Noir - Christopher Moore - E-Book

Noir E-Book

Christopher Moore

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Beschreibung

San Francisco 1947: Es kommt nicht jeden Tag vor, dass eine rätselhafte, anmutige Blondine namens Stilton (ja, wie der Käse) in den verlotterten Laden kommt, in dem Sammy »Two Toes« Tiffin Gin ausschenkt. Für ihn ist es Liebe auf den ersten Blick. Aber bevor Sammy den ersten Schritt machen kann, betritt ein General der Air Force aus Roswell den Saloon. Er hat einen eiligen Auftrag, den Sammy nur widerwillig annimmt, denn eigentlich hat er ganz andere Dinge im Kopf. Doch als Stilton kurz darauf spurlos verschwindet, geht es ohnehin erst einmal nur noch um eines: Er muss seine Traumfrau retten – und vielleicht auch noch einen kleinen Alien ...

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Seitenzahl: 534

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Buch

San Francisco im Sommer 1947. Eine rätselhafte, anmutige Blondine namens Stilton (ja, wie der Käse) betritt den verlotterten Ginladen, in dem Sammy »Two Toes« Tiffin an der Bar arbeitet. Sammy ist sofort klar: Das ist Liebe auf den ersten Blick. Aber bevor er den ersten Schritt tun kann, taucht ein Air-Force-General namens Remy im Saloon auf – mit einem eiligen Auftrag für Sammy … Währenddessen wird an der Pazifikküste in der Nähe von Mount Rainer ein unbekanntes Flugobjekt gesichtet, gefolgt von einem mysteriösen Flugzeugabsturz in der Wüste Neu Mexikos, einem Ort namens Roswell. Aber die wirklich seltsamen Dinge gehen auf den Straßen San Franciscos vor sich. Als einer von Sammys Plänen den Bach runtergeht und Stilton spurlos verschwindet, muss sich Sammy seinen eigenen dunklen Geheimnissen stellen – und noch einigen anderen merkwürdigen Ereignissen …

Autor

Der ehemalige Journalist Christopher Moore arbeitete als Dachdecker, Kellner, Fotograf und Versicherungsvertreter, bevor er anfing, Romane zu schreiben. Seine Bücher haben in Amerika längst Kultstatus, und auch im deutschsprachigen Raum wächst die Fangemeinde beständig. Christopher Moore liebt – nach eigenen Angaben – den Ozean, Elefanten-Polo, Käsecracker, Acid Jazz und das Kraulen von Fischottern. Er mag aber weder Salmonellen noch Autoverkehr und erst recht nicht gemeine Menschen. Der Autor lebt in San Francisco, Kalifornien, und freut sich über einen virtuellen Besuch auf www.chrismoore.com.

CHRISTOPHER MOORE

NOIR

ROMAN

AUS DEM AMERIKANISCHENVON JÖRN INGWERSEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Noir«bei HarperCollins Publishers, New York, NY.

Diese Geschichte spielt im Amerika des Jahres 1947. Sprache und Haltung der Erzähler und Figuren hinsichtlich Rasse, Kultur und Geschlecht entsprechen dem damaligen Zeitgeist und mögen auf den einen oder anderen Leser verstörend wirken. Figuren und Ereignisse sind ganz und gar fiktiv.

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2018

Copyright © der Originalausgabe 2018 by Christopher Moore

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Illustration and design by Philip Pascuzzo.

Jacket photographs: © Zoonar GmbH / Alamy Stock Photo (woman);

© tatchai/istock/Getty Images (dress); © spotwin/istock/Getty Images (bridge)

Redaktion: Ilse Wagner

AG · Herstellung: Han

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-20012-1 V002

www.goldmann-verlag.de

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DIESES BUCH IST FÜR MEINEN FREUNDJEFF MONG

Prolog

Ich habe nicht aufgeschrien, als ich Sal’s Saloon, in dem ich arbeite, durch die Hintertür betrat und Sal im Lagerraum fand, blau wie der Tod. Flüssigkeiten sickerten aus seinen diversen Körperöffnungen und sammelten sich am Boden, neben seinem Kopf war ein kleiner Blutfleck. Nun bin ich der kleine Bruder eines großen Bruders, der den Wert eines Menschen danach bemaß, ob dieser unter Druck aufschrie oder nicht, und mir entsprechend einbläute, sollten Ma und/oder Pa je schreiähnliche Laute von mir hören, könnte sich der kleine Bruder – also ich – schon mal auf eine Abreibung gefasst machen, die sich gewaschen hatte, inklusive tausend Stecknadeln – eine Drohung, die mein großer Bruder Judges, möge er in Frieden ruhen, für den Großteil meiner Kindheit mit einiger Begeisterung aufrechterhielt.

Also schloss ich erst mal die Hintertür ab, achtete darauf, sie ordentlich zu verriegeln, warf einen kurzen Blick in die Bar, in der noch alles dunkel war – und erst dann schrie ich auf. Allerdings nicht wie ein verschrecktes kleines Mädchen, sondern wie ein ganzer Kerl: Der Schrei eines Hünen, der sich seinen Riesendödel in einer Drehtür einklemmt, als er gerade ein brennendes Baby oder irgendwas retten will.

Als ich fertig geschrien hatte, sah ich mich im Lager um und bemerkte eine große Holzkiste mit der Aufschrift VORSICHT! LEBENDES REPTIL!

Die Kiste stand offen, so etwas wie Stroh lag außen herum verstreut, da entdeckte ich den aufgerissenen Umschlag und den Brief neben Sals toter Hand. Der Brief war von Bokker, dem südafrikanischen Seemann, an mich gerichtet. Sofort begriff ich, was in dieser Kiste gewesen war.

Ich sah mir Sals Leiche näher an, und tatsächlich: Da waren zwei kleine geschwollene Löcher an seinem Hals und darunter Spuren kleinerer Zähne.

Panik packte mich, und ich erstarrte, hielt den Brief in Händen wie ein Telegramm, in dem man mich über mein Ableben in Kenntnis setzte. Stopp. Ich wusste nicht genau, wie eine schwarze Mamba aussah, aber nach allem, was mir der Südafrikaner erzählt hatte, waren diese Tiere groß, dunkel und blitzschnell, und insofern war ich ziemlich sicher, dass sich auf dem halben Meter zwischen mir und der Hintertür keine Riesenschlange befand, aber sie konnte ohne weiteres irgendwo in der Bar sein.

Ich hätte jemanden anrufen sollen. Ich musste jemanden anrufen. Nicht die Polizei, dachte ich, weil die vielleicht noch wegen dieser Entführung einer ihrer Kollegen nach mir fahndete, und außerdem, weil sie vermutlich den einen oder anderen Verdacht gegen mich hegen mochte, nachdem Sal von einer Schlange, die ich gekauft und bezahlt hatte, ins große Schläfchen geschickt worden war, und außerdem, weil ich mehr als genug Motive hatte. Also: nein. Ich schätze, ich hätte meine Eltern anrufen können, obwohl ich mit denen nicht mehr gesprochen hatte, seit ich aus Boise weggegangen war. »Hi, Ma! Ich weiß, ihr habt seit Jahren nichts von mir gehört, aber ich habe da ein kleines Problem …« Lieber nicht.

Da dachte ich: Mist, das Telefon hängt ganz hinten an der Wand hinterm Tresen, unter dem möglicherweise in diesem Moment eine tödliche Riesenschlange ihr Mittagsschläfchen hält, und dann dachte ich: Ich such mir doch lieber eine Telefonzelle. Oder vielleicht sollte ich mal bei meinem Geschäftspartner Eddie Moo Shoes reinschauen, um mit ihm das Dilemma zu besprechen, in dem ich mich befand. Bei der Gelegenheit konnte ich ihn gleich daran erinnern, dass wir beide Partner in einem Geschäft waren, das schiefgegangen war.

Ich holte tief Luft und hielt sie an, während ich Sals Taschen nach seinen Schlüsseln durchsuchte, sie fand, dann höflich über ihn hinwegstieg und zur Hintertür hinausging, wobei ich sein Bein ein Stück zur Seite schob, damit die Tür besser aufging. Draußen angekommen schloss ich ab und seufzte, als hätte ich eben ein Minenfeld durchquert. Doch als ich mich dann umdrehte, standen plötzlich zwei große hagere Gestalten in schwarzen Anzügen mit Hut und Sonnenbrille hinter mir – und damit meine ich: direkt hinter mir. Sie schienen auf mich gewartet zu haben und gaben sich unerschütterlich, waren dann aber doch einigermaßen erschüttert, als ich meinen zweiten männlichen Schrei des Tages ausstieß.

Es gibt Momente im Leben eines Mannes, in denen er sich kopfüber treibend in einem Meer von Schwulitäten wiederfindet – während die Hoffnung blubbernd untergeht – und denkt: Wie, zum Teufel, bin ich hier gelandet?

Nun wusste ich damals nicht, was die beiden Typen in schwarzen Anzügen wussten, nämlich, dass wir über die unermessliche Weite des Weltraums hinweg von Wesen beobachtet wurden, deren Intelligenz die des Menschen weit übertraf. Sie folgten uns mit eifersüchtigen Blicken und schmiedeten Pläne, in unsere Welt zu kommen, um mit den Brüsten unserer Bräute Motorboot zu fahren.

Eine Braut. Damit fing alles an …

1

Sammy und die Käseschnecke

Sie hatte Beine bis zum Hals – Größe 36 in einem Kleid der Größe 34, und jeder im Laden feuerte die fehlende Kleidergröße an, in die Freiheit auszubrechen, während er dabei zusah, wie die Frau zur Tür hereingewackelt kam und ihren Hintern auf einen Barhocker schob, mit dem Rücken zum Eingang. Ich zog die Augenbrauen hoch und sah den südafrikanischen Seemann an, der am hinteren Ende des Tresens von seiner seltsamen Fracht erzählte, während ich Schnapsgläser polierte.

»Die Braut riecht nach Ärger«, sagte der Seemann.

»Jep«, gab ich zurück, schlug mein Handtuch aus und drapierte es hübsch auf meinem Unterarm. »Aber du weißt ja, was man sagt, Käpt’n: Volle Kraft voraus – scheiß auf die Torpedos!« Damit steuerte ich hinter dem Tresen auf die Dame zu, mit meinem strahlendsten Lächeln, triefend vor Charme, wobei ich mir alle Mühe gab, mein Hinken zu verbergen, um neugierigen Fragen vorzubeugen.

»Ich glaube nicht, dass das damit gemeint ist, Sammy Boy«, sagte der Seemann. »Aber mach du nur.« Was so eine Art Ansporn ist, wie er nur von jemandem kommen kann, dem es schnurz ist, ob man niedergeschossen wird.

»Was kann ich dir bringen, Püppi?«, sagte ich zu der Dame. Sie war blond, schmutzig blond, und hatte ihre Haare hochgesteckt, sodass sie irgendwie dunkel aufragten, um sich dann oben wie ein Springbrunnen in alle Richtungen zu locken – was ihr einen leicht überraschten Ausdruck verlieh. Ihre Lippen erinnerten mich an eine Rose zum Valentinstag, leuchtend rot und prall, wenn auch etwas schief, als hätte sie beim Boxen eins aufs Maul gekriegt, oder die Rose hätte Herzbeschwerden. Schräg, aber einladend.

Sie rutschte auf dem Barhocker herum, als suchte ihr Hintern besseren Halt, was mit sich brachte, dass alle Anwesenden scharf einatmeten und die Luft anhielten, was augenblicklich den Rauch vertrieb, als hätte ein mächtiger Drache ihn zur Hintertür hinausgesogen. Allerdings war es nicht so, als kämen sonst nie alleinstehende Damen in Sals Bar, aber sie kamen nie so früh, wenn es draußen noch hell war und sich der Fuselnebel in den Köpfen nicht wie ein Weichzeichner über alles gelegt hatte, um die Ecken und Kanten einer Puppe abzumildern. (Licht ist der natürliche Feind der Tresenschlampe.)

»Ich heiße nicht ›Püppi‹«, sagte die Blondine. »Und gib mir was Billiges, das leicht runtergeht.«

Woraufhin allgemeines Räuspern anhob, während jedermann im Laden plötzlich damit beschäftigt war auszutrinken, sich eine Zigarette anzuzünden, den Hut zu richten oder was weiß ich noch alles, als schwebten die Worte dieser Dame nicht wie ein Willkommensschild über einem Raum voller Ganoven, Zocker, Tagtrinker, Schauermänner, Nichtsnutze und Kleinstadtgangster, jeder von ihnen im Grunde seines Herzens ein Schürzenjäger. Ich warf einen Blick den Tresen entlang und versuchte, die Blicke der anderen aufzufangen, während ich mich bückte, als wollte ich nach meinem Gehstock greifen – meiner Version des Baseballschlägers, wie ihn die meisten Barkeeper haben –, und obwohl mein Stock drei Meter entfernt lag, kam die Botschaft doch bei ihnen an. Ich bin nicht besonders groß und allgemein bekannt dafür, dass mir nicht so leicht der Kragen platzt, aber ich kann schnell zupacken und trainiere täglich eine Stunde am Sandsack – eine Angewohnheit, die darauf zurückzuführen ist, dass ich meine Klappe nicht halten kann. Ich weiß mir also sehr wohl zu helfen. Die meisten der Anwesenden hatten mehr als ein Mal mitbekommen, wie ein Maulheld im Rinnstein gelandet war, weil er meinte, meine sonnige Art und der Klumpfuß machten mich zu einem leichten Gegner, also blieben alle nett und höflich. Andererseits kontrollierte ich den Alkoholnachschub. Könnte also auch daran gelegen haben.

»Und wie soll ich Sie dann nennen, Miss?«, fragte ich die Blondine, richtete meinen babyblauen Blick direkt auf ihre kuhbraunen Augen, darauf bedacht, nicht ihre Auslage anzuglotzen, weil Frauen das oft nicht zu schätzen wissen, sogar wenn offensichtlich ist, dass sie weder Zeit noch Mühe gescheut haben, ihre Auslage anglotzbereit herzurichten.

»Missis«, sagte sie.

»Und wird sich der Mister noch zu Ihnen gesellen?«

»Nur wenn Sie warten wollen, bis ich die gefaltete Flagge von zu Hause geholt habe, die man mir gegeben hat, statt ihn mir zurückzuschicken.« Sie wandte sich nicht ab, als sie das sagte, und sie lächelte auch nicht. Sie senkte weder den Blick, um ihren Schmerz zu verbergen, noch tat sie, als unterdrückte sie ihre Tränen. Sie sah mir offen in die Augen. Knallhart.

Erst dachte ich, sie würde mir die Hölle heißmachen, weil ich sie »Püppi« genannt hatte, aber egal, ob sie nun eine war oder nicht: Ich konnte dem Schlag doch am ehesten ausweichen, wenn ich mich betroffen zeigte.

»Das tut mir leid, Ma’am. Der Krieg?« Bestimmt war der Krieg schuld. Sie konnte nicht älter als drei- oder vierundzwanzig sein, nur ein paar Jahre jünger als ich.

Sie nickte, dann machte sie sich an ihrem Geldbeutel zu schaffen.

»Lass stecken. Der Drink geht aufs Haus«, sagte ich. »Fangen wir noch mal von vorn an. Ich bin Sammy«, sagte ich und reichte ihr die Hand.

Sie griff zu. »Sammy? So heißen doch nur kleine Jungs.«

»Na ja, hier im Viertel haben ein paar alte Italiener das Sagen, und die halten jeden unter sechzig für einen kleinen Jungen. Daher der Name.«

Da lachte sie, und ich kam mir vor, als hätte ich einen Homerun gelandet. »Hi, Sammy«, sagte sie. »Ich bin Stilton.«

»Mrs Stilton?«

»Vorname Stilton. Wie der Käse.«

»Was für ein Käse denn?«

»Stilton? Noch nie davon gehört? Kommt aus England.«

»Aha«, sagte ich und war mir ziemlich sicher, dass diese Braut sich einfach irgendwelche Käsesorten ausdachte.

Da nahm sie ihre Hand wieder zurück und rutschte auf dem Hocker herum, als wollte sie etwas erzählen, und alle im Laden spitzten die Ohren. Ich stand nur da und zog eine Augenbraue hoch, wie es so meine Art ist.

»Mein Vater war Soldat im Weltkrieg. Meine Mutter ist Engländerin – Kriegsbraut. Die beiden hatten ihr erstes richtiges Date nach dem Krieg in einem Dorf namens Stilton. Und als ich ein paar Jahre später zur Welt kam, hat mich mein Pop so genannt. Stilton. Eigentlich sollte ich ein Junge werden.«

»Na, das ist ihm aber gründlich misslungen«, sagte ich und musterte sie kurz, um ihre Nichtjungenhaftigkeit hervorzuheben. »Wenn ich so sagen darf.« Plötzlich hätte ich gern einen Hut getragen, um an die Krempe tippen zu können, doch da wurde mir bewusst, dass sie und ich vermutlich die einzigen Menschen in ganz San Francisco waren, die in diesem Augenblick keinen Hut trugen. Es war, als wären wir gemeinsam nackt. Also griff ich mir den Fedora von dem Burschen zwei Hocker neben ihr, setzte ihn mit eleganter Geste auf und tippte kurz daran. »Ma’am!«, sagte ich und machte eine Verbeugung.

Woraufhin sie wieder lachte und erwiderte: »Wie wäre es, wenn du mir einen Old-Fashioned mixen würdest, bevor du dich immer weiter reinreitest, Witzbold?«

»Dein Wunsch ist mir Befehl, Schnecke«, sagte ich. Damit warf ich den Fedora wieder dem hutlosen Mann am Tresen zu, bedankte mich bei ihm, dann machte ich mich daran, ihren Drink zu mixen.

»Nenn mich nicht Schnecke.«

»Komm schon, immer noch besser als dieser Käse.«

»Aber dieser Käse ist mein Name.«

»So sei es«, sagte ich, stellte den Drink vor ihr ab und rührte ihn einmal kurz mit dem Strohhalm um. »Auf die Käseschnecke! Cheers!«

Am liebsten hätte ich sie gefragt, was sie in diese Bar geführt hatte, woher sie kam und ob sie in der Gegend wohnte, aber der Grat zwischen Neugier und Aufdringlichkeit ist schmal, also ließ ich sie mit ihrem Drink allein und machte mich auf den Weg am Tresen entlang, schenkte nach und sammelte leere Gläser ein, bis ich wieder bei dem Mann von der südafrikanischen Handelsmarine angekommen war.

»Sieht aus, als konntest du bei ihr landen«, sagte der Seemann. »Was macht sie hier, so ganz allein, mitten am Nachmittag? Nutte?«

»Glaub ich nicht. Witwe. Hat ihren Kerl im Krieg verloren.«

»Eine Schande. Gibt so viele davon. Hab im Krieg selbst hundertmal gedacht, ich würde meine Frau zur Witwe machen. Hab die meiste Zeit mit einem Liberty-Frachter Nachschub über den Atlantik gefahren. Hab immer noch Albträume von deutschen U-Booten …« Der Seemann stutzte, als sein Blick auf meinen Stock fiel, der neben der Kasse hinter dem Tresen lehnte. »Aber offenbar hatte ich mehr Glück als andere.«

Und nachdem ich mich eben noch wie der König der Welt gefühlt hatte, weil es mir gelungen war, der Blondine ein Lachen zu entlocken, kam ich mir plötzlich wie der allerletzte falsche Fuffziger vor, was öfter mal der Fall ist, doch ich schüttelte das Gefühl ab, boxte den Seemann an die Schulter und erlöste ihn. »So viel mehr Glück nun auch wieder nicht, wenn man eure Ladung bedenkt …«

»Wie Noahs gottverdammte Arche«, sagte er. »Was Seefahrt bedeutet, weiß man erst, wenn man mit einem seekranken Elefanten in einen Sturm geraten ist. Hatte ihm im Laderaum einen Stall bauen lassen. Der arme Kerl, der ihn ausmistet, wird noch Tage damit beschäftigt sein. Wir haben das Tier letzte Woche in San Diego ausgeladen, aber der Gestank ist nicht rauszukriegen.«

»Auch Tiger?«, fragte ich.

»Ausschließlich afrikanische Tiere. Tiger gibt es nur in Asien.«

»Wusste ich«, sagte ich. Vermutlich hätte ich es wissen sollen. »Hab noch nie einen echten Tiger gesehen.«

»Die großen Katzen machen mir nichts. Die sitzen in Eisenkäfigen. Man kann sehen, was los ist, und sich davon fernhalten. Alle paar Tage schiebt man ihnen mit einem langen Stock Fleisch in den Käfig. Mit einem sehr langen Stock. Nur diese ekligen Schlangen sind nicht mein Fall. Nächste Woche bringt unser Schwesterschiff eine Ladung mit allen Sorten von Giftschlangen, die es auf dem schwarzen Kontinent gibt, für ein Labor in Stanford. Schlangen müssen nicht fressen, also werden sie in Holzkisten transportiert. Man kann sie nicht mal sehen. Und dass eine ausgebrochen ist, merkt man es erst, wenn sie einen erwischt hat.«

»So wie ein U-Boot?«

»Genau. Die nehmen ein Dutzend schwarze Mambas an Bord. Die Mistviecher werden vier, fünf Meter lang. Hab als Kind mal gesehen, wie eine hinter einem Mann her war. Mambas flüchten nicht wie andere Schlangen. Sie richten sich auf und verfolgen dich – schneller, als du rennen kannst. Minuten später war der arme Kerl tot. Lag mit Schaum vorm Mund zuckend im Dreck.«

»Klingt gar nicht gut«, sagte ich. »Für mich ist der Fall klar. Ich fahre nie, nie, nie nach Afrika.«

»Die Tiere sind nicht alle so. Komm doch morgen früh rüber zum Anleger in Oakland und guck dir den Rest vom Zoo an, bevor wir ausladen. Ich zeig dir alles. Schon mal ein Erdferkel gesehen? Dämliche Tiere. Versuchen, sich durch den Stahlrumpf zu graben. Von denen haben wir zwei an Bord.«

»Erdferkel schmecken lecker«, sagte Eddie Shu, der so was immer sagte, um Leute zu schockieren, weil alle Welt wusste, dass Chinesen schräges Zeug aßen. Eddie war ein dürrer Chinese in glänzendem Anzug und schwarz-weißen Budapestern. Seine Haare waren schwungvoll zurückgegelt wie die von Frank Sinatra. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er hereingekommen war, weil ich die Blondine nicht aus den Augen lassen wollte, also dachte ich mir, er müsste wohl die Hintertür genommen haben, was eigentlich verboten war, aber Eddie war ein Freund. Was will man machen?

»Hör nicht auf diesen Nichtsnutz«, sagte ich zum Seemann. »Er lügt wie bedruckt.«

»Wenn du meinst«, erwiderte Eddie. »Aber schon Buddha hat gesagt: ›Ein Mann, der nie ein gut gewürztes Erdferkel gegessen hat, weiß nicht, was Freude ist.‹«

»Aha. Das hat Buddha also gesagt, ja?«

»Soweit du weißt.«

»Eddie Moo Shoes, das ist Käpt’n …« Und da machte ich eine Pause, damit der Seemann die Details ausfüllen konnte.

»Bokker«, sagte der Südafrikaner. »Aber ich bin kein Kapitän. Erster Maat auf der Beltane, Frachter aus Kapstadt.«

Und so nickten Moo Shoes und der Maat einander zu, und ich sagte: »Eddie arbeitet im Club Shanghai unten an der Straße.«

»Wer ist denn das Früchtchen da drüben?«, fragte Eddie und warf seine Sinatra-Tolle in Richtung der Blondine. Ich merkte, wie es mir missfiel, dass er sie als Früchtchen bezeichnete, trotz der Tatsache, dass sie eines war, und was für eines.

»Kam eben rein«, sagte ich. »Heißt Stilton.«

»Stilton?«

»Wie der Käse«, erklärte ich.

Eddie sah mich an, dann den Seemann, dann mich. »Der Käse?«

»Das hat sie gesagt.«

»Hast du sie schon nackt gesehen?«

Also, in der Zwischenzeit hatte ich beobachtet, wie mehrere Stammgäste die Blondine umkreist hatten und jeder Einzelne davon humpelnd den Schwanz einzog, niedergestreckt von einem bedauernden, leicht koketten Blick. Und währenddessen sah sie immer wieder zu mir herüber, als wollte sie sagen: Lässt du das etwa tatenlos geschehen? Zumindest kam es mir so vor, als wollte sie das sagen. Vielleicht ging es allen Männern im Laden so. Diese Stilton hatte was …

»Allerdings«, sagte ich zu Moo Shoes. »Sie kam nackt hier rein, aber ich musste sie bitten, sich was überzuziehen, damit sich die aufrechten Bürger nicht belästigt fühlen, die dieses feine Etablissement auf ihrem Weg zur Kirche frequentieren.«

»Ich würde sie gern nackt sehen«, sagte Moo Shoes. »Du weißt schon – um sicherzugehen, dass sie für dich auch gut genug ist.«

»Nicht für dich selbst?«, fragte der Seemann.

Da wurde Moo Shoes fast weinerlich, ließ den Kopf hängen, bis seine Sinatra-Tolle traurig herabhing. »Lois Fong«, sagte er.

»Tänzerin im Club«, erklärte ich.

»Sie würde mir nicht mal eine klatschen, wenn ich Goldmünzen spucken könnte.«

»So ist das in Chinatown«, erklärte ich. »Die haben ihre eigenen Sitten und Gebräuche.«

»Wir sind ein altes geheimnisvolles Volk«, sagte Eddie zu dem Seemann.

»Aber immerhin hast du sie nackt gesehen«, sagte ich und klopfte Moo auf die Schulter, um einen kleinen Sonnenstrahl in seine finstere Verzweiflung zu werfen.

»Bei der Arbeit«, sagte Eddie. »Wie alle anderen im Laden. Glaub nicht, dass dadurch irgendwas einfacher wird.«

Da fiel mir auf, dass die Blondine fast nichts mehr zu trinken hatte und es Zeit wurde, ihr einen Besuch abzustatten, also hob ich einen Finger, um Moo Shoes in seiner Tristesse kurz zu unterbrechen. »Bin gleich wieder da.«

»Noch einen Old-Fashioned, Süße?«, fragte ich grinsend, forderte sie heraus.

»Ich heiße nicht …« Und sie stutze. »Spendierst du mir einen Drink, Schlaumeier?«

»Ich? Nachdem schon so viele Typen angeboten haben, dir einen auszugeben?«

»Vielleicht habe ich auf ein besseres Angebot gewartet«, sagte sie – rollte mit den Augen, klimperte mit den Wimpern, dann seufzte sie wehmütig – also: gespielt wehmütig –, was mich zum Lachen brachte.

»Du weißt, dass es mich nichts kostet, wenn ich dir einen Drink ausgebe, im Gegensatz zu den anderen Figuren hier.«

»Womit du mir sagen willst, dass du nicht denkst, ich wäre dir dafür was schuldig, im Gegensatz zu den anderen Figuren, stimmt’s?«

»Nein, nein, nein«, sagte ich. »Vergiss das.« Dann beugte ich mich vor, in der Hoffnung, eine kleine Verschwörung anzuzetteln. »Obwohl ich meinem Freund Eddie da drüben erzählt habe, ich hätte dich schon mal nackt gesehen … Wenn er also rüberkommt, deckst du mich doch, oder?«

»Ich habe ein Muttermal an der rechten Hüfte.« Sie zwinkerte.

»Das wollte ich hören!«

»In Form von Winston Churchill.«

»Bestimmt sehenswert«, sagte ich.

»Wo bleibt mein Drink, Gunga Din?«

Ich habe ein Faible für Frauen, die sich mit Rudyard Kipling auskennen oder mit Lyrik überhaupt, denn ich bin eine sensible, poetische Seele. Meine liebe Ma war Englischlehrerin, und von dem Moment an, in dem ich mein erstes Wort herausquäkte, hat sie mich mit Metaphern, Vergleichen, Symbolismus, Alkoholismus und den diversen Jamben der lyrischen Tradition überhäuft, was mir alles im Laufe der Jahre gute Dienste geleistet hat, sei es beim Drinksausschenken, Schiffeschweißen, Frauenbetören oder bei lyrischen Anmerkungen zu diesem und jenem.

Eben wollte ich der Schnecke selbiges über Kipling mitteilen, als die Tür in ihrem Rücken aufflog und Sally Gab, alias Sal Gabelli, hereinmarschierte, mein Boss, dicht gefolgt von einem Air-Force-General mit so vielen Orden an der Uniform, dass er aussah, als würde jemand auf seiner Brust eine Partie Mah-Jongg spielen.

Die Bar war nach besagtem Sal benannt, obwohl es draußen kein entsprechendes Schild gab. Im Laufe der Jahre hatte der Laden Flossie’s, Danny’s, The Good Time, Grant Avenue Saloon, The Motherlode oder Barbary Belle’s geheißen und noch ein halbes Dutzend weitere Namen gehabt, die bis 1853 zurückreichten, als die Bar an dieser Stelle eröffnet wurde. Angeblich war der lange Eichentresen mit der verspiegelten Bar um Kap Hoorn gesegelt, auf einem Klipper voller Seeleute, die davon träumten, in den kalifornischen Bergen Gold zu finden. Momentan stand auf dem Schild nur Saloon, weil Sal zu geizig oder zu schlau war, seinen Namen über die Tür zu schreiben. Sal war im Viertel bekannt wie ein bunter Hund, auch dafür, ein solcher Armleuchter zu sein, dass es niemanden überrascht hätte, ihn im Dunkeln flackern zu sehen. Die Bar mochte das große Erdbeben von 1906 überlebt haben, aber Sal wusste, dass es möglicherweise ihr Ende wäre, wenn sein Name über dem Eingang stünde.

»General«, sagte Sal, ein massiger Fünfzigjähriger, der stets unrasiert war, schlecht sitzende Anzüge mit Hosenträgern trug und ständig eine Zigarre im Maul hatte, »das ist Sammy Two-Toes, der Mann, der für mich hier im Viertel die Ohren offen hält. Der kann Ihnen bei Ihrem kleinen Problem helfen.«

Ich zuckte zusammen, als dieser Spitzname fiel, bei dem nur Sal mich nannte, und sah mir den General näher an. Er war ein kräftiger Kerl, um die sechzig, mit bleistiftdünnem Oberlippenbärtchen. Als er seine Mütze abnahm, legte er ein paar einsame Strähnen frei, die über seinen kahlen Kopf gekämmt waren. »Sammy«, sagte er, als hätte er mich lieber mit einem Rang als mit meinem Namen angesprochen. Dem Tonfall entnahm ich, dass mein Rang niedrig wäre, und er nickte nur, reichte mir nicht mal die Hand, da ich offensichtlich unter seiner Würde war.

»Two-Toes kennt alle Ganoven in der Stadt, stimmt’s nicht, Sammy?«, sagte Sal, der plötzlich bemerkte, dass er über die Schulter einer Dame hinwegsprach, und so trat er einen Schritt von Stilton zurück, um sie näher zu begutachten. »Hey, Süße …«

»Den Drink nehme ich später, Sammy«, sagte Stilton, stand auf und hielt Sal ihren spitzen Zeigefinger ins Gesicht, um ihn zum Schweigen zu bringen. Der rot lackierte Fingernagel war kaum einen Zentimeter davon entfernt, ihm ein Auge auszustechen. »Ich muss los.«

Sprachlos sah ich mir an, wie sie ihren Finger auf Sals Auge gerichtet hielt, während sie die andere Hand durch den Riemen ihres Täschchens schob. »Wir sehen uns, Hübscher«, sagte sie, beschrieb eine Pirouette und tänzelte mit flatterndem Rock zur Tür hinaus, sodass es mir, Sal und dem General glatt die Sprache verschlug. Mir war, als wäre mein Glück mit ihr gegangen. Ich fühlte mich verloren.

»Außergewöhnlich«, sagte der General mit starrem Blick auf den Hocker, den Stilton eben freigemacht hatte. »Nun, das ist genau die Sorte junger Frauen …«

»Da ist unser Krüppel der richtige Mann«, fiel Sal ihm ins Wort.

Im selben Moment schlich Eddie Moo Shoes mit zwei anderen Typen hinter dem General entlang. Das Abendpublikum zog sich meist zurück, wenn Sal hereinkam, da viele ihn nicht leiden konnten, was noch auf den Krieg zurückging, als er die Jungs vom Militär hatte bluten lassen für das Privileg, nach Feierabend seinen verdünnten Schnaps kaufen zu dürfen.

»Lass uns was essen gehen, wenn du hier fertig bist«, sagte Moo Shoes.

»Okay«, sagte ich. »Wir treffen uns im Club.«

Eddie winkte und war schon weg. Sal meinte: »Hatte ich nicht gesagt, dass ich hier keine beschissenen Japse haben will?«

»Er ist Chinese«, sagte ich.

»Ist doch dasselbe in Grün«, sagte Sal.

Zwar wusste Sal, dass sein Laden nur einen Block von Chinatown entfernt lag, dass die Chinesen lange vor den Italienern in San Francisco gewesen waren und seine italienischen Vorfahren ihre Fische fünf Generationen lang an Moo Shoes’ Vorfahren verkauft hatten, und doch zog er es vor, diesen Umstand zu ignorieren, um dem General seinen Patriotismus mit uneingeschränkter Beschränktheit zu beweisen. Aber der Armleuchter ist mein Boss, und er hat mir nach dem Krieg einen Job gegeben, als Jobs nicht leicht zu finden waren, und zwar unter gewissermaßen mumpitzigen Umständen, die ich vor der Öffentlichkeit und ganz besonders vor dem Gesetz lieber nicht ausbreiten wollte, also ging ich nicht weiter darauf ein.

»Was kann ich Ihnen bringen, General?«, fragte ich an Sal vorbei.

»Scotch, pur. Single Malt, wenn möglich.« Er warf einen Blick in die Runde und kam zu dem Schluss, dass es in diesem Laden vermutlich keinen Single Malt gab. Auf die meisten Bars traf das auch zu. Im Krieg konnten die Schotten nicht destillieren, und das Zeug ist nicht auf die Schnelle herzustellen, aber irgendwie meinte ich, mich zu erinnern …

»Mal sehen, was ich tun kann.«

Während ich unter dem Tresen herumrumorte, sagte Sal: »General Remy ist nur kurz in der Stadt, um sich mit ein paar Bonzen zu treffen, aber nächste Woche kommt er wieder.«

»Ich hoffe, Arrangements für eine … eine Begleitung bei meiner Rückkehr treffen zu können.« Für einen Militär schien sich der General in einer Bar doch seltsam unwohl zu fühlen. Vielleicht lag es daran, dass es Sals Bar war. Wie die beiden zueinandergefunden hatten, war mir ohnehin ein Rätsel.

Sal sagte: »Der General ist Kommandeur auf einer Basis weiter im Osten.«

»Ach so?«, sagte ich, den Kopf zwischen Spinnen und Staub, auf der Suche nach Scotch. »Wo denn?«

»Roswell, New Mexico«, sagte der General.

»Da ist er!« Mit einer staubigen Flasche Glenfiddich tauchte ich unter dem Tresen auf. »Nie davon gehört.«

»Gibt auch keinen Grund dafür«, sagte der General. »Da passiert nie was.«

»Okay«, sagte ich und entkorkte die Flasche. »Doppelt?«

»Bitte«, sagte der General.

Und so schenkte ich ein, ohne einen Gedanken an New Mexico zu verschwenden, sehr wohl aber an die Käseschnecke und dass sie rausspaziert war, ohne mir ihre Nummer zu geben, sodass ich nicht mal wusste, ob sie in der Gegend wohnte, und ich fragte mich, ob sie vielleicht einfach ins große Nirgendwo gewackelt war und nie wieder auftauchen würde. Doch dann dachte ich: Nein, sie ist aufgestanden und hat sich für mich geradegemacht. Und obwohl ich weder wusste, woher sie gekommen, noch, wohin sie gegangen war oder wie ich sie finden sollte, spürte ich doch, dass ich ihr wieder begegnen würde, und wenn es so weit war, würde etwas geschehen – etwas Großes, Bemerkenswertes, Hoffnungsvolles, und es gab absolut rein gar nichts, was ich dagegen tun konnte.

2

Wirtshaus zur glücklichenSchlange mit Nudeln

Nebel lag über der Stadt wie eine ersoffene Hure – feucht und kalt, nach Salz und Diesel stinkend –, eine aufgeweichte Bordsteinschwalbe, die eben einen Schlepper gerammelt hatte …

»Heute Abend ist der Nebel schlüpfrig«, sagte der Taxifahrer, der draußen vor Sals Bar an seinem Wagen lehnte.

Draußen auf der Bay stöhnte ein Nebelhorn.

Sammy schlug den Kragen hoch, bis dieser an die Krempe seines Hutes reichte. »Ziemlich feucht«, stimmte er zu.

»Kann ich dich irgendwohin fahren?«

»Ach, ich will nicht weit.« Sammy deutete auf den Broadway, die Grenze zwischen North Beach, dem italienischen Viertel, und Chinatown. »Aber danke.«

Der Kutscher tippte an seine Lederkappe. »Nachher im Cookie’s?«

»Gut möglich«, sagte Sammy. Er machte sich auf den Weg über den menschenleeren Boulevard. Die Straßenlaternen schienen mit ihrer diesigen Aura darüber zu schweben wie verirrte Geister, erreichten nie den Asphalt. Die Geschäfte an der Grant Avenue – Lebensmittelläden, Souvenirstände, Restaurants, Schlachter – waren dunkel, bis auf den einen oder anderen Streifen Neon, der hier und da die Nacht durchschnitt: GESCHLOSSEN, MASSAGE, ein COCA-COLA-Schild, ein glücklich leuchtender Drache mit einer Schale Chop Suey.

Es waren nur sieben Blocks von Sals Bar bis zum ClubShanghai, in dem Eddie arbeitete, kaum einen halben Kilometer, doch nach drei Blocks tat Sammy in der feuchten, kalten Luft der Fuß weh, und er wünschte, er hätte das Angebot des Taxikutschers angenommen. Schafskälte in der Stadt, oder wie Mark Twain geschrieben hatte: »Ein Sommer in San Francisco weckt den Wunsch, eine Flunder beim Kragen zu packen und ihr die Feuchte rauszuklatschen.« (Eines von Mark Twains weniger bekannten Zitaten.)

Während Sammy sich mit seinem Gehstock einen Weg bahnte, dachte er an diese Stilton, die Käseschnecke. Die hatte was. Sie war hübsch anzusehen, war sie wirklich, wenn auch keine Granate – aber irgendwie süß, so eine Braut, die man seiner Mom vorstellen konnte, um sie dann im Gästezimmer unter aufgeregtem Wispern durchzuvögeln, während Mom sich nebenan schnaubend bei Dad über sie ausließ, was für ein Flittchen sich wie ein stinkender Käse nannte. Kurz gesagt, er mochte sie, und mit ihrem Auftritt vor Sal und General Remy hatte sie Sammy eine gewisse Gunst erwiesen, wenn auch eine subtile Gunst, die ihm aber dennoch gefiel. Er wollte sie wiedersehen und war ein wenig traurig, dass er nicht wusste, wie er das anstellen sollte, außer zur Arbeit zu gehen und zu hoffen, dass sie wiederkam.

Als er den dicken Teppich in der rotsamtenen Eleganz des Club Shanghai betrat, sah Sammy am Empfangspult Eddie Moo Shoes bei einem jüngeren Mann im Smoking stehen. Es war halb drei, und da die Band gerade Pause machte, lief eine Schallplatte von Glenn Miller. Tabakrauch und Stimmen wehten aus dem Saal des Clubs heran.

»Hey, Sammy«, sagte Eddie. »Du kennst Lou?«

»Lo«, verbesserte der Junge.

»Er lernt noch.« Eddie grinste. Kein Mitarbeiter im Shanghai benutzte seinen chinesischen Namen, denn in diesem Club schlüpften Asiaten in die Rolle von Angloamerikanern, was das Shanghai und ein gutes Dutzend ähnlicher Läden über die Wirtschaftskrise und den Krieg gerettet hatte.

Sammy schüttelte dem Jungen gerade die Hand, als Lois Fong auf goldenen Pumps in einem engen goldenen Paillettenkleid herangetrippelt kam, das fast bis zum Hintern offen stand. »Sei ein Schatz, Eddie«, sagte sie und hielt ihm das cremefarbene V ihres Rückens hin. Halbherzig zog Eddie am Reißverschluss, als müsste er den Sarg seiner erotischen Phantasien zuklappen, dann gab er ihr einen Klaps auf den Hintern, um anzuzeigen, dass es vollbracht war.

»Fertig, Kiddo«, sagte Eddie.

Lois schmollte über ihre Schulter hinweg. »Nicht ganz rauf, Süßer. Eine kleine Warenprobe sollte schon zu sehen sein.«

Nun schmollte Eddie, als er den Reißverschluss wieder ein Stück herunterzog.

»Danke, Kumpel«, sagte sie. Sie küsste die Luft neben seiner Wange und strich mit dem Fingernagel unter seinem Kinn entlang, dann machte sie sich eilig auf den Weg zur Lounge.

Sammy räusperte sich. »Hey, Eddie, wenn du lieber hierbleiben möchtest, um dich um den Laden zu kümmern, können wir auch ein anderes Mal essen gehen.«

»Ach was.« Eddie holte einen Schlüsselbund aus der Tasche und warf ihn auf das Empfangspult. »Sie behauptet, ich würde ihr die Tour vermasseln, wenn sie in der Lounge arbeitet. Ich gehe nur eben meinen Mantel holen. Wie ist es da draußen?«

»Frostig«, sagte Sammy.

»Ja, hier drinnen auch«, sagte Eddie.

Seite an Seite spazierten sie die Grant Avenue hinauf, bis Eddie scharf nach rechts in eine kleine Gasse bog.

»Abkürzung?«, fragte Sammy. Normalerweise aßen sie im Cookie’s Coffee, einem Diner im Tenderloin-Viertel, einem der wenigen Läden, die die ganze Nacht geöffnet hatten, aber jetzt lief Eddie in die völlig falsche Richtung.

»Mal was Neues«, sagte Moo Shoes. Er schob sich zwischen Mülltonnen und herrenlosen Kisten hindurch, während Sammy sich alle Mühe gab, ihm zu folgen, navigierte durch den Nebel, indem er sich am trüben Schein der feuchten Mauersteine orientierte, als folgte er einem Strom aus schwarzem Öl durchs Schattenlabyrinth. Der Gestank von Fisch und vergammelten Zwiebeln klebte an ihm wie Spinnweben, ließ für ein paar Sekunden nach, als sie die Kearny Street überquerten, bevor Eddie in die nächste dunkle Gasse abtauchte.

»Moo, bringst du mich irgendwohin, um mich da zu ermorden? Denn ich würde lieber an einem weniger feuchten Ort sterben.«

»Entspann dich, wir sind da.« Eddie deutete die Gasse entlang auf ein orangefarbenes Neonschild, das GEÖFFNET blinkte, summend wie eine sterbende Biene, neben einer ramponierten Eisentür. »Du hast gesagt, du wolltest was über die chinesische Kultur erfahren.«

»In diesem Loch habt ihr sie versteckt?« Sammy betrachtete den Eingang. Dieser führte in ein gemauertes Gebäude, eingeklemmt zwischen zwei anderen Gebäuden, der ganze Bau alles in allem kaum drei Meter breit, aber drei Stockwerke hoch wie die Häuser rechts und links davon – als hätte jemand eine besonders schmale Gasse entdeckt und gedacht: Hier könnte man gut Mauersteine stapeln, denn umfallen würden sie nicht.

Eddie zog die Tür auf, was gelbes Licht, Dampf, Qualm und eine Dunstwolke freisetzte, die Sammy später als Altmännerduft identifizieren sollte. Er wusste nicht, woher er das wusste, doch daran erinnerte es ihn. Drinnen sah er einen langen Tresen, der bis ans hintere Ende des Gebäudes reichte und an etwas endete, das wie die Klappe eines Speiseaufzugs aussah. Am Tresen reihten sich etwa dreißig steinalte Chinesen aneinander, in unterschiedlichster Kleidung, von traditionellen Seidenjacken bis zu gelben Fischermänteln, die meisten jedoch in dunklen westlichen Wollanzügen. Sie saßen über dampfende Suppenschüsseln oder qualmende Pfeifen gebeugt – die meisten so faltig und vertrocknet, dass sie vollständig aus Hodensackhaut bestehen mochten. Ein junger Kerl mit Schürze lief hinter dem Tresen hin und her, mit einem großen dampfenden Topf und einer Kelle. Ein gutes Dutzend der alten Männer blickte zur Tür.

»Gwai lo«, murmelte einer von ihnen.

»Gwai lo«, murmelten alle anderen in der Reihe, dann wandten sie sich wieder ihrer Suppe zu.

»Wie bitte?«, flüsterte Sammy.

»Ach nichts. Komm mit!« Eddie trat auf eine sehr schmale Treppe zu seiner Linken. Er lauschte einen Moment, bevor er hinaufging. Vier Stufen, rechts herum, vier Stufen, rechts herum, vier Stufen, rechts herum. Es war, als stiege man eine Treppe in einer Telefonzelle hinauf. Sie kamen in einen langen, schmalen Raum mit noch einem Tresen, an dem weitere alte Chinesen saßen, wobei die hier etwas jünger wirkten als die Hodensackbande im Erdgeschoss. Sammy war der einzige Anglo im Laden, aber er war daran gewöhnt, Außenseiter zu sein, also dackelte er einfach Eddie hinterher.

»Gwai lo«, murmelten einige der alten Männer, bevor sie sich wieder ihrem Gespräch oder ihrer Suppe widmeten.

»Was? Was?«, fragte Sammy.

»Da vorn sind zwei leere Hocker«, meinte Eddie, während er sich hinter den Gästen entlangschob.

Als sie Platz in der Mitte des Tresens gefunden hatten – so eng, dass sie mit den Schultern die Nachbarn links und rechts von sich berührten –, kam ein anderer Schürzenmann mit dampfendem Topf und Kelle vorbei und sagte zu Moo Shoes etwas auf Kantonesisch.

»Möchtest du Jook oder Nudeln?«, fragte Eddie.

»Ich möchte einen Cheeseburger«, sagte Sammy.

Eddie sagte etwas zu dem Schürzenmann, der ihnen daraufhin zwei leere Schalen, Stäbchen und Löffel hinwarf, um dann murmelnd davonzuschleichen.

»Es gibt Nudeln«, sagte Eddie.

Sammy sah sich die Suppen der alten Männer an. »Und was ist Jook?«

»Reisbrei. Sehr gehaltvoll. Dieser Laden ist ein Jook-House. Stand schon hier, als die Eisenbahn gebaut wurde. Arbeiter kamen zur Pause kurz rein, futterten eine Schale Jook – maximale Verpflegung, minimaler Zeitaufwand.«

»Und wir sind hier und nicht im Cookie’s, weil …«

»Kultur?«

»Ja. Aber nein«, sagte Sammy.

»Meine Großmutter meinte, Jook wärmt das Herz.«

»Was der Grund ist, weshalb wir Nudeln essen …«

»Na gut …«, sagte Eddie. »Ich will später noch mal rüber zum Club, wenn Lois um vier Feierabend macht, und ich hab Hunger, und das hier ist der einzige Laden, der in Chinatown um diese Zeit noch geöffnet hat.«

»Du hättest auch einfach auf sie warten können.«

»Hätte ich ja gern, aber die Mädels sind angehalten, sich zwischen und nach den Shows um die Gäste in der Lounge zu kümmern. Sie meint, ich stehe ihr bei der Suche nach einem reichen Gwai-lo-Sugar-Daddy im Weg.«

»Moment mal – was heißt eigentlich gwai lo? Das haben die Leute unten gesagt, als wir reinkamen.«

»Na ja, es bedeutet ›neuer Freund‹.«

»Glaub ich nicht«, sagte Sammy.

Der alte Mann neben Sammy beugte sich herüber und sagte: »›Weißer Teufel.‹«

»Nein«, sagte Eddie, »hör nicht auf ihn. Er spricht nicht mal Englisch.«

»Kann auch ›Geistermensch‹ heißen«, sagte der alte Mann neben Moo.

Sammy blickte von einem Greis zum anderen. »Hey, ihr könnt mich mal! Ich bin kein weißer Teufel!«

»Komm runter«, sagte Moo Shoes. »Es ist nur so eine Redensart. Niemand hält dich wirklich für einen weißen Teufel.«

»Weißer Teufel zimperlich«, sagte der alte Mann neben Sammy.

Sammy wandte sich dem Greis zu und ballte seine Faust unter dessen Kinn. Der Alte grinste mit nicht mehr als sechs Zähnen. Sammy lachte und klopfte ihm auf die Schulter. »Zimperlich ist genau das richtige Wort, Opa.«

Zu Eddie sagte er: »Du willst also pünktlich wieder beim Club sein, um mit anzusehen, wie sie den erstbesten weißen Teufel nach Hause begleitet?«

»Das nicht. Ich möchte nur in ihrer Nähe sein – vielleicht ist das Glück ja mal auf meiner Seite. Wäre doch möglich. Ich bin total verrückt nach ihr, Sammy. Aber vielleicht bin ich auch einfach nur ein Idiot.« Moo ließ den Kopf hängen und starrte den verschrammten Holztresen an, während man ihnen Nudeln in die Schalen löffelte.

Sammy peppte seine Nudeln mit Soja und Chilipaste auf, dann pustete er daran herum, um in Ruhe nachdenken zu können. In dieser Welt der Nachtschwärmer, in der jeder irgendwas im Schilde führte und auf seine große Chance wartete, ließ man sich selten in die Karten schauen, und wenn sich jemand so freimütig öffnete, wie Eddie es eben getan hatte, wenn jemand offen zeigte, dass er ein wenig Mitgefühl brauchen konnte, weil er der Welt sein gebrochenes Herz preisgab, musste er sehr sanft behandelt werden, ganz so wie ein zerbrechliches Küken, das eben aus dem Nest gefallen war …

»Moo Shoes, du bist ein elender Schwachkopf!«

»Was?«, sagte Moo. »Nein. Kann sein. Wieso?«

»Diese Puppe hat mehr Ecken und Kanten als Kurven, und das weißt du genau. Wenn man sein Leben wegen einer Frau ruinieren will, sollte das zumindest überraschend kommen. Dass sie dir die kalte Schulter zeigt, ist der größte Gefallen, den Lois dir tun kann.«

Da hub Moo Shoes an zu einem Monolog über ihre Schönheit, über ihren Charme und die perfekte astrologische Übereinstimmung – Affe/Ratte – zwischen Lois Fang und ihm, doch dass er, der dritte Sohn eines Wäschers, die Aufmerksamkeit eines solches Wesens nicht verdiente. Aus Respekt blendete Sammy ihn aus und konzentrierte sich auf seine Nudeln, die tatsächlich ganz lecker waren. Er beobachtete, wie der Jook-Typ Bestellungen entgegennahm und leere Schalen einsammelte, dann den schmalen Gang hinter dem Tresen entlangging, um die Schalen am Ende in den Speiseaufzug zu stellen. Er schloss die Klappe und zog an einer Kordel, die vermutlich irgendwo ein Glöckchen läuten ließ. Ein paar Minuten später kam der Speiseaufzug mit dem nächsten dampfenden Topf und einem Stapel sauberer Schalen zurück.

»Die Brühe ist klasse«, sagte Sammy. »Huhn?«

»Du hörst mir überhaupt nicht zu.«

»Tu ich wohl. Du sehnst dich nach Lois Fong, die dich für einen Arsch mit Ohren hält oder meinetwegen auch ohne Ohren. Stimmt’s?«

»Nein. Lois mag mich. Sie meint, ich bringe sie zum Lachen.«

»Also, weißt du, ich bin ja keine Frau, aber du kleidest dich flott, und eine Stunde mit dir zu verbringen ist auch nicht so schlimm, wie es sich anhört. Diese Lois weiß gar nicht, was ihr entgeht. Du bist ein ungeschliffener Diamant, Moo.«

»Ich habe kein Auto, kein Haus, und ich teile mir eine Wohnung mit vier anderen Typen.«

»Außerdem mangelt es dir hin und wieder an Bargeld.«

»Mein Volk wettet eben gern«, erklärte Moo. »Das Glück hat in der chinesischen Kultur eine große Bedeutung.«

»Dann gehen die Nudeln wohl auf meine Kappe, was?«

»Ist doch gut, die Brühe? Hm?« Moo Shoes schlürfte ein wenig Suppe aus einem großen Porzellanlöffel. »Lecker, nicht? Hm?«

Sammy gab es auf, seinen Nudeln mit den Stäbchen in der Schale hinterherzujagen, und blickte auf. »Hat Lois dir heute Abend dein Trinkgeld abgenommen?«

»Geliehen. Sie hat Kosten. Du kriegst es Freitag zurück.« Der alte Mann neben Eddie tippte ihm an die Schulter. »Du auch«, sagte Eddie. Dann zu Sammy: »Ich habe hier letzten Montag eine Partie Craps angefangen, weil ich dachte, meine hochverehrten Altvorderen kennen das Spiel zwar nicht, aber da sie Chinesen sind und allgemein gern zocken, wären sie bestimmt liebend gern bereit, etwas Geld zu investieren – als Preis für die Erfahrung.«

»Lief nicht so gut?«

Eddie beugte sich zu Sammy und flüsterte: »Die alten Knaben lernen schnell. Hör zu: Ich hab Geld, aber das dürfen sie nicht wissen.« Eddie nahm seine Stäbchen und zeigte Sammy, wie man sie hielt. »Du musst beide nehmen. Hier, so. Ich dachte, ich hätte es dir schon mal gezeigt. Siehst du? Man bewegt nur das eine Stäbchen.«

Sammy ahmte Eddies Bewegung nach, und es gelang ihm, ein paar unschuldige Nudeln zu erwürgen. Als der Tresenmann wieder bei ihnen vorbeikam, zahlte Sammy für die Suppe.

Eddie sagte: »Was war das eigentlich für ein Bonze, den Sal Gab heute Abend mit in den Laden gebracht hat?«

»Kommandeur einer Air Base in New Mexico. Ich weiß nicht, wo Sal den Typen herhat, aber ich soll ihm nächste Woche ein paar Bräute besorgen, für einen Campingausflug mit den Bohemians.«

»Und wieso geht Sal nicht einfach ins Mabel’s an der Post Street und lässt sich die Mädchen liefern? Er macht doch bestimmt nicht zum ersten Mal Geschäfte mit dem Bohemian Club.«

»Das ist es ja gerade. Der General will keine Professionellen. Er will normale Mädchen, wie man sie beim Schlachter oder in der Bahn trifft, die Leinenkleider tragen und nach Seife duften, was die alten Männer von den Bohemians glauben lässt, ihr Charme und nicht ihr Geld würde die Mädchen dazu bewegen, sich von ihren Höschen zu trennen.«

»Obwohl auch die normalen Mädchen Geld für diesen Campingausflug bekommen?«

»So habe ich es verstanden. Der General scheint zu glauben, wenn er brave Bettys mitbringt, die eine Schwäche für alte, reiche, mächtige Bohemians haben, könnte das in diesem Club ein gutes Licht auf ihn werfen.«

»In dem er noch kein Mitglied ist?« Moo Shoes schaufelte sich schlürfend ein Knäuel Nudeln in den Mund.

»Ich schätze, das dürfte wohl der Sinn der Sache sein. Offenbar gilt der General trotz aller bunten Orden und der vielen Soldaten unter seinem Kommando bei den Bohemians nur als Gast, aber wenn er die alten Männer mit Mädchen beglückt, von denen sie angehimmelt werden und die freiwillig etwaige Unanständigkeiten auszuführen bereit sind, gehört er dazu.«

Eddie ließ ein paar Nudeln zurück in seine Schale gleiten, als er aufblickte, um sicherzugehen, dass Sammy ihn nicht auf den Arm nahm. »Das hat er dir erzählt?«

»Nein, das habe ich mir zusammengereimt, nachdem ich sie habe reden hören, kaum einen Meter entfernt, von meinem Posten hinter dem Tresen aus, an dem ich offenbar unsichtbar bin, wenn nicht gerade jemand was von mir will.«

»Armleuchter.«

»Das wäre auch meine Einschätzung, ja«, sagte Sammy.

»Das ist das Dämlichste, was ich je gehört habe.«

»Ebenso korrekt, und das will was heißen – wenn man dein Faible für Lois Fong bedenkt.«

»Und Sal kommt damit zu dir, weil …?«

»Ich bin außergewöhnlich charmant.«

»Klar, wenn man als Sal Gabelli durchs Leben geht, begreife ich, wie man so denken kann.«

»Und ich kenne mich auf der Straße ganz gut aus …«

»Als jemand, der gerade Nudeln isst, für die du bezahlt hast, muss ich dir auch darin recht geben.«

»Außerdem kenne ich viele Leute, manche davon Damen.«

»Die kennt Sal auch, nur würden sie ihn nicht mal anpinkeln, wenn er am Verdursten wäre.«

»Stimmt«, sagte Sammy.

»Und du willst eine ganze Bande braver Bettys mit Baumwollkleidern und Zöpfchen auftreiben …«

»Die Rede war von Judy Garland im Zauberer von Oz«, sagte Sammy.

»Und woher willst du diese Dorothys nehmen?«

»Ich werde mit einem Sack voller Taler vom General ins Mabel’s an der Post Street spazieren und fragen, ob sie bereit wären, ein paar ihrer Dorothy-ähnlichsten Mädchen zu schrubben, ihnen Zöpfe zu flechten und sie zu bitten, dem Fluchen zu entsagen. Sie sollen die Hüllen erst fallen lassen, wenn die Bohemians sich bettfertig machen, was – wie man hört – beim Camping früh der Fall ist.«

»So könnte es gehen.«

»Ein guter Lohn für Mabel und die Mädchen, und ich kann meinen erlauchten Posten hinter dem Tresen wahren.« Und verhindere, dass Sal mich an die Bullen verpfeift, die mich für einen längeren Aufenthalt hinter Gitter schicken würden, dachte Sammy.

»Janet Chang im Club singt ›Over the Rainbow‹ wie keine andere.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob Sal auch da sein wird, Moo, und wir wissen ja, wie er über Menschen ornamentaler Gesinnung denkt, aber wenn er nicht dabei ist und sie Lust hat, ein Wochenende lang reiche, alte Säcke einzuölen, finden wir für sie bestimmt noch einen Platz im Bus.«

»Eine ganze Busladung voller Huren …« Eddie blickte zur tabakfleckigen Decke auf wie zu einer Vision des Schutzheiligen der Schäferstündchen.

»Und Toto kommt auch mit«, sagte Sammy.

»Und in welcher Form wird man dich dafür entlohnen …?«

»Ich sage doch: Ich will meinen Job behalten«, erwiderte Sammy. Und nicht in den Knast. Er sollte es Moo wirklich erzählen.

»Und dafür hat der Zinnsoldat die Puppe am Ende vom Tresen vertrieben?«

»Die Schnecke«, meinte Sammy.

»Genau«, sagte Eddie Moo Shoes. »Du spielst nicht nur kostenlos den Zuhälter, sondern dir geht wegen diesem Spaghettipisser auch noch eine leckere Käseschnecke durch die Lappen. Das ist ein schlechter Deal, Sammy.«

»Wenn ich an all die Typen auf der Third Street denke, die bei der Heilsarmee ihre Suppe löffeln, finde ich es gar nicht so schlecht, meinen Job zu behalten. Und außerdem glaube ich, dass ich die hübsche Schnecke wiedersehen werde.«

»Hast du ihre Nummer?«

»Nicht ganz.«

»Hast du denn irgendwas von ihrer Nummer?«

»Nein, aber sie meinte, wir sehen uns.«

»Ach, sag das doch gleich. Ein Wir sehen uns ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Ich geb dir sechs zu fünf für ein Wir sehen uns.«

»Dein Sarkasmus ist hier nicht gefragt, Moo Shoes.«

»Guck mal«, sagte Eddie und nickte zum Ende vom Tresen hin. »Das musst du dir ansehen.«

Allgemeine Aufregung machte sich breit, begeisterte Ausrufe auf Kantonesisch, die in Sammys Ohren klangen, als würde jemand eine Besteckschublade die Treppe hinunterwerfen. Als sich die Klappe des Speiseaufzugs öffnete, stand darin ein gläserner Tank, einen halben Meter breit und einen Meter hoch, und darin wand sich ein gutes Dutzend äußerst aktiver Schlangen, die allesamt darum kämpften, der handbreithoch stehenden Flüssigkeit am Boden des Aquariums zu entkommen.

Eddie sagte zu dem alten Mann neben sich etwas auf Kantonesisch, und der Greis rasselte etwas zurück, das klang, als quälte jemand ein kaputtes Banjo. Die Augen des Alten leuchteten auf, und er fing an, panisch in seinen Hosentaschen herumzuwühlen.

Der Schürzenmann hob den Tank aus dem Speiseaufzug auf den Tresen, dann ging er noch einen Riesentopf Nudeln holen. Ein weiterer Schürzenmann kam die Treppe herauf, gesellte sich zum ersten und schöpfte dampfende Nudeln und Brühe in eine Schüssel.

»Ihr Leutchen wollt diese Schlangen essen, oder?«, flüsterte Sammy Moo ins Ohr.

»Wart’s ab.«

Die alten Männer hatten Geldscheine gezückt und wedelten damit vor dem Nudelmann herum, als wollten sie auf etwas wetten. Der Typ mit der gläsernen Kiste klappte den Deckel auf, und sämtliche Schlangen schnappten nach seiner Hand, verfehlten sie, dann glitten sie in die Flüssigkeit zurück. Er nahm eine besonders lange Kelle, griff damit in den Tank, schöpfte etwas von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit vom Boden, dann goss er diese über die Nudeln, die ihm der andere hinhielt. Darauf brachte der Nudelmann die Schale zu dem verzückten Greis am hintersten Ende vom Tresen und riss ihm einen Zwanzig-Dollar-Schein aus der Hand.

»Schlangenpisse«, sagte Eddie fast kichernd.

Sammy sah sich das Schauspiel gleich noch mal an, als eine Schale mit Nudeln und Pipi an ihm vorüberzog.

»Zwanzig Dollar?«, fragte Sammy. »Zwei Zehner für eine Kelle Schlangenpisse? Wissen diese Typen nicht, dass Krieg ist?«

»Der Krieg ist aus«, sagte Eddie und suhlte sich in Sammys Bestürzung.

»Ja, aber ein anderer Spruch fällt mir dazu nicht ein. Das hier ist die dämlichste von allen dämlichen Aktionen, zu denen du mich je überredet hast.«

Der alte Mann neben Sammy tippte ihm an die Schulter und sagte etwas auf Kantonesisch, wobei er auf seinen Schritt deutete.

»Er sagt, davon kriegst du einen Mordspimmel.«

Der Alte grinste, stand auf und presste sich gegen Sammys Schulter, dann rasselte er wieder was auf Kantonesisch.

»Er meint, davon kriegt man eine Eisenlatte«, übersetzte Eddie. Der Alte boxte Sammy an den Arm. »Er sagt, fühl mal.«

»Ich möchte das nicht fühlen«, sagte Sammy. »Setz dich hin, Opa, bevor ich mich gezwungen sehe, dir deinen letzten Zahn zu lockern. Eddie, sag ihm, er soll sein Ding von mir wegnehmen.«

Eddie tat es, und der Alte tat es, nicht zuletzt deshalb, weil seine Nudeln mit Schlangenpisse kamen, über die er sich umgehend hermachte.

Sammy sah Eddie an. »Es wirkt also?«

»Fühl selbst.«

Sammy wollte aufstehen, doch Eddie schob ihn wieder auf seinen Sitz. »Komm runter. Alte Chinesen essen und trinken die seltsamsten Sachen, um einen Ständer zu kriegen. Je seltsamer und tödlicher, desto besser. Diese Schlangen sind Seeschlangen, die tödlichsten auf der Welt, also kriegt man davon angeblich auch den besten Ständer, aber ich habe sie auch schon mit Korallenottern oder Klapperschlangen gesehen, einmal mit einer Kobra. Je tödlicher, desto besser steifi-steifi.«

»Aber sie zahlen zwanzig Dollar pro Nase, um Pisse zu schlürfen?«

»Zwanzig pro Kelle. Ein paar sehr alte Männer kriegen zwei oder drei Kellen. Es ist gar nicht mal so übel. Die Schlangen kriegen zur Darmreinigung nichts anderes als Bier, bevor sie hier landen.«

»Und wie bringen sie die Schlangen dazu, das Bier zu trinken?«, fragte Sammy.

Moo Shoes zuckte mit den Schultern. »Kostenlose Brezeln?« Breites Grinsen.

»Moo Shoes, du bist ein Knallkopf und ein Milchbart. Ihr, Sir, seid ein Knilchbart.«

Sammy zählte kurz die Männer am langen Tresen ab. Es waren etwa vierzig, alle – bis auf ihn und Eddie – wedelten mit Zwanzigern oder schlürften Schlangenpisse. »Und auf jeder Etage gibt es so einen Tresen?«

»Jep«, sagte Moo. »Das Kochen und Spülen passiert im Keller.«

»Und es ist jeden Abend so? Mit den Schlangen und allem?«

»Nicht immer. Nur wenn sie Schlangen kriegen können. In diesen Glaskästen leben sie nicht lange. Aber ja, wenn es welche gibt, dann sind alle vier Etagen ab Mitternacht vollbesetzt.«

Sammy rechnete das kurz im Kopf durch, kratzte sich am Kinn, dann stand er auf. »Moo, ich muss los.«

»Oje. Sammy, ich wollte dich nicht vertreiben. Du weißt doch, dass ich dir unsere chinesische Kultur nur vorführe, um zu sehen, wie du gwai-lo-Muffensausen kriegst.«

»Nein, das ist es nicht. Ich muss nach Hause. Ich brauch ’ne Mütze voll Schlaf. Morgen früh will ich rüber zu den Docks in Oakland. Ich muss dringend jemanden sprechen.«

»Morgen früh? Vormittags? Im Ernst?« Sie waren Nachtmenschen.

»Ja, ich schaff das schon. Ist ja nicht das erste Mal. Ich glaube, ich habe eine Idee.«

»Okay, Sammy. Danke für die Nudeln. Soll ich mich mal nach diesem Käsemädel umhören?«

»Ja, aber unauffällig. Ich will sie nicht verschrecken.«

Der Greis neben Sammy griff sich in den Schritt und sagte was auf Kantonesisch.

»Er meint, du darfst mal drücken, bevor du gehst«, übersetzte Eddie.

»Sag ihm danke, muss nicht sein«, erwiderte Sammy. »Eddie, kann ich dich mal eben draußen sprechen?«

»Klar«, sagte Moo Shoes. Er folgte Sammy die Treppe hinunter und auf die kleine Gasse hinaus.

»Ich müsste mir mal hundert Dollar borgen«, sagte Sammy.

»Ich sag doch, ich bin pleite.«

»Ja, und ich hab dich auch gedeckt, als du das vor den alten Männern behauptet hast, aber ich habe eine gute Idee, und dafür brauche ich dringend hundert Dollar. Wenn die Sache klappt, bist du mit der Hälfte dabei.«

Eddie warf einen Blick über seine Schulter, dann die Gasse hinunter, bevor er einen Geldclip aus der Hosentasche zog. »Damit bleiben mir noch zehn Dollar für den Rest meines Lebens. Was ist, wenn Lois nachher noch mit mir ausgehen will?«

Sammy nahm das Geld und steckte es ein. Er sagte: »Moo, in Chinatown trifft man doch an jeder Ecke ein junges Püppchen mit Potential, und die Chancen stehen gut, dass sie kochen kann, also rate ich dir als Freund: Überlass Lois Fong den weißen Teufeln und such dir eine andere.«

»Erstens erlauben die meisten chinesischen Familien es nicht, dass ihre Püppchen mit jemandem wie mir was anfangen, weil ich in einem Nachtclub arbeite, und zweitens hast du keine Ahnung, was es bedeutet, einer Frau verfallen zu sein. Aber du wirst es schon noch am eigenen Leib erfahren. Dann reden wir.«

»Gut«, sagte Sammy. »Danke für die Kohle. Ich muss jemanden wegen einer Schlange sprechen.«

3

Der Bengel

Gegen Mittag knallt mir der Bengel ein Kissen an den Kopf, und ich komme zu mir, in einem grässlich grellen Zimmer, trotz der zugezogenen Vorhänge. Eben schlafe ich noch den Schlaf der größtenteils Gerechten, als der Bengel auf mein Bett hüpft, sich auf mich hockt und anfängt, mir einen Sack Federn über die Rübe zu ziehen, als wollte er ein Feuer ausschlagen, wobei er kreischt: »Steh auf, du Wurst (bam!), du Wicht (bam!), du fauler Sack (bam!), du falscher Fuffziger! Komm schon, du Schmock …«

Schon reiße ich ihm das Kissen aus der Hand und hole aus, um ihm mal zu zeigen, wie sich das anfühlt, als mir einfällt, dass er nur ein Bengel ist, und ein eher kleiner noch dazu, und dass es – da ich der Mann im Haus bin – an mir sein sollte, ihm Manieren beizubringen, was sich am besten bewerkstelligen ließe, wenn ich ihn in einen Kartoffelsack einnähen und für ein, zwei Tage in den Keller sperren würde, bis er sich beruhigt hat, doch da streift mein Blick die Uhr auf meinem Apfelsinenkistennachtschränkchen. Es ist kurz nach Mittag (und heute früh war ich schon drüben bei den Docks in Oakland).

»Kleiner«, sage ich, »es ist erst Mittag und keineswegs die vereinbarte Uhrzeit nach drei. Außerdem: Wieso bist du nicht in der Schule? Und schließlich – und denk nicht, es sei weniger wichtig, nur weil ich es als Letztes erwähne, aber: Was, zum Teufel, machst du mit deinen dreckigen Schuhen auf meiner Decke?«

Da hüpft der Bengel vom Bett und rennt zum Sandsack, der im sechseckigen Alkoven meiner kleinen Wohnung hängt, und fängt an, auf den Sack einzuprügeln. Dabei ruft er: »Hab meine Schuhe vorher ausgezogen!«

Und ich gucke hin und tatsächlich: Der Bengel trägt keine Schuhe, aber dafür sind seine Socken so schmutzig, dass sie aus Morast gestrickt sein könnten, und aus jeder Socke ragt vorn ein vormals rosiger, nun dreckstrotzender Zeh. Tatsächlich ist der Bengel bis zu seiner Zeitungsjungenmütze von einer feinen Patina aus Straßenstaub überzogen, wie man sie bei armen Straßenkindern in Romanen von Charles Dickens findet. Er mag neun oder auch zwölf Jahre alt sein – ich weiß es nicht, und ich frage nicht –, aber er ist ein Zwerg und sieht aus wie ein sauertöpfischer kleiner James Cagney. Kurz gesagt: Ein grässlicher Bengel.

»Und es ist Sommer, Dummbatz«, sagt der Bengel. »Da ist keine Schule. Aber ich hab ’ne Nachricht für dich, also könntest du mir ruhig ’nen Bonus zahlen, und versuch nicht, mich auszutricksen, denn mein Onkel Beemus ist bei der Gewerkschaft, und der haut Leuten die Plomben aus der Fresse, wenn ein ehrlicher Bursche nicht anständig bezahlt wird, und außerdem will ich ins Kino. Da läuft ein neuer Film drüben im Alhambra, mit Bogey und dieser dürren Puppe aus Haben und Nichthaben, und angeblich haben sie ihn hier auf dem Telegraph Hill gedreht, also raus mit der Kohle, sonst sag ich dir die Nachricht nicht.«

Ich weiß gar nicht, wie der Bengel darauf kommt, dass ich ihn beauftragt hätte, Nachrichten für mich entgegenzunehmen. Er wohnt mit seiner Ma bei mir im selben Haus, einem alten viktorianischen Bau mit sechs Apartments, nur wenige Blocks von Sals Bar entfernt. Ständig hockt er auf der Treppe vor dem Haus oder lungert im Flur herum, während seine Ma oben einen seiner diversen Onkel zu Gast hat. Der Vater des Jungen ist im Krieg gefallen, und seine Ma habe ich noch nie zu Gesicht bekommen. Sie scheint mit den vielen Onkeln ziemlich beschäftigt zu sein. Wenn sie vielleicht auch keine Professionelle ist, zählt sie doch garantiert zu den eher hart arbeitenden Amateurinnen. Allerdings wäre es auch möglich, dass der Bengel seine Mama schon vor Monaten kaltgemacht und ihre Leiche in der Tiefkühltruhe verstaut hat, obwohl mir das doch eher unwahrscheinlich vorkommt, denn der Bengel ist viel zu klein, um der Hydraulik einer solchen Tat gewachsen zu sein, so gut er auch mit Enthusiasmus und üblen Absichten ausgestattet sein mag.

Jedenfalls stolpere ich eines Morgens vor gut zwei Jahren so gegen sieben Uhr herein, nachdem ich mich in wenig empfehlenswertem Maße dem Verzehr geistiger Getränke und dem Ersinnen von Belustigungen hingegeben habe, als ich auf der Treppe dem Bengel begegne, der gerade auf dem Weg zur Schule ist. Und so sage ich zu ihm: »Hör mal, Kleiner, mein Wecker ist im Eimer, und ich glaube, ich werde heute tief und fest schlafen, da ich sehr müde bin, aber um vier muss ich wieder bei der Arbeit sein, also gebe ich dir einen Quarter, wenn du raufkommst und mich weckst, sobald du aus der Schule wieder da bist. Aber warte, bis ich auf den Beinen stehe.«