die andere, ein Mädchen von etwa acht bis zehn Jahren, das, so schnell es konnte, eine Querstraße heruntergelaufen kam. Die beiden prallten natürlich an der Ecke aufeinander; und jetzt kommt das Schreckliche an der Sache: der Mann schritt ruhig über den Körper des Kindes hinweg und ließ es schreiend am Boden liegen. Wenn man das hört, klingt es nach gar nichts; aber es war greulich anzusehen. Das war kein Mensch, das war wie ein unheimliches Fabelwesen, das alles niedertritt, was sich ihm in den Weg stellt. — Ich rief ihn an, lief ihm nach, ergriff den Burschen beim Kragen und brachte ihn zu der Stelle zurück, wo sich bereits eine Gruppe um das schreiende Kind gebildet hatte. Er war vollkommen ruhig und leistete keinen Widerstand, doch streifte er mich mit einem so widerwärtigen Blick, daß mir der kalte Schweiß ausbrach. Die Leute auf der Straße waren die Verwandten des Mädchens, und bald darauf erschien auch der Arzt, von dem es vorhin gekommen war.

Nun, dem Kinde war nichts weiter geschehen; es war, nach des Knochensägers Aussagen, mehr erschrocken — und jetzt werden Sie wahrscheinlich denken, daß die Geschichte zu Ende ist. Aber da war ein merkwürdiger Umstand. Mich hatte auf den ersten Blick ein heftiger Widerwille gegen den Mann gepackt, genauso ging es der Familie des Kindes, was nur natürlich war; was mich jedoch aufs äußerste erstaunte, war das Verhalten des Doktors. Er war der übliche Feld-, Wald-und Wiesen-Apotheker, dessen Alter ebenso unbestimmbar war wie seine Haarfarbe, sprach starken Edinburgher Dialekt und hatte so ungefähr das Temperament einer Dudelsackpfeife. Nun, ihm erging es nicht anders als uns allen; jedesmal, wenn der Knochensäger nach meinem Gefangenen hinblickte, merkte ich, daß es ihm rot vor Augen wurde, in dem Wunsch, ihn zu töten. Ich wußte, was in ihm vorging, genauso wie er es von mir wußte, und da Totschlagen nicht in Frage kam, taten wir das Nächstbeste. Wir sagten dem Mann, daß wir von dieser Sache ein solches Aufhebens machen wollten und würden, daß sein Name von einem Ende Londons bis zum andern gen Himmel stinken wollte. Wenn er irgendwelche Freunde und Kredit besäße, so wollten wir dafür sorgen, daß er sie verlor. Und während wir das, weißglühend vor Wut, auf ihn niederprasseln ließen, wehrten wir, so gut wir konnten, die Frauen von ihm ab; denn sie waren wild wie Furien.

Ich habe nie einen Kreis von so haßerfüllten Gesichtern gesehen, und in ihrer Mitte stand der Mann mit finsterer, ja spöttischer Kaltblütigkeit, obgleich er selbst erschrocken war — das konnte ich sehen —, doch wußte er das teuflisch gut zu verbergen. ›Wenn Sie Kapital aus dieser Begebenheit zu schlagen gedenken‹, sagte er, ›so bin ich natürlich machtlos. Jeder Ehrenmann wünscht einen Skandal zu vermeiden, nennen Sie Ihre Forderungen!‹ Wir verlangten hundert Pfund für die Familie des Kindes; er hätte sich sicher gern darum gedrückt, doch es lag etwas über uns allen, das nichts Gutes verhieß, darum gab er schließlich nach. Nun hieß es, das Geld zu bekommen, und denken Sie sich, da führte er uns zu eben jener Tür dort, zog einen Schlüssel aus der Tasche, ging hinein und kam kurz darauf mit zehn Pfund in Gold und einem Scheck über die Restsumme auf eine Bank zurück. Der Scheck lautete auf den Überbringer und war mit einem Namen unterzeichnet, den ich nicht nennen kann, obgleich er einer der springenden Punkte meiner Geschichte ist; jedenfalls war es ein wohlbekannter Name, den man häufig gedruckt liest. Es war eine große Summe, aber die Unterschrift bürgte für noch mehr — vorausgesetzt, daß sie echt war. Ich nahm mir die Freiheit, den Mann darauf hinzuweisen, daß die ganze Sache einen höchst zweifelhaften Eindruck mache, denn im gewöhnlichen Leben gehe kein Mensch nachts um vier in eine Kellertür und komme mit dem Scheck eines anderen Mannes über annähernd hundert Pfund wieder heraus. Er war aber ganz unbesorgt und lächelte spöttisch. ›Beruhigen Sie sich‹, sagte er, ›ich werde bei Ihnen bleiben, bis die Bank geöffnet wird, und den Scheck selbst einlösen.‹ So machten wir uns alle auf, der Arzt, der Vater des Kindes, unser Freund und ich, und verbrachten den Rest der Nacht in meiner Wohnung; am Morgen, als wir gefrühstückt hatten, gingen wir dann gemeinschaftlich zur Bank. Ich gab den Scheck eigenhändig ab und bemerkte dazu, ich hätte allen Grund anzunehmen, daß es eine Fälschung sei. — Aber nicht die Spur! Der Scheck war echt!!«

»Na, na«, meinte Mr. Utterson.

»Ich sehe, Sie haben das gleiche Gefühl wie ich«, sagte Mr. Enfield.

»Ja, es ist eine tolle Geschichte, denn der Mann war ein Bursche, mit dem man nichts zu tun haben möchte — ein ganz verbotener Kerl, und der Aussteller des Schecks ist der Inbegriff der Wohlanständigkeit, geradezu bekannt dafür und, was das Schlimmste ist, einer der Leute, die viel Gutes tun. Ich taxiere: Erpressung! Ein ehrenwerter Mann, der für irgendeine Jugendeselei blechen muß. Erpresserhaus nenne ich seither das Gebäude mit der Tür. Obgleich auch das bei weitem nicht alles erklärt«, fügte er hinzu und verfiel darauf in tiefes Nachdenken.

Mr. Utterson rief ihn in die Wirklichkeit zurück, indem er etwas plötzlich fragte: »Und Sie wissen nicht, ob der Aussteller des Schecks hier wohnt?« »Der Ort scheint mir nicht recht geeignet zu sein«, entgegnete Mr. Enfield. »Nein, zufällig weiß ich seine Adresse; er wohnt irgendwo anders.«

»Und haben Sie nie nachgeforscht, was es mit dem Haus mit der Tür auf sich hat?« fragte Mr. Utterson.

»Nein, ich scheute mich davor«, war die Antwort. »Ich vermeide nach Möglichkeit, Fragen zu stellen, es erinnert zu sehr an das Jüngste Gericht. Wenn Sie eine Frage aufwerfen, so ist es, als ob Sie an einen Stein stoßen. Sie sitzen ganz ruhig oben auf einem Berg, und der Stein gerät ins Rollen und reißt andere mit sich, und plötzlich wird irgendein biederer alter Knabe — an den Sie am allerwenigsten gedacht hätten —, während er arglos in seinem Garten sitzt, am Kopf getroffen, und die Familie muß sich nach einem neuen Ernährer umsehen. Nein, ich habe es mir zur Regel gemacht: je mehr ich Unrat wittere, desto weniger frage ich.«

»Das ist ein sehr guter Grundsatz«, sagte der Anwalt.

»Doch habe ich die Örtlichkeit auf eigene Faust untersucht«, fuhr Mr. Enfield fort. »Man kann es kaum ein Haus nennen. Es existiert keine andere Tür, und durch diese geht niemand aus noch ein, außer in großen Zeitabständen der Held meines Abenteuers. Im ersten Stock befinden sich drei Fenster, die nach dem Hof gehen; unten ist keins. Die Fenster sind immer geschlossen, doch sind sie sauber. Und dann ist da noch ein Schornstein, der gewöhnlich raucht, also muß jemand dort wohnen; aber auch das ist nicht sicher, denn die Häuser kleben in dem Hof so dicht aneinander, daß es schwer zu sagen ist, wo das eine aufhört und das andere anfängt.«

Die beiden Männer gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, dann sagte Mr. Utterson: »Enfield, das ist ein guter Grundsatz, den Sie da haben.«

»Das glaube ich auch«, entgegnete Enfield.

»Und doch«, fuhr der Anwalt fort, »möchte ich Sie etwas fragen: ich möchte den Namen des Mannes wissen, der über das Kind weggeschritten ist.«

»Nun«, meinte Mr. Enfield, »ich trage keine Bedenken. Es war ein Mann namens Hyde.«

»Hm«, machte Mr. Utterson. »Was für eine Sorte Mensch ist er dem Äußeren nach?«

»Es ist nicht leicht, ihn zu beschreiben. Irgend etwas haftet seiner Erscheinung an, etwas Unangenehmes, ja geradezu Verabscheuenswürdiges. Ich habe nie einen Menschen gesehen, gegen den ich eine solche Abneigung empfunden hätte, und weiß doch kaum, warum. Er muß irgendwie verwachsen sein, jedenfalls hat man bei ihm ausgesprochen das Gefühl von Mißgestaltung, obgleich sie sich nicht näher bestimmen läßt. Sein Aussehen ist außergewöhnlich, und doch kann ich nichts anführen, was aus dem Rahmen fällt. Nein, es geht nicht! Ich kann ihn einfach nicht beschreiben. Dabei ist es nicht mangelndes Erinnerungsvermögen, denn ich sehe ihn noch deutlich vor mir.«

Wieder schritt Mr. Utterson schweigend weiter, sichtlich in Betrachtungen vertieft. »Sind Sie sicher, daß er einen Schlüssel hatte?« fragte er endlich.

»Aber, mein Lieber…«, begann Enfield sehr überrascht.

»Ja, ich weiß«, sagte Utterson, »ich weiß, es muß seltsam anmuten. Der Grund, warum ich nicht nach dem Namen des anderen Beteiligten frage, ist, daß ich ihn bereits weiß. Sie sehen, Richard, Ihre Geschichte hat ihn mir verraten. Und wenn Sie in irgendeinem Punkt nicht ganz genau waren, so sollten Sie es lieber richtigstellen.«

»Sie hätten mir eigentlich einen Wink geben können«, entgegnete der andere mit einem Anflug von Verstimmung. »Übrigens war ich pedantisch genau wie Sie es nennen. Der Bursche hatte einen Schlüssel, und, was wichtiger ist, er hat ihn noch. Ich habe gesehen, wie er ihn vor kaum einer Woche benutzt hat.«

Mr. Utterson seufzte tief, doch sprach er kein Wort weiter, und der junge Mann nahm das Gespräch wieder auf.

»Das war wieder eine Lehre für mich, den Mund zu halten. Ich schäme mich wegen meiner Schwatzhaftigkeit. Wir wollen nie wieder hierauf zurückkommen. Abgemacht?«

»Von Herzen gern«, sagte der Anwalt. »Da haben Sie meine Hand darauf, Richard!«

Auf der Suche nach Mr. Hyde

Inhaltsverzeichnis

An jenem Abend kehrte Mr. Utterson in gedrückter Stimmung in seine Junggesellenwohnung zurück und setzte sich ohne Appetit zu Tisch. Sonntags war es sonst seine Gewohnheit, sich nach beendeter Mahlzeit mit irgendeiner trockenen, theologischen Schrift auf dem Lesepult dicht neben den Kamin zu setzen, bis die Uhr der benachbarten Kirche zwölf schlug, um dann mit klarem Kopf und dankerfülltem Herzen zu Bett zu gehen. Heute aber nahm er, kaum daß der Tisch abgeräumt war, eine Kerze zur Hand und ging in sein Büro. Dort öffnete er den Geldschrank, entnahm dem Geheimfach ein Dokument, das auf dem Umschlag als Dr. Jekylls Testament bezeichnet war, und setzte sich mit gefurchter Stirn nieder, um dessen Inhalt zu studieren. Das Testament war von dem Doktor selbständig abgefaßt worden, denn Mr. Utterson hatte sich geweigert, bei seiner Abfassung auch nur im geringsten mitzuwirken, wenn er es auch später in Verwahrung genommen hatte. Es bestimmte, daß die Besitztümer von Henry Jekyll, Dr. med., Dr. jur., Mitglied der Königlichen Akademie usw., im Fall seines Todes an seinen ›Freund und Wohltäter Edward Hyde‹ übergehen sollten. Ferner besagte es, daß im Fall von Dr. Jekylls ›Verschwinden oder unerklärbarer Abwesenheit, falls sie drei Kalendermonate überschritte‹, besagter Edward Hyde Henry Jekylls Rechtsnachfolger werden sollte, und zwar ohne weiteren Verzug und ohne daß ihm andere Verpflichtungen daraus erwachsen sollten als die Zahlung einiger kleiner Summen an Hausangestellte des Doktors.

Dieses Dokument war dem Rechtsanwalt schon lange ein Dorn im Auge. Es verletzte ihn gleicherweise als Juristen wie als Menschen, der alles Vernünftige und Herkömmliche im Leben liebte und im Phantastischen etwas Unschickliches sah. Bis dahin hatte die Tatsache, daß er nichts über Mr. Hyde wußte, seinen Unwillen erregt, nun tat das mit einem Schlage der Umstand, daß er etwas über ihn erfahren hatte. Es war schon schlimm gewesen, als der Name ihm nichts als ein bloßer Name war, der ihm nichts sagte. Schlimmer wurde es nun, da sich ihm mit dem Namen die Vorstellung von etwas Verabscheuenswürdigen verband. Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und es erwuchs in ihm die Gewißheit, es mit einem Teufel zu tun zu haben.

»Ich hatte es für Wahnsinn gehalten«, sagte er, als er das ominöse Schriftstück in den Geldschrank zurücklegte, »aber jetzt fange ich an zu fürchten, daß etwas Ehrenrühriges dahintersteckt.«

Dann blies er die Kerze aus, zog einen Mantel an und machte sich auf den Weg nach Cavendish Square, der Hochburg der medizinischen Wissenschaft, wo sein Freund, der berühmte Dr. Lanyon, wohnte und seine zahlreichen Patienten empfing. Er sagte sich: »Wenn irgend jemand Bescheid weiß, so ist es Lanyon.«

Der würdige Diener, der ihn kannte, ließ ihn eintreten und führte ihn ohne weitere Förmlichkeiten ins Eßzimmer, wo Dr. Lanyon allein bei seinem Glase Wein saß. Er war ein liebenswürdiger, gesunder, rotbackiger, feiner Herr, mit frühzeitig ergrautem Haar und lautem, sicherem Auftreten.

Beim Anblick von Mr. Utterson sprang er von seinem Stuhl auf und hieß ihn mit ausgestreckten Händen willkommen. Die Herzlichkeit, die dem Manne eigen war, erschien auf den ersten Blick theatralisch, doch entsprang sie echtem Gefühl. Denn die beiden waren alte Freunde und Kameraden von der Schule und der Universität her, beide hatten Achtung vor sich selbst und voreinander und, was nicht immer daraus folgt, waren sehr gern zusammen.

Nachdem sie über dies und jenes geplaudert hatten, kam der Anwalt auf den Gegenstand zu sprechen, der seinen Geist so stark beschäftigte und bedrückte.

»Wenn ich es mir überlege, Lanyon«, sagte er, »sind wir beide, du und ich, die ältesten Freunde, die Henry Jekyll hat.«

»Ich wollte, die Freunde wären jünger«, scherzte Dr. Lanyon.

»Aber es wird schon stimmen. Wie kommst du darauf? Ich sehe ihn jetzt selten.«

»So?« meinte der Anwalt. »Ich dachte, ihr hättet gemeinsame Interessen.«

»Die hatten wir«, lautete die Antwort. »Doch schon vor mehr als zehn Jahren wurde mir Henry Jekyll zu phantastisch. Er geriet auf Irrwege, auf geistige Irrwege, möchte ich sagen, und obgleich ich mich natürlich um alter Zeiten willen weiter für ihn interessiere, höre und sehe ich doch verdammt wenig von ihm. Solch unwissenschaftliches Gewäsch hätte selbst Damon und Pythias auseinandergebracht«, fügte der Doktor heftig hinzu und bekam plötzlich einen roten Kopf.

Dieser kleine Temperamentsausbruch brachte Mr. Utterson eine gewisse Erleichterung. ›Sie stimmen nur über eine wissenschaftliche Frage nicht überein‹ dachte er, und da er selbst keine wissenschaftlichen Passionen hatte (außer in juristischen Dingen), fügte er sogar hinzu: ›Gut, daß es nichts Schlimmeres ist.‹ Er ließ seinem Freunde Zeit, sich zu beruhigen, und stellte ihm dann die Frage, derentwegen er gekommen war. »Bist du je einem Protegé von ihm begegnet — einem gewissen Hyde?« — »Hyde?« wiederholte Lanyon. »Nein. Nie was von ihm gehört, jedenfalls nicht zu meiner Zeit.«

Das war alles, was der Anwalt an Aufklärungen mit nach Hause und in sein großes düsteres Bett nahm, in dem er sich von einer Seite auf die andere warf, bis aus der Nacht ein neuer Morgen wurde. Diese Nacht war keine Erquickung für seinen arbeitenden Geist, der in völliger Dunkelheit von quälenden Fragen bestürmt wurde.

Von der so angenehm nahe liegenden Kirche schlug es sechs, und immer noch grübelte er über das Problem nach. Hatte es bisher nur seinen Verstand beschäftigt, so fing es jetzt an, seine Phantasie zu erregen und gefangenzunehmen, und während er sich in der Dunkelheit der Nacht hinter dichtverhangenen Fenstern in seinem Bett hin und her wälzte, rollten die Einzelheiten von Mr. Enfields Erzählung wie grellbeleuchtete Bilder vor seinem inneren Auge ab. So sah er die endlose Reihe von Laternen in der nächtlichen Stadt, sah die Gestalt eines eilig daherkommenden Mannes und das Kind, das vom Arzt gelaufen kam, sah, wie beide zusammenstießen und wie jener Teufel in Menschengestalt das Kind niedertrat und ungerührt von seinem Geschrei seinen Weg fortsetzte. Oder er sah ein Zimmer in einem vornehmen Hause, in dem sein Freund im Schlafe lag und im Traume lächelte. — Die Tür öffnet sich, die Bettvorhänge werden beiseite geschoben, der Schläfer erwacht — und da — am Bett steht eine Gestalt, ein Mann, dem Macht über ihn gegeben ist, und selbst zu dieser nächtlichen Stunde muß er aufstehen und tun, was er von ihm verlangt. — In dieser zwiefachen Gestalt verfolgte der Unbekannte den Anwalt die ganze Nacht hindurch; und wenn er wirklich einmal einschlummerte, so sah er ihn nur noch spukhafter durch schlafende Häuser gleiten oder noch schneller und immer schneller, ja schwindelerregend schnell durch Labyrinthe von erleuchteten Straßen laufen und an jeder Ecke ein Kind niederrennen und schreiend liegenlassen. Und doch hatte die Gestalt kein Gesicht, an dem er sie hätte erkennen können; nicht einmal in seinen Träumen hatte sie ein Gesicht oder doch nur eins, das ihn verwirrte und sich vor seinen Augen in Nebel auflöste. Und da entstand im Bewußtsein des Anwalts und wuchs zusehends ein eigenartig starkes, ja fast ausschweifendes Verlangen, die Gesichtszüge des wirklichen Mr. Hyde zu schauen. Wenn er ihn — so glaubte er — erst einmal mit eigenen Augen sehen könnte, würde sich das Geheimnis lichten oder vielleicht überhaupt in Nichts zerfließen, so wie es mit geheimnisvollen Dingen geschieht, wenn man ihnen auf den Grund geht. Er würde dann vielleicht eine Erklärung für seines Freundes seltsame Zuneigung oder Knechtschaft (oder wie man es sonst nennen mochte) und selbst für die seltsamen Klauseln des Testamentes finden. Zum mindesten würde es ein Gesicht sein, das zu betrachten sich lohnen müßte, das Gesicht eines Mannes, der kein Mitleid kennt — ein Gesicht, dessen bloßer Anblick genügt hatte, um in dem nicht leicht zu beeinflussenden Gemüt von Enfield das Gefühl unauslöschlichen Hasses zu erwecken.

Von jenem Zeitpunkt an begann Mr. Utterson die Tür in der kleinen Ladenstraße zu überwachen. Morgens, vor den Bürostunden, mittags, auch wenn er viel zu tun und wenig Zeit hatte, bei Nacht, angesichts des verschwommenen Großstadtmondes, bei jeder Beleuchtung und zu allen Zeiten, einerlei, ob die Straße einsam dalag oder ob sie belebt war, immer konnte man den Anwalt auf seinem selbstgewählten Posten antreffen.

›Wenn Mr. Hyde sich verbergen will‹, so sagte er sich, ›so werde ich ihn eben suchen.‹

Und schließlich wurde seine Geduld belohnt. Es war eine schöne, windstille Frostnacht, die Straßen waren glatt und sauber wie ein Tanzboden, auf den die Laternen ein regelmäßiges Muster von Licht und Schatten zauberten. Um zehn Uhr, nach Ladenschluß, lag die Seitenstraße einsam da, und obgleich London ringsumher leise brodelte, war es sehr still. Kleinste Laute wurden wahrgenommen, alltägliche Geräusche in den Häusern waren auf beiden Seiten der Straße zu vernehmen, und der Lärm, der von einem nahenden Fußgänger verursacht wurde, eilte ihm längere Zeit voraus. Mr. Utterson stand erst einige Minuten auf seinem Posten, als er bemerkte, daß ein seltsam leichter Schritt näher kam. — Im Lauf seiner nächtlichen Streifzüge hatte er sich längst an die eigenartige Wirkung gewöhnt, die hervorgerufen wird, wenn sich der Klang der Schritte eines einzelnen Menschen plötzlich, obgleich er noch ein gutes Stück entfernt ist, aus dem allgemeinen Gesumm und Geräusch der Großstadt herauslöst. Und doch war seine Aufmerksamkeit nie zuvor so entschieden und zwingend wachgerufen worden, und mit einer starken, fast abergläubischen Zuversicht auf Erfolg zog er sich in den Eingang zum Hof zurück.

Die Schritte kamen schnell näher und erklangen plötzlich lauter, als sie um die Ecke bogen. Der Anwalt konnte von seinem Versteck aus bald sehen, mit welcher Sorte Mensch er es zu tun hatte. Er war klein, sehr einfach gekleidet, und sein Aussehen ging dem Beobachter, selbst aus dieser Entfernung, irgendwie stark gegen den Strich. Er ging geradenwegs auf die Tür zu, und zwar schräg über den Fahrdamm, um Zeit zu sparen, und zog im Gehen einen Schlüssel aus der Tasche, wie einer, der sich seinem Hause nähert.

Mr. Utterson trat vor und berührte seine Schulter, als er vorbeigehen wollte.

»Mr. Hyde, nicht wahr?«

Mr. Hyde fuhr zurück und zog hörbar den Atem ein. Doch sein Schreck ging bald vorüber, und, obgleich er dem Anwalt nicht ins Auge sah, versetzte er ziemlich gelassen: »So heiße ich. Was wünschen Sie?«

»Sie wollen dort hineingehen, wie ich sehe«, erwiderte der Anwalt. »Ich bin ein alter Freund von Dr. Jekyll — Mr. Utterson aus Gaunt Street —, Sie werden meinen Namen sicher gehört haben; und da es sich so günstig trifft, dachte ich, Sie könnten mich hineinlassen.«

»Sie würden Dr. Jekyll nicht antreffen, er ist nicht zu Hause«, entgegnete Mr. Hyde, indem er den Schlüssel ins Schloß steckte. Und plötzlich, jedoch ohne aufzublicken: »Woher kennen Sie mich?«

»Würden Sie mir«, sagte Mr. Utterson, »Ihrerseits einen Gefallen erweisen?«

»Mit Vergnügen«, versetzte der andere. »Was soll ich tun?«

»Würden Sie mich Ihr Gesicht sehen lassen?« fragte der Anwalt.

Mr. Hyde schien zu zögern, um ihm dann, wie auf Grund einer plötzlichen Überlegung, mit trotziger Gebärde sein Gesicht darzubieten, und die beiden sahen sich einige Sekunden lang starr in die Augen. »Jetzt werde ich Sie wiedererkennen«, sagte Mr. Utterson. »Das könnte von Nutzen sein.« »Ja«, gab Mr. Hyde zu, »es ist ganz gut, daß wir uns getroffen haben. Übrigens wäre es vielleicht nützlich, wenn Sie meine Adresse hätten.«

Und er gab ihm die Nummer einer Straße in Soho an.

›Großer Gott!‹ dachte Mr. Utterson, ›ist es möglich, daß auch er an das Testament gedacht hat?‹ Doch behielt er seine Gedanken für sich und murmelte nur einen Dank für die Adresse.

»Und nun«, sagte der andere, »woher kannten Sie mich?«

»Nach einer Beschreibung«, war die Antwort. »Wessen Beschreibung?«

»Wir haben gemeinsame Freunde«, sagte Mr. Utterson.

»Gemeinsame Freunde?« wiederholte Mr. Hyde ein wenig heiser. »Welche?«

»Zum Beispiel Jekyll«, sagte der Anwalt.

»Der hat Ihnen nichts erzählt«, rief Mr. Hyde mit einem Anflug von Ärger. »Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie mich anlügen würden.«

»Nun, nun«, sagte Mr. Utterson, »solche Sprache schickt sich nicht.«

Der andere brach in wildes Gelächter aus, hatte im nächsten Augenblick mit unglaublicher Geschwindigkeit die Tür geöffnet und war im Innern des Hauses verschwunden.

Nachdem Mr. Hyde ihn verlassen hatte, blieb der Anwalt noch eine Weile stehen — ein Bild der Unruhe. Dann ging er langsam die Straße hinauf, hielt aber alle paar Augenblicke den Schritt an und griff sich mit der Hand an die Stirn, wie ein Mensch, der sich in völliger Ratlosigkeit befindet. Das Problem, mit dem er sich beim Gehen auseinandersetzte, gehörte zu denen, die selten gelöst werden. — Mr. Hyde war blaß und von kleinem Wuchs, er machte den Eindruck von Mißgestaltung, obgleich er nicht eigentlich verwachsen war, sein Lächeln war unangenehm, sein Benehmen dem Anwalt gegenüber eine ekelhafte Mischung von Schüchternheit und Dreistigkeit, und seine Stimme war heiser, zischelnd und brüchig. All das sprach gegen ihn, und doch konnte alles zusammengenommen nicht den unbegreiflichen Abscheu, ja den Widerwillen und die Furcht erklären, die Mr. Utterson ihm gegenüber empfand. ›Dahinter muß noch etwas anderes stecken‹, sagte sich der bestürzte Anwalt. ›Und da ist noch etwas, wenn ich es nur beim Namen nennen könnte. Bei Gott, der Mann scheint nichts Menschliches an sich zu haben! Etwas von einem Höhlenbewohner, möchte ich sagen. Oder ist es der bloße Widerschein eines ruchlosen Charakters, der auf diese Weise seine wahre Wesensart offenbart und Gestalt gewinnt? Dies letztere wird es sein; denn ach, mein armer alter Henry Jekyll, wenn je ein Antlitz vom Satan gezeichnet war, so ist es das deines neuen Freundes!‹

Wenn man von der Nebenstraße aus um die Ecke bog, kam man an einen Platz mit alten schönen Häusern, die jetzt größtenteils ihre einstige vornehme Bestimmung verleugneten und etagen-und zimmerweise an Menschen jeden Standes und jeder Art vermietet wurden; an Landkartenzeichner, Architekten, Winkeladvokaten und Leute, die zweifelhafte Geschäfte betrieben. Ein Haus jedoch, das zweite von der Ecke, war noch im ganzen bewohnt und wies, obgleich es in Dunkelheit getaucht und nur von der Straße aus schwach beleuchtet war, unverkennbare Spuren von Wohlhabenheit und Behäbigkeit auf. Mr. Utterson blieb an der Tür stehen und klopfte. Ein älterer livrierter Diener öffnete.

»Ist Dr. Jekyll zu Hause, Poole?« fragte der Anwalt. »Ich werde nachsehen, Mr. Utterson«, sagte Poole; dabei führte er den Gast in eine große, gemütliche, niedrige Halle, die mit Fliesen ausgelegt war. Sie wurde von einem hellflackernden, offenen Kaminfeuer erwärmt, wie man es in Landhäusern antrifft, und war mit kostbaren Eichenmöbeln eingerichtet. »Wollen Sie hier am Kamin Platz nehmen, gnädiger Herr, oder soll ich im Eßzimmer Licht machen?«

»Danke, ich warte hier«, sagte der Anwalt, näherte sich dem Feuer und lehnte sich an das hohe Kamingitter.

Diese Halle, in der er nun allein zurückblieb, war eine besondere Liebhaberei seines Freundes, und Utterson selbst pflegte sie als den angenehmsten Aufenthaltsraum in London zu bezeichnen. Doch heute Nacht war sein Blut erregt; das Gesicht von Hyde lastete schwer auf seiner Erinnerung, und er verspürte was ihm selten widerfuhr — etwas wie Übelkeit und Lebensüberdruß. Aus seiner düsteren Stimmung heraus glaubte er in dem flackernden Feuerschein, der über die blanken Möbel huschte, und in dem ruhelosen Spiel der Schatten an der Decke eine Drohung zu erkennen und atmete zu seiner eigenen Beschämung erleichtert auf, als Poole zurückkehrte und ihm meldete, daß Dr. Jekyll ausgegangen sei.

»Ich sah Mr. Hyde durch die Tür des alten Sezierraums hineingehen, Poole«, sagte er. »Hat das seine Richtigkeit, wenn Dr. Jekyll nicht da ist?«

»Vollkommen, Mr. Utterson«, erwiderte der Diener. »Mr. Hyde hat den Schlüssel.«

»Ihr Herr scheint diesem jungen Mann sehr viel Vertrauen zu schenken«, meinte der andere nachdenklich.

»Ja, gnädiger Herr, das tut er«, sagte Poole. »Wir alle haben Order, ihm zu gehorchen.«

»Meines Wissens habe ich Mr. Hyde niemals hier getroffen?« fragte Utterson.

»O nein, gnädiger Herr. Er speist nie hier«, entgegnete der Diener. »Auch wir sehen ihn sehr selten in diesem Teil des Hauses; er kommt und geht meistenteils durch das Laboratorium.«

»Na, dann gute Nacht, Poole.«

»Gute Nacht, Mr. Utterson.«

Und der Anwalt machte sich schweren Herzens auf den Heimweg. Armer Henry Jekyll, dachte er, mein Gefühl sagt mir, daß er sich in Not befindet. In seiner Jugend war er ausschweifend; zwar ist das schon lange her, aber vor Gott gilt keine Verjährung. Ja, das wird es sein, das Gespenst irgendeiner alten Sünde, das schleichende Gift eines geheimgehaltenen Vergehens! Nachdem die Schuld dem Gedächtnis seit Jahren entschwunden und von der Eigenliebe längst verziehen ist, kommt pede claudo1 die Strafe. Durch diesen Gedanken aufgerüttelt, grübelte der Anwalt eine Zeitlang über seine eigene Vergangenheit nach und kramte in allen Fächern seiner Erinnerung herum, ob nicht am Ende irgendwo der Spukteufel einer alten Missetat ans Licht käme. Seine Vergangenheit war nahezu untadelig, nur wenige Menschen konnten, wie er, ohne Besorgnis in den Seiten ihres Lebensbuches blättern, und doch erfüllte ihn das wenige Schlechte, das er getan hatte, mit Demut und Reue, so wie es ihm andererseits eine ängstliche scheue Genugtuung gewährte, daß er manches Böse vermieden hatte, obgleich er nahe daran gewesen war, es zu tun. Und als er sich wieder dem Ausgangspunkt seiner Betrachtungen zuwandte, glaubte er klarer zu sehen. Dieser junge Hyde, dachte er, muß, falls er ein gelehrter Mann ist, persönliche Geheimnisse haben; schwarze Geheimnisse, nach seinem Aussehen zu schließen — Geheimnisse, mit denen verglichen die schlimmsten von dem armen Jekyll so hell wie die Sonne wären. Jedenfalls darf es so nicht weitergehen. Es überläuft mich eiskalt bei dem Gedanken, daß sich diese Kreatur wie ein Dieb an Henrys Bett schleicht. Armer Henry, welch ein Erwachen! Und welche Gefahr! Denn, wenn dieser Hyde die Existenz des Testamentes ahnt, so könnte er es mit dem Erben eilig haben. — Ja, ich muß dem Rad in die Speichen greifen — wenn Jekyll es mir nur erlaubt, wenn Jekyll es mir nur erlaubt. Denn wieder sah er vor seinem geistigen Auge klar und deutlich die seltsamen Bestimmungen des Testamentes.

1 »Auf humpelnden Beinen«, im übertragenen Sinn: »Langsam, aber gerecht.« Oder: »Langsam, aber sicher.«

Dr. Jekyll ist ganz unbefangen

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Vierzehn Tage später — es traf sich ausgezeichnet gab der Doktor eins seiner beliebten Diners, zu dem fünf oder sechs alte Bekannte geladen waren, kluge und angesehene Männer und allesamt gute Weinkenner, und Mr. Utterson wußte es so einzurichten, daß er noch blieb, als die andern gegangen waren. Dies war nichts Besonderes, sondern hatte sich im Lauf der Zeiten zur Gewohnheit herausgebildet. Wo Utterson beliebt war, da war er sehr beliebt.

Gastgeber hielten den trockenen Juristen gern noch zurück, wenn sich die Vergnügungssüchtigen und Schwatzhaften verabschiedeten, und liebten es, sich noch eine Weile seiner unaufdringlichen Gesellschaft zu erfreuen, um den Übergang zum Alleinsein zu finden und angesichts der Ruhe dieses seltenen Mannes nach all dem Aufwand und den Anstrengungen der Geselligkeit ihren klaren Kopf zurückzugewinnen. Dr. Jekyll bildete keine Ausnahme von dieser Regel, und als er seinem Freunde am Kamin gegenübersaß — ein großer, wohlgebauter Fünfziger mit glattem Gesicht, vielleicht mit einem kleinen Zug von Verschlagenheit darin, jedoch ausgesprochen klug und gutherzig —, konnte man ihm ansehen, daß er für Mr. Utterson eine aufrichtige und herzliche Zuneigung empfand.

»Ich hatte das Bedürfnis, mit dir zu sprechen, Jekyll«, begann der Anwalt. »Es handelt sich um dein Testament.«

Ein aufmerksamer Beobachter hätte bemerken können, daß das Thema dem Doktor unerwünscht war, doch griff er es willig auf.

»Mein armer Utterson«, sagte er, »du hast kein Glück mit deinem Klienten. Ich habe nie einen Menschen so betrübt gesehen, wie du es über mein Testament warst, außer vielleicht den engherzigen Pedanten Lanyon über das, was er meine wissenschaftlichen Ketzereien nannte. Ja, ja, ich weiß, er ist ein lieber Kerl — du brauchst die Stirn nicht zu runzeln —, ein vortrefflicher Mensch, ich nehme mir immer vor, ihn öfter zu sehen, aber doch ein engherziger Pedant! Ein unwissender, eifernder Pedant! Ich war nie so enttäuscht von einem Menschen wie von Lanyon.«

»Wie du weißt, war ich nie einverstanden damit«, fuhr Utterson fort, indem er die neue Wendung des Gespräches geflissentlich nicht beachtete.

»Mit meinem Testament? Ja, natürlich weiß ich das«, sagte der Doktor mit einem Anflug von Schärfe. »Du hast es mir ja gesagt.«

»Nun, dann sage ich es dir noch einmal«, versetzte der Anwalt. »Ich habe etwas von dem jungen Hyde erfahren.«

Das große, schöne Gesicht von Dr. Jekyll erblaßte bis in die Lippen, und seine Augen wurden ganz schwarz. »Ich will nichts weiter davon hören«, sagte er. »Ich dächte, wir wären übereingekommen, diesen Gegenstand nicht mehr zu berühren.«

»Was ich gehört habe, war abscheulich«, fuhr Utterson fort.

»Das ändert nichts daran. Du kannst dich nicht in meine Lage versetzen«, entgegnete der Doktor, scheinbar ohne Zusammenhang. »Sie ist sehr peinlich, ja, meine Lage ist äußerst seltsam — äußerst seltsam. Das ist eine Angelegenheit, die durch Worte nicht geklärt werden kann.«

»Jekyll«, sagte Utterson, »du kennst mich: ich bin ein Mann, auf den man sich verlassen kann. Erleichtere dein Herz, indem du mir Vertrauen schenkst, und ich zweifle nicht daran, daß ich dir helfen kann.«

»Guter Utterson«, sagte der Doktor, »das ist sehr nett von dir, das ist ganz außerordentlich nett von dir, und ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Ich glaube dir durchaus; ich würde dir mehr vertrauen, als jedem anderen Menschen, ja mehr als mir selbst, wenn ich die Wahl hätte. Aber es ist nicht so, wie du es dir denkst, so schlimm ist es nicht, und um dein gutes Herz zu beruhigen, will ich dir eins verraten: in demselben Augenblick, da ich es will, kann ich Mr. Hyde los sein. Ich gebe dir meine Hand darauf und danke dir von Herzen. Und noch etwas möchte ich hinzufügen und weiß, daß du es richtig auffassen wirst: dies ist eine ganz private Angelegenheit, und ich bitte dich, sie ruhen zu lassen.«

Utterson sah ins Feuer und überlegte.

»Ich bin überzeugt, daß du vollkommen recht hast« sagte er schließlich und stand auf.

»Schön, aber da wir die Sache einmal berührt haben — hoffentlich zum letzten Mal«, fuhr der Doktor fort, »möchte ich dir gern noch etwas begreiflich machen. Ich interessiere mich tatsächlich sehr für den armen Hyde. Ich weiß, daß du ihn gesehen hast, er hat es mir erzählt, und ich fürchte, er war grob zu dir. Aber, du kannst es mir glauben, ich interessiere mich wirklich stark, sehr stark für den jungen Mann, und wenn ich einmal nicht mehr bin, Utterson, so mußt du mir versprechen, dich seiner anzunehmen und ihm zu seinem Recht zu verhelfen. Ich weiß, du würdest es tun, wenn du alles wüßtest, und du würdest mir eine Zentnerlast vom Herzen nehmen, wenn du mir das Versprechen geben wolltest.«

»Ich müßte lügen, wenn ich sagte, daß er mir jemals sympathisch sein wird«, entgegnete der Anwalt.

»Das verlange ich gar nicht«, meinte Jekyll und legte seine Hand bittend auf des andern Arm. »Ich fordere nur Gerechtigkeit, ich bitte dich nur, ihm um meinetwillen zu helfen, wenn ich nicht mehr bin.«

Utterson konnte einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken. »Nun gut«, sagte er, »ich verspreche es dir.«

Die Ermordung von Sir Danvers Carew

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Fast ein Jahr später, im Oktober 18.., wurde London durch ein Verbrechen von ungewöhnlicher Bestialität erschreckt, ein Verbrechen, das durch die angesehene Stellung des Opfers noch an Bedeutung gewann. Man erfuhr nur spärliche, aufsehenerregende Einzelheiten. — Ein Dienstmädchen, das allein in einem Hause nahe am Fluß wohnte, war gegen elf Uhr in ihr oben gelegenes Zimmer gegangen, um sich schlafen zu legen. Obgleich in den frühen Abendstunden die Stadt im Nebel gelegen hatte, war der Himmel zu Beginn der Nacht wolkenlos, und der Weg vor des Mädchens Fenster wurde vom Vollmond hell beschienen. Offenbar romantisch veranlagt, setzte sie sich auf ihren Koffer, der unmittelbar am Fenster stand und verfiel in einen träumerischen Zustand. Nie (so pflegte sie unter strömenden Tränen zu sagen, wenn sie ihr Erlebnis erzählte), nie hatte sie sich so voll Frieden mit aller Welt gefühlt und so gut von den Menschen gedacht. Als sie so saß, erblickte sie einen schönen alten Herrn mit weißem Haar, der den Weg entlangkam. Und ihm entgegen kam ein anderer, sehr kleiner Herr, den sie anfangs weniger beachtete. Als sie in Hörweite voneinander gekommen waren (was gerade unter des Mädchens Fenster war), verbeugte sich der ältere und redete den anderen mit ausgesuchter Höflichkeit an. Der Inhalt seiner Worte schien von keiner besonderen Bedeutung zu sein, ja, nach seiner Handbewegung zu schließen, schien er nur nach dem Weg zu fragen. Der Mond schien ihm ins Gesicht, während er sprach, und das Mädchen betrachtete es mit Wohlgefallen, denn es strahlte eine unschuldsvolle, altfränkische Güte des Wesens aus und gleichzeitig etwas Hoheitsvolles, wie begründete Selbstzufriedenheit. Als sie sich dem andern zuwandte, war sie überrascht, in ihm einen gewissen Mr. Hyde zu erkennen, der einmal ihre Herrschaft besucht und der ihr Mißfallen erregt hatte. In der Hand trug er einen schweren Stock, den er hin-und herschwang. Er antwortete kein Wort und schien mit schlecht verhehlter Ungeduld zuzuhören. Und plötzlich geriet er in furchtbare Wut, stampfte mit den Füßen, erhob drohend den Stock und gebärdete sich (wie das Mädchen es beschrieb) wie ein Toller. Der alte Herr trat einen Schritt zurück mit der Miene eines Menschen, der sehr überrascht und ein wenig beleidigt ist, und da fielen von Mr. Hyde alle Hemmungen ab, und er schlug ihn mit dem Stock nieder. Im nächsten Augenblick trampelte er mit affenartiger Wut auf seinem Opfer herum und bearbeitete es mit einem Hagel von Hieben, unter denen die Knochen hörbar zerbrachen und der Körper auf der Straße hin und her geworfen wurde. Das Entsetzen über den Anblick und die Geräusche raubten dem Mädchen die Besinnung.

Es war zwei Uhr, als sie wieder zu sich kam und die Polizei holte. Der Mörder war längst entkommen, aber sein Opfer lag, schauerlich verstümmelt, mitten auf dem Weg. Der Stock, mit dem die Tat begangen worden war, obgleich aus einem seltenen, sehr harten und festen Holz, war unter der Wucht der wahnsinnigen Schläge mitten durchgebrochen, und die eine zersplitterte Hälfte war in die nahe Gosse gerollt — die andere war zweifellos vom Mörder mitgenommen worden. Eine Geldbörse und eine goldene Uhr wurden bei dem Opfer gefunden, aber weder Visitenkarten noch Papiere, nur ein gesiegelter und frankierter Brief, den er wahrscheinlich zur Post hatte bringen wollen und der den Namen und die Adresse von Mr. Utterson trug. Dieser wurde dem Anwalt am nächsten Morgen gebracht, bevor er aufgestanden war, und als er ihn gesehen und die näheren Umstände des Verbrechens erfahren hatte, machte er ein sehr nachdenkliches Gesicht.

»Ich kann nichts sagen, bevor ich die Leiche gesehen habe«, meinte er, »doch halte ich den Fall für sehr ernst. Wollen Sie bitte warten, bis ich fertig bin.« Und mit derselben nachdenklichen Miene verzehrte er hastig sein Frühstück und fuhr mit zur Polizeiwache, wohin die Leiche geschafft worden war. Als er die Zelle betrat, nickte er mit dem Kopf:

»Ja«, bemerkte er, »ich erkenne ihn. Ich muß Ihnen leider sagen, daß das Sir Danvers Carew ist.« — »Großer Gott«, rief der Beamte, »wie ist das möglich?« Doch schon im nächsten Augenblick leuchteten seine Augen in beruflichem Ehrgeiz auf. »Das wird viel Staub aufwirbeln«, sagte er, »und vielleicht können Sie uns behilflich sein, den Mörder aufzuspüren.« Darauf berichtete er in Kürze, was das Mädchen gesehen hatte, und zeigte den zerbrochenen Stock.

Mr. Utterson hatte schon davor gezittert, den Namen Hyde zu hören, aber als ihm nun der Stock vorgelegt wurde, konnte er nicht länger zweifeln — obgleich er zerbrochen und beschädigt war, erkannte er in ihm ein Geschenk, das er selbst Henry Jekyll vor Jahren gemacht hatte.

»Ist dieser Mr. Hyde ein Mann von kleinem Wuchs?« fragte er.

»Auffallend klein und von ausgesprochen niederträchtigem Gesichtsausdruck, wie das Mädchen aussagt«, entgegnete der Beamte.

Mr. Utterson überlegte, dann blickte er auf und sagte: »Ich glaube, ich kann Sie zu seiner Wohnung führen, wenn Sie in meinem Wagen mitkommen wollen.«

Es war inzwischen etwa neun Uhr morgens, und der erste Herbstnebel senkte sich herab. Der Himmel war wie mit einem großen, bräunlich gefärbten Leichentuch verhangen, aber der Wind fuhr fortwährend in die zusammengeballten Schwaden und verscheuchte sie, so daß Mr. Utterson, während der Wagen durch die Straßen fuhr, eine verwunderliche Menge von Abstufungen und Färbungen des Dämmerlichtes wahrnehmen konnte. Einmal war es schwarz wie hereinbrechende Nacht, dann wieder leuchtete es in düster gelblichbraunem Glanz, wie der Widerschein einer fernen Feuersbrunst, und dann teilte sich der Nebel ganz plötzlich für eine Sekunde, und ein Stück fahlen Tageslichts blickte aus den jagenden Wolken hervor. In diesen wechselnden Beleuchtungen erschien dem Anwalt der düstere Stadtteil Soho mit seinen schmutzigen Straßen, den verwahrlosten Bewohnern und den Laternen, die entweder noch gar nicht ausgelöscht oder schon wieder angezündet worden waren, um gegen diesen traurigen erneuten Einfall der Dunkelheit zu kämpfen, wie das Bild einer schreckhaft im Traum geschauten Stadt. Zudem befand er sich in denkbar düsterer Gemütsverfassung, und wenn er einen Blick auf seine Begleiter warf, überkam ihn etwas von dem Grauen vor dem Gesetz und seinen Vollstreckern, das auch den ehrenhaftesten Mann zuzeiten befallen kann.

Als der Wagen vor dem bezeichneten Hause hielt, lichtete sich der Nebel gerade und ließ ihn eine schmutzige Straße, eine Destille, ein elendes französisches Speisehaus und eine Bude erkennen, in der billige Zeitschriften und verschiedene Salate in Groschenportionen feilgeboten wurden. Unmengen von zerlumpten Kindern drängten sich in den Torwegen, und Frauen verschiedener Nationalitäten holten sich, mit dem Hausschlüssel in der Hand, ihren morgendlichen Schnaps. Im nächsten Augenblick senkte sich der schmutzig braune Nebel wieder über das Bild und schnitt den Anwalt von seiner trostlosen Umgebung ab. Hier also war der Günstling Henry Jekylls zu Hause, der künftige Erbe einer Viertelmillion Pfund Sterling!

Eine alte Frau mit elfenbeinfarbigem Gesicht und silberweißem Haar öffnete die Tür. Der Ausdruck von Bosheit in ihrem Gesicht verkroch sich hinter einer Maske von Heuchelei, und ihr Benehmen war zuvorkommend. Jawohl, sagte sie, dies wäre Mr. Hydes Wohnung, aber er sei nicht zu Hause; letzte Nacht wäre er sehr spät gekommen, sei aber nach kaum einer Stunde wieder fortgegangen. Das wäre nichts Besonderes, denn er wäre ein Mann von unregelmäßigen Lebensgewohnheiten und oft abwesend. Gestern zum Beispiel hätte sie ihn nach zwei Monaten zum ersten Mal wieder gesehen.

»Es ist gut«, erwiderte der Anwalt, »wir möchten seine Zimmer sehen«, und als die Frau erklärte, daß das unmöglich sei, fügte er hinzu: »Es ist vielleicht besser, wenn ich Ihnen sage, wer dieser Herr ist. Es ist Inspektor Newcomen von Scotland Yard.«

Über das Gesicht der Frau huschte ein Anflug von Schadenfreude. »Oh«, sagte sie, »er wird gesucht! Was hat er denn getan?«

Mr. Utterson wechselte einen Blick mit dem Inspektor. »Er scheint nicht sehr beliebt zu sein«, bemerkte dieser. »Und nun, gute Frau, lassen Sie den Herrn und mich die Sache hier in Augenschein nehmen!«

Mr. Hyde hatte von dem ganzen Hause, das abgesehen von der alten Frau unbewohnt war, nur zwei Zimmer inne. Doch waren diese mit Luxus und gutem Geschmack eingerichtet. Da war ein mit Wein gefüllter Wandschrank, das Eßgeschirr war aus Silber und das Leinenzeug kostbar; ein wertvolles Bild hing an der Wand — wie Mr. Utterson vermutete, ein Geschenk Henry Jekylls, der Kenner auf diesem Gebiet war — und die Teppiche waren schwer und schön in den Farben.

Im Augenblick jedoch boten die Zimmer einen Anblick dar, als ob sie vor kurzem eilig durchsucht worden wären. Kleidungsstücke lagen — mit den Taschen nach außen gekehrt — auf dem Fußboden umher, verschließbare Schubladen standen offen, und im Kamin befand sich ein Haufen grauer Asche, als ob ein Stoß Papiere verbrannt worden wäre. Aus der Aschenglut zog der Inspektor das Blockende eines grünen Scheckbuches hervor, das dem Feuer widerstanden hatte, hinter der Tür wurde die andere Hälfte des Stockes gefunden, und der Inspektor war beglückt darüber, weil es seinen Argwohn bestätigte. Noch gesteigert wurde seine Befriedigung durch einen Besuch bei der Bank, wo sich herausstellte, daß sich mehrere tausend Pfund auf dem Konto des Mörders befanden.

»Sie können sich darauf verlassen«, sagte er zu Mr. Utterson, »ich habe ihn in der Hand. Er muß den Kopf verloren haben, sonst hätte er nie im Leben den Stock dagelassen oder gar das Scheckbuch verbrannt. Denn das Geld ist Lebensbedingung für den Mann, und es bleibt uns nur noch übrig, ihn in der Bank zu erwarten und ihm Handschellen anzulegen.«

Das jedoch war nicht so leicht in die Tat umgesetzt; denn Mr. Hyde hatte nur wenige Bekannte — selbst die Herrschaft des Dienstmädchens hatte ihn zur zweimal gesehen. Seine Familie konnte nicht ermittelt werden, es existierte keine Photographie von ihm, und die wenigen, die ihn beschreiben konnten, wichen in ihren Aussagen sehr voneinander ab, wie das bei Durchschnittszeugen der Fall ist. Nur in einem Punkt stimmten sie überein, das war das unheimliche Gefühl von einer unerklärlichen Mißgestaltung, das der Flüchtling in jedem hervorrief, der ihn gesehen hatte.

Der Brief

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Erst am späten Nachmittag fand Mr. Utterson den Weg zu Dr. Jekylls Haus, wo er von Poole sogleich eingelassen und durch die Wirtschaftsräume über einen Hof, der früher einmal ein Garten gewesen war, zu dem Gebäude geführt wurde, das allgemein als Laboratorium oder Seziersaal bekannt war. Der Doktor hatte das Haus von den Erben eines bedeutenden Chirurgen erworben, und da seine Neigungen eher chemischer als anatomischer Natur waren, hatte er das Bauwerk am Ende des Gartens für seine Zwecke hergerichtet. Es war das erste Mal, daß der Anwalt in diesen Teil von seines Freundes Wohnsitz geführt wurde, und neugierig betrachtete er das düstere fensterlose Gebäude und blickte mit einem unangenehm fremden Gefühl umher, als er den Vorlesungsraum durchschritt. Einst hatten ihn lernbegierige Studenten bevölkert, nun lag er einsam und verlassen da, auf den Tischen standen chemische Apparate herum, der Fußboden war mit Kisten und verstreuter Holzwolle bedeckt, und trübes Licht drang durch die milchige Kuppel. Am entgegengesetzten Ende führten einige Stufen zu einer mit rotem Fries ausgeschlagenen Tür, durch die Mr. Utterson endlich in des Doktors Arbeitszimmer eingelassen wurde.

Dies war ein mit Glasschränken ausgestatteter, großer Raum, dessen drei staubige, vergitterte Fenster nach dem Hof gingen und in dem sich unter anderem ein drehbarer Toilettenspiegel und ein Schreibtisch befanden. Im Kamin brannte ein Feuer, und auf dem Sims stand eine brennende Lampe, denn der Nebel war bis ins Innere der Häuser gedrungen.

Und dort, dicht am Feuer, saß Dr. Jekyll — leichenblaß. Er stand nicht auf, als der Besucher eintrat, streckte ihm nur eine eiskalte Hand entgegen und hieß ihn mit veränderter Stimme willkommen.

Sobald Poole sie allein gelassen hatte, fragte Mr. Utterson: »Du hast die Neuigkeit gehört?«

Der Doktor schauerte zusammen. »Sie haben es draußen auf dem Platz ausgeschrien«, erwiderte er. »Ich konnte es bis in mein Eßzimmer hören.« — »Vor allem eins«, sagte der Anwalt, »Carew war mein Klient, aber du bist es ebenfalls, darum möchte ich wissen, was ich zu tun habe. Du bist doch nicht etwa so wahnsinnig gewesen, den Burschen zu verbergen?«

»Utterson«, schrie der Doktor, »beim allmächtigen Gott schwöre ich es dir, er soll mir nie wieder vor die Augen kommen. Ich gebe dir mein Ehrenwort, ich bin fertig mit ihm, solange ich lebe. Es ist alles aus. Im übrigen braucht er meine Hilfe nicht; du kennst ihn nicht, wie ich ihn kenne; er ist in Sicherheit — in völliger Sicherheit. Glaube meinen Worten, man wird nie wieder etwas von ihm hören.«

Mit gemischten Gefühlen hörte der Anwalt zu; das aufgeregte Wesen seines Freundes gefiel ihm nicht. »Du scheinst seiner sehr sicher zu sein«, meinte er, »und um deinetwillen hoffe ich, daß du recht hast. Wenn es zu einem Prozeß käme, würde dein Name darin verwickelt werden.«

»Ich bin seiner ganz sicher«, erwiderte Jekyll, »und zwar habe ich bestimmte Gründe dafür, die ich aber niemand mitteilen kann. Doch in einer Sache brauche ich deinen Rat. Ich habe — ich habe einen Brief erhalten und bin mir nicht schlüssig, ob ich ihn der Polizei vorlegen soll. Ich möchte es ganz dir überlassen, Utterson, ich bin überzeugt, du wirst das Richtige treffen; ich vertraue dir voll und ganz.«

»Wenn ich recht vermute, fürchtest du, es könnte zu seiner Entdeckung führen?« fragte der Anwalt.

»Nein«, versetzte der andere, »ich muß sagen, es läßt mich ganz kalt, was aus Hyde wird; ich bin vollständig fertig mit ihm. Ich dachte an meine eigene Stellung und daß ich in diese abscheuliche Geschichte verwickelt werden könnte.«

Utterson sann eine Weile nach. Die Selbstsucht seines Freundes überraschte ihn, doch erleichterte sie ihn auch wieder.

»Nun gut«, meinte er schließlich, »zeige mir das Schreiben!«

Der Brief war in einer seltsam steilen Schrift geschrieben und ›Edward Hyde‹ unterzeichnet. Er besagte in kurzen Worten, daß der Wohltäter des Schreibers, Dr. Jekyll, dem er seine tausend Wohltaten seit langem übel vergolten hätte, unter keinen Umständen um seine, Mr. Hydes, Sicherheit besorgt zu sein brauche, da ihm Mittel zur Flucht zu Gebote stünden, auf die er sich fest verlassen könnte.

Eigentlich gefiel dem Anwalt dieser Brief. Er zeigte das Verhältnis der beiden in einem besseren Licht, als es ihm erschienen war, und er machte sich im stillen Vorwürfe wegen seines früheren Argwohns.

»Hast du den Briefumschlag da?« fragte er.

»Den habe ich verbrannt«, versetzte Jekyll, »bevor es mir recht zum Bewußtsein kam. Aber der Brief war nicht frankiert. Das Schreiben ist abgegeben worden.«

»Soll ich es behalten und unter Verschluß nehmen?« fragte Utterson.

»Ich bitte dich, zu tun, was du für gut hältst«, lautete die Antwort. »Ich habe das Vertrauen zu mir verloren.«

»Schön, ich werde darüber nachdenken«, entgegnete der Anwalt. »Und nun noch eins: Hat Hyde dir den Passus über das Verschwinden in deinem Testament diktiert?«

Den Doktor schien eine Schwäche anzuwandeln; er preßte die Lippen fest aufeinander und nickte. »Ich wußte es«, sagte Utterson. »Er wollte dich ermorden. Du hast Glück gehabt, daß du dem entgangen bist.«

»Es war viel mehr als Glück«, erwiderte der Doktor in feierlichem Ton: »Es war mir eine Lehre — und, großer Gott, was für eine Lehre, Utterson!« Und er bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

Als der Anwalt wegging, wechselte er ein paar Worte mit Poole. »Heute ist ein Brief abgegeben worden; wie sah der Bote aus?«

Aber Poole wußte bestimmt, daß außer mit der Post nichts gekommen war. »Und auch da nur Drucksachen«, fügte er hinzu.

Diese Auskunft erweckte von neuem Mr. Uttersons Verdacht. Offenbar war der Brief durch die Laboratoriumstür gekommen, möglicherweise war er sogar im Arbeitszimmer geschrieben worden, und wenn das der Fall war, so mußte er anders beurteilt und mit mehr Vorsicht behandelt werden. Während er weiterging, schrien sich die Zeitungsjungen auf den Bürgersteigen heiser: »Extrablatt! Grauenerregender Mord an einem Parlamentsmitglied!« Das war der Nachruf für einen seiner Freunde und Klienten, und er konnte sich einer gewissen Besorgnis nicht erwehren, ob nicht der gute Name eines anderen womöglich in den Strudel des Skandals hineingezogen werden würde. Es war zum mindesten eine schwierige Entscheidung, die er zu treffen hatte, und auf sich selbst gestellt, wie er es durch Gewohnheit war, fing er an, sich nach einem Rat zu sehnen. Nicht, daß er ihn gerade einholen wollte, aber vielleicht — so dachte er — mochte er sich von selbst ergeben.

Und bald darauf saß er neben seinem eigenen Kamin, ihm gegenüber Mr. Guest, sein Bürovorsteher, und zwischen ihnen, in abgemessener Entfernung vom Feuer, stand eine Flasche besonders alten Weines, der schon lange in der dunklen Abgeschlossenheit des Kellers gelagert hatte. Der Nebel hing immer noch schwer über der nächtlichen Stadt, in der die Laternen düster wie Karfunkelsteine glühten, und inmitten dieser dampfenden und qualmenden Schwaden pulsierte wie immer das Leben durch die Adern der Großstadt, mit einem Geräusch, das dem Tosen des Windes glich. Das Zimmer aber war vom Schein des Feuers freundlich erhellt. Der Wein in der Flasche hatte seinen Läuterungsprozeß längst vollendet, seine prächtige Färbung hatte sich mit den Jahren vertieft, so wie die Farben der Glasmalereien mit der Zeit immer wärmer werden, und nun war er bereit, die über sanften Weinbergen lagernde Glut heißer Herbstnachmittage, die er eingefangen hatte, der Flasche entsteigen zu lassen und den Londoner Nebel damit zu besiegen.

Unmerklich löste sich des Anwalts Zunge. Vor keinem Menschen hatte er weniger Geheimnisse als vor Mr. Guest, weniger sogar, als er manchmal wünschte. Guest war öfter geschäftlich bei dem Doktor gewesen, er kannte Poole, es war kaum denkbar, daß er nichts von Mr. Hydes bevorzugter Stellung in dem Hause gehört haben sollte, und er konnte Schlußfolgerungen ziehen. War es da nicht ganz gut, ihm einen Brief zu zeigen, der das Geheimnis aufklärte? Und vor allem würde Guest, der ein eifriger Handschriftenforscher und -deuter war, diesen Schritt nicht ganz natürlich und als Gefälligkeit betrachten? Außerdem war der Sekretär ein Mann von Überlegung; er würde kaum ein so seltsames Dokument lesen, ohne eine Bemerkung darüber fallenzulassen, und darnach konnte Mr. Utterson dann vielleicht seine spätere Handlungsweise richten.

»Das ist eine traurige Geschichte mit Sir Danvers«, sagte er.

»Allerdings«, entgegnete Guest, »das Mitleid der Öffentlichkeit ist in hohem Maße wachgerufen worden. Der Mann war natürlich wahnsinnig.«

»Ich würde gern Ihre Ansicht darüber hören«, erwiderte Utterson. »Ich habe hier ein Dokument in seiner Handschrift; es bleibt natürlich unter uns, denn ich weiß noch nicht, was ich tun soll. Jedenfalls ist es eine häßliche Geschichte. Aber hier ist es und so recht etwas für Sie: das Autogramm eines Mörders.«

Guests Augen leuchteten auf; er setzte sich sofort hin und studierte es eifrig. »Nein«, äußerte er dann, »wahnsinnig ist er nicht, aber es ist eine sonderbare Handschrift.«

»Und jedenfalls ein sehr sonderbarer Schreiber«, fügte der Anwalt hinzu.

In diesem Augenblick brachte der Diener einen Brief herein.

»Von Dr. Jekyll?« fragte der Sekretär. »Mir kam die Handschrift bekannt vor. Oder ist es etwas Vertrauliches?«

»Nur eine Einladung zum Mittagessen. Warum fragen Sie? Wollen Sie es sehen?«

»Nur einen Augenblick. Ich danke Ihnen«, und der Sekretär legte die beiden Bogen nebeneinander und verglich emsig ihren Inhalt. »Ich danke Ihnen«, sagte er noch einmal, als er beide zurückgab. »Es ist ein sehr interessantes Autogramm.«

Es folgte eine Pause, in der Mr. Utterson sichtlich mit sich kämpfte. »Warum haben Sie sie miteinander verglichen, tauest?« fragte er plötzlich.

»Ja, wissen Sie«, entgegnete der Sekretär, »es existiert da eine eigentümliche Ähnlichkeit. Die beiden Handschriften stimmen in manchen Punkten überein, nur die Richtung ist verschieden.«

»Merkwürdig«, meinte Utterson.

»Da haben Sie recht«, versetzte Guest, »es ist merkwürdig.«

»Ich würde von diesem Schreiben nichts verlauten lassen«, sagte sein Chef.

»Nein«, versetzte der Sekretär. »Ich verstehe.«

Und kaum war Mr. Utterson an jenem Abend allein, so verschloß er das Schreiben in seinen Geldschrank, wo er es im weiteren Verlauf ruhen ließ. ›Wie?‹ dachte er, ›sollte Henry Jekyll um eines Mörders willen zum Fälscher geworden sein?‹ Und das Blut erstarrte ihm in den Adern.

Dr. Lanyons sonderbares Erlebnis

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Die Zeit verging. Mehrere tausend Pfund waren als Belohnung ausgesetzt worden, denn Sir Danvers Tod wurde als öffentliche Herausforderung empfunden; Mr. Hyde jedoch war aus dem Gesichtskreis der Polizei verschwunden, als ob er nie existiert hätte. Zwar kam über seine Vergangenheit vieles ans Licht, und alles war ekelhaft. So erzählte man sich von des Mannes rücksichtsloser Grausamkeit, von seiner Heftigkeit und Härte, seinem schlechten Lebenswandel, seinem sonderbaren Verkehr und dem Haß, der ihm anscheinend überall in seinem Leben begegnete, aber über seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort nicht ein Wort. Seitdem er am Morgen des Mordes das Haus in Soho verlassen hatte, war er wie ausgelöscht, und allmählich, als die Zeit verstrich, fing Mr. Utterson an, sich von seiner heftigen Bestürzung zu erholen und innerlich ruhiger zu werden. Durch Mr. Hydes Verschwinden war, nach seinem Empfinden, der Tod Sir Danvers mehr als gesühnt. Jetzt, da der schlechte Einfluß nicht mehr vorhanden war, begann für Dr. Jekyll ein neues Leben. Er kam aus seiner Zurückgezogenheit hervor, nahm den Verkehr mit seinen Freunden wieder auf und wurde von neuem ihr vertrauter Gast und Gastgeber. War er früher als barmherzig bekannt gewesen, so zeichnete er sich jetzt nicht weniger durch Frömmigkeit aus. Er war tätig, bewegte sich viel im Freien und verrichtete gute Werke. Der Ausdruck seines Gesichtes schien offener und fröhlicher zu werden, als wenn er sich innerlich eines Gottesdienstes bewußt wäre. Über zwei Monate lang war der Doktor voll inneren Gleichgewichtes.

Am 8. Januar hatte Utterson in kleiner Gesellschaft bei dem Doktor gegessen; Dr. Lanyon war auch dagewesen, und die Blicke des Gastgebers waren von einem zum andern gewandert wie in alten Zeiten, als die Freunde ein unzertrennliches Trio bildeten. Am 12. und auch am 14. fand der Anwalt keinen Einlaß. »Der Doktor ist ans Haus gefesselt und empfängt niemanden«, sagte Poole. Am 15. machte er wiederum einen Versuch und wurde wieder abgewiesen, und da er sich in den letzten zwei Monaten daran gewöhnt hatte, seinen Freund nahezu täglich zu sehen, begann dessen Rückkehr zur Einsamkeit sein Gemüt zu belasten. Am fünften Abend war Guest bei ihm zum Essen, und am sechsten machte er sich auf den Weg zu Dr. Lanyon.

Dort wurde er wenigstens nicht abgewiesen, doch als er eintrat, war er entsetzt über die Veränderung, die mit dem Doktor vorgegangen war. Das Todesurteil stand ihm auf dem Gesicht geschrieben. Der sonst rosige Mann war blaß und zusammengefallen, sein Haar hatte sich merklich gelichtet, und er sah alt aus.