Die Biomarkerisierung der Depression - Jonas Rüppel - E-Book

Die Biomarkerisierung der Depression E-Book

Jonas Rüppel

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Beschreibung

Schon lange versuchen Psychiatrie und klinische Psychologie, der Depression auf den Grund zu gehen. In den letzten Jahrzehnten richten sich die Forschungsanstrengungen auf Biomarker, das heißt biologische Parameter, mit denen depressive Erkrankungen greifbar gemacht und im Körper verankert werden sollen. Jonas Rüppel arbeitet mit einem Fokus auf genetische und neurowissenschaftliche Studien heraus, dass diese Suche nach Biomarkern jedoch nicht in der ersehnten körperlichen Fundierung resultiert. Stattdessen mündet die »Biomarkerisierung der Depression« in einer zunehmenden Destabilisierung dieses psychiatrischen Krankheitsbildes. Erkennbar wird ein neues psychiatrisches Dispositiv, das auf eine Dekonstruktion und biowissenschaftliche Neuzusammensetzung der etablierten Krankheitskategorien abzielt: das »postgenomische Prisma«.

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Jonas Rüppel

Die Biomarkerisierung der Depression

Eine Soziologie psychiatrischer Wissensproduktion

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Schon lange versuchen Psychiatrie und klinische Psychologie, der Depression auf den Grund zu gehen. In den letzten Jahrzehnten richten sich die Forschungsanstrengungen auf Biomarker, das heißt biologische Parameter, mit denen depressive Erkrankungen greifbar gemacht und im Körper verankert werden sollen. Jonas Rüppel arbeitet mit einem Fokus auf genetische und neurowissenschaftliche Studien heraus, dass diese Suche nach Biomarkern jedoch nicht in der ersehnten körperlichen Fundierung resultiert. Stattdessen mündet die „Biomarkerisierung der Depression“ in einer zunehmenden Destabilisierung dieses psychiatrischen Krankheitsbildes. Erkennbar wird ein neues psychiatrisches Dispositiv, das auf eine Dekonstruktion und biowissenschaftliche Neuzusammensetzung der etablierten Krankheitskategorien abzielt: das „postgenomische Prisma“.

Vita

Jonas Rüppel, Dr. phil., Psychologe und Soziologe, ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Soziologie und Sozialpsychologie von Krankheit und Gesundheit, den Science and Technology Studies sowie psychoanalytischer Theorie und Praxis.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

1.

Einleitung

1.1

Die Historizität der psychiatrischen Klassifikation und der fehlende Körper

1.2

»Das große Ereignis«? Erste Bluttests der Depression

1.3

Die Suche nach Biomarkern. Sozialwissenschaftlicher Forschungsstand

1.4

Fragestellung

1.5

Aufbau des Buches

2.

Soziologie psychiatrischer Wissensproduktion. Konzeptueller Rahmen und empirisches Vorgehen

2.1

Psychiatrische Forschung als Kultur und Praxis

2.1.1

Psychiatrische Objekte als epistemische Dinge

2.1.2

Klassifikationssysteme und Wissensinfrastrukturen

2.1.3

Erwartungen, Visionen und das biomedizinische Imaginäre

2.1.4

Zusammenführung

2.2

Forschungsdesgin

2.2.1

Datenerhebung

Dokumentenanalyse

Qualitative Expert*innen-Interviews

Fokussierte Ethnographie eines tierexperimentellen Forschungslabors

Konferenzethnographie

2.2.2

Auswertungsstrategien

3.

Major Depression. Zur Geburt eines psychiatrischen Objekts

3.1

Was ist eine Depression? Die aktuelle psychiatrische Klassifikation

3.2

Das DSM und die kategoriale Transformation der Psychiatrie

3.2.1

Dynamische Psychiatrie. Die US-amerikanische Psychiatrie nach 1945

3.2.2

Psychische Krankheit – ein Mythos? Die Psychiatrie in der Kritik

3.2.3

Diagnostische Psychiatrie. Das DSM-III und die operationale Klassifikation

3.2.4

Das Ende der »Feinst-Psychopathologie«. Das DSM und die deutschsprachige Psychiatrie

3.3

Zwischenfazit

4.

Die Versprechen des Biomarkers

4.1

Das Konzept des Biomarkers. Definitionen, Merkmale und Funktionen

4.2

Vision und Versprechen. Biomarker und die Zukunft der Psychiatrie

4.2.1

Personalisierung und Präzisierung. Die Vision der personalisierten Psychiatrie

Das Humangenomprojekt und die Vision der personalisierten Medizin

Vom Gen zum Biomarker: Personalisierte Psychiatrie als postgenomische Systemmedizin

Von der Person zur Präzision: Die Kontroverse um ›echte Personalisierung‹ und die Strategie des Relabeling

4.2.2

Objektivierung und Modernisierung

4.2.3

Beschleunigung und Rationalisierung

4.2.4

Sicherheit und Kontrolle

Negative Prädiktion und unnötige Belastungen

Fehldiagnosen und gefährliche Behandlungen

Prävention und Kontrolle

4.2.5

Destigmatisierung und Anerkennung

4.3

Zwischenfazit

5.

Krankheit und Zeichen. Genealogie und Konjunkturen des Biomarkers

5.1

Praktiken des Ordnens beim Übergang von der Krankenbett- zur Labormedizin

5.1.1

Die Klinik und die epistemologische Reorganisation der Krankheit

5.1.2

Die Labormedizin und das ätiologisch zentrierte Krankheitsmodell

5.2

Konzeptualisierungen und Klassifikationen der »Geisteskrankheiten«. Die Formierung der Universitätspsychiatrie im deutschsprachigen Raum

5.2.1

Geisteskrankheiten als Hirnkrankheiten. Griesinger und die Hirnpsychiatrie

5.2.2

Emil Kraepelins »Formenlehre der Geisteskrankheiten« und das Programm der klinischen Psychiatrie

Die Schriftwaage als Aufzeichnungsapparatur: »Zuverlässige Beobachtungsmittel«

Die Waffen der Naturforschung und die Idee objektiver Krankheitseinheiten

5.3

Spuren des Wahnsinns. Konjunkturen des Biomarkers im 20. Jahrhundert

5.3.1

»The ›pink spot‹ is now dead«. Die Kontroverse um den ersten »diagnostischen Test der Schizophrenie«

5.3.2

»The DST is a promising beginning«. Der Dexamethason-Suppression-Test als erster Biomarker der Depression

5.4

Zwischenfazit

6.

Suchbewegungen I. Das Problem der Heterogenität und die Strategie der großen Zahlen

6.1

»Sample size can overcome heterogeneity«. Die Suchscheinwerfer der psychiatrischen Genetik und das Problem der Heterogenität

6.2

Depression als »Black Box«. Die Dimensionen der Heterogenität und der neue Blick auf die Oberfläche

6.2.1

Ätiologische Heterogenität

6.2.2

Virtuelle Grenzen. Oder: Fehlende Heterogenität

6.2.3

Symptomatische Heterogenität

6.2.4

Die Notwendigkeit guter »phänotypischer Arbeit«

6.3

Metamorphosen des »Heiligen Grals«. Postgenomik und calculative devices

6.3.1

Polygenic Risk Scores und die Grenzen der genetischen Forschung

6.3.2

Jenseits von Geno- und Phänotyp. Multiprofiling und die Relativierung tradierter Dichotomien

6.3.3

Algorithmische Informationsverdichtung. Biomarker-Panel und Künstliche Intelligenz

6.4

Neue Ungleichheiten. Der Wert der Daten und der Imperativ der Vernetzung

6.5

Zwischenfazit

7.

Suchbewegungen II. Das Problem der Kausalität und die Strategie der Intervention

7.1

»Ich habe lieber Biomarker, die man auch versteht.« Das Verhältnis von Biomarkern und Krankheitsmechanismen

7.2

»Wir kommen an dieses Organ nicht ran.« Von der Unzugänglichkeit des Gehirns und der Unzulänglichkeit des Blutes

7.3

Über den »Umweg« der Tiere. Rationalitäten und Praktiken einer tierexperimentellen Biomarker-Forschung

7.3.1

»Saubere Kollektive«. Nutzen und Funktionen von Tiermodellen

7.3.2

»…dass Ratten auch nur Menschen sind.« Das epistemische Gerüst der Tiermodelle und die Grenzen der Standardisierung

Der Forced Swim Test (FST)

Gute Tiermodelle: Dimensionen der Validität

Das »Social Defeat«-Modell

Das epistemische Gerüst der tierexperimentellen Forschung

Stress und die Grenzen der Standardisierung

7.3.3

»Es gibt kein Tiermodell der Depression.« Tierexperimentelle Forschung als Avantgarde transdiagnostischen Denkens

7.4

Zwischenfazit

8.

Eine Dekonstruktion der Depression? Vom DSM-ICD-System zur Research Domain Criteria-Matrix

8.1

Das »epistemische Gefängnis«. Die Revision des DSM und die Krise der psychiatrischen Klassifikation

8.1.1

Die Hoffnung auf ein neues Klassifikationssystem

8.1.2

Das Problem der Reifizierung und die Notwendigkeit der Befreiung

8.1.3

Das DSM-5: Zwischen Paradigmenwechsel und Enttäuschung

8.2

»Sidestepping the issue of a gold standard«. Research Domain Criteria (RDoC) als neues infrastrukturelles Regime

8.2.1

Die RDoC-Matrix

8.2.2

RDoC vs. DSM-5

8.2.3

RDoC und die infrastrukturelle Inversion der Psychiatrie

8.3

Die Matrix bewohnen – Heterogenität affirmieren. Die Praxis der RDoC-Forschung

8.3.1

Das Vorbild: »Bipolar–Schizophrenia Network for Intermediate Phenotypes«

8.3.2

Biotypen des Angst-Depression-Spektrums

8.4

Die Kontroverse um RDoC

8.4.1

Infrastrukturelle Entkoppelung und die Frage der klinischen Relevanz

8.4.2

Zwischen hirnzentriertem Reduktionismus und neutraler Integration

8.5

RDoC und die Krise der psychiatrischen Identität

8.6

Zwischenfazit

9.

Das postgenomische Prisma. Konturen eines psychiatrischen Dispositivs

9.1

Richtige Farben. Heterogenität und das Konzept des Spektrums

9.2

Komplexität, Integration und Techno-Somatisierung

9.3

Unvoreingenommener Blick und lebendige Klassifikation

9.4

Von der Biomarkerisierung zur postgenomischen »Designation«?

9.5

Revolution und Konservation. Die alte neue Logik der Spezifität

9.6

Ein Ende des »Biomarker-Traums«? Gegenbewegungen und Kritik

10.

Schluss

Historische und konzeptuelle Voraussetzungen: Operationale Klassifikation und diskrete Krankheitsentitäten

Die Versprechen des Biomarkers und die Politik der Erwartungen

Die Strategie der großen Zahlen und die Netzwerke der globalen Psychiatrie

Die Strategie der Intervention, die Praktiken der Zerlegung und das neue infrastrukturelle Regime

Das postgenomische Prisma und seine Gegenbewegungen

Soziologie psychiatrischer Wissensproduktion

Ausblick: Findet die Jagd ein Ende?

Abbildungen

Tabellen

Literatur

Dank

1.Einleitung

Im Jahr 2001 legte die Weltgesundheitsorganisation (WHO 2001a) einen Bericht vor, der international große Aufmerksamkeit auf sich zog. Im Fokus stand die darin formulierte Feststellung, dass die Depression inzwischen zu jenen Krankheiten gerechnet werden müsse, unter denen die Menschheit am meisten leide. Nur drei Krankheiten würden weltweit mit einer größeren Krankheitslast einhergehen, das heißt das Leben der Menschen durch einen früheren Tod oder durch Lebensjahre, die von Krankheit oder Behinderung bestimmt sind, in noch stärkerem Maße beeinträchtigen. Die negativen Folgen depressiver Erkrankungen für die Lebensqualität der Menschheit übersteigen demnach nicht nur die aller anderen psychischen Störungen, sondern auch die der meisten körperlichen Erkrankungen. Obwohl schon diese Feststellung Besorgnis erregte, sollte das von der WHO entworfene Zukunftsszenario noch dramatischer sein:

»By the year 2020, if current trends for demographic and epidemiological transition continue, the burden of depression will increase to 5.7% of the total burden of disease, becoming the second leading cause of DALYs [disability-adjusted life years, JR] lost. Worldwide it will be second only to ischaemic heart disease for DALYs lost for both sexes. In the developed regions, depression will then be the highest ranking cause of burden of disease.« (Ebd.: 30)

Auch die World Health Assembly, das höchste Gremium der Weltgesundheitsorganisation, sah im Zuge dieses Berichts dringenden Handlungsbedarf und verabschiedete noch im selben Jahr einen »Call for Action« (WHO 2001b). Die an der WHO beteiligten Regierungen verpflichteten sich, der problematisierten Entwicklung entgegenzuwirken, indem sie einen flächendeckenden Zugang zu angemessenen psychiatrischen Präventions- und Therapieangeboten schaffen (ebd.: 13). Der Erhalt und die Wiederherstellung der »seelischen Gesundheit« gelten seither fast einhellig als »gesamtgesellschaftliche Aufgaben«, die durch verschiedene Initiativen und Projekte zu erfüllen sind (z.B. Weber et al. 2006: 169). In Deutschland wurde in der Zwischenzeit die Stiftung Deutsche Depressionshilfe ins Leben gerufen, die sich durch Aufklärungskampagnen um eine bessere Sichtbarkeit und größere Anerkennung dieser Erkrankung bemüht. Mit dem »Bündnis gegen Depression«, das heute regionale Initiativen in allen größeren deutschen Städten umfasst, setzt sich die Stiftung darüber hinaus direkt für eine bessere medizinische und psychotherapeutische Versorgung der Betroffenen ein. Trotz des Beschlusses der WHO und verschiedener Initiativen auf nationaler und internationaler Ebene (z.B. European Alliance Against Depression), die auf eine Steigerung der seelischen Gesundheit hinwirken, scheint sich die Anfang der 2000er Jahre artikulierte Befürchtung inzwischen tatsächlich bewahrheitet zu haben. Bereits im Jahr 2015, so stellt die WHO (2017: 5) fest, haben weltweit etwa 322 Millionen Menschen unter depressiven Erkrankungen gelitten. Depressionen beeinträchtigen die Lebensqualität der Menschen damit heute stärker als jede andere psychische oder körperliche Krankheit (siehe auch Friedrich 2017).1

In den letzten zwei Jahrzehnten wurden diese alarmierenden Meldungen in der medialen Öffentlichkeit vielfach aufgegriffen und hat sich in den Sozial- und Kulturwissenschaften ein breiter Diskurs um die Zunahme depressiver Erkrankungen entfaltet. In sozialwissenschaftlichen Untersuchungen wird dieser Anstieg zumeist als ein Symptom gedeutet, das auf gesellschaftliche Probleme und Fehlentwicklungen verweist: auf eine Entgrenzung der Wettbewerbsgesellschaft oder eine neoliberale Transformation der kapitalistischen Produktionsweise (z.B. Summer 2008, Heidbrink 2012, Neckel und Wagner 2013, kritisch dazu Dornes 2016), eine zunehmende Subjektivierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse (z.B. Haubl 2013, Keupp und Dill 2010, Voß und Weiß 2014) oder eine intensivierte Beschleunigung und Optimierung (z.B. Rosa 2011, King et al. 2018). In diesen Studien tritt mithin ein »überforderte[s] Subjekt« (Fuchs et al. 2018) in Erscheinung, das von den Transformationsprozessen der Gegenwartsgesellschaft vor sich her getrieben wird und letztlich unter ihrem Druck zusammenbricht. Um diesem psychischen Leid angemessen zu begegnen, so legen diese Studien nahe, sei es dringend geboten, den zugrunde liegenden gesellschaftlichen Entwicklungstrends entgegenzutreten (einen Überblick liefert Abels 2015: 22-42).

Von medizinischer und klinisch-psychologischer Seite wird dieser sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostik zumeist mit Skepsis begegnet. Als im November 2019 der Direktor der Frankfurter Universitätspsychiatrie, Andreas Reif, auf einer öffentlichen Veranstaltung die Frage diskutierte, ob die Menschheit vor einer »Depressions-Epidemie« steht, wies er diese Vermutung dementsprechend ebenso vehement zurück wie seine beiden anwesenden Kolleg*innen.2 Die Annahme, dass »Depressionen durch das moderne Leben verursacht werden«, so machte er klar, müsse als weit verbreiteter »Mythos« begriffen werden. Durch die Befunde empirischer Untersuchungen seien solche dramatisierenden Meldungen jedenfalls nicht gedeckt (vgl. Hardy 2019). Tatsächlich dokumentieren die Berichte deutscher Krankenversicherungen in den letzten Jahren zwar eine steigende Zahl von Depressions-Diagnosen, die in ärztlichen und psychotherapeutischen Praxen gestellt und abgerechnet werden – verbunden mit steigenden Arbeitsausfällen (z.B. DAK 2019). Dies belege entgegen der verbreiteten Auffassung jedoch nicht, dass der an Depression erkrankte Anteil der Bevölkerung auch tatsächlich zugenommen hat. Von medizinischer und psychologischer Seite werden daher regelmäßig Alternativerklärungen für dieses Phänomen formuliert. So könne der sich in den Daten der Versicherungen abzeichnende Trend auch darauf zurückzuführen sein, dass Personen mit depressiven Symptomen in den letzten Jahren vermehrt professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. In diesem Fall würde also nicht die Verbreitung depressiver Erkrankungen ansteigen, sondern vielmehr ein Leid sichtbar werden, das bislang unerkannt geblieben ist. Die Zunahme entsprechender Diagnosen wäre in diesem Fall keineswegs Besorgnis erregend. Sie würde stattdessen die erfreuliche Tendenz anzeigen, dass betroffene Personen endlich die notwendige medizinische oder therapeutische Unterstützung erhalten.

Begründet wird diese Argumentation in der Regel unter Rekurs auf epidemiologische Untersuchungen, die im Gegensatz zu den Daten der Krankenversicherungen ein repräsentatives Bild der Verbreitung einer Krankheit liefern sollen. In Deutschland wird die 12-Monats-Prävalenz der Depression, das heißt der Anteil der Bevölkerung, der in einem Jahr die Kriterien dieser Erkrankung erfüllt, auf Grundlage solcher Studien auf knapp 7 bis etwa 9 Prozent geschätzt (z.B. Spießl et al. 2006, Jacobi et al. 2014, Hapke et al. 2019). Hinsichtlich einer möglichen historischen Veränderung ist die Datenlage nicht einheitlich. Insgesamt legen die epidemiologischen Befunde jedoch nahe, dass in den letzten Jahren und Jahrzehnten kein oder zumindest kein dramatischer Anstieg depressiver Erkrankungen zu beobachten ist. Die Prävalenz der Depression scheint stattdessen sowohl in Deutschland als auch international relativ konstant zu sein (einen aktuellen Überblick liefern Handerer et al. 2018, zu psychischen Störungen allgemein Richter et al. 2008).3 Die eingangs zitierten Befunde der Weltgesundheitsorganisation werden von Epidemiolog*innnen dadurch relativiert, dass die zwischen 1990 und 2010 gestiegene Krankheitslast auch durch das zwischenzeitliche Bevölkerungswachstum sowie eine veränderte Altersstruktur, letztlich also durch eine erhöhte Lebenserwartung, erklärt werden könnte. Bezieht man diese Variablen in die Berechnungen mit ein, ließen auch die Daten der WHO nicht auf eine steigende Prävalenz der Depression schließen (Ferrari et al. 2013).

1.1Die Historizität der psychiatrischen Klassifikation und der fehlende Körper

Die beiden Parteien der skizzierten Debatte – die kritisch-sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostiker*innen auf der einen und die epidemiologisch argumentierenden Psycholog*innen und Mediziner*innen auf der anderen Seite – scheinen trotz einer Reihe theoretischer und methodischer Divergenzen doch mindestens in einer Prämisse übereinzustimmen. Beide Argumentationslinien setzen implizit voraus, dass die im Fokus stehende Krankheit über die Zeit hinweg konstant bleibt. Die Depression wird somit als eine stabile Entität begriffen, die sich in den letzten Jahren entweder rasant in der Bevölkerung ausgebreitet oder diese schon immer durchzogen hat, in ihrem Ausmaß jedoch bislang unerkannt geblieben ist.

Schon ein kurzer Blick auf die Geschichte der Psychiatrie macht jedoch deutlich, dass die Klassifikationsweisen und Konzeptualisierungen psychischer Erkrankungen im Laufe der Zeit erheblich variieren. Wie die Depression zum Gegenstand wissenschaftlicher und therapeutischer Praktiken gemacht wird, unterliegt historischen Transformationsprozessen. Nimmt man diese Historizität ernst, hat diese Einsicht erhebliche Konsequenzen – nicht zuletzt für die Debatte um den Anstieg depressiver Erkrankungen. So sind auch die Daten epidemiologischer Studien konstitutiv an die zum jeweiligen Zeitpunkt etablierten Messinstrumente, diagnostischen Kategorien und Denkweisen gebunden und von einer Vielzahl soziokultureller, politischer und technologischer Bedingungen abhängig. Eine Analyse historischer Trends ist somit prinzipiell mit Unwägbarkeiten und systematischen Begrenzungen konfrontiert (siehe Desrosières 2005, Hoeyer et al. 2019).

Der Soziologe Alain Ehrenberg (2008), dessen Studie »Das erschöpfte Selbst« als zentraler Ausgangs- und Bezugspunkt der zeitdiagnostischen Debatte gelten kann, hat der historischen Variabilität psychiatrischer Kategorien explizit Rechnung getragen – eine Besonderheit, die in der sozialwissenschaftlichen Debatte häufig übergangen wird.4 Vergleichbar mit anderen soziologischen Beiträgen konstatiert Ehrenberg einen normativen Wandel, der sich seit den 1960er Jahren in westlichen Gesellschaften vollzogen habe. Das »disziplinarische Modell der Verhaltenssteuerung« (ebd.: 14), in dem die Individuen ihre gesellschaftliche Rolle weitgehend durch Tradition vorbestimmt sahen und Normabweichungen autoritär sanktioniert wurden, habe in diesem Zeitraum an Bedeutung verloren. An seine Stelle sei ein »Handlungsregime der autonomen Existenzweise« getreten, wie es Ehrenberg (2019: 394) in einer späteren Buchpublikation nennt. Die Individuen seien verstärkt mit der Erwartung konfrontiert, die Initiative zu ergreifen und ihre individuellen Lebensmöglichkeiten auszuschöpfen. In diesem neuen Regime leide das Subjekt zwar nicht mehr so sehr unter Verboten und Zwängen, dafür jedoch unter den neuen Imperativen der Autonomie und der individuellen Selbstverwirklichung. Weil die Handlungsmöglichkeiten des Individuums immer auf faktische Begrenzungen stoßen, lebe es letztlich mit einer permanenten »Spannung zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen« (Ehrenberg 2008: 19). Die daraus resultierende »Tragödie der Unzulänglichkeit« (ebd.: 22-23) finde in der Depression ihren paradigmatischen Ausdruck.

Die bereits angedeutete methodische Besonderheit Ehrenbergs besteht nun darin, dass er nicht nur diesen sozialen Bedingungen depressiven Leidens nachgeht, sondern seine Analyse gesellschaftlicher Transformationsprozesse ausdrücklich mit einer »Geschichte des psychiatrischen Begriffs der Depression« (ebd.: 15) verschränkt. Oder mehr noch: Im Fokus seiner Analyse stehen Verschiebungen im Feld psychiatrischer Konzepte und Reflexionsweisen, weil diese Rückschlüsse auf die normativen Strukturen der Gesellschaft und die zeitgenössische Subjektivität zulassen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die psychoanalytisch fundierte Kategorie der Neurose, dessen Ursache in unbewussten Schuldkonflikten gesehen wurde, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Bedeutung verloren hat. Abgelöst wurde sie durch die Kategorie der Depression, die tendenziell als Resultat eines Defizits oder Mangels gedacht wird. Zwar verweist auch Ehrenberg auf die quantitative Zunahme depressiver Erkrankungen, um sein Argument zu untermauern; der Fokus seiner Analyse liegt jedoch auf eben dieser qualitativen Verschiebung in der Art der kollektiven Leidenserfahrung, die in der zunehmenden Bedeutung der Depression im psychiatrischen Diskurs zum Ausdruck komme. Es ist die Korrespondenz zwischen normativen Veränderungen auf der einen und Verschiebungen des psychiatrischen Diskurses auf der anderen Seite, die im Zentrum der Ehrenberg’schen Analyse steht und dessen Stärke ausmacht.

»Das Zusammentreffen der Dynamik der Emanzipation, die das Individuum von der Disziplin und vom Verbot befreit, und der internen Wandlungen der Psychiatrie, die praktische Antworten auf die Probleme lieferten, die diese Befreiung hervorgerufen hatte, weist auf einen gewandelten Stil der Verzweiflung hin. Der Niedergang der Neurose zugunsten der Depression ist sicher das Ende einer Psychiatrie, aber auch einer kollektiven Erfahrung der Person, die sich zugleich in der disziplinarischen Unterwerfung und im Konflikt ausdrückte. Darin liegt eine Veränderung in der Subjektivität der Modernen.« (Ebd.: 214)

Dass die psychiatrischen Kategorien überhaupt als Reflexionen einer »kollektiven Erfahrung« (ebd.: 214) analysiert werden können und einen Einblick in historisch-spezifische Formen des Leidens vermitteln, gründet nach Ehrenberg nicht zuletzt in dem Umstand, dass der Psychiatrie eindeutige und objektive Zeichen fehlen, an denen die von ihr behandelten Krankheiten abzulesen wären. Psychiatrische Kategorien wie Depression können gerade deshalb als ein »Laboratorium für die Ambivalenzen einer Gesellschaft« (ebd.: 20) begriffen werden, weil die Psychiatrie ihre Krankheiten im Gegensatz zu allen anderen medizinischen Disziplinen »nicht in einem bestimmten Bereich des Körpers lokalisier[en]« (ebd.: 25) kann. Sie ist daher darauf angewiesen, eine Sprache zu entwickeln, die die jeweiligen Leidenserfahrungen der Individuen aufgreift und bezeichnet. Letztlich profitiert die Ehrenberg’sche Analyse also von einem Phänomen, das die Psychiatrie seit ihren Anfängen als eines ihrer größten Probleme begreift:

»Die Psychiatrie kann nicht wie andere medizinische Disziplinen die Krankheitszeichen sicher am Körper eines Kranken, in seinem Blut oder in seinem Urin erkennen. Die gesamte Geschichte dieser Disziplin wird daher von einer quälenden Frage durchdrungen: Wie objektiviert man das Subjektive?« (Ebd.: 25)

Einen Blick auf die historischen Voraussetzungen dieser »quälenden Frage« eröffnet eine Analyse des französischen Philosophen und Psychologen Michel Foucault (2015), die dieser in seiner Vorlesung zur »Macht der Psychiatrie« aus dem Jahr 1973/1974 dargelegt hat. Im Hinblick auf die frühe Psychiatrie des 19. Jahrhunderts stellte er fest, dass der organische Körper in dieser offensichtlich fehlte. Während das medizinische Denken und Handeln in anderen medizinischen Disziplinen bereits um differenzierte Krankheiten organisiert war, die im Körper der Betroffenen lokalisiert und verankert wurden, habe sich die Psychiatrie noch immer in einem »binären Gebiet« (ebd.: 387) bewegt. Ihre Kernfrage war nicht, welche »Geisteskrankheit« im Einzelfall vorliegt und welche Ursachen und Prozesse dieser zugrunde liegen, sondern, ob es sich im jeweiligen Fall überhaupt um »Wahnsinn« handelt oder nicht. Insbesondere habe die Psychiatrie im Gegensatz zu anderen medizinischen Disziplinen nicht über »Verifikationsverfahren« (ebd.: 389) verfügt, die es ihr erlaubt hätten, die von ihr beschriebenen Krankheiten im Körper der Patient*innen zu lokalisieren. Die diagnostische Praxis beschränkte sich stattdessen auf Taktiken und Manöver der Befragung, die auf eine »absolute Diagnose« (ebd.: 387) zuliefen – einen Akt der Unterscheidung, in dem gleichzeitig der »Wahnsinn als Wirklichkeit und der Psychiater als Arzt« (ebd.: 391) inthronisiert wurden.5 Letztlich stand also die »absolute Diagnose« der Psychiatrie der »Differentialdiagnose« der anderen medizinischen Disziplinen gegenüber. Wichtig ist dabei, dass nur solchen Krankheiten der Status von »richtigen, soliden Krankheiten« (ebd.: 443) zugesprochen wurde, die mittels »Verifikationsverfahren« im anatomischen und physiologischen Körper verankert und Gegenstand einer solchen Differentialdiagnostik waren. Die »einzig wirkliche Medizin« war eben diese »Medizin der Differentialdiagnostik« (ebd.: 447), sodass sich die Psychiater*innen nicht zu den »wahren und ernsthaften Ärzten« (ebd.: 443) zählen konnten. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass die Psychiatrie seit ihren Anfängen darum bemüht war, diesen Zustand zu ändern. Im Hinblick auf entsprechende Versuche im Laufe des 19. Jahrhunderts hebt Foucault die existentielle Bedeutung dieser Bestrebungen wie folgt hervor:

»[M]an [wird] in jenem Augenblick in der Lage sein und versuchen, endlich die Mechanismen des Wahnsinns in ein System des differentiellen Wissens einzuordnen, in eine Medizin, die sich wesentlich auf die pathologische Anatomie oder Physiologie gründet – diese Einzeichnung, dieser Versuch der Einzeichnung in eine allgemeine medizinische Symptomatologie, die sich bislang durch das Fehlen einer Differentialdiagnose am Rand gehalten hatte, das wird das große Ereignis sein.« (Ebd.: 418)

Seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert hat die Psychiatrie zweifelsohne vielfältige Transformationsprozesse durchlaufen. Foucault weist etwa darauf hin, dass sich die »Geisteskrankheiten« und die »wirklichen Krankheiten« (ebd.: 443) – also jene »Krankheiten, die eine differenzielle Zuordnung und einen anatomisch-pathologischen Bezug« (ebd.: 444) haben – inzwischen nicht mehr so eindeutig gegenüberstehen, wie dies zunächst der Fall gewesen war. In den letzten 200 Jahren hätten sich vielmehr »Zwischenstufen« (ebd.: 444) herausgebildet, zu denen Foucault insbesondere die Hysterie zählt. Diese weise eine stabile Symptomatik auf und erlaube in Verbindung mit dem ätiologischen Konzept des psychischen Traumas zumindest eine gewisse Spezifikation (ebd.: 447-461).6 Der Psychiatrie sei es in dem von Foucault beobachteten Zeitraum dennoch nicht gelungen, dieselbe Form der »Differentialdiagnostik zur Geltung zu bringen« (ebd.: 443), die in den Bereichen der »Organmedizin« beobachtet werden kann. Sie verfüge weiterhin nicht über jene »Verifikationsverfahren«, mittels derer die anderen medizinischen Disziplinen die von ihnen differenzierten Krankheiten im Körper verankern. Das antizipierte »große Ereignis« (ebd.: 418) ist demnach ausgeblieben.

In den letzten Jahren sind im Feld der Psychiatrie verstärkte Bestrebungen zu verzeichnen, diesen Zustand zu ändern. Diese mit dem Begriff des Biomarkers verbundenen Forschungsbemühungen, deren Voraussetzungen und Effekte bilden den Gegenstand der vorliegenden Studie. Einen ersten Eindruck der gegenwärtigen Dynamik sowie der Hoffnungen, die mit der Suche nach Biomarkern verbunden werden, vermitteln zwei Ereignisse, die Anfang der 2010er Jahre im Bereich der Depressionsforschung zu beobachten waren und ich im nächsten Abschnitt skizzieren werde.

1.2»Das große Ereignis«? Erste Bluttests der Depression

Im Jahr 2011 hat das in Kalifornien ansässige Biotech-Unternehmen Ridge Diagnostics bekanntgegeben, den »First Depression Blood Test« entwickelt zu haben.7 Folgt man empirischen Studien, die in der einflussreichen Zeitschrift Molecular Psychiatry (Papakostas et al. 2013) sowie dem Journal of Clinical Psychiatry (Bilello et al. 2015) erschienen sind, verspricht dieser unter dem Namen MDDScore™ vermarktete Test erstmals eine objektive Diagnose der Depression. Grundlage dieses Tests ist eine Analyse der Blutkonzentration von neun Biomarkern (Proteinen und Hormonen), deren gemeinschaftliche Betrachtung eine Unterscheidung zwischen depressiven und nicht-depressiven Personen erlaube. Die Genauigkeit des MDDScore™ sei mit der von diagnostischen Tests vergleichbar, die in anderen medizinischen Disziplinen (z. B. der Kardiologie) zum Einsatz kommen. Bereits zwei Jahre zuvor kommentierte Lonna J. Williams, damals CEO von Ridge Diagnostics, den Stellenwert des Bluttests sowie dessen medizinische und ökonomische Potenziale bei einer Anhörung vor dem U.S. House of Representatives8 wie folgt:

»Our technology, the first to provide biologically based results in the area of mental health medicine, is a break-through, first in-class innovation that could positively change the management of mental health disorders (…). I ask you not to underestimate the size and scope of this particular area of medicine and the problems to be solved. With approximately 20 million adults and 6 million teens suffering from depression each year in the US, more than AIDS, cancer or cardiovascular disease, the cost to employers currently exceeds $43 billion dollars a year in lost or compromised work hours and the cost to health insurers exceeds the employers’ loss per patient due to the high level of consumption of services through mis-diagnosis and excessive resource utilization related to the trial and error associated with diagnosis, medication selection and treatment options.« (Williams 2011: 2)

Der Test könne zur Lösung der sich abzeichnenden »health care crisis« (ebd.: 3) beitragen, indem er eine präzisere Diagnostik ermögliche. Mit den bislang zur Verfügung stehenden Verfahren, die ausschließlich auf Gesprächen und Fragebögen basieren, würden mehr als 50 Prozent der »actual cases of depression« (ebd.: 3) nicht als solche erkannt werden. Der MDDScore™ habe das Potenzial, diesen Missstand insbesondere in solchen Bereichen der primären Gesundheitsversorgung zu beheben, wo keine Spezialist*innen für psychische Erkrankungen tätig sind. Als ein weiteres Einsatzfeld dieses Bluttests verweist Ridge Diagnostics auf das Militär, da die dort tätigen Personen zwar unter besonderen Belastungen stehen, jedoch nur wenig über ihr eigenes Erleben sprechen würden:

»We have had a research proposal before the Army for over a year to test active duty servicemen and servicewomen in hopes of detecting depression in these stoic individuals who do not talk about their feelings so that we can assist in reducing the extraordinarily high suicide rate associated with this war.« (Ebd.: 3)

Durch eine korrektere Diagnostik in diesen schwierigen Fällen, so die hier formulierte Erwartung, könne dieser neue Bluttest sogar Leben retten. Indem er das ›heldenhafte‹ Schweigen der Betroffenen umgeht, könne er das verborgene Leid sichtbar machen und dabei helfen, Selbsttötungen durch frühzeitige Interventionen zu verhindern.

Ungeachtet dieser Bekanntmachungen von Ridge Diagnostics beanspruchten im Jahr 2014 auch Wissenschaftler*innen der Northwestern University in Chicago (Redei et al. 2014), den ersten Bluttest zur Diagnose einer Depression entwickelt zu haben. Auch sie reklamierten, dass ihr Test erstmals eine »objektive, wissenschaftliche Diagnose« dieser Krankheit erlaube.9 Über eine solche Diagnostik hinaus könne auf Grundlage der erfassten Marker zudem die Effektivität einer bestimmten Form der Psychotherapie – einer kognitiven Verhaltenstherapie – vorhergesagt werden. In der klinischen Praxis könne der Test daher auch herangezogen werden, um die Behandlung auf den Einzelfall abzustimmen. Eva Redei, Professorin für Psychiatrie und Leiterin der Arbeitsgruppe, erläuterte den wissenschaftlichen Hintergrund und die Perspektiven des entwickelten Biomarker-Tests in einem kurzen Werbefilm wie folgt:

»We developed a blood test for depression. This blood test is a laboratory-based blood test that can be done in any clinical laboratory. This would bring psychiatry into the 21th century. I’ve been working on this project for 16 years or more. The basis of it was to belief that blood can show the differences of many illnesses. And I believed that depression is an illness just like any other. (…) The patients were treated with cognitive behavioral therapy and the blood samples showed when therapy was effective and also when it wasn’t. So this is the first time that there is a biological measure that can objectively show the effectiveness of psychotherapy. And therefore, it is the beginning of personalized medicine in depression.«10

Folgt man diesen Ausführungen, handelt es sich bei der Einführung dieses Bluttests nicht nur um eine wertvolle klinische Innovation, sondern auch um eine historische Zäsur. Er markiert demnach den Übergang der Psychiatrie ins 21. Jahrhundert und den Beginn einer neuen Ära der psychiatrischen Praxis, die hier mit dem Begriff der personalisierten Medizin belegt wird. Unter Nutzung solcher Testverfahren könne die Behandlung zukünftig an den individuellen Charakteristika der Patient*innen ausgerichtet und dadurch zugleich in ihrer Effektivität gesteigert werden. Immer wieder verweisen die beiden Arbeitsgruppen auf die weltweite Zunahme depressiver Erkrankungen – eine Tendenz, zu deren Einhegung ihre technologischen Innovationen entscheidend beitragen könnten (Redei et al. 2014: 1, Bilello et al. 2015: e199).

Unter Rekurs auf Foucault (2015: 418) könnte konstatiert werden, dass mit diesen beiden Bluttests in der jüngeren Vergangenheit doch noch jenes »große Ereignis« eingetreten ist, das schon im 19. Jahrhundert erwartet worden war. Mittels dieser neuen »Verifikationsverfahren« scheint die Depression erstmals im organischen Körper der Betroffenen verankert und »in ein System des differentiellen Wissens« (ebd.: 418) eingeführt worden zu sein, das sich auf die Technologien und Erkenntnisse der zeitgenössischen Biomedizin stützt. Im Gegensatz zum Ausgangspunkt der Ehrenberg’schen Analyse (2008: 25) scheint die Psychiatrie nun doch ihre »Krankheitszeichen sicher am Körper eines Kranken, in seinem Blut oder in seinem Urin erkennen« zu können.

1.3Die Suche nach Biomarkern. Sozialwissenschaftlicher Forschungsstand

Die beiden skizzierten Bluttests sind keine singulären Phänomene, sondern verweisen auf die intensivierte Suche nach und steigende Bedeutung von Biomarkern im Feld der Psychiatrie, die den Gegenstand dieses Buches bildet. Dieser aktuelle »pursuit of biomarkers« (Goldberg und Rush 2017: 1417, auch Bilello 2016) hat zwar einige Resonanz in populärwissenschaftlichen Medien und einschlägigen Wissenschafts-Blogs entfaltet (z.B. Wolf 2011, Online 2011/2013, Kaplan 2011, Almendrala 2014, Main 2014). Ihm ist jedoch bei weitem nicht die Aufmerksamkeit zuteilgeworden, die der (vermeintliche) Anstieg depressiver Erkrankungen in der Öffentlichkeit auf sich gezogen hat. Dies betrifft auch die sozialwissenschaftliche Forschung. International existieren nur äußerst wenige Studien, die die Suche nach Biomarkern zum Gegenstand theoretischer Reflexionen oder empirischer Untersuchungen gemacht haben.

Zu den ersten Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen, die auf diesen »large shift towards incorporating biomarkers into psychiatry« hingewiesen haben, gehören die Ethikerin Ilina Singh und der Soziologe Nikolas Rose (2009: 202). Sie befürchten, dass es im Zuge der Implementierung von Biomarkern nicht nur zu Übergeneralisierungen und Simplifizierungen des damit verbundenen Wissens, sondern auch zu handfesten Missverständnissen kommen könnte. Ihre Sorge richtet sich dabei vor allem auf solche Biomarker-Tests, die zur Prädiktion zukünftiger Krankheiten, Eigenschaften oder Verhaltensweisen dienen. Sollten Tests eingeführt werden, die etwa schon im Kindesalter das Risiko für sozial abweichendes Verhalten in späteren Lebensjahren anzeigen, könnte dies eine Normalisierung psychopharmakologischer Interventionen nach sich ziehen – und zwar nicht nur zum Zweck der Therapie, sondern auch zu dem der Prävention. Soziale Bedingungen und Umweltfaktoren, die die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung psychischer Erkrankungen und devianter Verhaltensweisen ebenso beeinflussen wie etwaige biologische Variationen, könnten wiederum aus dem Blickfeld von Forschung und Praxis verschwinden (ebd.: 204, siehe auch Singh et al. 2014). Singh und Rose werfen zudem die Frage auf, welche Effekte die Verfügbarkeit von Biomarker-Tests für individuelle und kollektive Identitäten sowie für die Lebensgestaltung der Betroffenen entfalten könnte. Vor dem Hintergrund von Erfahrungen und Befunden aus angrenzenden Forschungsgebieten sind solche Folgewirkungen psychiatrischer Biomarker-Tests zwar durchaus wahrscheinlich; ob sich diese tatsächlich abzeichnen, wurde bislang jedoch nicht empirisch untersucht. Singh und Rose haben daher dazu aufgerufen, dem »›social life‹ of biomarker information« (ebd.: 204) nachzugehen. Es solle etwa untersucht werden, wie Biomarker hervorgebracht werden, wie ihnen von verschiedenen Akteuren Wert und Bedeutung beigemessen wird und wie diese Objekte in der Gesellschaft zirkulieren (zum Konzept des sozialen Lebens von Dingen siehe Appadurai 2012). Auch wenn die Überführung von Biomarkern in die klinische Praxis nur in wenigen Bereichen der Psychiatrie kurz bevorstehe, sei es doch schon heute notwendig, die Forschung in diesem Bereich zum Gegenstand empirischer Studien zu machen:

»Such a programme of research should accompany current scientific research on biomarkers, even if these studies are not yet seeking translational outcomes. Because the expectations around biomarkers are so high, it is possible that any translational applications will be quickly implemented, without time for deliberation over the social and ethical issues.« (Ebd.: 204)

Während Singh und Rose vor allem aktuelle Entwicklungstrends beschrieben und sozialwissenschaftlichen Forschungsbedarf aufgezeigt haben, ist die Medizinanthropologin Margaret Lock (2013b) den Praktiken und Prozessen der Biomarker-Forschung auch empirisch nachgegangen. Im Rahmen einer ethnographischen Studie hat sie sich ausführlich mit der Suche nach Biomarkern im Bereich der Alzheimer-Forschung auseinandergesetzt. Kennzeichnend für die von ihr fokussierte Alzheimer-Krankheit sind spezifische Veränderungen im Hirn, sog. Amyloid-Plaques und neurofibrilläre Tangles. Diese neuropathologischen Auffälligkeiten sind zum einen mit einer verbreiteten ätiologischen Theorie verknüpft, die der aggregierenden Ablagerung von Amyloid eine ursächliche Rolle bei der Entstehung von Alzheimer zuschreibt. Zum anderen gelten sie als »Goldstandard« der Alzheimer-Krankheit, der diese von anderen demenziellen Zuständen eindeutig unterscheidet. Da diese neuropathologischen Veränderungen – die Plaques und Tangles – bis in die jüngere Vergangenheit jedoch nur mittels einer Obduktion und damit nach dem Tod der Betroffenen festgestellt werden konnten, erfolgt die klinische Diagnostik bis heute vor allem anhand von Symptomen und psychologischen Tests. Infolgedessen bleibt eine gewisse Unsicherheit, ob die klinische Diagnose im Einzelfall tatsächlich mit dem angenommen neuropathologischen Befund korrespondiert (ebd.: 26-50).

In der Medizin hat sich inzwischen eine verbreitete Skepsis darüber eingestellt, ob in näherer Zukunft eine wirksame Therapie dieser neurodegenerativen Erkrankung entwickelt werden kann. Die Hoffnungen vieler Wissenschaftler*innen richten sich daher vor allem auf Strategien der Prävention, mit denen die Manifestation dieser Erkrankung verhindert oder zumindest herausgezögert werden kann (siehe auch Lock 2013a). Dieser Fokus auf Möglichkeiten der Prävention kommt auch in einer neuen diagnostischen Kategorie zum Ausdruck, die vor einigen Jahren unter dem Begriff der »leichten kognitiven Beeinträchtigung« (»Mild Cognitive Impairment«) in die offiziellen Klassifikationssysteme aufgenommen wurde. Viele Wissenschaftler*innen sehen in dieser nicht nur einen Risikozustand für demenzielle Erkrankungen, sondern vermuten, dass sich hinter dieser Kategorie zumindest in vielen Fällen eine Vorstufe der Alzheimer-Krankheit verbirgt. Letztlich wird jedoch erwartet, dass diese Kategorie zukünftig durch genauere Biomarker, durch exaktere »signifiers of the future« (Lock 2013b: 8) ersetzt wird (ebd.: 81-82, siehe auch Moreira et al. 2009). Mittels Verfahren der neuronalen Bildgebung sowie der Analyse von Blut und Hirnflüssigkeit (Liquor) wird dementsprechend nach Biomarkern der Alzheimer-Krankheit – nach »biologiocal footprints of the disease« (Lock 2013b: 73) – gesucht, die die zugrunde liegenden pathologischen Prozesse noch vor der Entstehung erster Symptome anzeigen.

Bislang haben diese Forschungsbemühungen jedoch vor allem etwas anderes gezeigt. Mittels Technologien der neuronalen Bildgebung wurde sichtbar, dass die als »Goldstandard« der Alzheimer-Krankheit geltenden neuropathologischen Veränderungen auch bei einem nicht unerheblichen Anteil von Personen zu beobachten sind, die keine demenziellen Einschränkungen aufweisen. Dies zeigt zum einen, dass der Zusammenhang zwischen den fokussierten neuropathologischen Auffälligkeiten und den Symptomen der Alzheimer-Krankheit nicht so eindeutig ist, wie ursprünglich angenommen. Der Status der Plaques und Tangles als »Goldstandard« der Alzheimer-Krankheit gerät daher zunehmend in Zweifel (Lock 2013b: 60-72, 98-99).11 Zum anderen können die Forschungsbefunde dahingehend interpretiert werden, dass die Vorstellung einer »pure Alzheimer disease« (ebd.: 234) systematisch fehl läuft und den kaum zu entwirrenden Verstrickungen von normalen und pathologischen Prozessen des Alterns mehr Aufmerksamkeit zu Teil werden muss (ebd.: 74). Aus Perspektive Locks wird zunehmend deutlich, dass das Phänomen Alzheimer als Resultat eines emergenten Prozesses verstanden werden muss, als »product of contextualized individual biologies and life experiences« (ebd.: 10). Dennoch sei ein Großteil der Biomarker-Studien weiterhin an einer Vorstellung der Alzheimer-Krankheit orientiert, in der diese als eine klar abgrenzbare, neuropathologische Entität erscheint. In der Konsequenz liefen diese Forschungsbemühungen Gefahr, die verwickelten Prozesse vielfältiger Einflussfaktoren zu verkennen und eine unproduktive Gegenüberstellung von Psyche und Körper – »a bifurcation of mind and body« (ebd.: 230) – fortzuschreiben.12 Letztlich plädiert Lock für eine Neuausrichtung der Alzheimer-Forschung: weg von den individuellen Risikofaktoren und molekularen Mechanismen und hin zu protektiven Lebensbedingungen. Notwendig seien weniger neue Biomarker der Alzheimer-Krankheit als vielmehr global abgestimmte Programme zur Förderung der öffentlichen Gesundheit (ebd.: 242).

Mit der Alzheimer-Forschung hat Lock (2013b, 2013a) die Suche nach Biomarkern in einem neurologisch-psychiatrischen Grenzgebiet in den Blick genommen. Diese Krankheit wird in Deutschland zwar regelmäßig dem Bereich der Gerontopsychiatrie zugeordnet, unterscheidet sich jedoch von allen psychischen Erkrankungen – dem Kerngegenstand der Psychiatrie – durch die skizzierten neuropathologischen Veränderungen, die für ihre taxonomische Abgrenzung bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts bestimmend sind. Ansonsten ist die Psychiatrie gerade dadurch charakterisiert, dass ein somatischer »Goldstandard« für die von ihr behandelten und erforschten Krankheitsbilder fehlt.

Der Soziologe Martyn Pickersgill (2014b) hat auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung ebenfalls auf die intensivierte Suche nach und die steigende Bedeutung von Biomarkern in der psychiatrischen Forschung hingewiesen. Der Fokus seiner historisch angelegten Studie lag auf der Psychopathie bzw. der Antisozialen Persönlichkeitsstörung (ASPD) und damit auf Störungsbildern, die gleichsam an der anderen Grenze der Psychiatrie liegen – also nicht an der zur Neurologie, wie die von Lock fokussierte Alzheimer-Krankheit, sondern an der zur Psychologie und den Variationen »normalen« menschlichen Erlebens und Verhaltens (z.B. Heinz 2014). Aufbauend auf einer Analyse wissenschaftlicher Publikationen und anderer Dokumente bemerkt Pickersgill, dass die gegenwärtige Situation der Psychiatrie durch divergierende Konzeptualisierungen der von ihm fokussierten Störungen gekennzeichnet sei, welche weitgehend inkonsistent nebeneinanderstünden. Psychiater*innen müssten in ihrer klinischen Praxis daher als »ontological bricoleurs« (ebd.: 165) agieren, die die verschiedenen Konzepte und Wissensformen jeweils neu zusammensetzen. Auch die Suche nach Biomarkern, so stellt Pickergill (ebd.: 165) fest, habe diese »ontological anarchy« nicht beenden und keinen Konsens darüber herstellen können, was Psychopathie und Antisoziale Persönlichkeitsstörung eigentlich ausmacht. Stattdessen würde die biopsychiatrische Forschung eher zu einer weiteren Diversifizierung von Ansätzen und Konzepten beitragen (siehe auch Pickersgill 2009a, 2009b, 2010a, 2011).13

»Rather than create a consensus about the aetiology of psychopathy and ASPD, biomarker research might, therefore, render these disorders yet more problematic, increasing the intellectual resources from which clinicians might draw to articulate their nature« (Pickersgill 2014b: 165).

Ausgehend von diesem Befund legt Pickersgill die Notwendigkeit weiterer empirischer Untersuchungen nahe, die dem »social life of biomarkers« (ebd.: 144) und dem biopsychosozialen Raum nachgehen, »within which they [the biomarkers; JR] find mobility, gain traction, and develop salience« (ebd.: 144). Im Vergleich zu Singh und Rose (2009) hebt er dabei weniger auf mögliche gesellschaftliche Implikationen ab und rückt stattdessen die Frage in den Vordergrund, wie die psychiatrische Biomarker-Forschung mit einer Rekonfiguration jener Krankheiten einhergeht, mit denen die gesuchten Marker assoziiert werden. In den Blick genommen werden muss demnach die »co-production of biomarkers, mental disorder[s], and psychiatric institutions« (Pickersgill 2014b: 143), das heißt die Prozesse und Praktiken, in denen nicht nur die Biomarker, sondern zugleich auch die psychischen Erkrankungen selbst sowie die psychiatrischen Institutionen hervorgebracht und transformiert werden (zum Begriff der Ko-Produktion siehe Jasanoff 2004).

Die Sozialwissenschaftler*in Ingrid Metzler (2010) hat den Begriff der »Biomarkerisierung« eingeführt, um die mit der Suche nach Biomarkern verbundenen Dynamiken analytisch zu fassen.14 Der Fokus ihres konzeptuellen Beitrags richtet sich zwar nicht nur auf die Psychiatrie, sondern die Medizin im Allgemeinen; ich gehe jedoch davon aus, dass dieser Begriff auch für eine Analyse dieses Feldes instruktiv sein dürfte. Biomarkerisierung von Krankheit und Gesundheit versteht sie als einen Prozess, der nicht zuletzt von der Hoffnung getragen ist, durch die Identifikation von Biomarkern zukünftig Probleme der medizinischen Versorgung und der öffentlichen Gesundheit zu lösen:

»[B]iomarkerization denotes an ongoing future-directed process that holds that investments in biomarker research at the present time are amenable to solve a range of biomedical and public-health problems in the future; or, more succinctly, it implies that a plethora of problems are amenable to be governed through biomarkers.« (Ebd.: 412)

Prozesse der »Biomarkerisierung« werden nach Metzler also zum einen zentral von Erwartungen und Versprechen vorangetrieben. Zum anderen haben sie das Potenzial, nicht nur die klinische Praxis zu verändern, sondern Verschiebungen des gesamten Feldes nach sich zu ziehen. Ausgehend von Beobachtungen im Feld der Onkologie erwartet Metzler, dass die Identifikation von Biomarkern bisherige Grenzziehungen zwischen Krankheiten ebenso in Bewegung bringen kann wie solche zwischen Gesundheit und Krankheit bzw. Normalität und Pathologie (ebd.: 414-415). Darüber hinaus geht sie davon aus, dass die Implementierung von Biomarkern in die medizinische Praxis die Anzahl und Diversität von Akteuren erhöht, die in Prozesse der Diagnostik involviert sind. Insofern Krankheiten zunehmend in Laboratorien und nicht mehr in der Interaktion zwischen Ärzt*in und Patient*in diagnostiziert und abgesichert werden, würden sich klinische Entscheidungsprozesse zunehmend auf eine größere Anzahl von Akteuren verteilen. Dies könne wiederum mit weitreichenden Machtverschiebungen einhergehen und manifeste Konflikte zwischen den beteiligten Akteuren evozieren (ebd.. 413-414). Da apparative oder labormedizinische Technologien in der klinisch-psychiatrischen Diagnostik bislang vollständig fehlen, ist zu vermuten, dass die von Metzler antizipierte Diversifikation der Akteure in dieser medizinischen Disziplin mit besonders tiefgreifenden Veränderungen einhergeht.

Diese Übersicht der sozialwissenschaftlichen Forschung macht deutlich, dass bislang nur vereinzelt auf die intensivierte Suche nach Biomarkern im Feld der Psychiatrie hingewiesen und mögliche Implikationen dieser Prozesse eruiert wurden. Noch seltener wurden die damit verbundenen Wissenspraktiken und Diskurse auch zum Gegenstand empirischer Untersuchungen gemacht. Insbesondere fehlen Studien, die der Suche nach Biomarkern nicht in einem Grenzgebiet der Psychiatrie, sondern in einem Forschungsbereich nachgehen, der sich im Zentrum dieser medizinischen Disziplin befindet. In der deutschsprachigen Soziologie sind diese Verschiebungen im Feld der psychiatrischen Wissensproduktion bislang vollständig außerhalb des wissenschaftlichen Interesses geblieben. In der Konsequenz liegen keine Untersuchungen vor, die der Suche nach Biomarkern in der deutschsprachigen Psychiatrie nachgehen. In Anbetracht der herausragenden Bedeutung, die solchen biologischen Testverfahren von den Akteuren der psychiatrischen Arena zugeschrieben wird, sowie der folgenreichen Effekte, die diese auf gesellschaftliche Deutungsmuster von Krankheit und Gesundheit, Körper und Psyche entfalten könnten, ist diese Forschungslücke überaus erstaunlich.

1.4Fragestellung

Mit dem vorliegenden Buch werde ich an die dargestellten Studien anschließen und die deutlich gewordene Forschungslücke ausfüllen, indem ich der Suche nach Biomarkern am Beispiel der Depression und mit einem Fokus auf den deutschsprachigen Raum nachgehe. Die Studie rekonstruiert die Voraussetzungen, Dynamiken und Effekte der psychiatrischen Biomarker-Forschung und arbeitet heraus, wie in der gegenwärtigen psychiatrischen Wissensproduktion versucht wird, die Depression im Körper der Betroffenen ›dingfest‹ zu machen – und damit zugleich den organischen Körper in die psychiatrische Klassifikation einzuführen.

Der Fokus der Studie auf depressive Erkrankungen gründet auf vier Überlegungen: Erstens gehört die Depression eindeutig zum Gegenstandsbereich der Psychiatrie. Während sich die bislang durchgeführten empirischen Untersuchungen jeweils an einem der Ränder dieser medizinischen Disziplin bewegt haben, soll es der Fokus auf die Depressionsforschung ermöglichen, die Dynamiken im Zentrum der Psychiatrie in den Blick zu bekommen. Zweitens steht die Depression derzeit mehr als jede andere psychische Erkrankung im Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Sie bildet im Feld der seelischen Gesundheit den zentralen Gegenstand der Sorge und Beunruhigung (Abels 2015). Daraus resultiert drittens die herausgehobene Bedeutung dieser Erkrankung für die soziologische Forschung. Im Vergleich zu einem Großteil der zeitdiagnostischen Debatte geht die vorliegende Arbeit den gesellschaftlichen Bedingungen der Depression jedoch auf einer anderen Ebene nach. Sie fragt nicht nach gesellschaftlichen Transformationsprozessen, die zu einer Zunahme depressiven Leidens beigetragen haben könnten, sondern nach den Diskursen und epistemischen Praktiken, in denen diese Krankheit in der gegenwärtigen Psychiatrie auf spezifische Weise in Kraft gesetzt wird. Die Depression wird also nicht als stabile Entität vorausgesetzt, sondern vielmehr in ihrer historisch-praktischen Ontologie (Helén 2011) in den Blick genommen (siehe auch Hacking 2006, Gad et al. 2015). Viertens lassen auch die Entwicklungen innerhalb des Feldes einen Fokus auf depressive Erkrankungen als sinnvoll erscheinen. So wurden wenige Jahre vor Beginn dieser Untersuchung die bereits dargestellten Bluttests auf den Markt gebracht, die im Rahmen der Diagnostik und Therapie depressiver Erkrankungen zum Einsatz kommen sollen. Depressive sowie verwandte »stressbezogene« Erkrankungen bilden zudem einen Forschungsschwerpunkt des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie. An dieser nicht nur für die deutsche Forschungslandschaft prägenden Institution werden seit den 1980er Jahren vielfältige Studien durchgeführt, in denen nach Biomarkern depressiver Erkrankungen gesucht wird. Vor wenigen Jahren wurde auf der Grundlage solcher Untersuchungen ein Biomarker-Test (»ABCB1«) auf den Markt gebracht, der heute von dem deutschen Unternehmen HMNC Brain Health angeboten wird. Dieser soll zwar keine Diagnostik der Depression ermöglichen, jedoch im Rahmen der Therapie depressiver Erkrankungen zum Einsatz kommen (Uhr et al. 2008).15

Analytisch liegt der Schwerpunkt der folgenden Studie auf zwei Dimensionen der psychiatrischen Biomarker-Forschung: Zum einen soll der Raum erschlossen werden, in dem die Suche nach Biomarkern gegenwärtig stattfindet und ihre Attraktivität entfaltet. Es werden also sowohl die materiellen und konzeptuellen Voraussetzungen herausgearbeitet, die der psychiatrischen Biomarker-Forschung zugrunde liegen und auf die sie zurückgreift, als auch die Erwartungen, Hoffnungen und Visionen, die ihr Plausibilität und Anziehungskraft verleihen. Zum anderen wird der Frage nachgegangen, wie die Depression in der psychiatrischen Biomarker-Forschung zum Gegenstand epistemischer Praktiken gemacht und dabei selbst rekonfiguriert wird. Ich werde also rekonstruieren, wie sich die Suche nach Biomarkern konkret gestaltet, wie die Depression in verschiedenen Studien in Biomarker übersetzt wird und welche Veränderungen der psychiatrischen Forschungslandschaft damit einhergehen. Insgesamt richtet sich der Blick damit auf die von Pickersgill (2014b: 143) antizipierte Ko-Produktion von Biomarkern, psychischen Krankheiten und psychiatrischen Institutionen.

Im Anschluss an Metzler (2010) verstehe ich die vorliegenden Untersuchung darüber hinaus als eine Studie zur Biomarkerisierung der Depression. Ich werde diesen Begriff einerseits heranziehen, um die Verschiebungen in der psychiatrischen Wissensproduktion analytisch zu fassen. Andererseits soll dieser Begriff auf Grundlage des empirischen Materials überdacht und revidiert werden. Im Hinblick auf den empirischen Zugriff sensibilisiert Metzlers Konzept nicht nur für die Bedeutung von Erwartungen und Versprechen, sondern auch für Konflikte und Kontroversen, die sich um die Biomarker-Forschung herum entfalten. Tatsächlich stößt die Suche nach Biomarkern in der Psychiatrie nicht bei allen Akteuren auf Zustimmung, sondern evoziert auch vehemente Kritik und Ablehnung. Ich werde daher nicht nur aufzeigen, welche Netzwerke und Allianzen sich um die gesuchten Biomarker bilden, sondern auch zentrale Kontroversen und Konflikte herausarbeiten, die die Dynamik dieses medizinisch-wissenschaftlichen Feldes mitbestimmen.

1.5Aufbau des Buches

In einem ersten Kapitel lege ich den konzeptuellen Rahmen der vorliegenden Untersuchung dar, den ich als eine Soziologie psychiatrischer Wissensproduktion verstehe. Die analytisch-begrifflichen Werkzeuge entwickele ich aus einer Verschränkung von Konzepten der interdisziplinären Science and Technology Studies mit solchen aus medizinsoziologischen Forschungstraditionen (Kap. 2.1). Darüber hinaus beschreibe ich mein empirisches Vorgehen und begründe, wie ich durch eine Kombination aus Dokumentenanalyse, teilnehmender Beobachtung und qualitativen Interviews das Feld der psychiatrischen Biomarker-Forschung erschlossen habe (Kap. 2.2).

Anschließend wende ich mich dem Gegenstand der Untersuchung zu und arbeite heraus, wie die Depression in der gegenwärtigen Psychiatrie diagnostiziert und klassifiziert wird (Kap. 3.1). Unter Rückgriff auf historische Analysen rekonstruiere ich, wie sich die heutige Klassifikation psychischer Erkrankungen in einem konfliktreichen Prozess innerhalb der US-amerikanischen Psychiatrie herausgebildet hat und mit ihr zugleich die »Major Depression« als zeitgenössische Form der Depression hervorgebracht wurde. Darüber hinaus zeige ich auf, wie sich dieses neue Klassifikationssystem in den Folgejahren in Deutschland etabliert und eine Form der Psychiatrie verdrängt hat, in deren Mittelpunkt eine phänomenologische Beschreibung und Typisierung stand (Kap 3.2).

Von der Depression verschiebe ich den Fokus im vierten Kapitel auf das Konzept des Biomarkers, wobei ich zunächst den Begriff und seine Funktionen erläutere (Kap. 4.1). Anschließend gehe ich den Erwartungen, Versprechen und Visionen nach, die in der gegenwärtigen Psychiatrie mit Biomarkern verknüpft werden. Der Schwerpunkt liegt zunächst auf der Vision einer personalisierten Psychiatrie, die insbesondere seit dem öffentlichkeitswirksamen Höhepunkt des Humangenomprojekts im Jahr 2001 weitreichende Resonanz entfaltet hat (Kap. 4.2.1). Anschließend arbeite ich weitere analytisch differenzierbare Versprechen heraus, die das Feld der psychiatrischen Biomarker-Forschung gegenwärtig anleiten: Objektivierung und Modernisierung (Kap. 4.2.2), Beschleunigung und Rationalisierung (Kap. 4.2.3), Sicherheit und Kontrolle (Kap. 4.2.4) sowie Destigmatisierung und Anerkennung (Kap. 4.2.5).

Die Genealogie des biologischen Markers steht im Mittelpunkt des fünften Kapitels. Um den systematischen Stellenwert von Biomarkern als Krankheitszeichen im psychiatrischen Denken in den Blick zu bekommen, werfe ich zunächst Schlaglichter auf zentrale Verschiebungen medizinischer Praktiken und Denkweisen im Laufe des 18. bis zum 20. Jahrhundert (Kap. 5.1). Darauf aufbauend verfolge ich die Entstehung der wissenschaftlichen Psychiatrie und die Geschichte der psychiatrischen Klassifikation. Im Fokus steht das Programm einer »klinischen Psychiatrie«, welches von dem deutschen Psychiater Emil Kraepelin am Übergang zum 20. Jahrhundert entwickelt wurde und dessen Prinzipien auch die aktuelle psychiatrische Klassifikation durchdringen (Kap. 5.2). Schließlich gehe ich auf wissenschaftliche Debatten um zwei potenzielle Testverfahren ein, die im Laufe des 20. Jahrhunderts in die psychiatrische Forschung und Praxis eingeführt wurden: den sog. »Pink Spot« und den Dexamethason-Suppression-Test. Ich zeige auf, dass beide Tests zunächst mit großen Erwartungen verknüpft wurden, jedoch schon kurze Zeit später wieder aus der psychiatrischen Debatte verschwunden sind (Kap. 5.3).

Im sechsten Kapitel arbeite ich konkrete Wissenspraktiken und Rationalitäten heraus, die die psychiatrische Biomarker-Forschung gegenwärtig kennzeichnen. Mein Blick richtet sich zunächst auf sog. Genomweite Assoziationsstudien (GWAS) – einen Forschungsansatz der psychiatrischen Genetik, mit dem in den letzten Jahren besonders große Hoffnungen verbunden wurden. Ich zeige auf, wie diese Forschungsbemühungen inzwischen zwar durchaus erste Erfolge erzielen konnten, diese jedoch auch eine neue Problematisierung diagnostischer Kategorien nach sich gezogen haben (Kap. 6.1). Vor dem Hintergrund der genetischen Forschungsergebnisse wird heute nicht nur die Homogenität der Depression, sondern auch deren Abgrenzbarkeit gegenüber anderen psychischen Erkrankungen zunehmend in Zweifel gezogen (Kap. 6.2). Darüber hinaus haben sich im Zuge dieser Forschungsbemühungen die Gestalt der gesuchten Biomarker (Kap. 6.3) sowie die Institutionen der psychiatrischen Forschungslandschaft verändert (Kap. 6.4). Die epistemischen Praktiken, die in diesem Kapitel auf verschiedenen Ebenen sichtbar werden, verdichte ich in dem Begriff der ›Strategie der großen Zahlen‹.

Im siebten Kapitel gehe ich der Frage nach, wie Konzepte der Kausalität in der aktuellen Biomarker-Forschung verhandelt werden. Dabei zeigt sich, dass ein Teil der Wissenschaftler*innen eine interventionell-experimentelle Forschungsstrategie als notwendig erachtet, um die Grenzen und Fallstricke der zuvor herausgearbeiteten ›Strategie der großen Zahlen‹ auszugleichen (Kap. 7.1). Ich arbeite zentrale Schwierigkeiten der psychiatrischen Forschung bei der Aufklärung von Krankheitsmechanismen heraus und zeige, wie diese unter Rückgriff auf Tiermodelle umgangen werden sollen (Kap. 7.2). Schließlich rekonstruiere ich die konzeptuellen Grundlagen der tierexperimentellen Biomarker-Forschung, wobei ich vor allem das angenommene Repräsentationsverhältnis zwischen Tiermodellen der Depression und dieser Erkrankung selbst beleuchte. Auch in diesem Kapitel wird deutlich, wie die diagnostische Kategorie der Depression zunehmend in die Kritik gerät und epistemische Praktiken in den Vordergrund treten, die darauf zielen, diese in einzelne Komponenten zu zerlegen (Kap. 7.3).

Ausgehend von diesem Befund wende ich mich im achten Kapitel dem letzten Revisionsprozess des »Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen« (DSM) zu – dem offiziellen Klassifikationssystem der American Psychiatric Association, das in der psychiatrischen Forschung international als Referenz herangezogen wird. Ich arbeite nicht nur die Hoffnung auf einen Paradigmenwechsel heraus, die viele Wissenschaftler*innen Anfang der 2000er Jahre mit dieser Revision verbunden haben (Kap. 8.1), sondern zeige auch, wie dieser Prozess im Vorschlag eines alternativen Bezugssystems, der RDoC-Matrix, gemündet ist (Kap. 8.2). Anhand exemplarischer Studien rekonstruiere ich die Logik einer Forschung, die sich an diesem neuen System orientiert (Kap. 8.3), um sodann den Konflikten und Kontroversen nachzugehen, die inzwischen innerhalb der psychiatrischen Arena um diese Initiative und deren mögliche Folgewirkungen geführt werden (Kap. 8.4 bis 8.5).

Im neunten Kapitel verdichte ich die Befunde meiner Untersuchung und verknüpfe sie mit den Einsichten weiterer sozialwissenschaftlicher Studien. Ich argumentiere, dass die Suche nach Biomarkern im Feld der Psychiatrie in einer Destabilisierung resultiert ist und sich zugleich die Konturen eines neuen psychiatrischen Dispositivs abzeichnen, das ich mit dem Begriff des postgenomischen Prismas beschreibe. Dieses Dispositiv fügt sich in ein »techno-somatisches Ethos« (Pickersgill 2009a) und antwortet auf das in dieser Studie herausgearbeitete Problem der Heterogenität, indem es auf eine De‑/Rekonstruktion der Depression und weiterer psychiatrischer Krankheitsbilder abzielt (Kap. 9.1. bis 9.5). Darüber hinaus zeichne ich Gegenbewegungen nach, die im Feld der psychiatrischen Wissensproduktion zeitgleich zu erkennen sind und in eine andere Richtung weisen (Kap. 9.6).

Die Studie endet mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse und einem Ausblick auf die zukünftigen Entwicklungen (Kap. 10).

Dem Buch sei noch eine begriffliche Bemerkung vorangestellt: Im psychiatrischen und psychologischen Diskurs wurde der Begriff der psychischen Krankheit seit den 1980er Jahren zunehmend durch den der psychischen Störung ersetzt. Diese terminologische Verschiebung ist mit der Annahme verknüpft, dass letzterer hinsichtlich der Frage neutral sei, ob es sich bei den differenzierten Störungsbildern tatsächlich um Krankheiten im medizinischen Sinne handelt (z.B. Wittchen und Hoyer 2006: 6-9). Diese Relativierung erachte ich als problematisch, da die psychiatrische Forschung nicht selten weiterhin an einem traditionellen Krankheitsmodell orientiert ist, wie ich in dieser Arbeit zeigen werde. Die Rede von psychischen Störungen suggeriert damit eine Offenheit, die in weiten Teilen nicht existiert. Darüber hinaus ist der Begriff der Störung – entgegen einer verbreiteten Auffassung – dem der Krankheit auch nicht unbedingt normativ vorzuziehen. Beide können stigmatisierende und diskriminierende Effekte nach sich ziehen oder von den Betroffenen als abwertend erlebt werden. Ich präferiere letztlich den Begriff der Krankheit, weil dieser erstens neben den skizzierten problematischen Dimensionen auch entlastende Konnotationen mit sich führt und zweitens mit dem gehaltvollen Begriff des Leidens assoziiert ist – Momente, die dem Begriff der Störung fehlen. Letztlich verwende ich diese beiden Termini in der folgenden Arbeit synonym, um eine begriffliche Variation zu ermöglichen.

Konzeptuell bedeutsamer ist für mich die Unterscheidung zwischen dem Begriff der Krankheit und dem des Krankseins. Letzterer bezieht sich auf einen (subjektiven) Leidenszustand, ohne dass dieser schon in Konzepten von diskreten Krankheiten gefasst wäre. Ich ziehe diesen Begriff in der folgenden Arbeit teilweise heran, um das heute etablierte Denken in nosologisch differenzierten Krankheitseinheiten nicht vorschnell zu verallgemeinern (siehe dazu auch Hess 1993: 10-13).

2.Soziologie psychiatrischer Wissensproduktion. Konzeptueller Rahmen und empirisches Vorgehen

In den 1960er Jahren wurde die Psychiatrie zu einem prominenten Gegenstand soziologischer Forschung und Kritik. Beleuchtet wurden der Alltag in den damaligen psychiatrischen Anstalten, deren autoritäre Struktur sowie die über die Grenzen dieser Institutionen hinausgreifenden Machttechnologien (z.B. Goffman 1995 [1961], Fengler und Fengler 1980, Miller und Rose 1986). Darüber hinaus sind soziologische Studien der sozialen Konstruktion psychischer Krankheiten und der Stigmatisierung Psychiatrie-Erfahrener nachgegangen (z.B. Goffman 2010 [1963], Keupp 1976, Gebauer 1975). Trotz der Sensibilität für die Hervorbringung und interaktionelle Prozessierung psychiatrischer Krankheitskategorien stand die psychiatrische Forschung zum damaligen Zeitpunkt jedoch nicht im Fokus des soziologischen Interesses. Die Art und Weise, wie Wissenschaftler*innen im Feld der Psychiatrie arbeiten und dabei ihren Gegenstand konfigurieren, wurde nur äußerst selten untersucht (eine Ausnahme bildet Perry 1966). Daran hat sich bis in die jüngere Vergangenheit wenig geändert.16 Der britische Soziologe Martyn Pickersgill (2010a) hat vor diesem Hintergrund für eine Soziologie psychiatrischer Wissensproduktion plädiert, die die epistemischen Praktiken der Psychiatrie sowie deren Wechselwirkungen mit der klinischen Praxis, der Gesundheitspolitik und den Selbstdeutungen der Betroffenen explizit zum Gegenstand empirischer Untersuchungen macht.17 Die vorliegende Untersuchung schreibt sich in dieses Vorhaben an der Schnittstelle von Science und Technology Studies und Medizinsoziologie ein und möchte zu dessen Profilierung im deutschsprachigen Raum beitragen (siehe auch Pickersgill 2012, Rüppel und Voigt 2019).

In diesem Kapitel werde ich den konzeptuellen Rahmen sowie das empirische Vorgehen der vorliegenden Studie darlegen. Im Fokus des ersten Teils stehen ausgewählte Konzepte, die insbesondere im Rahmen der interdisziplinären Wissenschafts- und Technikforschung entwickelt wurden und auf die ich in den nachfolgenden Abschnitten analytisch zurückgreifen werde (2.1). In einem zweiten Teil (2.2) werde ich das Forschungsdesign der Studie darstellen, wobei ich zunächst die eingesetzten Verfahren der Datenerhebung (2.2.1) und anschließend die Strategien der Datenauswertung skizzieren werde (2.2.2).

2.1 Psychiatrische Forschung als Kultur und Praxis

Unter dem Begriff der Science and Technology Studies (STS) hat sich seit den 1970er Jahren ein interdisziplinäres Forschungsfeld an der Schnittstelle von Wissenschafts- und Techniksoziologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Wissenschaftsgeschichte und -philosophie sowie (feministischer) Wissenschaftskritik herausgebildet. Trotz einer enormen theoretischen und methodischen Diversität zeichnen sich die STS im Allgemeinen dadurch aus, dass sie ›Wissenschaft als Praxis und Kultur‹ (Pickering 1992) in den Blick nehmen (siehe auch Rouse 1992, Franklin 1995). Damit sind mindestens zwei Abgrenzungsbewegungen verbunden: Im Gegensatz zur traditionellen Wissenschaftsphilosophie (z.B. Popper 1982) begreifen sie Wissenschaft nicht nur als einen rationalen Prozess, dessen allgemeine Logik abstrakt zu rekonstruieren wäre; stattdessen gehen sie von einer irreduziblen Pluralität von Wissenspraktiken und -formen aus, die es empirisch zu beschreiben gilt. Im Gegensatz zur traditionellen Wissenschaftssoziologie (z.B. Merton 1973) richten sie ihren Blick nicht nur auf die institutionellen Kontexte und Rahmenbedingungen der Wissenschaft, sondern auch auf deren Inhalte. Die ubiquitäre Unterscheidung zwischen den internen Geltungsbedingungen von Wissen und den externen Kontexten der Wissensgenese wird in den STS konzeptuell in Frage gestellt und empirisch unterlaufen (einen Überblick liefern etwa Sismondo 2004, Bauer et al. 2017a).

In einer Vielzahl von Untersuchungen, die etwa dem Verlauf und der Schließung wissenschaftlicher Kontroversen oder dem Alltag und den konkreten Praktiken in naturwissenschaftlichen Laboratorien nachgegangen sind, haben sich Prozesse der Wissensproduktion als ein zutiefst soziales und kulturelles Geschehen erwiesen. Nimmt man nicht nur die Produkte der Wissenschaft (»Ready made Science«), sondern Wissenschaft im Machen (»Science in Action«) in den Blick (Latour 1987), zeigt sich, dass das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem spezifischen Ort als ›Tat-Sache‹ gilt, immer auch von einer Vielzahl kontingenter Aushandlungs- und Selektionsprozesse sowie wissenschaftlichen Routinen und Standardisierungen abhängig ist (vgl. Bauer et al. 2017b: 18). In diesem Sinne bemerkt auch Pickersgill in seinem Plädoyer für eine Soziologie psychiatrischer Wissensproduktion:

»Like all forms of knowledge, it [scientific knowledge, JR] is generated through social processes made possible by a wide variety of practices and institutions that include political decision-making, funding bodies, experiments, collaborations, dissemination, and contestation.« (Pickersgill 2010a: 383)

Dass Wissenschaft als eine spezifische kulturelle Praxis analysiert werden kann, bedeutet jedoch weder, dass wissenschaftliches Wissen ausschließlich aus sozialen und kulturellen Faktoren erklärt, noch dass es auf eine bloße soziale Konstruktion reduziert werden könnte. Insbesondere die Laborstudien (z.B. Knorr-Cetina 1984, Latour und Woolgar 1986), die sich den Orten der Wissensproduktion aus einer dezidiert ethnographischen Perspektive angenähert haben, konnten zeigen, dass epistemische Praktiken nicht nur notwendigerweise auf materielle Objekte und technische Apparaturen angewiesen, sondern letztlich untrennbar mit diesen verwoben sind. Wissenspraktiken sind selbst materiell-diskursive Praktiken (Barad 2012). Wenn Wissenschaft in den STS als Kultur in den Blick genommen wird, werden damit also nicht nur Sinn- und Bedeutungssysteme, sondern gleichermaßen auch deren materielle Dimensionen in den Fokus gerückt.

Der Begriff der Kultur hebt zugleich hervor, dass die Praktiken, mittels derer Wissen generiert und validiert wird, konventionellen Mustern unterliegen (Knorr-Cetina 2002, Nelson und Panofsky 2018).18 In ihnen werden heterogene Elemente, die – nach traditioneller Unterscheidung – etwa materieller, technischer, institutioneller oder konzeptueller Art sind, auf spezifische Weise angeordnet. Folgt man dem Physiker und Wissenschaftsforscher Andrew Pickering (1992: 8), werden die in Beziehung gesetzten Elemente in diesem Prozess einander angepasst und interaktiv stabilisiert. Die einflussreiche Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) beschreibt Wissensproduktion in ähnlicher Weise als einen Prozess der Übersetzung (Callon 2006, Latour 2014), in dem eine Vielzahl heterogener Elemente interessiert, mobilisiert und in einem (neuen) sozio-technischen Netzwerk stabilisiert werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass die miteinander verknüpften Elemente oder Entitäten diesem Prozess nicht vorgängig sind. Es wird vielmehr angenommen, dass sie erst in diesem Prozess relational konstituiert werden.19

In den vergangenen 25 Jahren wurden die Konzepte der STS auch mobilisiert, um Phänomene aus dem Bereich der Medizin zu analysieren. Vor allem im anglo-amerikanischen Raum haben sich produktive Verschränkungen zwischen den STS und symbolisch-interaktionistischen sowie sozialkonstruktivistischen Traditionen der Medizinsoziologie herausgebildet (z.B. Timmermans und Berg 2003a, Burri und Dumit 2007, Clarke et al. 2010a). Letztere zeigen etwa auf, wie Krankheitskategorien in Interaktionen zwischen Professionellen und Laien verhandelt werden und solche Kategorien das Krankheitserleben der Betroffenen rahmen (z.B. Brown 2000, Aronowitz 2008, Conrad 2007). Mit den STS korrespondieren sie somit insbesondere in ihrem Fokus auf Prozesse der sozio-kulturellen Hervorbringung. Gleichzeitig konnten und können diese medizinsoziologischen Traditionen durch Ansätze der Wissenschafts- und Technikforschung entscheidend irritiert werden. So unterstreichen letztere im Vergleich zu ersteren nicht nur stärker die Bedeutung von technischen Artefakten und Materialitäten, sondern heben sie auch hervor, dass nicht jede Konstruktion – nicht jede Artikulation – möglich ist. Demnach ist in Prozessen der Wissensproduktion permanent mit Widerständigkeiten und unvorhersehbaren Ereignissen zu rechnen. Die miteinander verknüpften Elemente – so könnte man metaphorisch formulieren – lassen nicht alles mit sich machen. Darüber hinaus wird angenommen, dass sich die Solidität und Standfestigkeit der möglichen Konstruktionen unterscheidet. Nicht jede Tatsache, nicht jede Entität weist dieselbe Beständigkeit auf (auch Rheinberger 2006a: 282-284, Pickering 2007: 17-62). Damit fügen sich die STS keineswegs problemlos in Spielarten des Sozialkonstruktivismus ein, sondern suchen vielmehr nach Möglichkeiten eines Post-Konstruktivismus (Wehling 2006: 228-232).

Bruno Latour (2002: 164) plädiert in diesem Sinne für einen »konstruktivistischen Realismus«, der der »verhängnisvollen Unterscheidung zwischen Konstruktion und Realität« (ebd.: 26) zu entkommen versucht. Wenn man die Metapher der Konstruktion dennoch beibehalten möchte, dann sollte darin weniger die Idee oder Erfindung einer Denker*in, sondern eher eine Gruppe von Architekt*innen und Arbeiter*innen anklingen, die ein Bauwerk möglichst standfest zu errichten versuchen und dabei mit einer Vielzahl von Unwägbarkeiten umgehen müssen. Der Besuch einer Baustelle, so bemerkt Bruno Latour (2014: 153) »führt einen nicht nur hinter die Kulissen und in die Fertigkeiten und Kniffe der Praktiker ein, sondern bietet auch die seltene Gelegenheit, einen Blick auf die Entstehung, die Emergenz eines neuen Dings zu werfen, dessen Zeitlichkeit auf diese Weise kenntlich wird.« Die Baustellen-Metapher macht also deutlich, dass sich eine Entität oder ein wissenschaftliches Fakt nicht einfach in der Welt findet und nur noch gesucht, entdeckt und repräsentiert werden muss. In der Lesart Latours unterstreicht sie aber auch, dass diese Entitäten oder Fakten nicht einfach erfunden werden.

»Denn, gleich in welchem Bereich, von irgend etwas zu sagen, es sei konstruiert oder gebaut, wurde stets mit Robustheit, Qualität, Stil, Dauerhaftigkeit, Wert etc. assoziiert. So daß niemand etwas dabei finden würde zu sagen, ein Wolkenkratzer, ein Atomkraftwerk, eine Skulptur oder ein Automobil sei ›konstruiert‹. Dies ist allzu selbstverständlich, um ausführlicher darauf einzugehen. Die großen Fragen lauten eher: Wie gut ist es entworfen? Wie solide ist es gebaut? Wie dauerhaft oder zuverlässig ist es? Wie teuer ist das Material? Überall, in der Technik, im Ingenieurwesen, in Architektur und Kunst ist Konstruktion so sehr Synonym für das Wirkliche, daß sich die Frage sofort verlagert zur nächsten und wirklich interessanten: Ist es gut oder schlecht konstruiert?« (Latour 2014: 153-154)

Aus Perspektive dieses konstruktivistischen Realismus besteht also gerade kein Widerspruch zwischen der Konstruktion und der Realität einer Tatsache. An die Stelle dieser falschen Unterscheidung stellt er die Frage nach der Qualität einer wissenschaftlichen Konstruktion. Damit gleitet er vom Feld der Epistemologie und Ontologie zu dem der Ethik und Politik über – zumindest dann, wenn sich eine gute