Inhaltsverzeichnis
Buch
Autor
Segen des Autors
Prolog
TEIL EINS
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Copyright
Buch
Wer kennt schon das Leben von Jesus Christus - abgesehen von seiner Geburt und seinem Sterben am Kreuz inklusive Wiederauferstehung? Wer kann schon mit Sicherheit sagen, was Jesus nach seiner Geburt bis zu seinem dreißigsten Geburtstag getrieben hat? Niemand. Daher hat das göttliche Gericht entschieden: Auch diese Jahre müssen publik gemacht werden. Schließlich soll sich niemand beschweren können, er kenne nicht die ganze Geschichte. Engel Raziel wird auserkoren, diese schwierige Aufgabe zu meistern. Und dazu muss er nach fast 1970 Jahren Todesschlaf einen Mann namens Levi bar Alphaeus - kurz Biff genannt - aus dem Staube Jerusalems wieder zum Leben erwecken, denn dieser ungestüme, lausbübische Kerl ist von Kindesbeinen an Jesus’ bester Freund gewesen. Damit Biff die Geschichte der vergessenen Jahre in Muße aufzeichnen kann, sperrt Engel Raziel ihn in ein Hotelzimmer in St. Louis ein und lässt ihn nicht mehr aus den Augen. Biff müht sich auch redlich, die kleinen und großen Abenteuer glaubhaft niederzuschreiben: Unfähig, etwas anderes als die reine Wahrheit zu sagen und genauso unfähig, sich gegen Hänseleien auch mal mit der Faust zu wehren, zieht Jesus Ärger geradezu magisch an. Doch Biff steht ihm immer zur Seite. Er ist Manns genug, die eine oder andere Lüge zu verbreiten und seinen Freund gegen rivalisierende Jugendbanden zu verteidigen. Da Jesus auch allen fleischlichen Gelüsten entsagt, muss er sich außerdem mit den vielen Frauen abplagen, die schon frühzeitig für den jungen Messias schwärmen. Eigentlich kein Problem, nur Maria Magdalena bereitet Biff wirklich Schwierigkeiten. Und während er in alten Erinnerungen an ihre abenteuerliche Reise nach China und Indien schwelgt, verfällt Engel Raziel in ihrem abgeschotteten Hotelzimmer mehr und mehr amerikanischen Seifenopern und amerikanischer Pizza …
Autor
Die ehemalige Journalist Christopher Moore wird von der Kritik zu Recht immer wieder mit Douglas Adams und Terry Pratchett verglichen. Seine Romane haben in Amerika Kultstatus. Christopher Moore lebt in Cambria, Kalifornien.
Von Christopher Moore ist außerdem bei Goldmann lieferbar
Der Lustmolch. Roman (44986) Himmelsgöttin. Roman (44397)
Segen des Autors
Kommst du auf diese Seiten, weil du Zoten suchst, so mögest du sie finden.
Kommst du hierher um einer Kränkung willen, so möge dich der Zorn ergreifen und dein Blut aufschäumen.
Kommst du auf der Suche nach Abenteuer, so möge dir diese Geschichte glückselige Fluchten bereiten.
Kommst du, um deinen Glauben zu prüfen oder zu festigen, mögest du wohlgefällige Schlüsse ziehen.
Jedes Buch offenbart Vollkommenheit durch das, was es ist, oder das, was es nicht ist.
Mögest du finden, was du suchst, auf diesen Seiten oder andernorts.
Mögest du Vollkommenheit finden und sie als solche auch erkennen.
Prolog
Der Engel war gerade dabei, seine Schränke zu entstauben, als ihn der Ruf ereilte. Heiligenscheine und Mondstrahlen waren nach Helligkeit sortiert, Zornesbeutel und Lichtschwerter hingen an Haken und wollten poliert werden. Ein Weinschlauch voll Glorien in der Ecke hatte geleckt, und der Engel tupfte mit einem zusammengeknüllten Tuch daran herum. Jedes Mal, wenn er das Tuch wendete, erklang aus dem Schrank ein dumpfer Chor, als hätte er den Deckel auf ein Weckglas voller Hallelujahs geschraubt.
»Raziel, was um Himmels willen treibst du da?«
Der Erzengel Stephan ragte über ihm auf, schwenkte eine Schriftrolle, als drohte er einem pinkelnden Welpen mit zusammengerollter Zeitung.
»Ein Marschbefehl?«, fragte der Engel.
»Erdenpfuhl.«
»Da war ich doch gerade erst.«
»Vor zwei Millennien.«
»Ehrlich?« Raziel sah auf seine Uhr, tippte an das Glas. »Bist du sicher?«
»Was glaubst du?« Stephan hielt ihm die Schriftrolle hin, damit Raziel das Siegel mit dem brennenden Busch erkennen konnte.
»Wann soll ich los? Ich bin hier fast fertig.«
»Unverzüglich. Pack die Gabe der Zungen und ein paar kleinere Wunder ein. Keine Waffen, es ist kein Rachejob. Du arbeitest undercover. Ausgesprochen low profile, aber von entscheidender Bedeutung. Steht alles im Marschbefehl.« Stephan reichte ihm die Schriftrolle.
»Wieso ich?«
»Das habe ich auch gefragt.«
»Und?«
»Man hat mich daran erinnert, weshalb manch anderer Engel verstoßen wurde.«
»Oha! So brisant?«
Stephan hüstelte, was affektiert wirkte, denn Engel atmen nicht. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich es eigentlich wissen sollte, aber Gerüchten nach dürfte es um ein neues Buch gehen.«
»Das soll wohl ein Witz sein. Eine Fortsetzung? Die Offenbarung Zweiter Teil, wo man eben noch dachte, man könne unbehelligt sündigen?«
»Es ist ein Evangelium.«
»Ein Evangelium, nach so langer Zeit? Wer?«
»Levi, den man Biff nennt.«
Raziel ließ seinen Lappen fallen und stand auf. »Das muss ein Missverständnis sein.«
»Es kommt direkt vom Sohn.«
»Aus gutem Grund wird Biff in den anderen Büchern nicht erwähnt. Er ist ein absolutes …«
»Sag es nicht.«
»Aber er ist so ein Arschloch.«
»Da redest du und wunderst dich, dass du Pfuhldienst schiebst.«
»Wieso jetzt, nach so langer Zeit? Vier Evangelien haben doch bis jetzt genügt, und wieso er?«
»Weil es nach Erdbewohnerzeit eine Art Jubiläum der Geburt des Sohnes gibt, und er das Gefühl hat, es sei an der Zeit, die ganze Geschichte zu erzählen.«
Raziel ließ den Kopf hängen. »Ich sollte packen.«
»Die Gabe der Zungen«, mahnte Stephan.
»Unbedingt. Damit ich mir den Schwachsinn in tausend Sprachen anhören kann.«
»Immer auch die guten Seiten sehen, Raziel. Und bring mir etwas Schokolade mit.«
»Schokolade?«
»Ein Erdensnack. Du wirst sie mögen. Satan hat sie erfunden.«
»Teufelsfraß?«
»Man kann nicht immer nur Oblaten knabbern, mein Freund.«
Mitternacht. Der Engel stand auf einem kahlen Hügel am Rande der heiligen Stadt Jerusalem. Er hob die Arme in die Höhe, und trockener Wind ließ seine weiße Robe flattern.
»Erhebe dich, Levi, den man Biff nennt.«
Ein Wirbelwind baute sich vor ihm auf, sammelte am Hang Staub zu einer Säule, die menschliche Gestalt annahm.
»Erhebe dich, Biff. Deine Zeit ist gekommen.«
Wütend peitschte der Wind, und der Engel hob den Ärmel seiner Robe vors Gesicht.
»Erhebe dich, Biff, und wandle unter den Lebenden.«
Langsam ließ der Wirbel nach, bis nur noch eine Staubsäule in Menschengestalt am Hang aufragte. Augenblicklich war es auf dem Hügel wieder still. Der Engel zog ein Gefäß mit Gold aus seinem Beutel und streute dessen Inhalt über die Säule. Der Staub wurde fortgespült, und ein schlammbespritzter, nackter Mann stand prustend und spuckend im Licht der Sterne.
»Willkommen unter den Lebenden«, sagte der Engel.
Der Mann zwinkerte, dann hielt er sich die Hand vor Augen, als erwartete er, hindurchsehen zu können.
»Ich lebe«, sagte er in einer Sprache, die er nie zuvor gehört hatte.
»Ja«, sagte der Engel.
»Was sind diese Laute, diese Worte?«
»Man hat dir die Gabe der Zungen gewährt.«
»Die Gabe der Zungen hatte ich schon immer. Da kannst du alle Mädchen fragen, mit denen ich zusammen war. Was sind das für Worte?«
»Sprachen. Man hat dir die Gabe der Sprachen gewährt, wie allen Aposteln.«
»Dann ist Sein Reich gekommen.«
»Ja.«
»Und wann?«
»Vor zweitausend Jahren.«
»Du nichtsnutzige Pfeife von einem Blindgänger«, sagte Levi, den man Biff nannte, und schlug dem Engel ins Gesicht. »Du bist spät dran.«
Der Engel kam wieder auf die Beine und tastete vorsichtig an seiner Lippe herum. »Spricht man so mit dem Boten des Herrn?«
»Ist mir eben gegeben«, sagte Biff.
TEIL EINS
Der Junge
Gott ist ein Komödiant, der vor einem Publikum spielt, das sich nicht zu lachen traut.
VOLTAIRE
1
Ihr glaubt, ihr wisst, wie die Geschichte endet, aber das stimmt nicht. Vertraut mir, ich war dabei. Ich weiß Bescheid.
Als ich dem Mann, der die Welt retten würde, zum ersten Mal begegnete, saß er am großen Brunnen in Nazareth, und eine Eidechse hing aus seinem Mund. Nur Schwanz und Hinterbeine waren noch zu sehen, Kopf und Vorderbeine steckten halb in seinem Rachen. Er war sechs, wie ich, und sein Bart noch nicht ganz ausgebildet, so dass er den Bildern, die ihr von ihm kennt, nicht eben ähnlich sah. Seine Augen waren wie dunkler Honig, und sie lächelten unter einer Mähne blauschwarzer Locken hervor, von denen sein Gesicht umrahmt war. Ein Licht - älter als Moses - sprach aus diesen Augen.
»Unrein! Unrein!«, rief ich und deutete auf den Jungen, damit meine Mutter wusste, dass ich das Gesetz kannte, doch weder sie noch die anderen Mütter, die ihre Krüge am Brunnen füllten, beachteten mich.
Der Junge nahm das Tier aus dem Mund und gab es seinem jüngeren Bruder, der neben ihm im Sand saß. Der Kleine spielte eine Weile mit der Echse, ärgerte sie, bis sie ihren kleinen Kopf reckte, als wollte sie beißen, dann hob er einen Stein auf und schlug dem Tier den Schädel ein. Ungläubig stieß er das tote Ding im Sand herum, und als er sicher war, dass es sich nicht mehr vom Fleck rühren würde, hob er es auf und gab es seinem älteren Bruder zurück.
Ab in den Mund mit der Echse, und bevor ich ihn noch verpetzen konnte, war sie schon wieder draußen, lebhaft zappelnd und bereit, erneut zu beißen. Wieder reichte er sie seinem kleinen Bruder, der das Tier mit dem Stein zermalmte und damit die Prozedur erneut begann oder beendete.
Dreimal noch sah ich, wie die Echse starb, dann sagte ich: »Das will ich auch können.«
Der Erlöser nahm die Echse aus dem Mund und sagte: »Was davon?«
Übrigens hieß er Josua. Jesus ist die griechische Übersetzung des hebräischen Jeschua, gleichbedeutend mit Josua. Christus ist kein Nachname. Es ist das griechische Wort für Messias, ein hebräisches Wort, das »gesalbt« bedeutet. Ich habe keine Ahnung, wofür das »H« in Jesus H. Christus steht. Auch danach hätte ich ihn damals fragen sollen.
Ich? Ich bin Levi, den man Biff nennt. Ohne zweiten Vornamen.
Josua war mein bester Freund.
Der Engel sagt, ich soll mich einfach nur hinsetzen, meine Geschichte aufschreiben und alles vergessen, was ich in dieser Welt gesehen habe, aber wie soll das gehen? In den vergangenen drei Tagen habe ich mehr Leute, mehr Bilder, mehr Wunder als in meinen ganzen dreiunddreißig Lebensjahren gesehen, und der Engel meint, ich soll das alles ignorieren. Ja, man hat mir die Gabe der Zungen gewährt, und deshalb sehe ich nichts, ohne auch das Wort dafür zu kennen, aber was nützt es mir? Hat es mir in Jerusalem geholfen zu wissen, dass es ein Mercedes war, der mir einen solchen Schrecken eingejagt hat, dass ich in einen Müllcontainer springen musste? Oder nachdem mich Raziel rausgeholt und mir die Fingernägel umgebogen hatte, weil ich unentdeckt bleiben wollte, hat es mir da genützt, dass es eine Boeing 747 war, die mich am Boden kauern ließ, als ich versuchte, meiner Tränen Herr zu werden und Lärm und Flammen zu entkommen? Bin ich ein kleines Kind, das sich vor seinem eigenen Schatten fürchtet, oder habe ich siebenundzwanzig Jahre Seite an Seite mit Gottes Sohn verbracht?
Auf dem Hügel, als er mich aus dem Staub zog, sagte der Engel: »Du wirst viele sonderbare Dinge sehen. Fürchte dich nicht. Du bist auf heiliger Mission, und ich werde dich beschützen.«
Selbstgefälliger Sack. Hätte ich gewusst, was er mir antun würde, hätte ich gleich noch mal zugeschlagen. Jetzt liegt er da hinten auf dem Bett, sieht sich bewegte Bilder auf einem Schirm an, isst etwas Süßes namens Snickers, während ich meine Geschichte auf seidenweiches Papier kritzele, das mit Hyatt Regency, St. Louis überschrieben ist. Worte, Worte, Worte, eine Million Worte kreisen wie Falken in meinem Kopf und warten darauf, sich auf die Seite zu stürzen und die einzigen beiden Worte in Stücke zu reißen, die ich wirklich schreiben möchte.
Wieso ich?
Wir waren insgesamt fünfzehn - na ja, vierzehn, nachdem ich Judas aufgeknüpft hatte - wieso also ich? Josua hat immer gesagt, ich solle mich nicht fürchten, denn er würde immer bei mir sein. Wo bist du, mein Freund? Weshalb hast du mich verlassen? Du würdest dich hier nicht fürchten. Weder die Türme und Maschinen noch der Glanz und der Gestank in dieser Welt würden dich verzagen lassen. Komm zu mir, ich lasse uns vom Zimmerservice eine Pizza bringen. Du würdest Pizza mögen. Der Diener, der sie bringt, heißt Jesus. Und er ist nicht mal Jude. Du hattest immer Sinn für Ironie. Komm, Josua, der Engel sagt, du weilst noch unter uns, du kannst ihn halten, während ich ihn windelweich prügle, dann laben wir uns an der Pizza.
Raziel hat sich angesehen, was ich geschrieben habe, und ermahnt mich, das Gejammer zu lassen und mit der Geschichte fortzufahren. Er hat leicht reden. Er hat die letzten zweitausend Jahre nicht unter der Erde zugebracht. Jedenfalls lässt er mich erst Pizza bestellen, wenn ich einen Abschnitt beendet habe, nun denn …
Ich bin geboren in Galiläa, in der Stadt Nazareth, zur Zeit Herodes’ des Großen. Mein Vater, Alphäus, war Steinmetz, und Naomi, meine Mutter, war von Dämonen geplagt. Das zumindest habe ich überall erzählt. Josua meinte nur, sie sei wohl etwas schwierig. Mein richtiger Name, Levi, stammt von Moses’ Bruder, dem Ahnherrn des Priesterstammes. Mein Spitzname Biff kommt von unserem Slangwort für einen Klaps an den Hinterkopf, den meine Mutter bei mir von Geburt an für täglich geboten hielt.
Ich wuchs unter römischer Herrschaft auf, obwohl ich - bis zu meinem zehnten Lebensjahr - nicht viele Römer zu Gesicht bekam. Die Römer blieben meist in der Festungsstadt Sephoris, eine Stunde Fußweg nördlich von Nazareth. Dort haben Josua und ich gesehen, wie ein römischer Soldat ermordet wurde … Aber ich greife den Ereignissen vor. Geht erst mal davon aus, dass der Soldat noch in Sicherheit ist und begeistert seine Bürste auf dem Kopf trägt.
Die meisten Leute in Nazareth waren Bauern, die an den felsigen Hängen vor der Stadt Wein und Oliven und unten in den Tälern Gerste und Weizen anbauten. Darüber hinaus gab es Hirten mit Ziegen und Schafen, deren Familien im Ort lebten, während die Männer und die älteren Söhne die Herden im Hochland versorgten. Unsere Häuser waren ganz aus Stein, und viele hatten Böden aus festgetretener Erde, unseres aber hatte einen Steinfußboden.
Ich war der älteste von drei Brüdern, so dass man mich schon im Alter von sechs Jahren darauf vorbereitete, den Beruf meines Vaters zu erlernen. Meine Mutter gab mir Unterricht, lehrte mich das Gesetz und die Geschichten aus der Thora auf Hebräisch, und mein Vater nahm mich mit in die Synagoge, damit ich hörte, wie die Alten in der Bibel lasen. Aramäisch war meine Muttersprache, doch als ich zehn war, konnte ich Hebräisch ebenso gut sprechen und lesen wie die meisten der Männer.
Meine Fortschritte im Hebräischen und dem Studium der Thora fanden durch meine Freundschaft zu Josua einen steten Ansporn, denn während die anderen Jungen eine Runde »Straf das Schaf« oder »Kanaaniten-Kicken« spielten, übten Josua und ich uns als Rabbiner, und er bestand darauf, dass wir uns bei den Zeremonien an das authentische Hebräisch hielten. Es war lustiger als es klingt, zumindest, bis meine Mutter uns dabei erwischte, wie wir versuchten, meinen kleinen Bruder Schem mit einem scharfen Stein zu beschneiden. Was hat sie sich aufgeregt! Und mein Argument, Schem müsse seinen Bund mit dem Herrn erneuern, schien sie nicht zu überzeugen. Mit einem Olivenzweig hat sie mich windelweich geprügelt und mir einen Monat lang verboten, mit Josua zu spielen. Hatte ich schon erwähnt, dass sie von Dämonen besessen war?
Alles in allem glaube ich, dass es für den kleinen Schem von Vorteil war. Ich kenne sonst keinen einzigen Jungen, der um die Ecke pinkeln konnte. Mit so einem Talent kann man sich als Bettler einen ganz ordentlichen Lebensunterhalt verdienen. Gedankt hat er mir dafür nie.
Brüder.
Kinder sehen Magisches, weil sie danach suchen.
Als ich Josua zum ersten Mal begegnete, wusste ich nicht, dass er der Heiland war; er aber auch nicht. Ich wusste nur, dass er keine Angst hatte. Inmitten eines Geschlechts besiegter Krieger, eines Volkes, das versuchte, seinen Stolz zu wahren, während es vor Gott und Rom kuschte, leuchtete er wie eine Blume in der Wüste. Vielleicht sah ich allein es, weil ich danach suchte. Allen anderen schien er ein Kind unter vielen zu sein: dieselben Nöte und dieselbe Aussicht auf einen frühen Tod, bevor er ausgewachsen war.
Als ich meiner Mutter von Josuas Trick mit der Eidechse erzählte, fühlte sie, ob ich fieberte, gab mir eine Schale Brühe zum Abendbrot und schickte mich auf meine Schlafmatte.
»Ich habe Geschichten über die Mutter dieses Jungen gehört«, sagte sie zu meinem Vater. »Sie behauptet, sie hätte mit einem Engel des Herrn gesprochen. Esther hat sie erzählt, sie habe den Sohn Gottes geboren.«
»Und was hast du zu Esther gesagt?«
»Sie soll aufpassen, dass die Pharisäer nichts von ihrem wirren Gerede hören, weil wir sonst schon mal Steine für ihre Hinrichtung sammeln können.«
»Dann solltest du nicht wieder davon sprechen. Ich kenne ihren Mann. Er ist rechtschaffen.«
»Mit einem geisteskranken Mädchen zur Frau.«
»Das arme Ding«, sagte mein Vater und brach ein Stück Brot vom Laib. Seine Pranken waren hart wie Horn, rechteckig wie Hämmer und grau wie die Hände eines Aussätzigen, vom Kalkstein, mit dem er arbeitete. Wenn er mich umarmte, bekam ich Kratzer am Rücken, die manchmal bluteten, und doch rang ich jeden Abend, wenn er von der Arbeit kam, mit meinen Brüdern darum, wen er als Ersten in die Arme schloss. Wären uns dieselben Wunden im Zorn beigefügt worden, hätten wir weinend am Rock der Mutter gehangen. Jeden Abend, wenn ich einschlief, spürte ich seine Hand wie einen Schild an meinem Rücken.
Väter.
»Willst du ein paar Echsen mantschen?«, fragte ich Josua, als ich ihn wiedersah. Er zeichnete mit einem Stock im Staub und beachtete mich nicht. Ich setzte einen Fuß auf seine Zeichnung. »Wusstest du, dass deine Mutter irre ist?«
»Das liegt an meinem Vater«, sagte er traurig, ohne aufzusehen.
Ich setzte mich neben ihn. »Manchmal jault meine Mutter nachts wie ein wilder Hund.«
»Ist sie verrückt?«, fragte Josua.
»Morgens scheint es ihr dann gut zu gehen. Sie singt, wenn sie Frühstück macht.«
Josua nickte, war wohl zufrieden, dass Wahnsinn auch vergehen konnte. »Früher haben wir in Ägypten gewohnt«, sagte er.
»Nein, habt ihr nicht, das ist zu weit. Sogar noch weiter als der Tempel.« Weiter als beim Tempel von Jerusalem war ich als Kind noch nicht gewesen. In jedem Frühling machte sich meine Familie auf den fünftägigen Marsch zum Passahfest nach Jerusalem. Er schien mir ewig zu dauern.
»Wir haben hier gewohnt, dann waren wir in Ägypten, jetzt wohnen wir wieder hier«, sagte Josua. »Es war ein weiter Weg.«
»Du lügst, es dauert vierzig Jahre, bis man in Ägypten ist.«
»Nicht mehr. Jetzt ist es näher.«
»Steht in der Thora. Mein Abba hat es mir vorgelesen. ›Vierzig Jahre wanderten die Israeliten durch die Wüste.‹«
»Die Israeliten hatten sich verirrt.«
»Vierzig Jahre lang?« Ich lachte. »Die Israeliten müssen ganz schön blöd sein.«
»Wir sind die Israeliten.«
»Sind wir?«
»Ja.«
»Ich muss meine Mutter suchen«, sagte ich.
»Wenn du wiederkommst, lass uns Moses und Pharao spielen.«
Der Engel hat mir anvertraut, dass er den Herrn fragen will, ob er Spider-Man werden darf. Dauernd sitzt er vor dem Fernseher, selbst wenn ich schlafe, und er ist ganz besessen von dieser Geschichte mit dem Helden, der Dämonen von Dächern aus bekämpft. Der Engel sagt, das Böse sei jetzt größer als zu meiner Zeit, und deshalb seien auch größere Helden nötig. Die Kinder brauchen Helden, sagt er. Ich glaube, er will sich nur in roten Strumpfhosen von den Häusern schwingen.
Außerdem: Welcher Held könnte die Kinder dieser Welt beeindrucken, mit ihren Maschinen, den Medikamenten und Entfernungen, die nicht mehr zu sehen sind? (Raziel: noch keine Woche hier, und schon würde er das Schwert Gottes hergeben, um der Netzschwinger zu werden.) Zu meiner Zeit waren unsere Helden rar gesät, aber sie waren real … Mancher von uns konnte sogar seine Herkunft bis zu ihnen zurückverfolgen. Josua spielte immer die Helden - David, Josua, Moses - und ich die Bösen: Pharao, Ahab und Nebukadnezar. Hätte ich einen Schekel für jedes Mal, da ich als Philister erschlagen wurde, nun, dann müsste ich so bald kein Kamel mehr durchs Nadelöhr reiten. Wenn ich zurückdenke, wird mir klar, dass Josua für das übte, was aus ihm werden sollte.
»Lass mein Volk ziehen«, sagte Josua als Moses.
»Okay.«
»Du kannst nicht einfach ›Okay‹ sagen.«
»Nicht?«
»Nein, der Herr hat dein Herz gegenüber meinen Forderungen verstockt.«
»Wieso hat er das getan?«
»Ich weiß nicht, hat er einfach. Also, lass mein Volk ziehen.«
»Kein Stück.« Ich verschränkte meine Arme und wandte mich ab, wie jemand, dessen Herz verstockt war.
»Siehe, wie ich diesen Stab in eine Schlange verwandle. Und jetzt lass mein Volk ziehen!«
»Okay.«
»Du kannst nicht einfach ›Okay‹ sagen.«
»Wieso? Das war ein ziemlich guter Trick mit dem Stab.«
»Aber so geht das nicht.«
»Okay. Nie im Leben, Moses, dein Volk muss bleiben.«
Josua schwenkte seinen Stock vor meiner Nase. »Siehe, ich werde dich mit Fröschen plagen. Sie werden dein Haus und auch dein Schlafgemach bevölkern und an deine Sachen gehen.«
»Und?«
»Und das ist verheerend. Lass mein Volk ziehen, Pharao.«
»Ich mag Frösche irgendwie.«
»Tote Frösche«, drohte Moses. »Haufenweise dampfende, stinkende, tote Frösche.«
»Oh, in dem Fall solltest du lieber dein Volk nehmen und von dannen ziehen. Ich muss sowieso noch ein paar Sphinxe und so was bauen.«
»Verdammt, Biff, so geht das nicht! Ich hab noch mehr Plagen für dich auf Lager.«
»Ich will auch mal Moses sein.«
»Das kannst du nicht.«
»Wieso nicht?«
»Ich hab den Stock.«
»Oh.«
Und so weiter und so fort. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Bösewichter ebenso gern gespielt habe wie Josua die Helden. Manchmal rekrutierten wir unsere kleinen Brüder für die verabscheuungswürdigeren Rollen. Josuas kleine Brüder Judas und Jakobus spielten ganze Völker, etwa die Sodomiten vor Lots Tür.
»Schick die beiden Engel raus, damit sie uns kennen lernen können.«
»Das tue ich nicht«, sagte ich, denn ich spielte Lot (einen Guten, aber nur, weil Josua die Engel spielen wollte), »doch habe ich zwei Töchter, die von Männern noch nichts wissen. Die könnte ich euch vorstellen.«
»Okay«, sagte Judas.
Ich warf die Tür auf und führte meine imaginären Töchter heraus, um sie den Sodomiten vorzustellen …
»Nett, Sie kennen zu lernen.«
»Hocherfreut.«
»Ganz meinerseits.«
»SO GEHT DAS NICHT!«, rief Josua. »Ihr sollt versuchen, die Tür einzutreten, und dann schlage ich euch mit Blindheit.«
»Dann zerstörst du unsere Stadt?«, sagte Jakobus.
»Ja.«
»Lieber würden wir Lots Töchter kennen lernen.«
»Lass mein Volk ziehen«, sagte Judas, der erst vier war und die Geschichten oft noch durcheinander brachte. Der Exodus gefiel ihm am besten, weil er und Jakobus Krüge mit Wasser über mir ausgießen durften, wenn ich meine Soldaten auf der Jagd nach Moses durchs Rote Meer führte.
»Genau«, sagte Josua. »Judas, du bist Lots Frau. Geh und stell dich da rüber.«
Manchmal musste Judas die Rolle von Lots Frau übernehmen, egal, welche Geschichte wir gerade spielten. »Ich will nicht Lots Frau sein.«
»Sei still. Salzsäulen können nicht sprechen.«
»Ich will kein Mädchen sein.«
Unsere Brüder spielten immer die weiblichen Rollen. Ich hatte keine Schwestern, die ich hätte quälen können, und Josuas damals einzige Schwester Elisabeth war noch ein Säugling. Das war, bevor wir die Magdalena kennen lernten. Mit der Magdalena änderte sich alles.
Seit ich belauscht hatte, wie meine Eltern darüber sprachen, dass Josuas Mutter geisteskrank sei, habe ich sie oft beobachtet und nach Anzeichen gesucht, doch schien sie wie alle anderen Mütter ihren Pflichten nachzugehen, die Kleinen zu versorgen, den Garten zu bestellen, Wasser zu holen und Essen zu bereiten. Es machte nicht den Eindruck, als kröche sie mit Schaum vor dem Mund auf allen vieren herum, wie ich erwartet hatte. Sie war jünger als viele der Mütter und erheblich jünger als ihr Mann Josef, der nach den Maßstäben unserer Zeit ein alter Herr war. Josua sagte, Josef sei nicht sein richtiger Vater, aber er wollte nicht sagen, wer sein Vater war. Sobald das Thema aufkam und Maria in Hörweite war, rief sie Josh und hielt einen Finger an ihren Mund, dass er schweigen sollte.
»Noch ist es nicht so weit, Josua. Biff würde es nicht verstehen.«
Wenn ich nur hörte, wie sie meinen Namen sagte, hüpfte mir das Herz im Leibe. Schon früh entwickelte ich als kleiner Junge eine Liebe zu Josuas Mutter, die mir Phantasien über Heirat, Familie und Zukunft bescherte.
»Dein Vater ist alt, was, Josh?«
»Nicht zu alt.«
»Wenn er stirbt, heiratet deine Mutter dann seinen Bruder?«
»Mein Vater hat keine Brüder. Wieso?«
»Nur so. Wie würdest du es finden, wenn dein Vater kleiner wäre als du?«
»Ist er nicht.«
»Aber wenn dein Vater stirbt, könnte deine Mutter jemanden heiraten, der kleiner ist als du, und der wäre dann dein Vater. Du müsstest tun, was er sagt.«
»Mein Vater wird nie sterben. Er ist ewig.«
»Das sagst du so. Aber ich glaube, wenn ich ein Mann bin und dein Vater stirbt, dann nehme ich deine Mutter zur Frau.«
Josua zog ein Gesicht, als hätte er in eine unreife Feige gebissen. »Sag so was nicht, Biff.«
»Es ist mir egal, dass sie verrückt ist. Ich mag ihren blauen Schleier. Und ihr Lächeln. Ich werde dir ein guter Vater sein. Ich lehre dich, Steinmetz zu werden, und ich schlage dich nur, wenn du frech wirst.«
»Lieber würde ich mit Aussätzigen spielen, als mir das noch weiter anzuhören.« Josua wandte sich ab.
»Warte. Sei nett zu deinem Vater, Josua bar Biff«, - mein Vater hat mich stets bei meinem vollen Namen gerufen, wenn er etwas betonen wollte - »ist es denn nicht das Wort Mose, dass du mich ehren sollst?«
Klein-Josua machte auf dem Absatz kehrt. »Mein Name ist nicht Josua bar Biff und auch nicht Josua bar Josef. Ich bin Josua bar Jehova!«
Ich sah mich um, hoffte, niemand hätte ihn gehört. Ich wollte nicht, dass mein einziger Sohn (ich plante, Judas und Jakobus in die Sklaverei zu verkaufen) zu Tode gesteinigt wurde, weil er Gott gelästert hatte. »Sag das nicht noch mal, Josh. Ich werde deine Mutter nicht heiraten.«
»Nein, wirst du nicht.«
»Tut mir Leid.«
»Ich vergebe dir.«
»Sie wäre sicher eine ausgezeichnete Geliebte.«
Lasst euch von niemandem erzählen, der Fürst des Friedens hätte nie jemanden geschlagen. In jenen frühen Tagen, bevor er war, was aus ihm werden sollte, hat mir Josua mehr als einmal eine ordentliche Schelle verpasst. Dieses war das erste Mal.
Maria sollte meine einzig große Liebe bleiben, bis ich die Magdalena sah.
Sollte das Volk von Nazareth Josuas Mutter für verrückt gehalten haben, so wurde aus Respekt vor ihrem Gatten Josef kaum jemals etwas davon laut. Er war weise, was das Gesetz anging, die Propheten und die Psalme, und es gab nur wenige Frauen in Nazareth, die das Abendessen nicht in einer seiner polierten Schalen aus Olivenholz auftischten. Er war gerecht, stark und weise. Die Leute sagten, er sei einst Essener gewesen, einer dieser mürrischen, asketischen Juden, die für sich blieben und weder heirateten noch sich das Haar schnitten, aber er nahm an deren Versammlungen nicht teil und hatte sich - im Gegensatz zu ihnen - die Fähigkeit zu lächeln bewahrt.
In jenen frühen Tagen sah ich ihn nur selten, denn er arbeitete meist in Sephoris, baute Häuser für die Römer, die Griechen und jüdische Großgrundbesitzer jener Stadt, doch jedes Jahr, wenn das Fest der Ersten nahte, legte Josef seine Arbeit in der Festungsstadt nieder und blieb zu Hause, um Schalen und Löffel zu schnitzen, die er dem Tempel spenden wollte. Während des Festes der Ersten war es Sitte, erste Lämmer, erstes Korn und erste Früchte den Priestern des Tempels zu weihen. Selbst erstgeborene Söhne, die in jenem Jahr zur Welt gekommen waren, wurden dem Tempel geweiht, entweder indem man versprach, dass sie später, wenn sie älter wären, für die Priester arbeiten sollten, oder durch ein Geldgeschenk. Handwerker wie mein Vater und Josef durften Dinge geben, die sie herstellten, und in manchen Jahren fertigte mein Vater Mörser und Stößel oder Mahlsteine als Tribut, während er in anderen einen Zehnten in Form von Münzen zahlte. Manche Leute gingen für dieses Fest auf Pilgerfahrt nach Jerusalem, aber da es nur sieben Wochen nach dem Passahfest stattfand, konnten sich viele Familien die Reise nicht leisten, und ihre Gaben gingen an unsere schlichte Dorfsynagoge.
Während der Wochen vor dem Fest saß Josef vor seinem Haus im Schatten der selbst gebauten Markise und bearbeitete knorriges Olivenholz mit Dechsel und Beitel, während Josua und ich zu seinen Füßen spielten. Er trug die einteilige Tunika, die wir alle trugen, ein Viereck aus Stoff mit einem Halsloch in der Mitte, gegürtet mit einer Schärpe, so dass die Ärmel bis zu den Ellbogen reichten und der Saum bis zu den Knien ging.
»Vielleicht sollte ich dem Tempel in diesem Jahr meinen Erstgeborenen schenken, was meinst du, Josua? Würde es dir nicht gefallen, nach den Opferungen den Altar zu reinigen?« Er lächelte vor sich hin, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. »Du weißt, dass ich ihnen einen Erstgeborenen schulde. Wir waren beim Fest der Ersten in Ägypten, als du gerade geboren warst.«
Die Vorstellung, mit Blut in Berührung zu kommen, versetzte Josua offenbar in Angst und Schrecken, wie es jedem jüdischen Jungen ergangen wäre. »Gib ihnen Jakobus, Abba, er ist dein Erstgeborener.«
Josef warf einen Blick in meine Richtung, um zu sehen, ob ich reagierte. Das tat ich, wenn auch nur, weil ich an meinen eigenen Stand als Erstgeborener dachte und hoffte, mein Vater käme nicht auf ähnliche Gedanken. »Jakobus ist der Zweitgeborene. Die Priester wollen keine Zweitgeborenen. Du wirst es sein müssen.«
Josua sah erst mich an, bevor er antwortete, dann seinen Vater. Dann lächelte er. »Aber Abba, falls du sterben solltest, wer sorgt dann für Mutter, wenn ich im Tempel bin?«
»Irgendjemand wird sich schon um sie kümmern«, sagte ich. »Da bin ich mir sicher.«
»Ich sterbe noch lange nicht.« Josef zupfte an seinem grauen Bart. »Mein Bart wird weiß, aber es ist noch eine Menge Leben in mir.«
»Sei dir nicht so sicher, Abba«, sagte Josua.
Josef ließ die Schale sinken, an der er arbeitete, und starrte auf seine Hände. »Lauft nur und spielt, ihr zwei«, sagte er. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Josua stand auf und ging. Am liebsten hätte ich meine Arme um den alten Mann geschlungen, denn nie zuvor hatte ich gesehen, wie sich ein erwachsener Mann fürchtete, und es ängstigte auch mich. »Kann ich helfen?«, sagte ich und deutete auf die halbfertige Schale auf Josefs Schoß.
»Geh du nur mit Josua. Er braucht einen Freund, der ihn lehrt, Mensch zu sein. Dann kann ich ihm beibringen, ein Mann zu werden.«
2
Der Engel möchte, dass ich mehr von Josuas Erhabenheit erkennen lasse. Erhabenheit? Himmelarsch, ich schreibe über einen Sechsjährigen. Wie erhaben kann er wohl sein? Es war ja nicht so, als wäre Josua herumgelaufen und hätte tagtäglich kundgetan, dass er Gottes Sohn ist. Er war ein ziemlich normaler Junge, größtenteils. Er konnte diesen Trick mit den Eidechsen, und einmal fanden wir eine tote Feldlerche, die er wieder zum Leben erweckte, und dann kam diese Zeit, als wir acht waren und er den gebrochenen Schädel seines Bruders Judas heilte, nachdem unser Spiel »Steinigt die Ehebrecherin« etwas aus dem Ruder gelaufen war. (Judas hatte es nie drauf, eine Ehebrecherin zu spielen. Er stand nur da, starr wie Lots Frau. Das kann man nicht machen. Eine Ehebrecherin muss verschlagen und gehetzt wirken.) Die Wunder, die Josua tat, waren still und leise, wie Wunder es für gewöhnlich sind, wenn man sich erst daran gewöhnt. Schwierigkeiten aber gab es eher durch die Wunder, die um ihn herum geschahen, ohne dass er es wollte. Brot und Schlangen fallen einem da ein.
Es war ein paar Tage vor dem Passahfest, doch viele der in Nazareth ansässigen Familien pilgerten in jenem Jahr nicht nach Jerusalem. Es hatte im Winter kaum geregnet, und somit würde es ein schweres Jahr werden. Viele Bauern konnten es sich nicht erlauben, lange ihren Feldern fern zu bleiben, um in die heilige Stadt und wieder zurück zu reisen. Unsere Väter - Josuas und meiner - arbeiteten beide in Sephoris, und die Römer wollten ihnen über das eigentliche Fest hinaus keine freien Tage gewähren. Meine Mutter hatte Brot gebacken, als ich vom Spielen auf dem Platz nach Hause kam.
Sie hielt ein gutes Dutzend der flachen, ungesäuerten Brote im Arm und sah aus, als wollte sie diese jeden Augenblick auf den Boden werfen. »Biff, wo ist dein Freund Josua?« Meine kleinen Brüder grinsten hinter ihrem Rock hervor.
»Zu Hause, schätze ich. Wir waren bis eben zusammen.«
»Was habt ihr Bengel angestellt?«
»Nichts.« Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich etwas getan hatte, was sie derart erzürnen konnte, aber mir fiel nichts ein. Es kam selten genug vor, dass ich keinen Ärger machte. Soweit ich wusste, waren meine beiden Brüder unversehrt.
»Was habt ihr getan, dass so etwas möglich ist?« Sie hielt mir das flache Brot hin, und darauf - im knusprig braunem Relief der goldenen Kruste - war das Antlitz meines Freundes Josua zu erkennen. Sie hob ein anderes Brot an, und auch darauf war mein Freund Josh abgebildet. Götzenbilder - schwere Sünde. Josh lächelte. Mutter missbilligte jegliches Lächeln. »Nun? Muss ich zu Josua nach Hause gehen und seine arme geisteskranke Mutter fragen?«
»Ich war es. Ich habe Josuas Gesicht auf das Brot gemalt.« Ich hoffte nur, sie würde mich nicht fragen, wie ich das angestellt hatte.
»Dein Vater wird dich züchtigen, wenn er heute Abend nach Hause kommt. Jetzt geh, verschwinde von hier.«
Ich konnte meine kleine Brüder kichern hören, als ich zur Tür hinausschlich, doch draußen wurde die Lage nur noch schlimmer. Frauen kamen von ihren Backsteinen gelaufen, allesamt mit Brot in Händen, und jede murmelte so etwas in der Art von: »He, da ist ein Kind auf meinem Brot.«
Ich lief zu Josua nach Hause und stürmte hinein, ohne anzuklopfen. Josua und seine Brüder saßen am Tisch und aßen. Maria stillte Josuas kleine Schwester Miriam.
»Du steckst echt in der Klemme«, flüsterte ich Josh mit so viel Wind ins Ohr, dass ich ihm beinahe das Trommelfell rausgepustet hätte.
Josua hob das Fladenbrot an, das er eben aß, und grinste genau wie das Gesicht, das darauf abgebildet war. »Es ist ein Wunder.«
»Und schmeckt gut«, sagte Jakobus. Dann biss er seinem Bruder eine Ecke aus dem Kopf.
»Es ist überall, in der ganzen Stadt, Josua. Nicht nur bei euch zu Hause. Alles Brot trägt dein Gesicht.«
»Er ist wahrlich Gottes Sohn«, sagte Maria mit glückseligem Lächeln.
»O Gott, nicht schon wieder, Mutter«, sagte Jakobus.
»Ja, o Gott, Mama«, sagte Judas.
»Das ganze Passahfest trägt seine Fratze. Wir müssen etwas unternehmen.« Sie schienen den Ernst der Lage nicht zu begreifen. Ich hatte jetzt schon Ärger, und meine Mutter ahnte noch nicht mal irgendetwas Übernatürliches. »Wir müssen dir die Haare schneiden.«
»Was?«
»Wir dürfen ihm das Haar nicht schneiden«, sagte Maria. Schon immer hatte sie Josua sein Haar lang tragen lassen, wie ein Essener, und gesagt, er sei ein Nasiräer wie Samson. Es war nur ein Grund mehr, warum die Leute sie für verrückt hielten. Wir anderen trugen unser Haar kurz wie die Griechen, die seit den Zeiten Alexanders über unser Land geherrscht hatten wie die Römer nach ihnen.
»Wenn wir ihm das Haar schneiden, sieht er aus wie alle anderen. Dann können wir sagen, dass auf dem Brot ein anderer ist.«
»Moses«, sagte Maria. »Klein-Moses.«
»Ja!«
»Ich hol ein Messer.«
»Jakobus, Judas, kommt mit«, sagte ich. »Wir müssen der Stadt verkünden, dass uns das Antlitz Moses’ zum Passahfest erschienen ist.«
Maria nahm Miriam von ihrer Brust, beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Du bist ein wahrer Freund, Biff.«
Fast schmolz ich in meinen Sandalen, aber ich merkte, dass Josua mich stirnrunzelnd ansah. »Es entspricht nicht der Wahrheit.«
»Es wird verhindern, dass die Pharisäer dich bestrafen.«
»Die fürchte ich nicht«, sagte der Neunjährige. »Ich hab das mit dem Brot nicht gemacht.«
»Weshalb solltest du dann Schuld und Strafe dafür auf dich nehmen?«
»Ich weiß nicht. Es scheint, als müsste ich es tun, oder?«
»Sitz still, damit deine Mutter dir die Haare schneiden kann.« Ich stürzte zur Tür hinaus, mit Judas und Jakobus auf meinen Fersen, und wir drei blökten wie die Frühlingslämmer.
»Siehe! Moses hat sein Antlitz auf das Brot zum Passahfest gemalt! Siehe!«
Wunder über Wunder. Sie hatte mich geküsst. Heilige Nadel im Strohsack! Sie hatte mich geküsst.
Das Wunder der Schlange? In gewisser Weise war es ein Omen, obwohl ich das nur sagen kann, weil ich weiß, was später zwischen Josua und den Pharisäern geschah. Damals hielt Josua es für die Erfüllung einer Prophezeiung, zumindest versuchten wir, es seiner Mutter und seinem Vater als solche zu verkaufen.
Es war Spätsommer, und wir spielten auf einem Weizenfeld draußen vor der Stadt, als Josua ein Otternnest entdeckte.
»Oh, Otternbrut!«, rief Josua. Der Weizen stand so hoch, dass ich ihn nicht sehen konnte.
»Die Blattern über dich und deinesgleichen«, erwiderte ich.
»Nein, hier drüben ist ein Otternnest. Wirklich.«
»Oh, ich dachte, du ziehst mich auf.’tschuldigung, keine Blattern über dich und deinesgleichen.«
»Komm, sieh doch.«
Ich stapfte durch den Weizen und fand Josua bei einem Steinhaufen, mit dem ein Bauer die Grenze seines Feldes markiert hatte. Ich schrie und wich derart abrupt zurück, dass ich mein Gleichgewicht verlor und fiel. Ein Schlangenknäuel wand sich zu Josuas Füßen, glitt über seine Sandalen und legte sich um seine Knöchel. »Josua, komm weg da.«
»Die tun mir nichts. So steht es bei Jesaja.«
»Komm - nur für den Fall, dass sie die Propheten nicht gelesen haben …«
Josua trat beiseite, so dass die Schlangen sich zerstreuten, doch hinter ihm wartete die größte Kobra, die ich je gesehen hatte. Sie richtete sich auf, bis sie meinen Freund überragte, und breitete ihre Haube wie einen Umhang aus.
»Lauf, Josua.«
Er lächelte. »Ich werde sie Sarah nennen, nach Abrahams Frau. Das sind ihre Kinder.«
»Echt jetzt? Sag auf Wiedersehen, Josh.«
»Ich will sie Mutter zeigen. Sie liebt Prophezeiungen.« Damit lief er zum Dorf hinüber, und die Riesenkobra folgte ihm wie ein Schatten. Die Schlangenkinder blieben im Nest, und langsam wich ich zurück, dann lief ich meinem Freund nach.
Einmal hatte ich einen Frosch mit nach Hause gebracht und gehofft, ich dürfte ihn behalten. Keinen großen, nur einen schlichten Frosch, still und wohlerzogen. Meine Mutter zwang mich, ihn freizulassen. Dann sollte ich mich in der Mikveh der Synagoge läutern. Trotzdem wollte sie mich erst nach Sonnenuntergang ins Haus lassen, weil ich unrein war. Josua brachte eine fünf Meter lange Brillenschlange nach Hause, und seine Mutter quietschte vor Freude. Meine Mutter quietschte nie.
Maria schlang den Säugling um ihre Hüften, kniete vor ihrem Sohn und zitierte Jesaja: »Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen, und die Panter bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh essen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter.«
Jakobus, Judas und Elisabeth drückten sich in eine Ecke, zu verschreckt, als dass sie hätten weinen können. Ich stand in der Tür und sah zu.
Die Schlange wankte hinter Josua, als wollte sie gleich zuschlagen. »Sie heißt Sarah. Können wir sie behalten?«, fragte Josua. »Ich fange ihr Ratten und bereite ihr ein Lager neben Elisabeth.«
In diesem Moment kam Josef um die Ecke und trat durch die Tür, bevor ich ihn abfangen konnte. Keine Sorge, er war gleich wieder draußen. »Heiliger Joschafat!«
Ich sah nach, ob Josef einem Herzanfall erlegen war, nachdem ich kurz beschlossen hatte, dass die Schlange weg musste, zumindest aber draußen schlafen würde, sobald Maria und ich verheiratet wären. Doch der kräftige Zimmermann war nur erschrocken und etwas staubig, weil er rückwärts durch die Tür gefallen war.
Josef reagierte sofort. »Geh langsam rückwärts, Junge. Ich hol ein Messer aus meiner Werkstatt.«
»Sie tut uns nichts«, sagte Josua. »Sie heißt Sarah. Sie kommt von Jesaja.«
»Es steht in der Prophezeiung, Josef«, sagte Maria.
Ich sah, dass Josef versuchte, sich an die Passage zu erinnern. Obwohl er nur ein Laie war, kannte er die heilige Schrift besser als manch anderer. »Ich erinnere mich nicht an den Teil mit Sarah.«
»Ich glaube kaum, dass es eine Prophezeiung ist«, warf ich ein. »Da steht Nattern, und das ist definitiv keine Natter. Ich würde sagen, sie wird Josua den Arsch abbeißen, wenn Ihr sie nicht packt, Josef.« Ich musste es doch versuchen.
«Darf ich sie behalten?« fragte Josua.
Inzwischen hatte Josef seine Fassung wiedergefunden. Wenn deine Frau mit Gott geschlafen hat, kann dich offenbar kaum noch irgendwas erschüttern.
»Bring sie dorthin zurück, wo du sie gefunden hast, Josua. Die Prophezeiung ist erfüllt.«
»Aber ich will sie behalten.«
»Nein, Josua.«
»Du hast mir gar nichts zu sagen.«
Vermutlich hatte Josef das schon mal gehört. »Und wenn schon«, sagte er. »Bitte bring Sarah wieder dorthin zurück, wo du sie gefunden hast.«
Josua stürmte aus dem Haus, die Schlange auf seinen Fersen. Josef und ich traten einen Schritt zurück. »Pass auf, dass euch niemand sieht«, sagte Josef. »Sie würden es nicht verstehen.«
Da hatte er natürlich Recht. Auf unserem Weg zum Dorf hinaus stießen wir auf eine Bande älterer Jungen, angeführt von Jakan, dem Sohn von Iban, dem Pharisäer. Sie verstanden es nicht.
Es gab vielleicht ein Dutzend Pharisäer in Nazareth: gebildete Männer, Gelehrte aus dem einfachen Volk, die einen Großteil ihrer Zeit in der Synagoge verbrachten, wo sie über die Gesetze debattierten. Oft wurden sie als Richter oder Schreiber angestellt und nahmen großen Einfluss auf die Bewohner unseres Dorfes. Tatsächlich war ihr Einfluss so groß, dass die Römer sie unserem Volk gegenüber oft als Sprachrohr benutzten. Einfluss bringt Macht mit sich, Macht ihren Missbrauch. Jakan war der Sohn eines Pharisäers und nur zwei Jahre älter als Josua und ich, doch auf dem besten Wege, ein Meister der Grausamkeit zu werden. Sollte es irgendeinen Grund zur Freude geben, dass alle, die ich je gekannt habe, seit zweitausend Jahren tot sind, dann dass auch Jakan unter ihnen ist. Möge sein Fett bis ans Ende aller Zeiten in den Höllenfeuern brutzeln!
Josua hat uns gelehrt, dass wir nicht hassen sollen, eine Lektion, die ich nie gelernt habe, genau wie Geometrie. Kreiden wir Jakan das eine an, Euklid das andere.
Josua lief hinter den Häusern und Läden des Dorfes, die Schlange blieb zehn Schritte hinter ihm, ich wiederum zehn Schritte hinter ihr. Als er an der Schmiede um die Ecke bog, stieß Josua mit Jakan zusammen, so dass dieser zu Boden ging.
»Du Idiot!«, rief Jakan, als er aufstand und den Staub von seinen Sachen klopfte. Seine drei Freunde lachten, und wie ein wilder Tiger fuhr er sie an: »Der da will mit Dung gewaschen werden. Haltet ihn!«
Die Jungen drehten sich zu Josua um. Zwei hielten ihn bei den Armen, während ihm der Dritte in den Magen boxte. Jakan suchte nach einem Haufen, in den er Josuas Gesicht drücken konnte. Sarah kam um die Ecke geschlängelt und baute sich hinter Josua auf, sie breitete ihre herrliche Haube über unseren Köpfen aus.
»He«, rief ich, als ich um die Ecke kam. »Meint ihr Jungs, das wäre eine Natter?« Meine Angst vor der Schlange hatte sich in eine Art vorsichtige Zuneigung verwandelt. Sie schien zu lächeln. Ich zumindest tat es. Sarah schwankte hin und her wie ein Weizenhalm im Wind. Die Jungen ließen Josuas Arme los und rannten zu Jakan, der sich umgedreht hatte und langsam zurückwich.
»Josua hat was von Nattern erzählt«, fuhr ich fort, »aber ich muss sagen, dass dieses hier wohl eine Riesenkobra ist.«
Josua stand vornübergebeugt und versuchte, Luft zu holen, aber er sah sich zu mir um und grinste.
»Natürlich bin ich kein Sohn eines Pharisäers, aber …«
»Er ist mit der Schlange im Bunde!«, kreischte Jakan. »Er ist von Dämonen besessen!«
»Dämonen!«, schrien die anderen Jungen und versuchten, sich hinter ihrem fetten Freund zu verstecken.
»Ich werde es meinem Vater erzählen, und dann wirst du gesteinigt.«
Hinter Jakan sagte eine Stimme: »Was hat das Geschrei hier zu bedeuten?« Wie süß die Stimme war!
Sie kam aus dem Haus neben der Schmiede. Ihre Haut schimmerte wie Kupfer, und sie hatte die hellblauen Augen der Menschen aus der Wüste im Norden. Kleine Büschel von rötlich braunem Haar waren am Rand ihres roten Schals zu sehen. Sie konnte nicht älter als neun oder zehn sein, doch sprach etwas sehr Altes aus ihren Augen. Mir stockte der Atem, als ich sie sah.
Jakan blies sich auf wie eine Kröte. »Bleib zurück. Die beiden hier paktieren mit einem Dämon. Ich sage es den Ältesten, und man wird sie dafür richten.«
Sie spuckte ihm vor die Füße. Noch nie hatte ich ein Mädchen spucken gesehen. Es war reizend. »Sieht für mich aus wie eine Riesenkobra.«
»Siehst du, sag ich doch.«
Sie trat vor Sarah, als betrachtete sie einen Feigenbaum auf der Suche nach Früchten, ohne jede Angst, allein mit Interesse. »Ihr glaubt, das sei ein Dämon?«, sagte sie, ohne Jakan anzusehen. »Wäre es euch nicht peinlich, wenn die Ältesten feststellen, dass ihr eine gewöhnliche Brillenschlange mit einem Dämonen verwechselt?«
»Es ist ein Dämon.«
Sie hob die Hand, und es schien, als wollte die Schlange angreifen, dann ließ sie den Kopf sinken, bis ihre gespaltene Zungen über die Finger des Mädchens strich. »Das ist zweifelsohne eine Kobra, Kleiner. Und die beiden hier waren wahrscheinlich eben dabei, sie aufs Feld zurückzubringen, damit sie den Bauern hilft, indem sie Ratten frisst.«
»Ja genau, das wollten wir«, sagte ich.
»Genau«, sagte Josua.
Das Mädchen wandte sich Jakan und seinen Freunden zu. »Ein Dämon?«
Jakan stampfte wie ein wütender Esel. »Du steckst mit ihnen unter einer Decke.«
»Sei nicht albern. Meine Familie ist eben erst aus Magdala gekommen. Ich habe die beiden nie vorher gesehen, aber es ist doch offensichtlich, was sie tun. In Magdala machen wir es ständig so. Aber das hier ist wohl ein Provinzkaff.«
»Wir machen es auch«, sagte Jakan. »Ich war … na ja… die beiden machen Ärger.«
»Ärger«, sagten seine Freunde.
»Lassen wir sie doch mit dem fortfahren, was sie eben noch vorhatten.«
Jakan, dessen Blick vom Mädchen zur Schlange und wieder zu dem Mädchen zuckte, führte seine Freunde fort. »Um euch zwei kümmere ich mich ein anderes Mal.«
Sobald sie um die Ecke waren, wich das Mädchen vor der Schlange zurück und lief eilig zum Hauseingang hinüber.
»Warte«, rief Josua.
»Ich muss gehen.«
»Wie heißt du?«
»Ich bin Maria aus Magdala, Tochter des Isaak«, sagte sie. »Nennt mich Maggie.«
»Komm mit uns, Maggie.«
»Ich kann nicht, ich muss gehen.«
»Warum?«
»Weil ich mir in die Hosen gemacht habe.«
Sie verschwand in der Tür.
Wunder.
Als wir wieder auf dem Weizenfeld waren, steuerte Sarah ihren Bau an. Wir sahen aus der Ferne, wie sie in das Loch glitt.
»Josh, wie hast du das gemacht?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Kommt so was jetzt immer wieder vor?«
»Wahrscheinlich.«
»Dann werden wir noch reichlich Ärger kriegen, was?«
»Was bin ich, ein Prophet?«
»Ich hab zuerst gefragt.«
»Hast du sie gesehen? Sie fürchtet sich vor nichts.«
»Sie ist eine Riesenschlange. Wovor sollte sie sich fürchten?«
Josua runzelte die Stirn. »Stell dich nicht so dumm, Biff. Wir wurden von einer Schlange und einem Mädchen gerettet. Ich weiß nicht, wie ich darüber denken soll.«
»Wieso überhaupt daran denken? Es ist einfach passiert.«
»Nichts geschieht ohne Gottes Willen«, sagte Josua. »Es entspricht nicht Moses’ Testament.«
»Vielleicht ist es ein neues Testament«, sagte ich.
»Du tust nicht nur so, oder?«, sagte Josua. »Du bist wirklich ein schlichtes Gemüt.«
»Ich glaube, sie mag dich lieber als mich«, sagte ich.
»Die Schlange?«
»Ja genau. Und ich bin das schlichte Gemüt.«
Ich weiß nicht, ob ich jetzt, nachdem ich als Mensch gelebt habe und gestorben bin, über die Liebe kleiner Jungen schreiben kann, aber wenn ich heute daran denke, scheint sie mir der sauberste Schmerz zu sein, den ich kenne. Liebe ohne Begehren, ohne Bedingung oder Grenzen - ein reines, strahlendes Leuchten im Herzen, bei dem mir zugleich schwindlig und traurig und überglücklich zumute sein konnte. Wo ist sie geblieben? Wieso haben die drei Weisen aus dem Morgenland bei all ihren Experimenten nie versucht, diese Reinheit zu destillieren? Vielleicht konnten sie es nicht. Vielleicht geht sie uns verloren, sobald wir sexuelle Wesen werden, und kein Zauber kann sie wieder zurückbringen. Vielleicht erinnere ich mich nur daran, weil ich so lange versucht habe, die Liebe zu verstehen, die Josua für jedermann empfand.
Im Osten haben sie uns gelehrt, dass alles Leid aus Fleischeslust erwächst, und diese wilde Bestie sollte mich mein Leben lang verfolgen, doch an jenem Nachmittag und noch einige Zeit danach erlebte ich Erhabenheit. Nachts lag ich wach, lauschte dem Atmen meiner Brüder im stillen Haus, und in meinem Inneren sah ich ihre Augen wie blaues Feuer in der Dunkelheit. Oh, süße Qual. Ich frage mich, ob Josua nicht ihr ganzes Leben dazu gemacht hat. Maggie, sie war die Stärkste von uns allen. Nach dem Schlangenwunder ließen Josua und ich uns Ausreden einfallen, um zur Schmiede zu gelangen, wo wir vielleicht auf Maggie treffen würden. Jeden Morgen standen wir früh auf und liefen zu Josef, boten an, zum Schmied zu gehen, um ein paar Nägel zu besorgen oder Werkzeug reparieren zu lassen. Der arme Josef hielt es für die reine Freude am Zimmererhandwerk.
»Wollt ihr Jungs morgen mit mir nach Sephoris kommen?«, fragte uns Josef eines Tages, als wir ihm in den Ohren lagen, ob wir Nägel holen dürften. »Biff, würde dich dein Vater die Arbeit eines Zimmermannes lernen lassen?«
Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Es wurde erwartet, dass ein zehnjähriger Junge den Beruf seines Vaters erlernte, doch das war noch ein Jahr hin - eine Ewigkeit, wenn man neun ist. »Ich … ich überlege noch, was ich machen will, wenn ich groß bin«, sagte ich. Mein Vater hatte Josua am Tag zuvor ein ähnliches Angebot gemacht.
»Du willst also kein Steinmetz werden?«
»Eigentlich wollte ich Dorftrottel werden, wenn mein Vater es erlaubt.«
»Dafür hat er ein gottgegebenes Talent«, sagte Josua.
»Ich habe mit Bartholomäus, dem Idioten, gesprochen«, sagte ich. »Er will mir beibringen, wie man sich mit seiner eigenen Scheiße voll schmiert und mit dem Kopf an Wände schlägt.«
Düster sah Josef mich an. »Vielleicht seid ihr beiden wirklich noch zu jung. Nächstes Jahr.«
»Ja«, sagte Josua. »Nächstes Jahr. Können wir jetzt gehen, Josef? Biff ist mit Bartholomäus zum Unterricht verabredet.«
Josef nickte, und wir waren weg, bevor er uns noch weitere Freundlichkeiten angedeihen lassen konnte. Wir hatten uns tatsächlich mit Bartholomäus, dem Dorftrottel, angefreundet. Er stank und sabberte, aber er war groß und bot einigen Schutz gegen Jakan und seine Rüpel. Außerdem verbrachte Bart seine Zeit meist bettelnd auf dem Dorfplatz, wo die Frauen Wasser vom Brunnen holten. Hin und wieder konnten wir dort einen kurzen Blick auf Maggie werfen, wenn sie mit einem Wasserkrug auf dem Kopf vorüberkam.
»Du weißt, dass wir bald arbeiten müssen«, sagte Josua. »Wir werden uns wohl nicht mehr sehen, wenn ich erst bei meinem Vater arbeite.«
»Josua, sieh dich um. Siehst du irgendwo Bäume?«
»Nein.«
»Und die Bäume, die wir haben, Olivenbäume … verdrehte, verästelte, knorrige Dinger, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Aber du willst Zimmermann werden wie dein Vater?«
»Die Möglichkeit besteht.«
»Ein Wort, Josh: Steine.«
»Steine?«
»Sieh dich um. Steine, so weit das Auge blickt. Galiläa besteht nur aus Steinen, Dreck und noch mehr Steinen. Werd Steinmetz wie ich und mein Vater. Wir können Städte für die Römer bauen.«
»Eigentlich hatte ich daran gedacht, die Menschheit zu retten.«
»Vergiss den Quatsch, Josh. Steine, ich sag es dir.«
3
Der Engel will mir nicht erzählen, was aus meinen Freunden geworden ist, aus den Zwölfen und aus Maggie. Er sagt nur, dass sie tot sind und ich meine eigene Version der Geschichte schreiben muss. Oh, er erzählt mir nutzlose Engelsgeschichten, wie Gabriel einmal sechzig Jahre lang verschwunden war und sie ihn auf der Erde gefunden haben, wo er sich
Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Lamb: The Gospel According to Biff, Christ’s Childhood Pal« bei William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, New York
Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2002
Copyright © 2002 by Christopher Moore
Copyright © 2002 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München
Redaktion: Ulf Geyersbach
Verlagsnummer: 54182 KvD · Herstellung: Katharina Storz/Str
eISBN : 978-3-894-80996-6
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